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Mina Teichert widmet sich in ihrem neuen Buch dem Thema Liebe. Wie wir alle, sind natürlich auch AD(H)Sler auf der Suche nach dem Menschen fürs Leben. Den zu finden, wenn man unter einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung leidet, ist gar nicht so einfach und bietet viel Raum für verrückte, lustige, aber auch ernste Erfahrungen und Gedanken, die man sich macht, wenn man ohne Bruchlandung auf Wolke 7 ankommen möchte. Und so schreibt Mina Teichert witzig, aber auch berührend darüber, wie sie sich dank einer dummen Kuh in einen Mann vom Land verliebt und dabei allerhand Fettnäpfchen mitnimmt. Außer-dem gibt sie ihren LeserInnen nützliche Hintergrundinfos zum Krankheitsbild und Tipps für den Umgang mit AD(H)S – für Betroffene, aber auch für deren Partner. »Bei meinen Recherchen über die Schwierigkeiten mit ADS stieß ich immer wieder auf den Schwerpunkt Partnerschaft, und entschied mich, meine Erfahrungen auf diesem Gebiet aufzuarbeiten. Denn egal, wie schlimm es auch manchmal ist: Sinnlos ist ein Leben ohne Unsinn und ohne Liebe.« Mina Teichert
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Seitenzahl: 331
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Dieses Buch ist eine Anlehnung an mein Liebesleben mit ADS, das sich in vielen Problematiken sicher nicht sehr von dem eines Menschen mit ADHS unterscheidet. Mir fehlt lediglich der Bewegungsdrang, die Hyperaktivität, die meinem Gegenüber Nerven kosten könnte.
Hier sind neunzig Prozent Mina drin, und die restlichen zehn Prozent wurden dem Unterhaltungsfaktor zuliebe und zum Schutze anderer Personen angepasst und fiktiv gestaltet.
Außerdem ist mein Gedächtnis keine verlässliche Quelle.
Bitte fragt euren Arzt und Apotheker nach möglichen Nebenwirkungen oder Unverträglichkeiten. Und lest aufmerksam den Klappentext. Und vergesst nicht: AD(H)S ist sehr facettenreich, und nicht jeder hat mit den gleichen Problematiken und Nebenerkrankungen zu kämpfen.
Dann bleibt nur noch zu sagen: Hals- und Beinbruch beim Bruchlanden auf Wolke 7, und haltet die Sauerstoffmasken bereit!
Eure Mina
AD(H)S ist eins der am häufigsten beschriebenen Krankheitsbilder im Kindes- und Jugendalter. Es besteht bis ins Erwachsenenalter fort und wächst sich nicht – wie oft irrtümlich angenommen – aus. Bedingt durch eine Reizoffenheit, Unruhe und Konzentrationsproblematik leiden Menschen mit AD(H)S an einer Störung der Selbstkontrolle und Selbstregulation. Für sich angemessen zu sorgen, selbstverantwortlich zu handeln, nicht zu viel oder zu wenig zu sagen, ist oft schwierig und führt zu echten Beeinträchtigungen im Leben. Wie viele Menschen genau darunter leiden, ist nicht zu sagen, da die zugrunde gelegten Diagnosekriterien international sehr verschieden sind. Laut des Robert-Koch-Instituts sind in Deutschland knapp fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen von AD(H)S betroffen. Bei Jungen wird häufiger AD(H)S festgestellt als bei Mädchen, bei denen oftmals das Symptom der Hyperaktivität (H) fehlt.
Die Suche nach der Ursache für AD(H)S hat bislang keine klaren Erkenntnisse geliefert. Fachleute gehen aber davon aus, dass neurobiologische und psychosoziale Faktoren zusammenwirken müssen, damit die Erkrankung auftritt. Neueste Forschungen sprechen davon, dass ein Zusammenspiel von mehr als 15 Genen AD(H)S verursacht.
Die körperlichen Faktoren knapp erklärt: Zahlreiche Untersuchungen lassen darauf schließen, dass bei AD(H)S-Patienten die Wirkung wichtiger Botenstoffe in vielen Teilen des Gehirns beeinträchtigt ist. Neurotransmitter wie Dopamin, Noradrenalin oder Serotonin werden häufig nur unzureichend ausgeschüttet oder viel zu schnell wieder abgebaut. Diese Hirnbotenstoffe sind somit ständig auf Sparflamme und regulieren das Fließen von Signalen zwischen den Nervenzellen nur unzureichend. Einströmende Reize werden nicht normal verarbeitet und gefiltert. So passiert es, dass Noradrenalin störende Signale in Bereiche überträgt, die für die zielgerichtete Aufmerksamkeit und Aktivität zuständig sind.
Das Hormon Serotonin ist in Gehirnzentren für die Impulskontrolle aktiv und bei AD(H)Slern ebenfalls in zu geringen Mengen vorhanden. Ebenso Dopamin, das bei der Steuerung der Aufmerksamkeit, Motivation und Konzentration eine wichtige Rolle spielt.
Eine fehlerhafte Regulierung dieses Hirnstoffwechsels äußert sich in einem schlecht funktionierenden Reizfilter, wodurch die für die Betroffenen typischen Symptome entstehen wie leichte Ablenkbarkeit, mangelnde Konzentration oder Impulsivität. Es wird hierbei von einer verminderten Fähigkeit zur Selbststeuerung gesprochen.
Ich bekam meine Diagnose erst mit Mitte zwanzig und fragte mich bis dahin so oft, warum ich nicht zu assimilieren war und meinen Platz in der Gesellschaft nicht fand. Einige von euch kennen meine Geschichte vielleicht aus dem Buch Neben der Spur, aber auf dem Weg, in dem ich erzähle, wie es sich anfühlt, anders zu sein und nicht zu wissen, warum. Ich hopste einen ziemlich steinigen Pfad entlang und wurde immer wieder aus der Bahn geworfen, weil ich mit den ganzen Reizen der Umwelt und den Anforderungen, die an mich gestellt wurden, nicht klarkam. ADS-bedingt gleicht mein Gemüt manchmal einem Pulverfass.
Und gerade, wenn die Hormone ins Spiel kommen, wird es verrückt, da man nicht in der Lage ist sich zu kontrollieren. Das kann so manch einen Partner überfordern, denn sich von einem AD(H)Sler zum Beispiel zu wünschen, er solle doch bitte nicht so vergesslich, zerstreut oder emotional sein, ist schlicht unfair und in etwa so sinnvoll, als würde man einen Diabetiker bitten, doch endlich seine Broteinheiten essen zu können, ohne sich dafür spritzen zu müssen. Damit Angehörige und Partner die Möglichkeit haben, umdenken und umwerten zu können, habe ich mich auf Nachfrage von Lesern entschieden, einen Einblick in meine eigene laute Gefühlswelt und chaotische Liebeskrisen zu gewähren. Ich hoffe, ihr habt alle einen Fallschirm dabei, denn manchmal geht es erst im freien Fall abwärts, bevor man fliegen lernt.
Sich zu verlieben ist eine ungeheuerliche Sache. Endorphine werden freigesetzt und tanzen Samba in unserem Herzen. Je nach Schuhwerk kann so etwas mal mehr, mal weniger schmerzhaft sein. Man fühlt sich berauscht, und andere Dinge werden nebensächlich. Zunächst orientiert man sich, was Beziehungen angeht, ja gern an den eigenen Eltern. In meinem Fall vielleicht nicht unbedingt optimal, denn sie sind schon sehr lange geschieden. Anschließend schaut man sich die Idealbilder aus dem Fernsehen und aus romantischen Büchern ab. Was auch Tücken bereithält, denn wenn man diese aufregenden oder überromantisierenden Geschichten der Realität gegenüberstellt, hat das wahre Leben plötzlich so gar keinen Appeal mehr. Und ganz ehrlich, Walt Disney ist sehr weit weg von der Realität – oder hat für euch schon mal einer einen Drachen erschlagen und hatte dann noch Bock auf Händchenhalten?
Für Leute wie mich, die sehr viel Fantasie haben, wird die Liebe schnell bunter, als manch einer es erträgt. Oft ist man sich dessen aber nicht bewusst. Ganz im Gegenteil, man erwartet vom potenziellen Partner sogar das gleiche Engagement und denselben Energieaufwand, den man selbst in die noch frische Beziehung steckt. Und das ist viel, das könnt ihr mir glauben.
Die Liebe und ich waren nie beste Freunde. Eher war das Gegenteil der Fall, im Laufe der Zeit entwickelten wir eine sehr erfüllte Hassfreundschaft, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie war das heiße Eisen, an dem ich mich immer wieder verbrannte, die glühende Herdplatte, auf der meine Hände landeten. Die Liebe schaffte es, mich mehr in Schwierigkeiten zu bringen, als ich das ganz allein durch mein Aufmerksamkeitsdefizit vermochte. Dazu muss man wissen, dass ich die Queen der Fettnäpfchen bin und zu Unfällen neige, die durch mangelnde Aufmerksamkeit oder durch meine Impulskontrollschwäche geschehen. Sportunfälle, Verkehrsunfälle, im doppelten Sinne, und Arbeitsunfälle. Mein Selbsterhaltungstrieb ist nicht sonderlich ausgeprägt, und ich passe oft nicht angemessen auf mich auf. Da kommt mir die Liebe nicht gerade gelegen mit all ihren Problemen, die sie gern wie einen Schatten mit sich führt.
Versteht mich nicht falsch, ich liebe die Liebe. Sie ist das Wundervollste, das einem Menschen passieren kann, und das weiß sie auch. Leider macht Liebe verletzlich, und wer vollkommen unbeschadet davonkommt, ist entweder ein besonders guter Pilot dort oben am Himmel der Glückseligkeit oder hat so viel Schwein wie nur selten jemand. Ich für meinen Teil habe in jedem Fall häufiger Bruchlandungen auf Wolke 7 hingelegt, als dass ich die Liebe genießen konnte. Mein ADS stattet mich mit ganz eigenen Special Effects aus, die selbst Flüge bei blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein zum Ritt durch Turbulenzen machen.
Mit der Zeit bin ich vorsichtig geworden, was diese possierlichen Schmetterlinge im Bauch und die rosaroten Brillen angeht. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr auf falsche Entscheidungen, die mein Herz so gern für mich traf. Zu oft brachte ich mich damit selbst total aus dem Konzept. Also versprach ich mir selbst eines schönen Tages, dass ab sofort mein Hirn das Zepter der Macht übernehmen würde, und ich dachte, dass ich damit auf einem guten Weg war.
Funktionierte auch tatsächlich ganz gut. Bis zu dem Tag, an dem ich urplötzlich einer Kuh über den Weg lief. Einem Rindvieh, das meinen Weg kreuzte und mich mit einem Mann zusammenführte, den ich sonst niemals getroffen hätte …
***
Während ich den Wagen über die Landstraße lenkte, kramte ich im Handschuhfach nach einer CD, die zu dieser Fahrt passte. Nach ich weiß nicht wie vielen mal mehr, mal weniger schlimmen Verkehrszwischenfällen war mir eines Tages aufgefallen, dass ich mich besser aufs Fahren konzentrieren kann, wenn ich Musik höre, die zu meiner Stimmung passt. Hinter mir saß meine achtjährige Tochter Lu, mit der ich unsere Irish-Tinker-Stute Cherryblossom in ihrem Stall besucht hatte. Mir tat jede Gräte im Leib weh, weil ich ziemlich ungalant im Sand gelandet war, nachdem das Pony sich kurzfristig entschieden hatte, nicht über das anvisierte Hindernis zu springen, sondern abrupt davor anzuhalten. Welche Musik passte also zu jemandem, der dreckig, durchgeschwitzt und etwas schlecht gelaunt war? Ich sinnierte darüber nach, als Lu plötzlich aufschrie.
»Pass auf, Mama!«
Ich hob den Blick und trat, noch bevor ich die Lage erfasste, vorsichtshalber schon mal auf die Bremse. Lus Wasserflasche flog an meinem Kopf vorbei, krachte neben mir gegen die Armatur, und ich staunte über das Hindernis vor der Kühlerhaube. Direkt vor dem Kombi stand eine Kuh und glotzte uns an. Ich glotzte zurück. Und überlegte, was zu tun sei. Umfahren? Kam im Sinne von drum herumfahren nicht infrage, da auf der einen Seite ein Zaun den Weg versperrte und auf der anderen Stallungen begannen, aus denen aufgeregtes Muhen zu hören war. Ob die Kuh möglicherweise dort ausgebüxt war?
»Mach was«, forderte meine Tochter ungeduldig und beugte sich von der Rückbank nach vorne.
»Wenn du mir sagen kannst, was genau ich tun soll …«, sagte ich, während ich den Rückwärtsgang einlegte.
»Hup sie weg!«, krähte meine Achtjährige und sah mich dabei an, als wäre ich das unfähigste Wesen auf diesem Planeten. »Du musst die nur erschrecken, und dann läuft die schon. Wirst sehen.« Sie überlegte einen Moment und ergänzte nachdenklich: »Es sei denn, du hast Fernlicht an, dann klappt das nicht.« Diese Weisheit hatte sie von ihrem Vater, der ein ähnliches Problem mit einem Reh gehabt hatte. Allerdings mitten in der Nacht, als das Tier wie aus dem Nichts auf der Fahrbahn auftauchte und hypnotisiert ins Scheinwerferlicht starrte. Es kam zu einem Unfall, glücklicherweise ohne körperliche Konsequenzen und nur mit einem Totalschaden des Wagens.
»Nur? Na, deine Nerven möchte ich haben, Mina, da fährt der Typ das Auto kaputt und du tust es ab, als sei das gar nichts?« Das waren die ungläubigen Worte einer Freundin gewesen, der ich davon erzählte.
»Na ja, ist halt alles relativ, nicht?«, hatte ich erwidert. Wenn man es wie ich fertigbrachte, mit offenen Augen regelmäßig irgendwo reinzukrachen – sei es zu Fuß, mit dem Fahrrad oder eben mit dem Auto –, dann wusste man es irgendwann wirklich zu schätzen, wenn der Zusammenstoß nur einen Sachschaden hinterließ.
»Mama, hup endlich!«
»Was? Oh.« Natürlich, die Kuh. Hatte ich ganz vergessen; auch das passierte mir ständig. Dass meine Gedanken spazieren gingen und mich mitnahmen, egal, wo ich mich gerade befand.
Ich drückte die Hupe und zuckte selbst zusammen, als der Ton die sonntägliche Stille durchschnitt. Die Kuh jedoch guckte uns nur weiter an. »Das war ein Satz mit x.«
»Na gut. Dann steig aus und scheuch sie weg«, schlug mein Kind als Nächstes vor, und ich versuchte es.
Weil ich schnell planlos und verpeilt bin, eigne ich mich nicht in jeder Situation zum führenden Muttertier, und oft genug ist meine Tochter eine Spur bedachter als ich. Deshalb höre ich mir, seitdem sie fünf Jahre alt ist, ihre Meinung zu alltäglichen wie sonderbaren Situationen an. Regelmäßig schreibt sie mir die Einkaufslisten und lotst mich durch die Wirren der Supermärkte, die mich gern überfordern. Zu viele Reize, zu viele Möglichkeiten, zu viele Ach wie schön, das hab ich ja noch gar nicht …
Lu ist einfach toll, und so ließ ich mich auch jetzt gern von ihr leiten. Denn was nützt es schon, darauf zu bestehen, der Erwachsene zu sein, wenn man gerade überhaupt nicht in der Lage ist, die Führung zu übernehmen?
Ich öffnete die Wagentür, stieg langsam aus und ging vorsichtig auf das große Tier zu, während ich dezent hilflos mit den Armen wedelte. Gleichzeitig überlegte ich, ob ich je davon gehört oder gelesen hatte, dass bei einem solchen Manöver ein Mensch zu Tode gekommen war. Nicht dass es sich bei der vermeintlichen Kuh am Ende um einen Stier handelte, der mordsgefährlich war? Ich legte den Kopf schief, um unter den Bauch des Tieres zu schielen, und war sehr erleichtert, als ich ein rosa Euter mit vier Zitzen dort baumeln sah. Eindeutig weiblich. Sehr schön. Mit Mädchen kann ich besser als mit Jungs.
»Mann, Mama. Du musst die auch anschreien«, rief Lu, nachdem sie ebenfalls die Autotür geöffnet hatte, und rollte mit den Augen – das kann sie gut, ich habe es ihr selbst beigebracht.
»Und was ist, wenn die sauer wird?«
Lu lachte und wedelte ihrerseits mit den Händen. »Hast recht, pass bloß auf, du provozierst die Kuh noch mit deiner Angst.« Sie trat an meine Seite, und ich wollte sie hinter mich schieben, denn es passte mir gar nicht, dass sie sich in Gefahr begab.
»Geh wieder ins Auto«, zischte ich und suchte die Umgebung nach einer möglichen Waffe ab, falls das Tier plötzlich ausrasten sollte. Mein Blick fand einen abgebrochenen Zweig auf der Straße, eine alte Gießkanne mit Löchern und einen Kieselstein zu meinen Füßen. Blöd.
»Ich glaub, mit der stimmt was nicht«, sagte Lu und trat einfach auf das Tier zu, während ich noch dabei war, im Hirn sämtliche Tierdokus durchzugehen und zu checken, ob ich da nicht mal aufgeschnappt hatte, wie man einer freilaufenden Kuh begegnet. Lu streckte ihre Hand aus und berührte einmal kurz die Nase der Kuh, was reichte, um das Tier aus seiner Starre zu wecken. Es machte ein paar Schritte und taperte an unserem Auto vorbei. Ich träumte schon vom Happy End, als die Kuh-Schwestern in dem Stall, der zur Straße hin offen war, unruhig wurden und ein wahres Konzert veranstalteten. Es schien ihnen nicht zu passen, dass nur eine von ihnen Ausgang hatte.
»Worauf warten wir? Lass uns nach Hause fahren«, drängte Lu und schwang sich zurück ins Auto. Ich stand noch eine Weile genauso doof da wie die ungebildete Weidedame zuvor und grübelte. Was wäre, wenn ich einfach davonfuhr und der nächste Autofahrer einen Unfall deswegen baute? Eine Kuh machte sich bestimmt nicht gut als Kühlerfigur. Schon Rehe sind gefährlich, wenn sie sich einem vors Auto werfen. Und so eine Kuh ist wesentlich größer und schwerer. Außerdem würde es bald dunkel werden und man könnte sie leicht übersehen. Oder was wäre, wenn sie weiterspazierte und zur Autobahn lief? Oder wenn es sich bei diesem Exemplar Rindvieh um eine sehr wertvolle Kuh handelte und sie dem Bauern für immer verlorenging? All diese Szenerien wären meine Schuld, wenn ich mich jetzt einfach aus dem Staub machte. Und ein schlechtes Gewissen vertrug sich noch nie gut mit meinem Appetit und mit meinem Schlafverhalten.
Ich schlug die Fahrertür zu, ohne mich ins Auto zu setzen. Ganz zur Überraschung meiner Tochter. »Was hast du vor?«, rief sie.
»Ich werde jemanden suchen und mal eben Bescheid geben, Lu«, erklärte ich. »Wir können die ja nicht einfach herumstreunen lassen.« Zivilcourage beginnt bei den kleinen Dingen.
Auf dem Weg zu oder von unserem Pony kamen wir regelmäßig an diesem Hof vorbei, und sonst war immer irgendwas los: ein Trecker hier, ein Güllefahrzeug da, jemand, der Äxte schwang und Holz hackte oder Silohaufen eindeckte. Doch heute war niemand zu sehen, wenn man von der Kuh absah, die damit begonnen hatte, an dem kleinen Grünstreifen zu knabbern, der sich zwischen Zaun und Straße entlangzog. Ein Stück entfernt standen zwei Wohnhäuser, und ich versuchte beim ersten mein Glück. Weil niemand öffnete, schlug ich bald auf die Klingel des zweiten Rotklinkerbaus. Während ich wartete, wurde ich langsam nervös, weil meine Gedanken schon wieder losmarschierten und mir einfiel, was ich heute vergessen hatte zu erledigen. Müll raustellen und Papier zusammentragen – morgen kam die Müllabfuhr. Und wann hatte ich eigentlich das letzte Mal die Blumen gegossen? Obwohl ich eine Menge To-do-Listen führe, um meinen Kram hinzukriegen, und mich von mehreren Eieruhren und Weckern regelmäßig an diese To-do-Listen erinnern lasse, rutschen mir doch immer mal wieder Dinge durch. Da genügt es, dass mir auf dem Weg zur Mülltonne meine hungrige Katze begegnet, und ich lasse den Müllsack einfach mitten auf dem Weg stehen, um Miezi ihren Napf zu füllen. Und da steht der Sack dann, zehn Meter von der Tonne entfernt – auch dann noch, wenn die Müllabfuhr längst abgefahren ist. Ihr Lieben in Orange, können wir nicht irgendeinen Deal aushandeln, dass ihr bei mir eine ganz große Ausnahme macht und den Müll auch an der Haustür abholt, wenn die Tonne mal wieder leer geblieben ist?
Ich blickte mich um, wo eigentlich hier die Mülltonnen standen, ich hatte gar keine gesehen, da sah ich, dass Lu ungeduldig auf dem Rücksitz des Wagens herumhampelte. Ihr Unmut steckte mich sogleich an, und meine Gedanken, die bislang nur herumgeschweift waren, begannen zu kreiseln. Ganz ADS-mäßig, wie sie es oft tun. Ich reiste in die Vergangenheit, in der ich meine Nase regelmäßig in Dinge gesteckt hatte, die mich verdammt noch mal nichts angingen. Mir fielen Situationen ein, in denen ich es wie jetzt mit einem Fremden gut gemeint hatte, ihm dadurch allerdings den Tag versaute. Wie zum Beispiel bei jener Bahnreise, bei der ich während einer Vollsperrung der Strecke nach Hamburg ganz aufgeregt und fehlinformiert eine Omi in den falschen Zug setzte. Bis heute frage ich mich, ob sie jemals zu Hause angekommen ist.
Ein Knarren holte mich zurück in die Gegenwart, als die Haustür sich doch noch öffnete. In diesem Moment fiel mir auf, dass sie von einem wunderschönen Taubenblau war, das dem Graublau der Augen, die mich interessiert musterten, sehr ähnlich sah. Hoppla!
»Hallo«, begrüßte mich eine raue Stimme.
Meine Gedanken verhedderten sich in meinem Hirn, während ich das Gesicht vor mir betrachtete. Dreitagebart, weiche Züge, Lachfalten und dichte Augenbrauen, die mich an Robert Pattinson erinnerten. Ja, ich steh auf Edward aus der Verfilmung der Twilight-Saga, okay? Ein Kissenabdruck oder Ähnliches zog sich über die rechte Wange des jungen Mannes, und überhaupt sah er etwas verpennt aus.
»Entschuldigung«, nuschelte ich und überlegte fieberhaft, was noch mal der Grund dafür war, ihn geweckt zu haben. Immerhin war heute Sonntag, Ruhetag.
»Wie bitte?« Er lächelte, ein umwerfendes Lächeln. So besonders, schüchtern, warm und freundlich, dass es etwas mit mir anstellte. Aus irgendeinem Grund wollte ich mich abstützen und verlor prompt den Halt, als ich nach einer alten Wäschemangel griff, die leider nur zur Zierde dort stand. Blöd.
»Vorsicht, die steht nicht ganz fest«, warnte der Typ mich noch, während sein Lächeln verrutschte.
»Tja, ich auch nicht«, blubberte ich zu seinen Füßen. Nachdem ich wieder auf die Beine gekommen war, versuchte ich mich an einer lässigen Haltung in meiner dreckigen Reithose mit dem defekten Reißverschluss, der von einer Sicherheitsnadel zusammengehalten wurde. Ich stützte die Hände in die Hummelhüfte und schüttelte aus Verlegenheit mein Haar, was total bescheuert aussehen musste, denn der junge Mann wich meinem Blick plötzlich aus.
»Also, warum ich hier bin.« Ja, warum noch mal? Ach ja, die Kuh! »Die blöde Kuh ist schuld.« Präziser, Mina! »Sie wissen schon, die Dinger, die Muh sagen und …«
»Mh.« Er verengte den Blick, ließ die Tür etwas weiter zuschwingen. Vermutlich überlegte er, sich in die Sicherheit des Hauses zu flüchten.
»Ich wollte nur Bescheid geben, dass möglicherweise eine von Ihren Kühen ausgebrochen ist. Ich meine, vielleicht reagiere ich ja vollkommen über, immerhin ist es ja gut möglich, dass sonntags immer einmal eine der Kühe Ausgang hat. Mal die Ida, mal die Anneliese, und an Feiertagen auch mal Helga und Ilse zusammen?« Ich grinste dümmlich, und der junge Mann guckte mich weiter an. Stumm, aber wenigstens freundlich.
»Ach, Ihre Kühe haben bestimmt gar keine Namen mehr wie früher, sondern nur noch Nummern, oder? Sie haben ja so viele davon. Haha.« Plappern gehört zu meinen Stärken, und ein Teil von mir stand irritiert daneben und überlege, mir selbst einen Tritt zu verpassen. »Na ja, falls dem so ist und ich das Landleben nur noch nicht richtig verstanden habe, dann entschuldigen Sie bitte die Störung.« Oh ja, und die Störung, die sich in meinem Gesicht abspielt, bitte gleich mit, dachte ich, denn ich fürchtete, dass ich gerade alles andere als normal aussah, so wie ich guckte. »Sie sind doch der Bauer, dem die Kühe gehören?«
Er nickte. So weit, so gut. Immerhin reagierte er auf mich.
»Ich werde mich darum kümmern«, versicherte er mir schließlich, und ich tat einen Schritt rückwärts. Dabei übersah ich die oberste Stufe der kleinen Treppe, die zur Haustür führte, und legte ein nicht besonders ästhetisches Ballett hin. Mein Knöchel knackste, während ich über einen Lavendelbusch hüpfte, und mir fiel ein, dass ich zu Hause unbedingt noch die Blumen aus dem Baumarkt einpflanzen musste, bevor sie starben.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Mann besorgt und reichte mir die Hand. Ach, was für ein Gentleman.
»Alles tutti, ich werde dann mal schnell gehen …« Ich wagte es nicht, nach der Hand zu greifen, denn vom Ausreiten und dem vorangegangenen Sturz war ich ja noch total schmutzig.
»Ja, gern. Einen schönen Tag noch«, wünschte er mir, während ich weiter rückwärtsging und in seine hübschen Augen sah. Ach, wie süß er aussieht. Und wie nett er ist.
Ein Hupen ertönte und ließ mich herumschnellen, bevor ich rücklings über den Blumenkübel mit Lavendel fallen konnte. Lu war mit ihrer Geduld am Ende. Zeitgleich erwachte die Kuh, die die ganze Zeit neben unserem Auto gestanden und auf unvergleichliche Kuh-Art in die Welt geblickt hatte, zum Leben und sprintete in Richtung Stall zurück. Hinter mir schloss sich die Tür, und der Bauer war weg.
Während der ersten einhundert Meter, die ich in Richtung nach Hause fuhr, guckte ich mehr in den Rückspiegel als auf die Straße. Ich fragte mich, wann der fesche Bursche gedachte, seine Kuh festzusetzen. Er schien es nicht sonderlich eilig gehabt zu haben, und mir gingen allerlei Dinge durch den Kopf: Wenn man von etwas viel hat, meinetwegen Kühe, ist es dann nicht so schlimm, falls davon ein Teil verloren geht? Und wie verhält sich das eigentlich mit Herzen? Wenn man ein großes hat, dieses aber nur bedingt teilen will, kann man dann etwas dagegen tun, wenn sich ein Stück davon selbstständig macht?
Mir fiel meine erste große Liebe ein, deren Dynamik sich schließlich auch selbständig gemacht und ein ziemlich heißes Feuer entfacht hatte. Buchstäblich.
***
Wenn ich an Marc zurückdenke, sehe ich zuerst seine braunen Augen vor mir. Wir waren sieben Jahre alt und unzertrennlich. Wenn es nach meiner Mutter gegangen wäre, wären wir heute verheiratet. Da es jedoch nach seiner ging, sind wir es nicht. Sie mochte es nicht sonderlich, wenn ich ihm unsere alte Hundeleine umlegte, aus Angst, er könne verloren gehen. Ihr lacht? So etwas passiert! Als mein kleiner Bruder Henry nicht einmal zwei Jahre alt war, kam er uns einmal bei Karstadt abhanden und tauchte erst ganze drei Stunden später wieder auf. Es war fast Weihnachten, und Henry hatte sich in eine Weihnachtselfenkulisse verirrt und in eine kleine Eisenbahn gesetzt, die ihn munter immer schön im Kreis herumfuhr, bis er irgendwann einpennte. Meine Mutter stand unterdessen solche Ängste aus, dass sie weinte, und ich muss zugeben, es war wirklich schrecklich, nicht zu wissen, ob wir Henry je wiedersehen würden oder nicht. Es fühlte sich an, als würde sich etwas Scharfkantiges in meine Brust bohren, das mir das Atmen erschwerte.
Nach dieser Erfahrung war es nur logisch, meinen Freund Marc an die Leine zu legen, denn da wir gern durch die nahen Wälder und Moore streiften und Abenteuer erlebten, musste man vorsichtig sein. Außerdem spielten die Mädels in der Schule ständig Pferd, da wurden der ein oder anderen auch Trense und Zügel aus Seilen und Gummitwist angelegt. Was also sprach gegen Leine und Halsband?
Ich für meinen Teil denke, Marcs Mutter hätte mir dankbar sein sollen, dass ihr Sohn mir so am Herzen lag und ich auf ihn achtgab. Ich übernahm Verantwortung, das war etwas Gutes. Vor allem, weil gerade das ADSlern manchmal schwerfällt. Aber gut, mein Syndrom war damals ja noch lange nicht diagnostiziert, und so war ich in den Augen vieler einfach das verschrobene Mädchen.
Eines Tages begaben Marc und ich uns auf die Pirsch. Wir spielten das Märchen Drei Nüsse für Aschenbrödel nach. Ich war natürlich das Aschenbrödel, die zukünftige Prinzessin, und Prinz Marc mit seinem Pfeil und Bogen auf der Jagd, um ein Reh zu erlegen, bevor ich ihm dazwischenkam und das imaginäre Wild verscheuchte. Das Spiel wurde wilder, Marc jagte jetzt mich. Mit pochendem Herzen flitzte ich durch die Reihen der Birken, und er folgte mir, ganz ohne Leine. Was für ein tolles Spiel! Trotz dessen ich vor ihm davonlief, passte ich auf, dass der Abstand zwischen uns nie zu groß wurde. Und als er mich erwischte, war da das erste Mal dieses Gefühl in meinem Magen. Neu und prickelig wie Brausepulver. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob ich Hunger hatte. Wie andere ADSler konnte ich Empfindungen noch nie sonderlich gut auseinanderhalten. Kopfschmerzen zum Beispiel nehme ich schnell mal als Unruhe war, Hunger als Wut, oder umgekehrt.
In diesem Fall wurde mir jedoch schnell klar, dass es Schmetterlinge waren, die in meinem Magen umherschwirrten. Diese hübschen Biester, von denen so viele Leute erzählten und die unmittelbar mit der Liebe in Verbindung stehen.
»Ich hab dich«, hauchte Marc und drehte mich in seinem Arm. Ich roch seine Zimtkaugummis und ließ es zu, dass er die Hundeleine um meine Mitte legte. »Du bist jetzt meine Gefangene«, meinte er.
»Nie im Leben«, trotzte ich, und er ließ mich wieder los. Sofort machte sich Enttäuschung in mir breit. Er könnte ruhig etwas beharrlicher sein.
»Ich bin der Prinz, dieser Wald gehört mir. Also, was tust du hier?«, fand er ins Spiel zurück.
Ich reckte ihm kämpferisch mein Kinn entgegen. »Ich beschütze die Tiere vor dir, du böser Jäger.«
Marc überlegte einen Augenblick. »Aber es sind meine Tiere, und ich könnte dich in den Kerker werfen lassen.« Er griff nach meinem Handgelenk. »Es sei denn …« Er beendete seinen Satz nicht und guckte mich nachdenklich an. Alles wurde still in dem Wäldchen. Der Wind, der eben noch um die Bäume gestrichen war, hielt den Atem an.
»Es sei denn was?«, hakte ich nach und stutzte, denn Marcs Miene wurde ernst. Das war sehr ungewöhnlich, denn üblicherweise lachte Marc. Immer. Nur jetzt nicht mehr.
»Es sei denn, du küsst mich.« Seine Hand lag noch immer um mein Handgelenk, und ich begann zu schwitzen.
»Na gut, aber nur, wenn du mich dann auch heiratest«, antwortete ich und war recht stolz auf mich, dass ich so weit in die Zukunft plante. Viel zu oft dachte ich Dinge nämlich nicht zu Ende, was mitunter üble Folgen nach sich zog. Wie die Woche zuvor, als ich auf die Idee gekommen war, meinem dreijährigen Bruder ein umwerfendes Make-up mit Mamas neuer Schminke zu verpassen. Leider hatte ich nicht bedacht, dass sie als Kosmetikerin nun keine Ware mehr für ihre Kunden hatte, nachdem mein Bruder zwei bis drei Lippenstifte aufgegessen hatte, während ich ihm Unmengen Lidschatten auftrug.
»Heiraten? Ich bin aber erst sieben«, holte mich Marc aus der Erinnerung an das Donnerwetter danach zurück. Sein Mundwinkel zuckte jetzt wieder zu einem seiner schiefen Lächeln, was mich ungemein beruhigte.
»Das macht ja nichts. Es reicht, wenn du es mir versprichst«, antwortete ich also und befeuchtete unwillkürlich meine Lippen. Marc stand so nah bei mir, ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht und dann …
»Du zitterst ja«, bemerkte er und wurde selbst ganz nervös. Morsche Äste knackten unter seinen Füßen, als er unruhig vor mir herumzappelte. Ich griff nach der Hundeleine und fühlte dem zerfransten Leder nach.
»Dir ist kalt, oder?«, fragte Marc ganz fürsorglich.
Ich machte einen Systemcheck. Kalt war mir nicht, nein, ich hatte lediglich die unangenehme Angewohnheit zu bibbern, wenn ich aufgeregt war.
Marc kam die Erleuchtung. »Ich hab’s, ich mach ein Lagerfeuer für meine Prinzessin.« Ein Strahlen erschien auf seinem Gesicht, er nahm mich an der Hand und führte mich zurück in seinen Garten. In Windeseile trug er trockenes Laub und Holz zusammen, das wir in eine Tonne stopften, um es anzuzünden. Während Marc im Haus nach Streichhölzern kramte, ging mir der Satz meiner Mutter durch den Kopf: Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht.
Umso mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass wir nicht mehr klein waren. Gleich würden wir uns küssen wie große Leute. Also feuerte ich Marc, kaum dass er zurück im Garten war, an: »Super Idee. Wie ein Pfadfinder.«
»Oder wie ein Krieger, der mit seinen Truppen kampiert, bevor er in die Schlacht zieht.«
»Au ja, ich bin dabei. Mach ein ganz Großes.«
Ich setzte mich entspannt auf einen Gartenstuhl und beobachtete meinen Helden dabei, wie er mit den Streichhölzern ein Feuer entfachte. Es war enorm, wie schnell es aufloderte und eine behagliche Wärme zu uns herüberschickte. Marc hatte an alles gedacht. Er hatte die Tonne in einem Sicherheitsabstand zu den Bäumen platziert. So schlau, mein Prinz. Und damit es nicht so schnell ausging, holte er gleich noch ein paar Zeitungen und Bücher von drinnen.
Endlich setzte er sich zu mir und legte seinen Arm um meine Schulter. »Und, wie gefällt es dir?«, fragte er stolz.
»Das ist sehr cool«, sagte ich zufrieden und beobachtete die Flammen und den Rauch.
»Nein, es ist hot«, murmelte Marc und starrte ebenfalls ins Feuer. Irgendwann begann ich damit, alles Mögliche, was ich so fand, in die Tonne zu werfen. Holzpuppen, Sterne und Kugeln, die überall an der Pergola hingen, und als Nächstes einen alten Lappen, der auf dem Gartentisch lag. Marc ließ mich gewähren und blickte mich schließlich unter dichten Wimpern an. Wir wurden ganz still.
Das konnten wir immer besonders gut zusammen. Einfach leise sein und nur vor uns hingucken. Das ging sonst mit niemandem, den ich kannte. Wenn ich das in der Schule tat und buchstäblich in meinen eigenen Gedanken versank, bekamen es die anderen Kinder mit der Angst zu tun. Marc nicht, er konnte das genauso gut wie ich. Manchmal frage ich mich, ob er ebenfalls ADS hat. Ob er ist wie ich. Das würde zumindest erklären, warum sich unsere schlechten Ideen so gern potenzierten, wenn wir zusammen waren.
Wir hatten regelmäßig schräge Ideen, die Marc schon zweimal ins Krankenhaus gebracht hatten. Einmal bauten wir eine Burg aus Papas alten Sommerreifen und Geäst der alten Birke aus unserem Garten, und weil Burgen ja der Übersicht wegen gern mal auf Bergen thronen, errichteten wir unsere auf dem Dach unseres Carports. Im Eifer des Gefechts schmierte Marc irgendwann sehr ungelenk ab und landete in der Hecke. Den zweiten Aufenthalt im Spital bescherte ihm der Untergang der Titanic, den wir eines Winters auf dem Nachbarsteich nachspielten, indem wir durch die Eisdecke einbrachen. Er übrigens zuerst, wie im Film. Wir wollten ja originalgetreu bleiben.
Keiner von uns sagte also ein Wort, während wir auf den Gartenstühlen nebeneinander vor der Tonne mit dem Feuer saßen. Mitten im Rauch. Und es geschah einfach. Er beugte sich zu mir herüber, und seine Lippen trafen unendlich sanft und unendlich feucht auf meine. Ui.
»Und? Wie war ich?«, fragte er alsbald.
Ich war noch ganz durcheinander. »Super«, nuschelte ich deshalb knapp und unterdrückte den Drang, die Spucke von meiner Unterlippe zu wischen. Rauch waberte zu uns herüber und hüllte uns kurz ein, bevor der Wind ihn davonwehte.
»Willst du noch mal?«, fragte er und grinste breit.
Ich war wieder am Zittern. Das Feuer knisterte nicht nur in der Tonne.
»Na gut. Aber nur noch einen.« Mehr würden meine Nerven sicher nicht aushalten. Ich war zu aufregt, weil ich mir Marc in einem Hochzeitsanzug vorstellte und mich dazu in einem passenden Kleid. Ich würde ein weißes mit Spitze anziehen und Blumen ins Haar stecken wie die Elfenprinzessin im Fernsehen.
Der nächste Kuss dauerte lange. Ich hielt die Augen fest geschlossen. So fest, dass ich weiße Blitze vor meinem inneren Auge sah und sie bewunderte. Irgendwann spürte ich, wie Marcs Lippen sich leicht auf meinen bewegten. Natürlich wusste ich überhaupt nicht, wie mir geschah, und fragte mich, wie genau man eigentlich schwanger wurde. Plötzlich war mir unbehaglich und viel zu warm. Das Knistern um uns herum war viel zu laut, und als ich meine Augen aufriss, stemmte ich Marc von mir weg.
»Heilige Scheiße!«, stieß er aus. Zuerst meinte er unseren abrupt beendeten Kuss. Auf den zweiten Blick das Feuer, das inzwischen meterhoch aus der Tonne loderte. Ich stand ruckartig auf und kippte rücklings samt Stuhl in den Dreck.
»Tu was!«, krähte ich und warf Sand und Gras in die Richtung der Flammen.
»Ja, was denn?«, schnappte er zurück.
»Du bist doch der Mann! Du musst wissen, was man da macht«, bestimmte ich und dachte an die Worte meines Opas, der gern Männersachen definierte: Dinge reparieren, Tiere jagen und erlegen und Feuer machen. Wie in der Steinzeit halt.
Währenddessen sprühten Funken aus der Tonne, drohten, das Gras und vielleicht den ganzen Garten in Brand zu setzen. Marc begann, einen seltsamen Tanz auf den Ausläufern des Feuers zu veranstalten. Und tatsächlich trampelte er die Flammen tot. Und auch die Flammen in der Tonne wurden kleiner, nachdem er Sand aus der Sandkiste darauf geschaufelt hatte. Ich war so stolz auf ihn. Mein Held.
»Das wäre erledigt«, meinte er schließlich, und ich warf mich an seinen Hals und glotzte verzückt in seine braunen Augen.
Es ist so eine Sache, Brände zu löschen. Die im Herzen mögen am tückischsten sein, doch die in Tonnen stehen ihnen in nichts nach. Denn auch die können neu ausbrechen, wenn man sie längst verloschen wähnte. Ziemlich hinterfotzig, wenn man mich fragt.
Während Marc und ich siegessicher Hand in Hand ins Haus gingen, euphorisiert von unserem ersten Kuss und ganz gefangen in unserer Rolle als Prinz und Prinzessin, fraß das Feuer sich frei und steckte den Rasen in Brand. Ich ahnte nichts von dem, was da kommen sollte, und war selig. So sehr, dass ich sogar darauf verzichtete, Marc die Hundeleine umzulegen, weil er mir ja jetzt irgendwie sicher war. So verlobt.
»Habt ihr mir was zu erzählen?«, fragte Marcs Mutter sichtlich verärgert, als sie sehr viel später in sein Zimmer kam. Marc pfefferte Pfeil und Bogen in eine Ecke und tat cool.
»Wir waren jagen, okay?« Der überlegene Gesichtsausdruck meines Prinzen verrutschte, als er das rußverschmierte Gesicht seiner Mutter sah und er die Lage begriff.
Seine Mutter hatte Schlimmeres verhindert und ganz allein den Garten gerettet. Ich muss zugeben, mein Kopf war für einige Sekunden so leer, dass ich nicht mehr wusste, was genau als Nächstes geschah. Ich glaube, Marcs Mutter rief meine Eltern an. Sie war eine sehr schlaue Frau und wusste sofort, dass nur wir für dieses Unglück verantwortlich sein konnten. Unsere Verlobung wurde augenblicklich gelöst, und ich bereute, dass ich Marc die Hundeleine dieses eine Mal nicht umgelegt hatte. Vielleicht hätte sie etwas ausrichten können und wir wären nicht für immer getrennt worden?
Was soll ich sagen? Das waren meine ersten schlechten Ideen in Sachen Liebe. Marc und ich durften nicht mehr miteinander spielen, was sehr tragisch war. Zumindest für mich, da das Feuer in mir noch lange nachbrannte und mir ziemliche Schmerzen verursachte. Besonders als ich mitbekam, dass mein Geliebter plötzlich mit einem anderen Mädchen aus dem Dorf Prinz und Prinzessin spielte.
Emotionale Übererregbarkeit ist ein großes Thema für mich und andere AD(H)Sler. Genauso wie die daraus resultierende Überfokussierung, das Reinsteigern in Konflikte oder eben jede neue Obsession. Weckt irgendetwas oder irgendjemand unsere Begeisterung, rückt alles andere in den Hintergrund, und zumindest ich bin manchmal nicht in der Lage, Handlungen angemessen zu dosieren.
Zehn Monate vergingen, in denen mir der junge Robert-Pattinson-Bauer nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Ich hatte herausgefunden, dass er Jonas hieß und viel zu jung für mich war – eines Tages hatte da dieses Plakat an einer Hauswand des Hofes gehangen, mit einer 25 darauf und Happy Birthday, Jonas!, ziemlich eindeutig, und ich sagte mir immer wieder, dass ich ihn mir aus dem Kopf schlagen sollte. Doch es gelang mir nicht.
Beinahe täglich sahen wir uns aus der Ferne, wenn ich zu Cherryblossom fuhr. Manchmal hatte ich das Gefühl, der Jungbauer wartete schon auf mich, nur um mich zu grüßen. Denn jedes Mal wenn ich am Hof vorbeituckerte, kam er gerade mit einem Trecker, auf dem Fahrrad oder zu Fuß um die Ecke und hob die Hand zum Gruß. Aber Einbildung ist ja bekanntlich auch eine Bildung, denn niemals machte er Anstalten, mich anzusprechen, und er winkte vermutlich nur aus purer Höflichkeit.
Es war erstaunlich, was für Gründe ich mir selbst suchte, um immer und immer wieder denselben Weg abzureiten und einen Zusammenstoß quasi herbeizuführen. Zum Beispiel war mir der Waldweg, den ich hätte nehmen können, plötzlich zu schlammig und zu dunkel und die Hauptstraße zu sehr befahren, die Hühner eines Nachbarn jagten Cherryblossom neuerdings irgendwie Angst ein – hach, dieses überempfindliche Pferd –, und überhaupt, am schönsten konnte man nun mal über den Hof reiten. Allerdings konnte es einfach nicht so weitergehen.
In meiner Verzweiflung griff ich zum Telefon und wählte die Nummer meiner Freundin Airi, die über die langen Jahre unserer Freundschaft all meine desaströsen Love-Interrests kennengelernt und umfangreiche Erfahrungen im Ausreden doofer Ideen gesammelt hatte.
Es klingelte viel zu lange. Dinge, die ich noch erledigen musste, gingen mir durch den Kopf: Wäsche aus der Maschine holen, dieses Mal, bevor sie anfing zu stinken, Kartoffeln schälen und Gemüse putzen … Wie zur Bestätigung schrillte eine meiner Eieruhren los, die mich ans nahende Abendessen erinnern sollte. Meine Tochter sah es nicht gern, wenn sie vom Tanzunterricht nach Hause kam, hungrig wie ein Wolf, und es stand nichts auf dem Tisch. Kann ich verstehen, und ich fragte mich, ob ich eigentlich das Gulasch von vorgestern aus dem Tiefkühler geholt hatte.
»Hallo? Wer stört?«, begrüßte mich Airi am anderen Ende der Leitung, als ich gerade auflegen wollte, um dem Gefrierschrank einen Besuch abzustatten.
»Ich.« Mein Blick wanderte erneut zur Uhr, es war fast fünf, und mir fiel ein, dass das Fußballtraining ihres Sohnes näher rückte. Unmögliche Zeit für einen Sechsjährigen, wie ich fand. Ich selbst hätte schon jetzt tot ins Bett fallen können.
»Was gibt’s? Ich muss gleich los. Weißt du doch.« Airi hielt die Luft für Sekunden an, das tat sie immer, wenn sie ein Seufzen unterdrückte.
»Oh. Stimmt ja«, sagte ich zerknirscht und gähnte. Ich schlief zu wenig, dank des Gedankenkreiselns und der Träumereien von einem Typen, den ich nicht kannte. Es hat seine Nachteile, wenn man sich super in Dinge reinsteigern kann. Dunkle Augenringe sind nur eine der Nebenwirkungen. »Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll«, maulte ich in den Hörer. »Ich werde noch verrückt. Möglicherweise muss ich auswandern, damit mein Hirn mir wieder gehorcht.« In Gedanken packte ich bereits meinen Hausrat zusammen.
»Ach herrje.« Airi lachte, aber ich konnte nicht entscheiden, ob es fröhlich klang oder entnervt. Im Hintergrund hörte ich ihre Kinder herumtoben, möglicherweise stritten sie um irgendetwas. Dinge gingen zu Boden, Füße trampelten umher.
»Immer noch der Bauer?«, fragte Airi leicht abgelenkt, und bevor ich antworten konnte, wurde es noch lauter auf ihrer Seite des Telefons. O Gott! Ein Kläffen. Es hörte sich an wie das Gebell eines Pinschers oder etwas Ähnlichem, das schnell außer sich gerät.
»Seit wann habt ihr einen Hund?« Irritiert ging ich die Gespräche der letzten Wochen durch. Hatte ich was überhört? Ich konnte mich an Airis Überlegung erinnern, für die Kids einen Hasen anzuschaffen – aber einen Hund?
»Wir haben keinen Hund, was redest du da?« Sie klang ungeduldig und brüllte etwas in den Hintergrund, das sich nach Schluss jetzt! anhörte.