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Michaela Moll – von allen nur Mieze genannt – hat einen liebevollen Ehemann, eine süße Tochter und ist hauptberuflich Hausfrau. Allerdings ödet sie ihr Alltag zwischen Bauklötzen und Mutti-Stammtisch mehr und mehr an. Um wieder etwas Abwechslung in ihr Leben zu bringen, bewirbt sie sich kurzerhand um einen Bürojob im Polizeirevier – und wird prompt eingestellt. Wie es der Zufall so will, platzt die schlagfertige Blondine gleich an ihrem ersten Arbeitstag in einen Undercovereinsatz in einer Table-Dance-Bar. Zum Glück weiß sie sich zu helfen und tanzt sich als sexy Pole-Dancerin mal eben aus der Bredouille – was ihr umgehend eine Beförderung zur verdeckten Ermittlerin im Rotlichtmilieu einbringt. Den Balanceakt zwischen ihrem Alltag als Mama und ihrer Geheimexistenz als Undercover-Agentin meistert Mieze fortan mit jeder Menge Charme, einer beeindruckenden Beobachtungsgabe und viel Witz – und sorgt für heitere Krimiunterhaltung vom Feinsten.
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Seitenzahl: 401
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Prolog. Wer macht denn sowas?
1. Trautes Heim, Glück allein
2. Willkommen im falschen Film
3. Spagat und andere Akrobatik
4. Der Personaleingang zur Hölle
5. Brenzlig
6. Igitt, wie geil!
7. Verrückte Frösche
8. Mamas Liebling
9. Stille Wasser sind tief und dreckig
10. Wer andern eine Grube gräbt, ist selbst ein Schwein
11. Die Katze lässt das Mausen nicht
12. Die Katze auf dem heißen Wellblech
13. Ich zeig dir, was ’ne Harke ist
14. Die lieben Kinder
15. Das verrückte Gewissen
16. Holy shit
17. Ende gut, die Katz war gut.
Danksagung
»Ist ja gut, mein Süßer, alles wird gut.«Gabrieles Worte klingen leise und beruhigend, ihre gummibehandschuhten Finger streichen rhythmisch über das kurze schwarze Fell, kraulen das Dreieck hinter dem linken Ohr. »Bald hast du es hinter dir.«
»Er kann Sie nicht hören.«
Manchmal fragt sich Gabriele, wie ein Mensch, der so gut in seinem Beruf ist, gleichzeitig so schlecht im Umgang mit Menschen sein kann.
»Sprechen Sie mit ihm, wenn er aufwacht.« Dr. Wilhelm nickt Silke zu, die ihm den Schweiß aus dem Gesicht wischt. Ihre Kollegin mochte er schon immer lieber als sie, das weiß Gabriele. Obwohl sie besser mit Tieren kann. Vermutlich hat es gar nichts mit ihr zu tun, sondern ist so ein grundsätzliches Typending. »So, jetzt haben wir’s gleich. Schauen wir mal, was den Obstruktionsileus verursacht hat. Tupfer.«
Silke tupft, während Gabriele weiterkrault. Auch wenn der Hund sie nicht hören kann, so spürt er doch, dass jemand bei ihm ist, dessen ist sich die Tierarzthelferin sicher. Außerdem hat sie dem aufgelösten Frauchen versprochen, ihrem Liebling nicht von der Seite zu weichen.
»Bei Dr. Wilhelm ist er in guten Händen«, hatte sie der jungen Frau, kaum älter als zwanzig, versichert. »So einen Darmverschluss haben wir öfter mal.«
»Kann ich nicht bei ihm bleiben? Bitte!« Die Frau – wie heißt sie noch mal? Gabriele ist schlecht mit Namen, was nicht gut ist in einer Praxis, aber es ging halt alles so schnell – die Frau fasste Gabrieles Hände und blickte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Bitte, ich kann ihn nicht allein lassen, bitte!« Neue Tränen rannen ihr über die Wangen, und sie schluchzte laut auf. »Das habe ich doch nicht gewollt, bitte, bitte, Sie müssen ihn retten! Ich werde ihn nie wieder unbeaufsichtigt lassen, nie wieder! Bitte …«
»Sie dürfen nicht mit in den OP.« Mit sanfter Gewalt zog Gabriele das Frauchen von dem Labrador weg und bugsierte es durch den Flur zum Aufwachraum. »Sie können hier warten«, bot sie der Frau an. »Hier ist es ruhiger. Ich werde bei Ihrem Hund bleiben, versprochen. Setzen Sie sich, meine Kollegin bringt Ihnen einen Tee.«
Die Frau war auf dem Stuhl zusammengesackt, kaum dass sie die Sitzfläche berührte, hatte das Gesicht in den Händen verborgen und geweint, dass die Schultern bebten.
Armes Ding, hatte Gabriele gedacht, bevor sie in den OP-Saal eilte, um ihr Versprechen einzulösen. Als sie eintraf, hatte Silke den Hund bereits intubiert, während Dr. Wilhelm über den Ultraschallbildern brütete.
»Dass die Leute nicht aufpassen können, was ihre Hunde fressen«, brummte er vor sich hin. »Und wenn’s dann schiefgeht, ja, dann ist der Katzenjammer groß. Und was sie dann nicht alles versprechen …«
»Das Frauchen wusste nicht, was es sein könnte?«, erkundigte sich Silke.
Dr. Wilhelm schüttelte den Kopf. »Nein. Mit der war ja kaum zu reden, so aufgelöst wie die war. Vielleicht war’s eine von diesen Kaffeekapseln, das würde die Symptome erklären, von denen sie faselte.«
Schwester Gabriele erinnerte sich: Wie ein Wahnsinniger sei das Tier durch die Wohnung getobt, hatte das Frauchen zwischen heftigen Schluchzern gestammelt, nachdem sie mit dem zitternden Hund auf dem Arm in die Praxis gestürzt war – eine schier unmögliche Leistung für die zierliche Frau. Irgendwann habe sich das Tier im Wohnzimmer erbrochen und sei schließlich winselnd zusammengesackt.
»Na, was haben wir denn da?« Dr. Wilhelms grüne Finger halten ein kleines Tütchen in die Höhe, das er aus dem Darm des Hundes entfernt hat. »Sieht mir nicht nach einem Kaffeepad aus.«
Silke hält ein Tablett hin, auf das Dr. Wilhelm das Tütchen fallen lässt. Er beugt sich wieder über den Hund, vergräbt seine Finger in der blutigen OP-Wunde und fördert ein weiteres zu Tage. Und noch eines. Aus dem vierten rieselt kristallines Pulver heraus.
»Wer macht denn sowas?«, entfährt es Silke, und beinahe kippt ihr das Tablett aus den Händen.
»Gabriele, schauen Sie nach dem Frauchen und sorgen Sie dafür, dass sie im Aufwachraum bleibt.« Dr. Wilhelm atmet scharf ein. »Und dann verständigen Sie die Polizei.«
In diesem Moment springt das Alarmsignal des EKG-Geräts an und Dr. Wilhelm ruft: »Scheiße!«
»Schatz! Schaaaatz?! Wo sind denn meine beiden Liebsten?«
»Im Bad.«
Mein Mann! Mein Herz tut einen erleichterten Satz gegen meinen Rippenbogen. Endlich nicht mehr allein mit meinem desaströsen Tag. Ich höre Fabian die Treppe heraufkommen, dann steht er schon in der Tür.
»Ist denn schon wieder Haarwaschtag?«, will er wissen. Schön wär’s!
Ich schüttle den Kopf und seufze: »Handyföhntag.« Ich halte mein tropfendes Smartphone hoch und werfe einen finsteren Blick zu Tochter Lou, die fröhlich gluckst und sich in Papas Arme wirft, als sei überhaupt nichts gewesen. Als hätte sie nicht gerade mein teuerstes Gerät in der Kloschüssel versenkt. Ihre Wangen glühen von leichtem Fieber – 38,2 Grad habe ich vorhin gemessen. Das ist nichts Halbes und nichts Ganzes: zu hoch, um sie in den Kindergarten zu bringen, zu niedrig, um sie schlafen zu legen. Den ganzen Tag über habe ich mein Bestes gegeben, die quengelnde Dreijährige zu bespaßen und nebenher den Haushalt zu schmeißen. Und das ist anstrengender, als den Kölner Halbmarathon zu laufen. Zumindest stelle ich mir diese sportliche Leistung nicht halb so schwer vor. Da bekommt man am Wegesrand immerhin mal eine Flasche Wasser oder ’ne Banane gereicht, und mühsame Diskussionen darüber, ob Socken bei einer Erkältung an den Füßen bleiben oder nicht, fängt da auch niemand an. Am Ende weint man ein paar Endorphin-Tränen, während eine Menschenmenge tobt und applaudiert.
Mich dagegen bejubelt keiner dafür, dass ich seit zwölf Stunden auf den Beinen bin und immer noch lächle. Im Gegenteil, mein Publikum, allein aus Lou bestehend, wird sogar ziemlich ungnädig, wenn ich es wage, auch nur ein einziges Mal das Wort »nein« in meine aufmunternden Sätze einzubauen. An der frischen Luft war ich heute auch noch nicht, und der Vitamin-D-Mangel macht sich gefühlt bemerkbar und drückt zusehends auf meine Stimmung.
Ich schaue mich um und sehe, wie Fabian schon mit unserer Kleinen kuschelt. Mir ist gerade auch danach, mich erschöpft in seine Umarmung fallen zu lassen, also drängle ich mich ebenfalls an ihn.
»Ich bin so froh, dass du endlich da bist«, sage ich, während ich mich an meinen Mann schmiege. Das nasse Handy stopfe ich in meine Gesäßtasche.
»Hast du geweint?«, fragt Fabian mit kritischem Blick auf meine geröteten Augen und setzt unsere Prinzessin auf den Boden, um einen Arm um mich zu legen.
»Das kann ja mal vorkommen«, antworte ich leicht verschämt und hole tief Luft. »Lou hat Fieber, kaum gegessen und keinen Mittagsschlaf gemacht. Dafür hat sie gequengelt und meine Nerven liegen blank. Als sie dann noch mein Handy ins Klo hat fallen lassen, gerade nachdem sie … ihr Geschäft verrichtet hat …« Ich schlucke gegen erneute Tränen an. Fabian versteckt sein Grinsen, indem er mich fest an sich drückt. Sein vertrauter Duft beruhigt mich.
»Süße, wegen eines Telefons musst du doch nicht heulen. Dann kaufen wir dir eben ein neues«, meint er, und ich nicke tapfer. Seine Hände streichen meinen Rücken hinab und wieder herauf, und ich würde jetzt gern einfach nur hier stehen und meinen Mann machen lassen.
»Aber ich will meine Fotos und Kontakte zurück«, murmle ich.
»Hast du …«
»Nein.« Ich schüttle den Kopf; ist ja klar, was er fragen will. Ist ja nicht das erste Handy, das ersetzt werden muss. Das letzte fiel einem Wutanfall zum Opfer, Gott, ich weiß schon gar nicht mehr, was der Auslöser war. Irgendein Update, das nicht funktionierte, oder eine App, die etwas anderes tat, als sie sollte. Oder vielleicht war es auch der Anruf von Dinkelkeks-Doro, meine Lieblings-Hass-Mutter aus dem Kindergarten, die mir mal wieder mal eben irgendwas Blödes überhalf. Denkst du dran, dass morgen Elternabend ist und jeder eine Kleinigkeit mitbringt? Du machst doch wieder diese Gebäckstangen, ja? Ich würd’s ja selbst machen, aber heute schaff ich das gar nicht, ich hab noch so viel zu tun, und du bist ja eh zu Hause, nicht? Danke, du bist die Beste! So oder so ähnlich wird’s gewesen sein, und nachdem Dinkelkeks-Doro aufgelegt hatte, bevor ich sie darauf hinweisen konnte, dass sie doch selbst den ganzen Tag zu Hause ist, überschlug sich das Handy dreimal auf dem Küchenfußboden, und das Display verabschiedete sich aus diesem Leben. Das Erste, das Fabian mich damals fragte, war: »Hast du ein Back-up gemacht?« Mal ehrlich, wer macht das schon? Von seinem Smartphone? Ich jedenfalls nicht.
Fabian seufzt. »Ich schaue mal, was ich tun kann«, verspricht er und küsst eine Träne von meiner Wange.
»Das war ein Unfall«, erklärt Lou plötzlich, die auf ihrem Bobbycar sitzt und uns ganz genau beobachtet. Sie zuckt ihre kleinen Schultern. Umständlich erhebt sie sich von ihrem Auto und watschelt auf uns zu. »Ich kann jetzt aufs Klo gehen, und dann: ups«, berichtet sie weiter, legt den Kopf schief und hebt bedauernd ihre Händchen. Das sieht so drollig aus, dass ich lächeln muss, während Lou ihre Arme um meine Beine wickelt.
»Ja, du Monsterchen«, sage ich zu ihr, hebe sie hoch und drücke sie in Fabians Arm. Papa ist doch die beste Medizin. Wie happy Lou jetzt ist, wo er zu Hause ist. Glücklich kuscheln wir uns zusammen, und ich vergesse mein blödes Handy.
Der Rest des Abends verläuft wie immer. Nach dem gemeinsamen Essen räume ich die Küche auf, während Fabian Lou bettfertig macht. Umziehen, Zähne putzen und im Bett noch eine Geschichte lesen. Und noch eine. Und noch eine. Nach dem dritten Pixi-Buch übernehme ich, weil Fabian, wie fast jeden Abend, noch ein paar E-Mails lesen und beantworten muss. Er kümmert sich um die IT-Sicherheit einer großen Firma, und das bedeutet viel Verantwortung.
»Feierabend auf Knopfdruck gibt’s da nicht«, sagt er immer, wenn ich ausnahmsweise doch mal zu einer »Musst du wirklich«-Frage ansetze. Also lese ich unserer kleinen Prinzessin Büchlein vier bis sieben vor, bis ihr endlich die müden Augen zufallen. Jetzt heißt es Licht aus, auf leisen Sohlen den Rückzug antreten und die Tür schließen. Denn Supermutti – das bin ich! – hat jetzt Erwachsenenzeit. Ich freue mich auf einen gemütlichen Abend mit meinem Schatz, denn so voll wird sein Postfach doch wohl nicht sein, oder? Vielleicht ein Glas pfälzischen Riesling, ein schöner Film und eine Fußmassage …
»Wo willst du denn hin?«, frage ich überrascht, als ich Fabian in Jacke an der Tür stehen sehe, wo er gerade nach seinem Autoschlüssel greift.
»Tut mir leid, Schatz. Softwarenotfall in der Firma«, entschuldigt er sich, während er etwas in sein Handy tippt. »Dauert maximal eine Stunde.« Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn, und ich bin zu perplex, um noch etwas zu erwidern. Da gehen sie hin – adieu, Fußmassage und gemütlicher Abend.
Als Fabian viele Stunden später ganz leise zu mir ins Bett klettert, stelle ich mich schlafend. Dabei bin ich hellwach, und meine Gedanken rasen durch meinen übervollen Kopf. Ich war zu müde, um noch irgendwas mit mir anzufangen, zu lustlos, und schließlich bin ich einfach ins Bett gefallen, um zu schlafen. Das war jedenfalls der Plan, aber da lag ich dann, müde und doch wach, schlapp im Körper, nur das Hirn noch putzmunter. Und es ist ja nicht immer schön, was sich so ein Denkorgan einfallen lässt, wenn es nicht anständig beschäftigt wird. Wenn dein Mann so eine super Arbeit macht, wie seine Kollegen immer sagen, wieso muss er dann ständig abends arbeiten?, wollte mein Hirn zum Beispiel wissen. Sollte doch alles perfekt funktionieren, wenn er sich schon den ganzen Tag darum kümmert.
»Die Welt ist schlecht«, antwortete ich, »und mein Fabian rettet die Welt … also seine Firma vor den ganzen bösen Hackern da draußen.«
Fünfmal pro Monat? Oder waren es sieben Mal? Immer am gleichen Wochentag?
»Das stimmt nicht. Der letzte Notfall war an einem Montag … Moment mal, worauf willst du hinaus, du mieses Hirn?«
Tjaaaa …
Und da war er dann, der Gedanke, einmal gefasst und unwiderruflich zwischen meinen Schläfen gefangen. Schließlich kann ich die quälende Frage nicht mehr für mich behalten und lasse sie über meine Lippen kommen.
»Hast du eine Affäre?«, frage ich in die Dunkelheit des Zimmers und höre Fabians scharfes Einatmen.
»Bitte was?«
»Du hast mich schon verstanden. Bist du fremdgegangen?«
»Das habe ich gehört. Und nein, ich habe keine Affäre.«
Fabian knipst die Nachttischlampe an und sieht mich mit seinen braunen Augen fragend an. »Wie kommst du denn auf so eine Idee?« Er rollt sich auf die Seite, stützt seinen Kopf in die Hand und mustert mich lange.
»Du bist abends so oft weg, manchmal bis weit nach Mitternacht.«
»Ich bin in der Firma – du kennst meinen Job. Was ist heute bloß los mit dir, Mieze?«
Wenn ich das so genau wüsste. Ich recke trotzig mein Kinn vor. »Wir sehen uns kaum noch und haben nur noch selten … Sex«, überlege ich laut. Fabian schaut mir tief in die Augen, sein Mundwinkel zuckt ganz leicht.
»Das können wir sofort ändern, wenn du willst«, meint er und küsst mich sanft. Erst kribbelt es wirklich in meinem Bauch, aber dann überfällt mich wieder die Unruhe, die mich die ganze Zeit schon ausfüllt wie ein leeres Gefäß.
»Jetzt nicht«, flüstere ich und schiebe ihn von mir. »Ich kann nicht.«
Fabian sieht enttäuscht aus, was auch ein bisschen schön ist, trotzdem muss ich jetzt erst mal mit ihm reden. »Tut mir leid, dass ich dich verdächtigt habe. Ich … Es kommt mir einfach so vor, als wäre ich gestrandet«, sage ich. »Ich liebe es, Mutter zu sein, aber manchmal fühle ich mich inmitten dieser ganzen Aufgabe … einsam.« So, jetzt ist es heraus. »Und … na ja, und du bist eben viel weg, und ich sitze hier und habe nur mich und meine Gedanken. Und die sind nicht immer nett.« Fabian rückt an mich heran und hört aufmerksam zu, also fahre ich fort: »Du hast dein eigenes Leben, während ich in einem Dasein versinke, das sich nur noch durch Kleinkinderkram definiert. Ich komme kaum raus, bloß bis zum Spielplatz, bis zum Mülleimer und wieder zurück. Alles dreht sich um Bobo Siebenschläfer, Bastel- und Turngruppen und die Themen, die andere Mütter so zu bieten haben: glutenfreie Keksrezepte, Windel-Dermatitis, Zuckerersatzstoffe und das Jammern über fehlende Zeit für die eigene Körperhygiene.«
Ich drehe mich mit Schwung auf den Rücken, falte die Hände auf meiner Brust und rede weiter, gestehe Fabian und irgendwie auch mir selbst, wie sehr ich meine alten Freundinnen vermisse, die ich nicht mehr treffe, weil sie arbeiten, wenn ich frei habe (sprich, wenn Lou im Kindergarten ist und ich mich um den Haushalt kümmern sollte, manchmal dann aber doch um zwölf Uhr auf dem Sofa aufwache), und die frei haben, wenn ich beim Kinderturnen, Babyschwimmen oder Mutti-Stammtisch bin, wo ich hin muss, damit meine Lou kein Außenseiterkind wird und all die wichtigen Kompetenzen erwirbt, die sie im späteren Leben mal brauchen wird. Sich gegen Arschgeigen durchsetzen zum Beispiel oder wie man über schmale Bänke balanciert und durch Stofftunnel robbt. Braucht man. Ganz sicher.
Oh, wie sehr fehlen mir Gespräche ohne Kinderthemen, weil ich gezwungenermaßen die ganze Zeit mit anderen Müttern verbringe. Noch dazu mit Müttern, die alles jederzeit besser im Griff zu haben scheinen als ich selbst. Vollzeit-Vorzeigemütter, wie ich sie gern nenne. Mütter, die jede Mahlzeit selbst kochen, wohingegen ich die gekauften Gläschen kistenweise nach Hause schleppe. Bei denen alles bio ist – sogar das Haarwaschmittel – und die ständig mit einer App prüfen, ob eine Sonnencreme mit Hormonen belastet ist oder nicht. Bei denen ist sogar das Lammfell echt, auf das sie ihre Babys betten, während es sich bei Lous nur um ein Imitat aus Baumwolle handelt. Mütter, die keine Feuchttücher dabeihaben, sondern eine Sprühflasche, falls mal was in die Windel ging. Warum? Weil sie der Feuchttücher-Industrie und deren Zusatzstoffen nicht trauen. Aber natürlich geht bei denen eigentlich lange nichts mehr in die Windel, weil deren Kinder selbstverständlich schon ewig trocken sind. Ganz im Gegensatz zu meiner süßen Hosenscheißer-Maus, die erst kürzlich damit begonnen hat, ihr Töpfchen nicht mehr als überdimensionales Trinkgefäß anzusehen.
Kurzum: Ich vermisse mein altes Leben. Meine alten Freundinnen, die wie ich einen gut gezogenen Lidstrich zu schätzen wissen. Meinen alten Job und mein altes Ich, das sich gern in der Welt dort draußen behauptete.
»Dann nimm dir Zeit dafür, für deine Freundinnen«, sagt Fabian, der mich ununterbrochen hat reden lassen und jetzt verständnisvoll und auch ein bisschen hilflos meine Hand drückt. »Triff deine alten Mädels, macht einen drauf. Geh aus, hab Spaß – ich kümmere mich um Lou. Dann komme ich abends halt mal etwas früher von der Arbeit.«
Ich blinzle ein Tränchen weg. »Das ist lieb von dir.« Ich schlucke. »Aber das hilft mir nicht weiter. Es geht nicht um einen Abend.«
Fabian sieht aus, als wäre ihm der Bus vor der Nase weggefahren. Ich bin sicher, dass er sich ein Seufzen verkneift. »Gut, dann nimm dir mehr Zeit. Ein Wochenende. Ich kann meine Mutter fragen, ob sie ein paar Tage zu uns kommt …«
Ich unterbreche ihn. »Du verstehst mich nicht. Ich will keinen draufmachen, ich will … ich will …« Ich brauche einen Moment, um zu formulieren, was ich eigentlich will. Und bevor ich es endgültig ausspreche, war es mir selbst nicht bewusst. »Ich will wieder arbeiten!«
Fabian starrt mich mit offenem Mund an und setzt sich im Bett auf. Ich tue es ihm gleich. Einige Sekunden gucken wir uns beide überrascht an.
»Aber warum das denn? Das haben wir doch gar nicht nötig«, sagt er schließlich, ohne dass ich seinen Tonfall deuten kann. Irgendwas zwischen Fassungslosigkeit und Resignation. Vielleicht auch Angst. Ich kann ihn nicht länger ansehen und studiere stattdessen das Karomuster unserer Bettwäsche. Nicht besonders stylisch, aber der Stoff ist superkuschelig. Und es war ein Schnäppchen.
»Das weiß ich«, murmele ich. »Ich möchte trotzdem gern wieder mein eigenes Geld verdienen.«
»Du kannst dir alles kaufen, was du willst, Schatz.«
»Ich liebe dich für deine Großzügigkeit, darum geht es aber nicht. Es fühlt sich einfach schöner an, wenn ich es mir verdient habe.«
Fabian lacht freudlos auf. »Du verdienst es dir ja, indem du unser Kind großziehst. Denkst du, ich weiß nicht, was für einen Knochenjob du jeden Tag leistest?«
Ich denke daran, dass er damals nicht lange überlegt hatte, als es um die Frage ging, ob er zwei Monate Elternzeit nehmen sollte, um den vollen Anspruch aufs Elterngeld zu bekommen.
»Unsere Lou ist wirklich eine Zaubermaus«, hatte er gesagt, »und ich verbringe so wahnsinnig gern meine Zeit mit ihr. Aber den ganzen Tag allein, nur sie und ich? Weißt du, das schaffe ich nicht.«
Er hatte mich angesehen mit einer Mischung aus Scham und Furcht im Gesicht, als würde ich ihm gleich vorwerfen, der mieseste Vater aller Zeiten zu sein. Dabei war ich gerührt gewesen von seiner Ehrlichkeit, die ich so wahnsinnig süß fand. Und Lou war noch so klein und finanziell waren wir nicht auf das Elterngeld angewiesen, also blieb ich freudestrahlend weiterhin zu Hause. Und blieb. Und blieb. Und da bin ich nun.
Natürlich hat Fabian recht. Das Geld reicht dicke, und ich muss ihn ja auch nicht fragen, wenn ich mir etwas kaufen möchte.
»Ich will meinen Kopf wieder mit etwas beschäftigen, das über Bauklötze stapeln, Puzzles machen und Kinderlieder singen hinausgeht«, sage ich jetzt, weil es stimmt und weil das vielleicht mehr zieht. »Ich will mich geistig anstrengen und mal wieder Kontakt mit Menschen haben, die nicht ständig Wörter wie ›Pipi‹ oder ›Kacka‹ verwenden. Menschen, die andere Sorgen haben als das Nicht-Durchschlafen, die Kein-Gemüse-essen-Phase oder die neuen Backenzähne ihrer Kinder. Ich will mich wieder mit Zahlen und Papierkram, mit Telefonieren und Organisieren außerhalb des Haushaltes beschäftigen.« Ich suche in Fabians Blick nach Verständnis. »Ich bin Bürokauffrau, verdammt noch mal, und ich wünsche mir, dass meine Leistung in schwarzen Zahlen auf meinem eigenen Konto zu sehen ist, anstatt immer nur in Form des süßesten Lächelns dieser Welt bezahlt zu werden.«
Fabian hat meine Hand inzwischen wieder losgelassen. Er gähnt. Dann dreht er sich auf die Seite und knipst sein Licht aus. »Oder«, er gähnt noch einmal, »ich kann dir einfach etwas mehr Haushaltsgeld überweisen.«
Ich beuge mich zum Nachttisch und schalte meine Lampe an. So leicht kommt er mir nicht davon! »Ich fürchte, mein Schatz, du hast mich nicht ganz verstanden«, sage ich gefährlich leise.
»Doch, doch«, meint Fabian ernst. »Es ist nur schon sehr spät, und vielleicht sollten wir erst einmal über diese fixe Idee schlafen.«
»Du willst nicht, dass ich wieder arbeite, hab ich recht?« Ich muss mich zusammenreißen, um nicht an seiner Schulter zu rütteln, damit er mich endlich wieder ansieht.
»Ich mache mir nur Sorgen wegen Lou.« Er zieht die Decke höher, verschwindet fast darin, sodass ich das Gefühl habe, mit seinem Haarschopf zu sprechen. »Ich meine, wer kümmert sich denn dann um sie?«
»Ich könnte nur halbtags arbeiten«, erkläre ich seiner Frisur. »Da ist Lou im Kindergarten. Das bekommt sie gar nicht mit.«
»Mmmh.«
»Mmmh, was? Mmmh, ich schlafe jetzt gleich ein?«
»Ich bin echt müde, Schatz.«
»Und mir ist das echt wichtig. Also, was hältst du von der Idee?«
»Nicht so viel wie du.« Fabian seufzt. »Aber wenn du denkst, dass du das tun musst, will ich dir nicht im Weg stehen.«
»Wirklich?«
Er dreht sich auf den Rücken und blinzelt mir mit einem Auge zu. »Natürlich!«
Zufrieden lösche ich das Licht und lege meinen Kopf auf seine Brust. »Danke.« Nun ist alles gut. Darauf kann ich ihn morgen festnageln.
»Es ist nur …«, beginnt er nach einem Moment der Stille zögerlich. »Na ja, die Arbeitswelt hat sich ganz schön verändert. Und ich frage mich, ob du nach der langen Pause …«
»Drei Jahre.« Plötzlich bin ich es, die ganz müde ist und herzhaft gähnen muss. »Ich war ja nicht ewig weg.«
»Das ist eine ganze Weile im digitalen Zeitalter. Ob du da so schnell wieder in alles reinkommst?«
»Das werden wir dann ja sehen«, murmele ich und klinge dabei sehr viel zuversichtlicher, als ich es eigentlich bin. Denn tatsächlich habe ich mich das auch schon gefragt. Aber wer einhändig Anträge für einen Kitagutschein nebst Einkommensnachweis ausfüllen kann (Mutterschafts- und Elterngeld muss man angeben, den Gewinn vom Flohmarkt darf man rausrechnen), während sie unter Lego-Beschuss steht und zugleich Gulasch kocht, die sollte keine Angst vor Excel, PowerPoint und Outlook haben, oder?
»Du musst wirklich wieder arbeiten? Warum das denn?«, fragt mich Ilka verdutzt und schiebt sich ihre Brille dabei höher auf die Nasenwurzel.
»Hattet ihr Streit?«, vermutet Charlotte und verschüttet Xucker, einen gesunden und natürlichen Süßstoff, neben ihrer Tasse. Das macht sie ständig, und einmal mehr frage ich mich, wie einer allein so schusselig sein kann.
»Er hat eine Affäre! Wie kann er dir das nur antun?!« Das ist Jasmin, die dritte im Bunde, in deren entsetztes Gesicht ich gucke. Sofort verschlucke ich mich an einem Stück zuckerfreien, heute besonders trockenen Bananenkuchen. Mama-Stammtisch, diese Woche bei Ilka, die absolut nicht backen kann, jedenfalls nicht lecker, nur öko.
»Unsinn!«, fahre ich auf. »Was ist denn bitte mit euch los? Schon mal daran gedacht, dass ich vielleicht wieder arbeiten möchte?« Ich blicke einer nach der anderen ins schockierte Gesicht. »Ich meine, fällt euch denn nie die Decke auf den Kopf? Sehnt ihr euch nicht nach etwas mehr Herausforderung?!«
Charlotte dreht beleidigt den Kopf zur Seite. »Mein Sohn ist mir Herausforderung genug«, murmelt sie in ihr übergroßes Hals- und Stilltuch, das sie nicht nur aus sentimentalen Gründen noch immer mit sich herumträgt.
»Ich wusste gar nicht, dass du dich langweilst«, schiebt Ilka hinterher und steht auf, um frischen Kaffee aufzusetzen. »Langeweile? Dagegen kann man was tun. Meine Fenster habe ich seit Wochen nicht mehr geputzt! Das kannst du gern übernehmen.«
»Ich hätte auch noch ein bisschen Bügelwäsche«, ergänzt Jasmin, und die drei brechen in Gekicher aus, das einer Teenie-Clique würdig wäre. Wie so oft kann ich nicht mitlachen. Nicht nur, weil der Witz auf meine Kosten geht – ich fühle mich so missverstanden. Noch dazu, wo Ilkas Fenster blitzeblank aussehen, ganz im Gegensatz zu meinen eigenen, durch die man nach dem Putzen manchmal schlechter rausgucken kann als vorher.
»Ich rede nicht von Hausarbeit«, versuche ich, einfühlsam zu erklären – mal ehrlich, Mädels, wie empfindlich kann man eigentlich sein? »Ich habe seit Monaten keine Fenster geputzt und bin schon froh, wenn ich es schaffe, die Bügelwäsche in die Reinigung zu bringen und auch wieder abzuholen. Die Kindererziehung ist eine Riesen-Herausforderung, und ich schätze, Bombenentschärfen ist leichter, aber ich will einfach mal wieder meinen Kopf benutzen und mein eigenes Geld verdienen, das ich dann auch selber ausgebe.« Zu meiner großen Verwunderung kommt nicht sofort der nächste zynische Spruch hinterher, sondern langsam einsetzendes, zögerliches Nicken … zumindest von Ilka.
»Ich versteh dich schon ein bisschen«, gibt sie zu. »Aber neben Kind, Mann und Haushalt könnte ich nicht auch noch arbeiten gehen. Ich meine, zeig mir eine Anstellung heutzutage, bei der man tatsächlich halbtags arbeitet. Alle müssen doch ständig Überstunden machen, um nicht rauszufliegen. Wer pünktlich geht, braucht gar nicht erst wiederzukommen. Außerdem sind unsere Kinder dauernd krank. Zumindest bei uns jagt ein Infekt den nächsten.« Die anderen beiden nicken zustimmend.
»Sie hat recht«, stimmt Jasmin zu. »Wir sind auch dauerkrank. Und arbeiten würde bei mir nur gehen, wenn Bernd stundenmäßig reduziert. Das können wir uns gar nicht leisten. Außerdem, mal ehrlich: Der Haushalt würde den Bach runtergehen, Luis verhungern, und Bernd wäre schon bald so unausgelastet, dass er auf blöde Ideen käme.«
»Wie meinst du das?«
»Keine Ahnung … den ganzen Tag PlayStation spielen und Bier trinken. Vielleicht eine Affäre mit unserer Putzhilfe anfangen«, überlegt sie und dreht dabei manisch eine Locke um ihren Finger. Wir starren Jasmin entgeistert an. »Was? Jetzt schaut mich nicht so an. Ich glaube, Männer brauchen das …«
»Brauchen was?«, fragt Ilka verwirrt nach. »Eine Affäre? Wenn ich dafür ’ne Haushaltshilfe kriege, ist mir das recht!« Sie halbiert das vorletzte Bananenkuchenstück und hebt es sich mit ernster Miene auf den Teller. War das ein Scherz?
»Nein! Der alleinige Ernährer sein … ihr wisst schon.« Jasmin macht eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist so ’ne Art Urinstinkt. Männer wollen die Beute schießen und nach Hause bringen.«
Ilka schenkt Kaffee nach und wendet sich wieder an mich: »An was hattest du denn gedacht? Willst du wieder als Bürokauffrau arbeiten?«
»Ich weiß nicht so genau …« In Gedanken bin ich immer noch bei dem Neandertaler mit Keule und Beute. Ist Fabian deshalb so wenig begeistert von meiner Idee, wieder arbeiten zu gehen? Weil ich ihm das Privileg des Alleinernährers streitig machen würde? »Ich dachte, ich schau mich mal um, was es so gibt. Eigentlich kann ich ja alles. Bis auf bügeln. Und schlafen.«
»Oh, Schätzchen, täusch dich da mal nicht«, schießt Charlotte los. »Der Arbeitsmarkt ist anders geworden.« Boa, die auch noch!
»Du klingst schon wie Fabian«, stöhne ich und will mir einen Schluck Kaffee gönnen, verbrenne mir aber die Lippen daran. Autsch.
»Aber es stimmt! Du musst total fit sein, was den ganzen Computer- und Internetkram angeht. Social-Media-affin und son Zeug …«
»Bin ich!«, sage ich überzeugt. Ob trockener Bananenkuchen bei Verbrennungen hilft? Hätte ich doch bloß ein Schälchen Sahne mitgebracht, wie sonst auch, um den Gesundheitswahn der anderen zu kompensieren, was mir zwar jedes Mal wütend-mitleidig-neidische Blicke einbringt, den Spaßfaktor von Vollwert-Kleiekeksen jedoch drastisch erhöht. Leider habe ich es heute nicht mehr in den Supermarkt geschafft, weil ich Lou zweimal umziehen musste, bevor wir das Haus verließen. Einmal wegen einer Apfelsaft-Dusche und das zweite Mal, weil die Entfernung zum Klo einfach kolossal unterschätzt wird. Von Lou zumindest.
Apropos …
»Mamaaa!«, schreit es aus dem Kinderzimmer, und ich erkenne das zarte Stimmchen meiner Tochter, das es locker mit einer Sirene aufnehmen könnte. »Wir haben Fenster malt!« Mir schwant nichts Gutes …
Als ich ins Kinderzimmer stürze, kann ich einen hysterischen Schrei nicht unterdrücken. Lou hat die Fensterscheiben im Kinderzimmer von Ilkas Tochter Lotta verschönert. Mit Textmarker. Wasserfest. Sieht so aus, als müsste ich heute tatsächlich etwas länger bei Ilka bleiben … Endlich mal wieder Fenster putzen. Schade nur, dass es nicht wenigstens mal meine eigenen sind.
»Und? Gibt’s schon was Neues von der Front?«, fragt Fabian. Wir sitzen im Auto, im Kofferraum stapelt sich der Wochenendeinkauf, zu dem ich am Vormittag mal wieder nicht gekommen bin. Was war es heute noch mal? Richtig, die Diskussion über angemessenes Schuhwerk. Kuschelpuschen und Nieselregen vertragen sich einfach nicht, aber erklärt das mal einer Dreijährigen. Um es kurz zu machen: Wir blieben zu Hause und versöhnten uns mit einem Eis am Stiel. Es geht doch nichts über einen Flutschfinger!
Seit ich den Entschluss gefasst habe, wieder arbeiten zu gehen, ist bereits ein Monat vergangen. Ein Monat, in dem ich täglich Stellenausschreibungen gelesen und zig Bewerbungen losgeschickt habe.
»Wie war denn das Bewerbungsgespräch in dem Callcenter?« Während Fabian den Blinker setzt, schaue ich mich zu Lou um, die in ihrem Kindersitz mit ihren Füßen zur Radiomusik wackelt. Das soll das Beste von heute sein? Ganz schön deprimierend, denke ich, bevor ich Fabian antworte: »Das war seltsam. Ich muss da etwas Entscheidendes in der Stellenbeschreibung überlesen haben.« Ich schneide Lou eine Grimasse, sie lacht glucksend und versucht, mich nachzuahmen.
»Wie meinst du das? Also lief das Gespräch nicht gut?«
»Doch, doch. Es lief fantastisch.« Ich seufze. »Bis zu dem Moment, in dem ich gefragt wurde, ob ich ein Problem damit hätte, vor der Webcam nicht nur oben-, sondern auch untenrum ohne zu sein und auf Wunsch auch Hilfsmittel einzusetzen, die über das Headset hinausgehen. Da wurde ich stutzig.«
Fabian tritt etwas zu fest auf die Bremse, und Lou, die bis eben heftig an ihrem Schnuller saugte, spuckt ihr Heiligtum aus und reißt überrascht die Augen auf.
»Oh, oh, Papi muss sis besser aufs Fahren konsentiern«, zitiert sie mich zwitschernd. Gut aufgepasst, Süße! Den Führerschein wirst du in 15 Jahren spielend schaffen.
»Du hast dich bei einer Sexhotline vorgestellt?« Mein Mann ist fassungslos. Das Auto hinter uns hupt unfreundlich, weil er keine Anstalten macht, weiterzufahren.
»Na ja, ich wusste ja nicht, dass sie mit ›motivierte Mitarbeiterin im Unterhaltungsbereich‹ an so etwas dachten.«
Fabian lacht und fährt wieder an. Im Rückspiegel sehe ich den Fahrer hinter uns wild gestikulieren und ein paar unschöne Gesten machen. Ich drehe mich um und werfe ihm eine Kusshand zu. Lou hat sich unterdessen ihren Schnuller geangelt, schließt ihre Augen und nuckelt jetzt rhythmisch zur Musik. Ich denke kurz über die Gefahr von Zahnfehlstellungen nach und über die richtige Entwöhnungsstrategie. Dinkelkeks-Doro wüsste sicher, was zu tun ist. Trotzdem werde ich sie nicht fragen. Niemals!
»Lou, Mäuschen, wir sind gleich zu Hause.« Der Kopf unserer Prinzessin sackt verdächtig zur Seite, und ich kitzele ihr Bein. »Du musst jetzt nicht Heia machen.«
»Na, da wäre mir ja sogar die Stelle bei der Werbeagentur lieber gewesen.« Fabian schnalzt missbilligend mit der Zunge.
»Mir auch«, nuschle ich und denke an dieses besondere Vorstellungsgespräch als Empfangsdame einer Werbeagentur. Bis auf die Location – eine superschicke, sonnendurchflutete Agentur über den Dächern Kölns – kann man das ebenfalls als Katastrophe verbuchen. Mir war nicht nur dieser etwa zwanzigjährige CEO mit Hornbrille, Vollbart und Flip-Flops suspekt, sondern auch die Tatsache, dass er mir Smoothie-schlürfend erklärte, die ersten Monate könne ich selbstverständlich als Praktikantin angestellt und vergütet werden. Nämlich gar nicht.
»Immerhin hätte es Smoothies für lau gegeben. Und das jeden Tag. Quasi Job inklusive Vitaminschock«, überlege ich, und Lou lächelt, als ich sie erneut kitzle.
»Ruf sie doch an und sag ihnen, dass du es machst. Wer weiß, was für Möglichkeiten sich daraus ergeben«, meint mein Mann.
Mir klingeln die Worte des jungen Typen im Ohr: »Wir sind hier eine große Familie.«
»Noch eine Familie, die mich nicht bezahlt? Ich will ja nicht unbedingt reich werden, aber nein danke«, sage ich und beobachte entsetzt, wie Lou jetzt doch einpennt. Ihre Lider schließen sich und ihr Köpfchen sinkt nach hinten ins Kissen. Scheiße, scheiße, scheiße!
»Oh, nicht doch, Mäuschen. Wir sind wirklich gleich zu Hause«, jammere ich. Vergeblich. Ich bekomme keine Reaktion mehr von meinem Kind.
»Schläft sie etwa?«
»Ja«, grumpfe ich. »Tut sie.« Die Tragik hinter dieser Tatsache erschließt sich wahrscheinlich nur Eltern, denn erfahrungsgemäß sorgt so ein Managerschläfchen dafür, dass Lous Batterie wieder auf »full« gestellt wird. Und da es schon Abend ist, war’s das mit der Elternzeit für Mama und Papa.
»Und wenn du doch wieder bei Giovanni anfängst?«
»Gott bewahre.«
Nach den ersten Absagen hatte ich mich vor lauter Verzweiflung beim Eiscafé um die Ecke beworben und wurde vom Fleck weg eingestellt. Nach einem halben Tag, den ich damit verbracht hatte, anderen Müttern und Kindern Spaghettieis zu servieren, wusste ich jedoch, dass auch das nicht das Richtige für mich ist. Zum einen bin ich fürs Hin- und Hertragen wirklich überqualifiziert – eine Tatsache, über die ich großzügig hinwegsehen würde, wäre das Trinkgeld nicht viel zu mies (Mütter sind knauserig!). Zum anderen kann ich mich, beziehungsweise meine schlanke Linie, nicht der Gefahr von 35 verschiedenen italienischen Eissorten aussetzen. No way! Noch dazu, wo ich zum Frustessen neige. Also gab ich Don Giovanni einen Korb, den er ums Verplatzen nicht annehmen wollte. Er folgte mir bis auf die Straße, rang die Hände und hielt einen theatralischen Per cortesia!-Cara Mia-Monolog.
Endlich fahren wir von der Schnellstraße und kommen der Heimat näher. Zu Hause angekommen schnalle ich Lou ab und hebe sie aus dem Kindersitz. Wie zu erwarten, fühlt sie sich in ihrem Schlaf gestört und protestiert lauthals.
»Püppi, du kannst gleich weiterschlafen. Nur eben umziehen«, versuche ich, sie zu beruhigen, doch meine eigene Unruhe schwappt auf sie über. Sie dreht und windet sich, heult und schreit. Wie ich es hasse, wenn sie sich so urplötzlich mit aller Gewalt nach hinten aufbäumt und ich Angst haben muss, dass sie von meinem Arm fällt.
Ungelenk schließe ich die Tür auf, stelle Lou im Hausflur auf ihre Beine und ziehe ihr die Jacke aus. Große Krokodilstränen laufen ihr über die Wangen und in den Kragen ihres rosa Kleides. Als Fabian endlich unsere Einkäufe aus dem Auto geladen hat und hinzukommt, habe ich sie vollständig gewaschen und umgezogen.
»Papaaahh!«, freut Lou sich über seinen Anblick und hört augenblicklich auf zu weinen, während sie ihre kleinen Ärmchen nach Fabian austreckt und er sie hochnimmt. Hmpf, war ja klar. Mama macht die Arbeit, Papa hat das Vergnügen … Ein flüchtiger Blick auf die Uhr verrät mir, dass gleich Krimizeit ist. Und Elternzeit. Und Entspannungszeit.
»Lou muss jetzt schlafen gehen«, erkläre ich den beiden, die gerade mit der Kindercreme herumexperimentieren. Hallo? Ich habe die Kleine gerade frisch umgezogen!
»Nein«, antwortet Lou in meine Richtung (ich muss dringend an meiner Autorität arbeiten!) und schmiert Fabian eine Ladung Creme ins Haar.
»Oh, oh, nicht doch, Prinzessin«, protestiert er halbherzig und drückt ihr einen dicken Kuss auf die winzige Nase. Sie lacht, während Fabian sie auf ihr Bett setzt. In Nullkommanichts ist sie wieder auf den Beinen und rennt durchs Zimmer. Ihre nackten Füße machen klatschende Geräusche auf dem Parkettboden und erinnern mich daran, dass ich noch einmal durchwischen wollte. Was soll’s, übermorgen ist auch noch ein Tag.
»Komm schon her, meine Maus«, rufe ich ihr hinterher, während ich ein Paar Socken aufhebe, zusammenfalte und auf den Kleiderstapel lege. »Ab ins Bett jetzt!« Hoffnungsvoll breite ich die Arme nach ihr aus.
»Nein«, wiederholt sie mit leuchtenden Augen, macht eine Kehrtwende und flitzt davon. So viel zum Thema Power-nap im Auto.
»Ich glaube, ich will doch nicht wieder arbeiten«, sage ich sehr viel später zu Fabian, als wir vor der fünften Folge der neunten Staffel irgendeiner Krimiserie sitzen, der ich vor lauter Müdigkeit kaum folgen kann.
»Aha«, sagt er zufrieden und haucht mir einen Kuss auf den Hinterkopf.
»Ja. Irgendwie hab ich mir das einfacher vorgestellt, etwas zu finden. Aber alles, was ich bisher versucht habe, ging schief.«
»Ach, Mieze, mach dir nichts draus. Du hast es versucht. Und das zählt. Ich bin stolz auf dich.« Fabian legt seinen Arm fester um mich. Ich will ihm so wahnsinnig gern zustimmen, meinen Kopf einfach auf seiner Brust liegenlassen, den Krimi schauen und nicht weiter darüber nachdenken. Aber irgendwie geht das nicht. Es fühlt sich nicht richtig an. Soll ich mich etwa so schnell vor Charlotte, Jasmin, Ilka und dem Rest der Welt geschlagen geben? Und mich Bananenkuchen mampfend ins Hausfrau- und Mutterexil zurückziehen? Wenn er wenigstens lecker wäre …
Zwei Tage später klage ich meinem Paps mein Leid. Es ist Sonntag, Opa-und-Oma-Tag, was Fabian dafür genutzt hat, sich aus dem Staub zu machen, um einem Kumpel aus der Patsche zu helfen.
»Der hat irgendein Problem mit seinem Rechner«, sagte er und war verschwunden, bevor ich fragen konnte: »Wann hat mal nicht jemand ein Problem mit seinem Rechner? Du bist nicht Batman, weißt du?«
Während die Tür ins Schloss fiel, erkundigte sich Lou: »Wer ist Bettmän? Sowas wie das Sandmännchen?«
»So ähnlich, Schatz.«
Nun sitzt sie im Garten bei Opa auf dem Schoß und verlangt zum hundertsten Mal, dass Schotter gefahren wird – so viel Abraum, wie die beiden in der letzten Viertelstunde weggeschafft haben, kann es nicht mal nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben haben …
»Ich hab das Gefühl, die wollen mich alle mürbe machen.« Sehnsüchtig ziehe ich meine Bewerbungsmappe aus der Tasche, die ich immer mit mir herumtrage, weil man schließlich nie weiß, wann man sie braucht. Oder wozu. Mein Lebenslauf eignet sich zum Beispiel ganz hervorragend als Mückenklatsche, wie ich gerade feststelle.
»Mama, nich’ Tiere totmachen!«, entrüstet sich Lou, während mein Paps sie in eine scharfe Linkskurve legt, bei der sie fast von seinem Schoß kippt.
»Hab sie gar nicht erwischt«, brummle ich, während ich heimlich die Insektenleiche wegschnipse und dann wehmütig mein Bewerbungsbild betrachte, für das ich mich mit allem Drum und Dran besonders rausgeputzt hatte: Lidschatten, Mascara, Lipgloss, nicht zu aufdringlich natürlich, ganz dezent. Dazu eine ordentliche Haarkur, damit die Mähne luftig-locker auf meine Schultern fällt. Fabian war zwei Stunden mit Lou auf dem Spielplatz gewesen, und ich hatte das Bad ganz für mich allein. Keine Mini-Hand, die nach meinen Sachen greift, und kein »Will auch mal«-Krähen. Nur ich und meine Tuben, Tiegel und Pinselchen … So in etwa stelle ich mir das Paradies vor.
»Vielleicht hat Fabian ja recht, und ich hab’s einfach nicht mehr drauf«, sinniere ich vor mich hin und lasse meine Bewerbungsmappe auf den Terrassentisch fallen.
»Und am Schluss wird abgeladen!«, ruft Papa und lässt Lou einen Salto von seinem Schoß machen.
»Noch mal!«, kreischt sie.
»’Türlich hast du es noch drauf, Miezchen«, sagt Paps, und ich brauche einen Moment, bis ich registriere, dass das eine Antwort an mich war. »Owacht!«, ruft er im bestem Pfälzisch – er ist gebürtiger Ludwigshafener, siedelte aus beruflichen Gründen jedoch nach Köln um, als ich vier Jahre alt war. »Einsteigen, anschnallen, Schotter fahren!« Irgendwer sagte mal, dass mit Eltern zu reden so sei, wie sich mit jemandem zu unterhalten, der Tourette hat. Man muss einfach damit leben, dass ständig unsinniges Zeug ins Gespräch eingeworfen wird »Du findest schon was. Erst die kleinen, feinen Steine …«
»Klar, Paps.« Klinge ich genervt? Macht nichts, er hört mir ja sowieso nicht zu. Seit Lou auf der Welt ist, spricht er fast nur noch mit ihr. Sei nicht so ungerecht, schelte ich mich selbst, immerhin müsstest sonst du den ganzen Schotter fahren. Ich stehe auf, um meiner Mutter in der Küche mit dem Riwwelkuche zu helfen. Eier köpfen oder Sahne schlagen vielleicht. Mir ist ein bisschen nach Gewalt …
Der Zufall kennt Wege, da kommt die Absicht gar nicht hin – drei Tage später wird mein Wunsch nach krimineller Energie prompt erfüllt. Ich kann’s kaum fassen: Eine Einladung zum Bewerbungsgespräch liegt in meinem Briefkasten, Absender ist der Revierleiter vom Polizeiabschnitt 43.
WHAT?!
… mit Interesse haben wir Ihre Bewerbung gelesen … als Assistentin für den Kriminalhauptkommissar … Wir freuen uns auf Ihren Besuch …
Obwohl ich mich nie ganz von meiner Stilldemenz erholt habe, bin ich mir ziemlich sicher, keine Bewerbung zur Polizei geschickt zu haben. Wie zur Hölle … Wie ein Lauf-Anfänger auf die Nase fällt es mir ein – Paps! Der alte Verhörspezialist! Bis er vor ein paar Jahren in den Ruhestand trat, war er Kriminaldirektor im Revier 42 und galt unter Kollegen als ausgebuffter Hund. Schon als Kind hatte ich darunter gelitten, dass er gern mal mit anderen Dingen beschäftigt wirkte, sodass ich mich traute, meine Finger nach den verbotenen Schätzen in den oberen Regalreihen auszustrecken – Papas geliebte und gehütete Angelköder, bunt, glänzend und schillernd, mit kleinen Haken und großen, mit Anhängern, Fransen und Federn. Und immer, wenn ich einen nehmen wollte, um ihn nur ganz kurz in meinen kleinen Händen zu halten und zu bewundern, kam von irgendwoher: »Finger weg, Mieze, die Haken sind spitz.« Jedes Mal erschrak ich zu Tode und stürzte halb vom Regal.
»Ich dachte, du liest Zeitung.« – »Ich dachte, du bist Schotter gefahren und hast mir gar nicht zugehört«, sage ich am Telefon.
»Ich hör dir immer zu, Mieze, das solltest du wissen.« Da Papas Stimme grundsätzlich knodderig klingt, weiß ich nicht, ob er beleidigt ist. Das weiß man bei ihm nie. »Du hast deine Bewerbungsmappe vergessen. Ich hab sie dem Herbert gegeben.«
Der Herbert, das ist Papas Angelfreund und zufällig der Revierleiter von Abschnitt 43. »Der sucht ’ne Assistentin, und du kannst doch so gut mit Zahlen.«
Ich bin sprachlos und gerührt. »Danke, Paps.«
Einen Tag später stehe ich mit etwas zittrigen Knien vor der Tür zum Revier und hole mehrmals tief Luft. Dann zwinkere ich meinem Spiegelbild in der Glastür aufmunternd zu: »Komm schon, Mieze, rock’ sie!«
»Guten Tag. Mein Name ist Mieze Moll, und ich bin die Frau, die Sie suchen!«, knalle ich raus, nachdem man mich vom Empfang durch einen hässlichen Flur in ein kleines Büro geleitet hat.
»Wirklich?« Der junge Typ mit Dreitagebart namens Lars Baum lehnt sich unbeeindruckt in seinem Chefsessel zurück. Sein dunkelblondes Haar fällt ihm verwegen in die Stirn, während er sich vorwärts rollen lässt und vom Tisch gestoppt wird. »Und wie kommen Sie darauf, dass Sie die Richtige für diesen Job sind, Frau Moll? Schon mal im öffentlichen Dienst gearbeitet?«
Will der mich einschüchtern? »Na, das bekomme ich auf jeden Fall hin! Ich denke, die freie Marktwirtschaft ist vermutlich härter.« Autsch! Ich beiße mir auf meine zu schnelle Zunge, als Herrn Baums rechte Augenbraue in die Höhe schießt. Paps hört solche Sätze auch nie gern …
»Ist das so?«
»Nein. Natürlich nicht. Das war ein Scherz, ich scherze gern.« Um Herrn Baum nicht ansehen zu müssen, lasse ich meinen Blick einmal durch den Raum schweifen und entdecke drei Pflanzen, die aussehen, als hätten sie regelmäßig Nahtoderlebnisse, viele Kaffeeflecken an den schlichten Möbeln und Papiere, die sich stellenweise stapeln oder aus Ablagen herausquellen. »Ich will nur sagen, ich bin Stress gewohnt und würde ganz sicher im Handumdrehen alles hier auf Vordermann bringen. Ich habe eine Familie und manage seit Jahren unseren Haushalt und alles, was dazu gehört. Und ich habe gehört, Sie brauchen schnell jemanden.« Ich setze mein gewinnendstes Lächeln auf und ziehe meine Referenzen aus der Tasche. »Ich bin sehr gut in meinem Job. Zuletzt war ich bei Mercedes Heinze angestellt, Sie wissen schon, das Autohaus. Ich hab mich dort nicht nur um die Statistik gekümmert, sondern auch um das Terminmanagement, die Koordination von …«
»Ihre Bewerbungsunterlagen liegen mir vor.« Lars Baum wedelt mit einer Mappe, die identisch ist mit der, die ich in den Händen halte. Arroganter Schnösel!
Ich lächle breit. »Sie haben Glück – ich kann sofort anfangen.«
Einen Moment lang mustert mich Herr Baum, dann setzt er sich aufrecht hin und blättert durch meine Unterlagen.
»Das hört sich ganz okay an«, gibt er zu. »Haben Sie Vorstrafen?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Er lässt die Mappe sinken. »Wie kann man das nicht wissen?«
Der Typ macht mich echt nervös, Mann. »Selbstverständlich habe ich noch nie was angestellt und war immer ganz gesetzestreu.« Ich probiere es mit einem netten Lächeln und zwirble eine Strähne meines langen Haares. Natürlich so, dass es unbewusst und unschuldig aussieht wie bei Lou und nicht so tussimäßig wie bei Linda (Felix-Mama aus dem Kindergarten).
»So gesetzestreu, dass Sie Ihr Fahrrad einfach auf einen Behindertenparkplatz stellen?«, fragt Herr Baum.
»Wie meinen …?«
»Na, Ihr Fahrrad steht vor dem Haus auf einem ausgeschriebenen Behindertenparkplatz«, erklärt er mir, und ich grüble. Der Fahrradständer war überfüllt, also habe ich mein Bike etwas weiter links …
»Der ist doch riesig, und ich habe es an den Rand gestellt. Da können mindestens noch zwei Autos parken«, verteidige ich mich und kann mich beim besten Willen an kein Schild erinnern, das einen Rollstuhlfahrer gezeigt hätte.
»Ziemlich niedrige Moral, was?«
Oha, der hat aber Haare auf den Zähnen!
»Das kann man so nicht sagen, ich war lediglich etwas abgelenkt.«
»Mh«, brummt er und guckt eine ganze Weile an mir vorbei, als wäre ich gar nicht mehr da. Oder er überlegt gerade, wie er mir begreiflich machen kann, dass für eine Kleinkriminelle wie mich hier einfach nicht der richtige Platz ist …
»Mein Vater ist Kommissar, er saß mal genau dort, wo Sie jetzt sitzen«, platzt es aus mir heraus. »Also, natürlich nicht genau dort, wo Sie sitzen, meine ich. In einem anderen Revier«, füge ich hinzu und grübele darüber nach, wie ich Herrn Baum nahebringen kann, dass ich Moral und Anstand quasi mit der Vater-, ähm, Muttermilch bekommen habe.
»Das ist mir bekannt, Frau Moll, es ist nur …«, beginnt er, als plötzlich die Tür hinter mir aufschwingt und ein sonores »Hallihallo!« in den Raum dröhnt. Ich zucke zusammen und drehe mich um. Ein kräftiger Mann mit Halbglatze grinst mir entgegen, und ich erkenne ihn als Paps’ Angelpartner Herbert Helmke.
»Ah, wie schön, Herr Baum. Sie kümmern sich schon um das junge Fräulein«, poltert er gut gelaunt und legt eine große Bäckertüte auf die Ablage, was Herr Baum mit einem genervten Blick quittiert. Die Fettflecken auf dem obersten Papier lassen zweierlei vermuten: Erstens, Herr Helmke macht das öfter. Und zweitens, das Papier liegt nicht erst seit heute unbearbeitet in der Ablage. Na also, Mieze, lobe ich mich selbst, schlussfolgern kannst du schon mal, da bist du hier genau richtig.
»Sehr schön, sehr schön«, murmelt inzwischen Paps’ Angelfreund. Mit Schwung zieht Herr Helmke seinen Wollmantel aus und reicht mir die Hand. Ich springe sofort von meinem Stuhl auf, verliere fast einen meiner Pumps und knicke um. Herrn Baum entgeht mein Ungeschick nicht.
»Bewerbungsgespräche sind doch was Feines, nicht wahr?«, meint Herr Helmke und quetscht meine Hand zusammen.
»Moll. Mieze Moll«, stelle ich mich vor und muss mich doch wundern, wie sehr mich Herrn Baums abschätziger Blick ins Schwitzen bringt. Ich beschließe, ihn einfach zu ignorieren.
»Revierleiter Herbert Helmke – aber das wissen Sie ja. Freut mich wirklich sehr«, sagt Paps’ Angelpartner, und mir fällt ein Stein vom Herzen. Jetzt wird alles gut.
»Mich auch. Sehr sogar. Ich habe schon viel von Ihnen gehört«, lüge ich. Paps ist alles andere als eine Plaudertasche. Das Babbeln überlasse er lieber den Weibern, wie er gern sagt. Und wenn er dann doch mal redet, wirft er am liebsten mit seinem pfälzischen Vokabular um sich, das Außenstehende nicht verstehen. »Das erspart eine Menge Dischbediere«, meint er.
»Mein Gott, Sie sind ja ein richtiger Sonnenschein in unserem grauen Laden hier«, sagt jetzt Herr Helmke.
Herr Baum grunzt, ich deute einen Knicks an, und endlich gibt Herr Helmkes freundliche Pranke meine Hand wieder frei. Während ich unauffällig meine Finger bewege und auf Funktionsfähigkeit prüfe, mustert mich der Revierleiter ausgiebig, aber nicht unangenehm, bis er sich viel schneller, als ich es ihm zugetraut hätte, auf dem Absatz umdreht.
»Mohnschnecke?«, fragt er, während er nach der Tüte auf der Ablage greift und mich und Herrn Baum hinter sich herwinkt.