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Honigsüß und locker-leicht: Entdecken Sie die perfekte Feelgood-Lektüre für den Sommer! Lassen Sie sich verzaubern! In "Honigherzen" erzählt SPIEGEL-Bestsellerautorin Mina Teichert anrührend und unterhaltsam von einem Neuanfang auf einem alten Bauernhof. Nach einem schweren Schicksalsschlag erfüllt Leni sich einen lang gehegten Traum: Auf einem alten Bauernhof auf dem Land wagt sie mit ihrer kleinen Tochter Romy den Neuanfang. Umgeben von Obst und wilden Bienen will sie ihr Leben völlig umkrempeln und einen eigenen Hofladen eröffnen. Doch wie so oft spielt das Leben nicht ganz so mit wie im Traum: Leni fällt es schwer, im neuen Dorf Fuß zu fassen, und die Renovierungsarbeiten stecken auch voller Tücken. Doch da taucht plötzlich Henry auf, der gut aussehende Tischler. Mit Henrys Hilfe keimt in Leni neue Hoffnung auf. Könnte es für sie eine zweite Chance auf das Glück und eine honigsüße Zukunft geben? Purer Lesegenuss bis zur letzten Seite – Mina Teicherts Roman besticht mit einer liebenswerten Heldin In "Honigherzen" beweist Mina Teichert erneut ihr besonderes Talent für fein gezeichnete Charaktere. Mit Gefühl und Humor bringt sie ihre so unterschiedlichen wie liebenswerten Figuren aufs Papier. Von der turbulenten Romy über den charmanten und stillen Henry bis zur herrlich chaotischen Leni: Es macht einfach Spaß, diesen Figuren zu folgen! Urlaubslektüre oder Geschenk für die beste Freundin: honigsüße Cover-Art in der handlichen Taschenbuchausgabe Ein besonderer Eyecatcher an Mina Teicherts neuem Roman ist das liebevoll gestaltete Cover. Im praktischen Taschenbuchformat ist "Honigherzen" das perfekte Geburtstags- oder Gastgeschenk und macht sich ebenso gut am Strand wie im eigenen Obstgarten!
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Originalausgabe
© Piper Verlag GmbH, München 2021
Redaktion: Friederike Haller
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung
von Shutterstock.com genutzt
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Cover & Impressum
Sechs Jahre zuvor
Traumhafte Träume
Eis glitzerte im einsamen Licht unserer Scheinwerfer und tauchte alles in seinen winterlichen Zauber.
Alex’ Hand fand mein Knie, und ich ließ meine Finger über das kühle Weißgold seines Eherings gleiten, spürte den eingravierten Linien nach, während er den alten Volvo beschleunigte. Das silbrige Paillettenherz am Rückspiegel schaukelte unruhig, und ich dachte an das besondere Date zum ersten Jahrestag beim Italiener um die Ecke, als ich es ihm schenkte. Ich hatte es selbst genäht, und auch wenn es schief und krumm war, hatte es diesen Ehrenplatz in Alex’ Wagen bekommen. Prompt knurrte mein Magen.
»Wenn ich es recht überlege, hätte ich jetzt total Lust auf Pizza«, zwitscherte ich, übte einen langen Augenaufschlag und dachte über meine Essgewohnheiten in letzter Zeit nach. Seit ich schwanger war, hatte ich ständig Appetit und wie im Klischee auf die unmöglichsten Dinge, die ich sonst nicht mal angeguckt hätte. Salami mit Nussnugatcreme beispielsweise. Wenn ich nicht aufpasste, würde man mich auch nach dem Geburtstermin noch durch die Gegend rollen können und ich bekäme einen Ehrenplatz in The Biggest Loser.
»Pizza? Ich sehe schon, über kurz oder lang wirst du mir die Haare vom Kopf fressen«, neckte Alex mich, und ich knuffte ihn dafür.
»Zum Glück hast du ja viele davon.« Ich strich ihm eine seiner dicken Locken aus der Stirn und streckte mich. Das Baby drückte einmal mehr auf einen Nerv im Rücken, und ich hatte plötzlich das Gefühl, meine Blase wäre voll.
Alex schaltete einen Gang höher. »Na gut, dein Wunsch ist mir Befehl«, meinte er und zwinkerte mir zu. »Dann drück mal die Daumen, dass beim Italiener nicht auch der Strom ausgefallen ist.«
Ein trauriger Weihnachtsbaum ohne Beleuchtung tauchte an der nächsten Ecke auf, und ich sah ihm kurz hinterher, bevor ich nach Meldungen zum plötzlichen Stromverlust der Gegend googelte.
»Hier steht, es gab einen Schaden in einem Überspannwerk«, las ich vor, und Wehmut machte sich in mir breit. Was sind Dezembertage schon ohne die vielen Lichterketten und Laternen?
»Ach, Fake News. Das war ich mit meiner Handwerkskunst«, antwortete Alex, der just in dem Augenblick einen Nagel in der Fußleiste des zukünftigen Kinderzimmers versenkt hatte, als das Licht in unserer Wohnung und im gesamten Viertel mit einem Schlag erlosch. Grinsend hauchte er mir einen Kuss auf die Fingerknöchel und setzte den Blinker.
In der Hoffnung, dass er nicht ebenfalls vom Stromproblem betroffen war, wählte ich die Nummer unseres kleinen Lieblingsitalieners zwei Orte weiter, und noch während ich die Zahlen tippte, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Im Radio wurde Lovesong von The Cure gespielt, und ich musste lächeln, als Alex’ und mein Blick sich trafen.
»Ich liebe diesen Song«, hauchte er, was mir die Party meiner Schwester Juna ins Gedächtnis rief, auf der Alex mich gefragt hatte, ob ich ihn heiraten wolle. Obwohl wir damals bereits seit zwei Jahren ein Paar waren und wir oft darüber fantasierten und uns eine märchenhafte Zukunft in den buntesten Farben ausmalten, hatte dieser magische Moment auf sich warten lassen.
»Und ich liebe dich«, antwortete ich sanft, während ich mit einem Ohr auf das Freizeichen des Telefons lauschte.
Alex schob seine Brille höher auf die Nasenwurzel, bevor er sich zu mir beugte und mir einen Kuss auf die Wange hauchte.
Da passierte es. Ein Schatten, den ich nur aus dem Augenwinkel wahrnahm, tauchte wie aus dem Nichts auf und hielt auf uns zu.
»Pass auf!«
Alex trat auf die Bremse und wich dem Radfahrer, der uns aus einer engen Kurve und ohne Beleuchtung entgegenraste, gerade noch aus. Mein Handy flog in den Fußraum. Das Rattern des Antiblockiersystems setzte ein, und der Wagen kam auf der vereisten Fahrbahn ins Rutschen. Alex lenkte gegen. Ich schrie auf und krallte mich am Türgriff fest. Ich rechnete damit, dass wir den jungen Mann von seinem Mountainbike gerissen hatten, doch als ich den Kopf nach ihm umwandte, sah ich, dass er auf seinem Rad zwar schwankte, aber unverletzt davonfuhr. Unser Wagen blieb in der Kurve stehen.
Ich atmete auf, Alex fluchte lauthals. Als ich in seine Richtung sah, um ihm ein erleichtertes Lächeln zu schenken, rasten zwei grelle Scheinwerfer auf uns zu.
Es war der Moment zwischen Luftholen und dem Schrei, in dem sich so vieles abspielte. All die Gedanken und die Ahnungen, die kollidierten, bevor der Lieferwagen uns rammte und meine Welt aus der Umlaufbahn riss. Alex’ Blick flog über seine Schulter, das Licht bildete einen Heiligenschein um seinen Kopf. Glas splitterte und sprühte zu mir herüber. Ein heftiger Ruck erfasste uns, das Auto drehte sich und krachte mit Wucht gegen eine unbeleuchtete Laterne.
Luft wurde mir aus der Lunge gepresst, Schmerz zuckte durch meinen Körper, und ein schriller Ton kreischte in meinen Ohren, bevor die Dunkelheit kam.
So wie die Nacht der Sonne folgt, wusste ich, dass sie mich fest in ihrem Griff hatte. Zwischen dem Bewussten und einem Traum dachte ich über die letzten Stunden nach. Durchlebte sie wie im Zeitraffer. Die Momente, bevor wir mit Alex’ dunkelgrauem Volvo losgefahren waren.
Der Augenblick, in dem alles noch gut gewesen war, ich im Türrahmen des zukünftigen Kinderzimmers stehen geblieben und gespannt die Luft angehalten hatte. Unser Baby hatte leicht an meine Bauchdecke geklopft, als würde es mir Morsezeichen senden wollen.
»O mein Gott«, hauchte ich überwältigt, und Alex, der gerade die weißen Fußleisten des Raumes bearbeitete, hob den Blick.
»Was ist los?« Er legte den Hammer zur Seite, sah in mein Gesicht, und ich winkte ihn aufgeregt zu mir, angelte nach seiner Hand und platzierte sie auf meinem Bauch, damit er die ersten Bewegungen unseres Kindes ebenfalls erleben konnte.
»Hier, kannst du es fühlen?« Sacht führte ich seine Finger unter meinen Pullover zu den Tritten.
Alex’ Augen leuchteten. »Das ist ja der Wahnsinn! Du hast einen Alien mit Footballspielerqualitäten im Bauch.« Er ging in die Knie, legte sein Ohr auf meine Haut, und ich kraulte seine braunen Locken.
»Hallo, Baby, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr wir uns auf dich freuen«, ließ er unser Kind wissen. Er zwinkerte zu mir herauf, eine unwiderstehliche Geste, die mir regelmäßig Bauchkribbeln bescherte. Meine Finger gruben sich fester in sein Haar, mein Herz hätte vor Glück zerspringen mögen.
Wir waren dabei, unser gemeinsames Nest zu bauen, mit ganz viel Liebe und Pastellfarben, und alles schien perfekt.
»Und, was sagt sie so?«, wollte ich von meinem Mann wissen, der immer noch dem Alienbaby lauschte. Ich grinste provokativ, weil ich mir ein Mädchen und Alex sich einen Jungen wünschte. Wobei »Hauptsache gesund« natürlich Priorität hatte.
»Es ist doch noch gar nicht klar, dass es kein Junge ist«, erinnerte mich Alex, der genauso wie ich dem nächsten Ultraschalltermin entgegenfieberte. »Egal ob es ein Mädchen, Junge oder Alien wird … Ich werde verrückt nach unserem Kind sein.« Er streichelte meine Bauchdecke und hauchte einen Kuss knapp oberhalb des Bauchnabels, bevor er sich erhob und zu seiner Fußleiste zurückkehrte. »Was hältst du von Pepe?«
»Hm, nein. Lieber Oskar«, antwortete ich, während ich Alex einen Nagel reichte und ihm dabei zusah, wie er die Leiste wenig fachmännisch an die Wand presste und mit dem Hammer ausholte. Ich unterdrückte den Impuls, die Augen zuzukneifen. Manchmal hatte ich ein bisschen Angst um meinen Mann, weil er ganz sicher niemals zum Handwerker des Jahres gekürt würde. Leider bestand er darauf, alles selbst zu machen, vor allem wenn es um das Kinderzimmer ging.
»Wie der Typ aus der Mülltonne? Du brennst doch«, brummte er und hielt mir seine Hand für den nächsten Nagel entgegen.
»Und wenn es ein Mädchen wird, dann heißt sie Luna«, schlug ich vor und blickte aus dem Fenster. Von hier aus konnte man die vielen wunderbaren Weihnachtsbeleuchtungen der Nachbarn sehen. Überall glitzerte und blinkte es und kündigte die schönste Jahreszeit an.
»Leni, das kommt gar nicht infrage. Nur zu gern habe ich deinen Familiennamen angenommen, aber Luna Mondtag? Das geht zu weit.« Er lachte, schob sich seine Brille mit dem Mittelfinger höher und wartete sicher darauf, dass ich ihn wie üblich mit seinem alten Nachnamen Fettkötter aufziehen würde. Doch diesmal tat ich es nicht.
»Außerdem weißt du genau, wie sie heißen wird, wenn sie wirklich ein Mädchen ist«, knurrte mein Frischangetrauter auf seine unverkennbare Art, die ich so sexy fand. Diese Mischung aus liebevollem Raunen und einer gewissen Dominanz.
»Du bleibst also bei Romy?«, fragte ich lächelnd. »Nach deiner zweitliebsten Schauspielerin?« Die erste war natürlich ich.
Er wischte seine Haare aus der Stirn und setzte den nächsten Nagel an die Leiste. »Unbedingt, das ist nicht verhandelbar.«
»Ganz wie Alexander der Große meinen«, näselte ich mit einer Stimme, die Alex »die englische Aristokratin« nannte.
Er grinste und deutete eine Verbeugung in meine Richtung an. »Vielen Dank, Mylady!«
Ich widerstand der Versuchung, mich auf ihn zu stürzen und mit ihm zu raufen wie ein übermütiger Teenager. Bevor mein Bauch uns in den Weg wuchs, hatten wir das ständig getan, und regelmäßig war daraus dieses eigentümliche Strohfeuer entwachsen, das in einem Flammenmeer aus Leidenschaft endete. Solch intensive Gefühle hatte ich vor Alex nie erlebt. Er war es gewesen, der mich quasi aus einem Dornröschenschlaf weckte, der mich trotz vieler kurzweiliger Beziehungen bis dahin in seinen braven Armen gehalten hatte.
Alex holte mit dem Hammer aus, traf den Nagel, und mit einem Knall wurde es rabenschwarz im Zimmer. Ich zog scharf die Luft ein. Vor dem Fenster war es ebenso duster; die ganze Straße war ohne Strom. Und auch in der Ferne leuchtete nichts mehr.
»Das ist doch unmöglich, oder?« In der Dunkelheit konnte ich Alex’ Gesicht nicht sehen, aber seine Stimme klang verunsichert.
Ich kicherte. »Das kannst du nicht gewesen sein«, sagte ich, zog mein Handy aus der Tasche und öffnete die Taschenlampen-App, um Licht ins Dunkel zu bringen.
»Wieso nicht, ich bin mächtiger, als du denkst.« Alex tat beleidigt. Dann trat er ans Fenster und starrte hinaus. »Seltsam, die ganze Stadt ist dunkel. Hoffentlich kriegen die das schnell wieder in den Griff.«
Ich stellte mich hinter ihn, schlang meine Arme um seinen Körper und legte meinen Kopf an sein Schulterblatt.
»Es hat etwas Friedliches, findest du nicht?«, flüsterte ich nach einer Weile. Wir blickten hinauf in den Abendhimmel, an dem Tausende Sterne funkelten und wunderbarerweise in genau diesem Moment eine Sternschnuppe zu einem Wunsch aufforderte. Ich wusste sofort, was ich wollte.
Diesen Moment festhalten, mich ewig an ihn erinnern.
»Vielleicht ist das ein Zeichen, und wir sollten für heute Schluss mit der Arbeit machen«, überlegte Alex, wandte sich um und küsste mich sanft.
Waren wir dann ins Auto gestiegen?, zupfte die Frage an meinem Bewusstsein. Der Wagen, der Knall …
Luftnot riss an mir, katapultierte mich ins Jetzt zurück und zersprengte die zauberhaften Momente.
Meine Lider flatterten, hoben sich. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff. Benommen richtete ich mich auf, meine Nase blutete, und ich wischte sie fahrig an meiner Jacke ab.
»Alex?«, hörte ich meine eigene Stimme, die sich so fremd anhörte, als würde ich sie das erste Mal gebrauchen.
Ich verlagerte mein Gewicht, befreite mich vom Gurt, der mir schmerzhaft in den Bauch schnitt. Meine Finger berührten zitternd Alex’ Schultern. Er hatte seine Brille verloren, sie lag zerbrochen zwischen dem schlaff herabhängenden Airbag und seiner Brust.
»Baby?« Mein Bein hing irgendwo fest, ich konnte mich kaum bewegen, kam nicht zu ihm. »Hey, sprich mit mir«, flehte ich ihn an und schaffte es, meine Hand an seine raue Wange zu legen. Sie war nass von seinem Blut.
Erst jetzt bemerkte ich das monotone Hupen, das unser Auto von sich gab, und sofort machte es mich wahnsinnig. Mit aller Kraft zog ich meinen Mann in meine Richtung. Er sackte in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hat.
Kalt und grausam sickerte die Erkenntnis in meinen Geist. Alex hatte keinen Puls. Meine Finger flogen hektischer an seinem Hals umher, suchten und fanden … nichts.
»Alex!«, brüllte ich ihn an, stieß ihn wütend. »Lass mich nicht allein!«
Ein Stich fuhr mir durch den Unterleib, als ich verzweifelt an meiner großen Liebe rüttelte, Alex zwingen wollte, zu atmen, die Augen zu öffnen, zu leben.
Der Hilfeschrei, den ich in die Welt sandte, übertraf alles, was ich mir jemals an Emotionen für die Bühne antrainiert hatte; er brach sich Bahn aus einem Teil meiner Seele, der uralt und roh war. Er sollte ungehört bleiben und lange Jahre in mir widerhallen. Mitsamt dem Gefühl, vom Schicksal betrogen worden zu sein.
Meine Nächte gehören immer noch meiner Vergangenheit mit Alex. Wenn ich schlafe, ist er bei mir, flüstert und lacht mit mir. Zieht seine Kreise um meinen Geist und lässt all die schönen Momente aufleben, damit ich mich an ihnen festhalten kann.
Das war nicht immer so. Nach dem Unfall und der Zeit im Krankenhaus träumte ich zunächst nur von dem einen Augenblick, der alles veränderte. Von Blut und diesem unendlich schwarzen Gefühl des Schocks, als Alex neben mir starb und ich nichts tun konnte. Es gab Tage, an denen wollte ich ebenfalls einfach verschwinden und nichts mehr empfinden. Ich fühlte mich zersplittert in unzählige Teile. Einzig der Gedanke an unsere kleine Romy hielt mich über Wasser, wenn die Wogen der Trauer hochschlugen und mich unter sich begruben.
Später verfolgte mich die Art Traum, in der ich den Unfall verhindern wollte. Es war, als steckte ich in einer Zeitschleife, sobald ich die Augen schloss und in den Schlaf glitt. Ich weiß noch genau, wie ich das letzte Mal mit einem schrillen Schrei und schweißnass aus den Kissen hochjagte, weil ich wie so oft das Schicksal nicht hatte abwenden können.
Romy war gerade zwei Jahre alt geworden und wachte durch meinen Albtraum auf. Sie weinte ebenso jämmerlich in ihrem kleinen Bettchen wie ich in meinem großen, und ich holte sie zu mir, in Alex’ und mein Ehebett. Ihr Duft, ihre kleinen Händchen, die ich in meinen hielt, halfen mir dabei, mein zerbrochenes Ich wieder zusammenzusetzen.
Heute sind die Träume friedlicher. Und ich weine nicht mehr so bitterlich, wenn ich erwache und feststelle, dass Alex nicht bei mir ist. Ich bin dankbar für seine Liebe, die ich erleben durfte und die trotz meines gebrochenen Herzens für Romy weiterlebt. Dieses unbändige Gefühl wird für mein ganzes Leben reichen, dessen bin ich mir sicher, und heute erinnere ich mich mit einem Lächeln im Gesicht an die Momente mit meinem Mann. Sie stehlen mir nicht länger den Atem. Und ich begrüße die Träume, die sich nachts in meine Gedanken schleichen wie ein liebevolles sanftes Gespenst, das mich küsst. Wenn Alex mir nahe ist, ich sein Gesicht deutlich vor mir sehe und meine Finger durch sein Haar gleiten, dann bin ich beinahe heil.
Doch jetzt, in diesem Traum, ist es anders. Wir wälzen uns in hellen Laken, die sich wie ein Zelt über uns spannen. Das Licht verändert sich, huscht unbeständig über uns hinweg. Ich lächle Alex an, spüre sein Gewicht auf meinem Körper und den Blick, mit dem er mich bedenkt. Seine Stimme ist rau, seine braunen Augen funkeln, wie sie es oft taten, wenn wir uns die Zukunft in den schillerndsten Farben ausmalten. Und seine Worte dringen viel zu langsam in meinen Geist.
»Träume für mich, Leni«, flüstert er, und ich lege meine Hände an seine Wangen. Das Licht wechselt erneut seine Intensität, die Laken brechen den Sonnenschein im Zimmer.
»Das tue ich doch«, flüstere ich zurück und küsse seinen Mund.
Er befreit sich von mir, sein Blick wird dunkler. »Nein, Leni. Tust du nicht.«
Ich will protestieren.
Die Laken über uns verwehen, werden zu weißen, von Silberstreifen durchzogenen Wolken. Staub glitzert im Schein einer grellen Morgensonne, und Alex ist nichts als eine Silhouette, die über mir schwebt.
»Träume für mich, Leni«, wiederholt seine Stimme ernst, und Verwirrung macht sich in mir breit. Eine Weile hänge ich zwischen Traum und Erwachen, werde geschubst und wieder von der Schwere des Schlafes eingelullt.
»Lass uns zusammen träumen«, bitte ich ihn wie damals, als wir entschieden, die Zukunft zu teilen, und halte mich an ihm fest. Sein Gesicht ist so nahe, seine Lippen berühren mich beinahe. Ich spüre seinen Atem auf meinem Mund.
»Das geht nicht, Leni. Wach endlich auf!« Seine Worte verhallen.
Ich will ihm sagen, dass ich nicht aufwachen will … dass er mir fehlt. Doch dann rüttelt etwas an mir, erwischt schmerzlich meinen Kiefer.
Ich schlage die Augen auf. Das flackernde Licht des Fernsehers, in dem stumm SpongeBob über den Screen flimmert, erhellt einen kleinen Fuß, der seinen Weg in mein Gesicht gefunden hat. Ich greife ihn vorsichtig und lege ihn aufs geblümte Kopfkissen. Romy liegt vollkommen verdreht in meiner Decke und sabbert auf meinen Oberschenkel. Ich richte mich auf. Sacht streiche ich eine verschwitzte Locke aus ihrem winzigen Gesicht und lächle.
Dieses Kind ist unglaublich. Ich kann mich dunkel daran erinnern, dass sie gegen elf Uhr nachts zu mir kam und meinte, sie sei wach wie eine Glocke. Und dass nur der Fernseher helfen könne, damit sie wieder müde werde. Gegen die Logik meiner Sechsjährigen kam ich nicht an und gab nach einem achtundvierzigminütigen Hin und Her nach. Ich schätze, ich schlief als Erste ein.
Vorsichtig befreie ich mich von der Decke, lade mir meine Tochter auf den Arm und trage sie zurück in ihr Kinderzimmer. Das rosa Einhornnachtlicht erhellt ein Wimmelbild aus Spielzeug zu meinen Füßen, und ich muss aufpassen, dass ich nicht über Playmobilgebilde oder die Teeveranstaltung der Teddybären stolpere.
»Mami?«, gurrt mein Spatz, während ich sie bis zu den Schultern zudecke.
»Schlaf weiter«, flüstere ich und küsse ihre Stirn.
»Krieg ich ein Lama?« Ihre Augen drohen sich zu öffnen, ich streiche sie federleicht wieder zu.
»Mal sehen.« Ich denke an knuffige Stofftiere mit Knopfaugen, während meine Kleine sich zufrieden lächelnd auf die Seite dreht. »Vielleicht befucht dich ja einf in deinen Träumen«, lispele ich und stupse ihr mit meiner Nase in die Mulde zwischen Schlüsselbein und Hals. »Daf tun Lamaf nämlich bei fauberhaften Mädchen.« Wenn sie ein Lama will, kann sie eins bekommen. Für sie werde ich gern zu einem. Auch wenn es lispelt.
Romy kichert, und mit einem warmen Gefühl im Bauch trete ich den Rückzug an. Auf dem Weg nach draußen erwischt mein großer Zeh beinahe den schiefen Turm von Pisa, und ich beschließe, dass ich einen Schlummertrunk brauchen könnte. Einen ganz großen, der mich ebenfalls wieder einschlafen und weiterträumen lässt.
Wenig später schaffe ich es mit einem Glas Rotwein zurück ins Bett und öffne meinen Laptop. Immer wieder kreisen Alex’ Worte aus dem Traum in meinem Kopf herum wie kleine Propellermaschinen, denen nie der Treibstoff ausgeht.
Träum für mich, Leni!
Es ist so unglaublich lange her, dass er das bei Kerzenschein zu mir sagte. Ich weiß noch, wie bescheuert ich aussah an diesem Abend, an dem ich mein Debüt als Prinzessin Lillifee in einem Kindertheaterstück gegeben hatte. Meine zu wilden Locken frisierten blonden Haare, die Reste des Glitzer-Make-ups und die falschen Wimpern. Dieser Mann musste mich wirklich toll finden; anders war nicht zu erklären, dass er sich getraut hatte, sich in diesem Aufzug mit mir in einem teuren Lokal zu zeigen.
»Du hast so viele geniale Ideen«, waren seine begeisterten Worte gewesen, als ich ihm von meinem Wunsch erzählte, irgendwann auf dem Land leben zu wollen mit Tausenden Kirschbäumen.
»Ich werde den Kirschwein meiner Oma Hilde herstellen, der war nämlich legendär, weißt du?«
»Träum ein paar Träume für mich mit, Leni. Ich bin auf jeden Fall dabei, wenn sie in Erfüllung gehen«, hatte Alex mir versprochen und meine Fingerknöchel geküsst. Es war einer dieser Momente gewesen, in denen ich in Flammen stand, weil er meine Energie in etwas noch Größeres verwandelte.
Wie lange ist es her, dass ich an jenen Abend und die ganzen verrückten Ideen gedacht habe?
Ich nehme einen großen Schluck Wein, heiße die Wärme in meinem Magen und den Gliedern willkommen und lasse den Laptop surrend hochfahren.
Damals nach der Hochzeit war uns das finanzielle Risiko zu hoch gewesen, um so ein Wir-werfen-alles-über-Bord-und-ziehen-aufs-Land-Projekt zu wagen. Vor allem mit dem schmalen Gehalt eines Lehrers und dem unkalkulierbaren einer freien Schauspielerin, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt.
Doch jetzt, in diesem Augenblick, um drei Minuten vor drei, erwacht dieser märchenhafte Traum plötzlich in mir zu neuem Leben und wispert mir ins Ohr.
»Du bist doch verrückt, Leni«, raune ich mir selbst zu, als ich die Immobilienseite öffne, auf der man eine Suchanfrage stellen kann. Ehe ich die Weinflasche zur Hälfte geleert habe, werde ich fündig – das Portal bietet mir ein Haus, ach was, ein kleines Anwesen mit Obstgärten und vielen kleinen Nebengebäuden an. Das Angebot ist erst seit ein paar Stunden online, noch gibt es keine Interessenten. So verrückt es klingt, es ist, als riefe es nach mir. Als hätte Alex mich deshalb aufwachen lassen.
Ich muss zugeben, das Grundstück sieht abgerockt aus und liegt in einer Art Dornröschenschlaf.
»Den zu unterbrechen kostet einiges an Aufwand«, murmle ich. Und dennoch: Selten habe ich etwas so Wunderschönes gesehen. Dieses Fachwerk, die zauberhaften Schnitzereien und die tollen Butzenfenster. Wie aus der Zeit gefallen. Das Beste ist, dass es nicht allzu weit weg von Bremen liegt, wo ich mit Romy und meiner Schwester zurzeit lebe. Und meine Mutter Charlotte wohnt weniger als eine Dreiviertelstunde von dem kleinen Dorf namens Auen entfernt – geradezu perfekt, weil nicht nah genug, um ständig spontan auf der Matte zu stehen, gleichzeitig aber auch nicht zu weit weg, wenn man einen Babysitter braucht.
Ganze drei Mal klappe ich den Laptop zu, verwerfe die utopische Idee eines Landlebens und öffne die Seite erneut. Dann starre ich eine Weile Löcher in die Luft und höre immer wieder Alex’ ernsten Unterton. Träume, Leni!
Es ist beinahe fünf Uhr, als ich barfuß den Flur entlangschleiche, den Laptop in den Händen. Das Laminat knackt unter meinem Gewicht. Ungelenk drücke ich die Klinke zu Junas Zimmer und setze mich auf die Kante des Himmelbetts meiner Schwester.
»Schläfst du?«, höre ich mich dumm fragen und bekomme ein Murren zur Antwort.
»Ist was passiert?« Sie hebt den Kopf, das kühle Licht meines Laptops erhellt ihr schmales Gesicht. Ihre grünen Augen blinzeln mich fragend an.
»Wie man’s nimmt«, flüstere ich. »Ich muss dir unbedingt wasseigen.« Lalle ich?
Vorsichtig schlüpfe ich unter ihre Bettdecke, wie ich es oft tat, nachdem Alex fort und ich mit Romy in Junas kleine Altbremer Mietwohnung eingezogen war. Juna hatte mich quasi genötigt, das zu tun, um mir mit Romy helfen zu können. Zumindest in der Zeit, in der sie nicht als freie Modefotografin um die Welt tingelte. Es ist quasi eine Win-win-Situation, die bis heute anhält.
»Jetzt?«, fragt Juna und guckt erst auf den Bildschirm und dann mir ins Gesicht. »Sag mal, weißt du, wie spät es ist?«
»Ja, aber’sis wirklich wichtich.«
»Bist du besoffen?«
»Nein, beschwipsst, dassis ein Unterschied.« Ich drücke meinen Zeigefinger unter Junas Kinn und manövriere ihre Aufmerksamkeit auf das Dornröschendomizil.
»Das ist ein Haus«, meint sie, gähnt und dreht sich auf die andere Seite. »Sehr schön, wirklich. Und jetzt gute Nacht!«
»Das könnte unser Haus sein, Juna.« Plötzlich kriege ich die Worte wieder deutlich hin. Das muss die Aufregung sein. »Es ist ein Träumchen, so wie Oma Hildes Hof damals, findest du nicht auch?« Ich zupfe an Junas unordentlich geflochtenem Zopf.
»Mann, Leni. Du hast Nerven, die Sonne ist nicht mal aufgegangen«, murrt meine Schwester, angelt aber trotzdem nach ihrer Lesebrille, die auf dem Nachttisch liegt.
»Wird sie so schnell auch nicht«, sage ich mit einem Nicken Richtung Fenster. Von draußen prasselt Regen an die Scheibe mit jener Beharrlichkeit, die stundenlangem Niederschlag eigen ist.
Juna seufzt, bevor sie einen erneuten Blick auf den Bildschirm wirft. »Wie kommst du auf einmal auf so eine Schnapsidee?«
Ich hole tief Luft. »Gutes Stichwort. Denk mal an Oma und ihren Kirschwein. Und ihre Liköre …«
»Mmm, ja, der Holunderlikör.« Junas Miene nimmt einen verträumten Ausdruck an. »Sooo lecker. Ich hab die ganze Nacht gekotzt.«
Ich lache. »Der Sommer, in dem du zwölf wurdest. Ich hab dir die Haare gehalten.« Sie nickt, und für einen Moment hängen wir beide der Erinnerung nach, bis ich irgendwann sage: »Worauf ich hinauswill: Du weißt ja, dass ich schon immer sehr lebhafte Träume hatte. Und diesmal …«
Weiter komme ich nicht, weil Juna mich säuerlich anzischt, auf der Website nach unten scrollt und die spärlichen Informationen liest, die viel zu wenig über den derzeitigen Zustand des Objektes und dessen eigentliche Lage preisgeben.
»Leni, ganz ehrlich«, seufzt sie, und ich weiß, was sie sagen will. Wir haben einen sicheren Hafen, eine erschwingliche Wohnung, um die herum unser Leben organisiert ist und funktioniert. Sicherheit ist Glück, sagte unsere Mutter Charlotte, die uns allein großzog, immer. Und nach der rauen See, die ich seelisch hinter mir habe …
»So was ist ein Fass ohne Boden. Liest sich ja hübsch, aber hast du Ahnung von Blaubeerfeldern, Apfelernte oder Bienenstöcken? Oder … nanu, was haben wir denn da? Eine alte Schnapsbrennerei? Auweia!«
»Ich weiß, ich weiß. Aber ich habe mir immer gewünscht, mit den Händen meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Und das mit der Schauspielerei … wir wissen es doch beide.« Ich sage es nicht, lasse unausgesprochen, was wir beide wissen: Dass ich nicht mehr auf der Bühne stand, seit Alex verunglückt ist. Die erste Phase des Schocks und der Trauer ging nahtlos in Mutter- und Elternzeit über, und ich verschob den Wiedereinstieg Monat für Monat mit immer neuen Begründungen, meist Romy betreffend.
»Sie braucht mich doppelt so viel wie andere Kinder.« – »Ich suche mir etwas, sobald sie nachts besser schläft.« (Ich wusste selbst, dass Romy bei Weitem schönere Träume hatte als ich, aber wo steht geschrieben, dass man immer ehrlich zu sich selbst sein muss?) – »Jetzt ist doch gerade ein Sommerloch, da gibt es sowieso keine Rollen.«
Niemand drängte mich, und meine Theaterkolleginnen und Freunde zeigten stets Verständnis, sodass ich meine Ausflüchte hauptsächlich für mich selbst erfand.
»Man könnte sogar einen Hofladen eröffnen«, sage ich in meine Gedanken hinein. »Eigene Marmeladen und Gemüse verkaufen. Oder eben Liköre herstellen wie Oma früher.«
»Also, Oma hatte immer Geldsorgen«, mahnt Juna, und ich halte kurz inne. Okay, eins zu null für meine jüngere Schwester.
»Ich könnte es anders angehen«, wende ich ein, weil ich nicht bereit bin, einfach aufzugeben. »In Zeiten des Onlinehandels ist bestimmt vieles leichter geworden als damals.« Eine seltsame Energie hat mich erfasst, und ich möchte sie unbedingt nutzen. »Weißt du, ich habe plötzlich das Gefühl, das Leben zieht an mir vorbei, ohne dass ich wirklich lebe, Juna. Als hockte ich auf einer Art Pannenstreifen, und alle anderen düsen auf der Überholspur und winken mir zu.« Ich atme tief durch und rede weiter. »Mensch, ich bin sechsunddreißig Jahre alt, und meine Liste mit den Dingen, die ich noch erleben will, ist lang. Wenn nicht jetzt, wann dann? Das Geld aus Alex’ Lebensversicherung liegt unberührt auf der Bank und …«
»Okay, okay, mein Kapiervorgang wurde gerade abgebrochen. Du willst das Geld deines Mannes in ein so wackliges Projekt stecken?« Jetzt ist Juna wach. Ihre großen Augen, die meinen so ähnlich sehen, glänzen im Licht des Laptops. »Bist du irre?«
»Ich finde mich eher mutig.«
»Liebes, mutig ist, wenn man mit Fallschirm aus einem Flugzeug springt. Es ohne zu tun, ist verrückt.«
»Ich habe einen Fallschirm. Fünfhunderttausend, um genau zu sein.«
Juna stößt einen Pfiff durch die Zähne aus. Über die Summe haben wir nie gesprochen, und meine Schwester wollte nie wissen, wie viel Geld Alex’ Lebensversicherung damals gezahlt hat. Als ich bei ihr einzog und darauf bestand, einen Teil der Miete beizusteuern, nahm sie mir das Versprechen ab, Bescheid zu geben, wenn ich in finanzielle Engpässe geriete, und damit war das Thema erledigt.
»Na ja, die Hälfte würde ich gern für Romys Ausbildung und Zukunft fest anlegen, aber der Rest …«
Wann habe ich das letzte Mal etwas getan, das ich wirklich wollte? In den letzten Jahren drehte sich alles um Romy, Pädagogik, musikalische Früherziehung, Kochkurse – Normalität für das Kind. Und es war gut gewesen. Im Gegensatz zu den fiktiven Rollen im Theater gab mir die der Mutter Halt und Orientierung, auch wenn ich wahrlich nicht als Vorbild für einen Elternratgeber tauge. Ich tauche eher in jenem Kapitel auf, das erklärt, wie man es nicht macht …
Romy ist mein Ein und Alles, meine lebende Verbindung zu Alex, meine Tochter. Und doch. Ich spüre, dass sich etwas verändert hat heute Nacht.
»Ich hatte sie vergessen, Juna«, sage ich. »Meine Träume. Und das hier …« Ich nicke zum Bildschirm. »… könnte er sein. Der Traum, den ich mir erfüllen sollte.«
Ich warte auf ihre Reaktion, doch Juna schaut mich nur an, sagt nichts. Wer meine Schwester kennt, weiß, wie gern sie redet. Wie bereitwillig sie ihre Meinung zu allem und jedem kundtut. Jetzt jedoch mustert sie mich nur, als wäre ich eine arme Irre.
»Guck nicht so«, fordere ich und spüre diese flirrende Unruhe, die sich in mir ausbreitet. Und Trotz, der aufblüht.
»Ich guck doch gar nicht«, verteidigt sie sich halbherzig.
»Doch, tust du. Auf diese Art, du weißt schon.«
Wie damals, als ich in eine Depression rutschte und vor allem mir selbst einzureden versuchte, dass alles halb so schlimm war.
»Gar nicht wahr, ich guck nicht. Jetzt guckst du so.« Mit einer schnellen Bewegung knipst sie die Nachttischlampe an, setzt sich aufrecht hin. Unsere Füße berühren sich unter der Bettdecke.
»Leni, so was kann schnell zu einem Albtraum werden«, klugscheißt meine Schwester, bevor sie die Anzeige Detail für Detail durchsieht.
Ich bekomme einen Schluckauf vom Wein und frage mich, wer eigentlich die Ältere von uns beiden ist. Ich müsste ihr unvernünftige Dinge madig machen, nicht umgekehrt.
»Schau mal, es ist von 1845.« Sie verengt die Augen, als sich das zweite Bild des Anwesens aufbaut. »Wow! Das ist verdammt hübsch.«
»Ja, oder?« Ich nicke wie wild.
Ein Lächeln schleicht sich auf Junas Gesicht, und ich spüre, ich stecke sie an. Mit meinem Fieber für Veränderung.
»Und es hat viele Obstgärten, einen Brunnen, Ställe und liegt trotzdem nicht in der allerletzten Pampa«, schwärme ich.
Plötzlich tapsen kleine Füße über den Flur. Romy erscheint in der Tür, mit halb geschlossenen Augen findet sie den Weg zum Bett, wobei sie mit ihrem großen Teddy zielsicher den Bilderrahmen auf Junas Kommode erwischt, der mit einem Klirren zu Boden geht.
»Huch«, säuselt meine Tochter, stoppt vor der Bettkante und lässt sich wie ein gefällter Baum auf die Matratze fallen.
Juna und ich tauschen einen Blick. Das Erste, was ich tat, als Romy zu laufen begann, war, eine Unfallversicherung für meinen kleinen Tollpatsch abzuschließen.
»Romy würde das Landleben guttun«, mutmaße ich und greife unter die Arme meines schlaftrunkenen Mädchens, um sie zwischen uns zu ziehen. Juna breitet die Decke über uns neu aus.
»Damit könntest du recht haben. Und es wäre gut, wenn es vor ihrer Einschulung geschieht.« Juna bemerkt den Jubelschrei, der mir bereits auf der Zunge liegt, und schiebt nach: »Falls etwas geschieht.«
Romy nuckelt an der Pfote ihres Teddys und schmatzt dabei.
»Wollen wir es uns mal angucken?« Ich blinzle meine Schwester hoffnungsvoll an.
»Wenn angucken nichts kostet?« Juna zuckt die Achseln, eine gewisse Skepsis liegt immer noch in ihrer Stimme.
»Ich erwarte nicht, dass du mit aufs Land ziehst. Ich weiß, dass du die Stadt magst«, lasse ich vorsichtshalber mal fallen. »Und deine Wohnung.«
Junas Blick bleibt an Romys Lockenkopf hängen.
»Ich könnte die Wohnung untervermieten. Vorerst.« Einen Moment bleibt sie still, bevor sie weiterredet. »Ich bin doch sowieso oft unterwegs. Und wenn ich zurückkomme, wohne ich mit euch zusammen.« Juna ist noch keine dreißig, ungebunden und als freie Fotografin und Grafikerin recht flexibel.
»Aber ich kann dich nicht ewig so heftig in meinem Leben verpflichten. Du hast dein eigenes«, werfe ich ein. »Du hast schon so viel für uns getan.« Ich grüble. »Du könntest hierbleiben, in Bremen, und uns besuchen kommen.«
Sie stößt einen abgehackten Laut aus. »Ich wusste es, du hast den Verstand verloren. Wenn du das wirklich durchziehst, dann mach ich natürlich mit!« Junas typisches freches Grinsen schleicht sich auf ihren hübschen Mund. »Was würde Charlotte denn sagen, wenn einer von uns vernünftig bleibt?«
Ja, ja, die Verzweiflung unserer nie verheirateten Mutter, die meint, dass ihre beiden Töchter Sonderlinge seien und schwer vermittelbar dazu. Witzig, dass ausgerechnet Juna darauf anspielt.
»Nun denn.« Sie reibt sich die Hände. »Wir haben erst Februar, und so ein Jahr versaut sich nicht von allein. Also los, gucken wir uns die Ruine mal an.« Sie angelt nach dem Handy. »Wie ist die Nummer des Maklers?«
Meine Brauen schnellen nach oben. »Jetzt? Die haben doch noch gar nicht geöffnet.«
»Ach ja, stimmt. Es ist ja Nacht.« Das Grinsen meiner Schwester bröckelt dahin.
Ich lehne mich zu ihr herüber und schlinge meine Arme um sie. »Du bist die beste Schwester, die ich hab«, flüstere ich und bin dankbar, dass es sie gibt.
»Ich bin die einzige Schwester, die du hast.« Ihr Kuss ist sanft, der Tritt, den ich von der zwischen uns eingequetschten Romy bekomme, weniger.
Schließlich schlafen wir wieder ein, bis die Sonne Junas Zimmer in weiches Licht taucht und die Müllabfuhr durch die Straße rumpelt.
Es vergehen kaum zwei Monate, bis wir den Kaufvertrag unterschreiben und unser bisheriges Leben in Kisten und Tüten verpacken. Juna hat einen Untermieter für unser Bremer Zuhause gefunden, der so schnell in die hübsche kleine Stadtwohnung einziehen will, dass wir früher, als uns lieb ist, zu unserem neuen Ufer aufbrechen und bereits Anfang Mai in das alte Bauernhaus umsiedeln. Lange bevor es richtig renoviert ist.
Trotzdem steuere ich den Transporter mit der ersten Fuhre voller Freude in den verträumten kleinen Ort namens Auen hinein. Im Handgepäck befindet sich das kleine Rezeptbuch unserer Großmutter Hilde, das all unsere Hoffnungen für unser neues Leben aus Sonnenschein enthält. Charlotte hat es uns zum Einzug geschenkt mit den Worten »Hals- und Beinbruch«. Humor hat unsere Mutter.
Ich spüre ein Grinsen auf meinem Gesicht. Eine halbe Ewigkeit habe ich mich nicht mehr so lebendig gefühlt.
»Guck mal, Plakate«, plärrt Romy von hinten und klingt genauso euphorisch, wie ich mich fühle. »Ist ein Zirkus in der Stadt?« Sie verrenkt sich den Hals nach den Anschlägen mit Wahlwerbung.
Juna lacht. »So kann man das auch sagen.«
»Da! Ein Spielplatz!«, kräht Romy als Nächstes und deutet nach links.
»Ja, mein Spatz. Den erkunden wir bald«, antwortet Juna liebevoll.
»Nein, jetzt! Oder Zirkus!« Romy fummelt am Gurt, ich, multitaskinggeübt, unterbinde ihren Versuch, während der Fahrt auszusteigen, und zähle nebenbei die alten Häuser, die früher allesamt einmal kleine Bauernhöfe gewesen sein müssen. Es sind ganze drei bis jetzt.
»Mann, Mama. Lass mich los«, fordert meine Tochter.
»Wow, guck mal. Ein rosa Elefant!« Juna deutet durch die Frontscheibe.
»Echt?« Romy beugt sich vor und hört auf, an meinen Fingern zu ziehen. Ich schenke Juna ein Lächeln – in Romy-Ablenkungsmanövern macht ihr so schnell niemand was vor.
»Nö.«
»Oah, Tante Juna, du bist so gemein!«, empört sich meine Tochter. Während sie die Arme vor der Brust verschränkt, kurble ich das Fenster herunter. Landluft schlägt uns entgegen wie schon am Tag der Besichtigung. Eine Note zwischen Gülle und Silage vom einzig aktiven Großbauern im Dorf. Man kann von hier aus die riesigen Stallungen seiner Rinder sehen.
»Tante Juna, weißt du, was man mit gemeinen Tanten macht?«, will Romy wissen und rümpft die kleine Nase, als ihr der beißende Geruch entgegenschlägt.
»Nein, weiß ich nicht. Aber ich wette, du wirst es mir gleich erklären.« Juna seufzt theatralisch.
»Ja, mach ich.« Meine Kleine hält kurz inne. Im Rückspiegel kann ich sehen, wie ihre Gedankenrädchen ineinander greifen. Dann holt sie tief Luft. »Die kommen in den Gemeinenbrunnen und werden so lange im Wasser gewaschen, bis sie nur noch nett sind. Da ist nämlich ganz viel Seife drinnen. Oder sie fahren zum Mond, in einer Rakete ohne Rückfahrtgenehmigung. Oder …«
»Ich habe weder vor, mich zu waschen, noch, zum Mond zu fliegen, Liebes«, unterbricht Juna Romys Sanktionenkatalog. »Oh, guck mal, lila Kühe.« Meine Schwester deutet nach links, während ich auf eine schmale Kopfsteinpflasterstraße biege. Rechts reihen sich Neubauten aneinander wie Perlen auf einer Schnur. Links befinden sich nur Wiesen und Felder bis zu unserem Grundstück und den zwei unmittelbaren Nachbarn. Wir sind quasi das Schlusslicht des Ortes, direkt hinter einem imposanten Gebäude mit riesigen Fenstern und Türmchen.
»Wo?« Romy reckt den Hals. Ihre Füße wippen aufgeregt hin und her.
»Angeschmiert«, freut sich meine Schwester und lacht.
»Du Kackefratz!«, motzt Romy und bekommt vor Zorn ihre typisch roten Ohren.
Ich werfe Juna einen warnenden Blick zu. Wenn meine Süße einen Wutanfall bekommt, wird es schnell sehr laut und ungemütlich. Vorsichtshalber erinnere ich Romy an ein Gespräch über Beleidigungen, das wir erst letzte Woche geführt haben, und schließe mit »Nicht so frech also«.
»Sag das mal Tante Juna«, lautet Romys Antwort. Sie starrt aus dem Fenster und straft uns mit eisigem Schweigen.
Ich verkneife mir ein Grinsen, während ich um ein Schlagloch herumkurve und zwischen den Bäumen nach dem Fachwerkhaus Ausschau halte, das das Hauptgebäude unseres neuen Zuhauses ist.
»Da ist es!«, rufe ich und freue mich, weil sowohl Juna als auch Romy sich sofort die Hälse verrenken. Wir passieren einen unserer beiden direkten Nachbarn: das teuer aussehende Klinkerhaus mit Löwenskulpturen auf der Einfahrt, das durch Hecken und eine brüchige Mauer von unserem Hof getrennt ist. Auf der anderen Seite unseres Grundstückes befindet sich ein winziger Bungalow, der komplett hinter Gestrüpp verschwindet und unbewohnt aussieht.
Ich bremse, lenke den Transporter durch unser schmiedeeisernes Tor, das springende Pferde zieren, was Romy den letzten Rest ihrer Wut vergessen lässt.
»Das ist so schön, Mama«, haucht sie andächtig und drückt ihrem Teddy die Knubbelnase an der Scheibe platt, damit er den prächtigen Anblick gebührend bewundern kann.
Rechts von uns liegt eine vollkommen verwilderte kleine Weide mit desolatem Holzzaun, links eine löchrige Hecke, die in eine rote Backsteinmauer übergeht. Das von Rosen umfasste Fachwerkhaus mit blauem Stalltor dominiert den runden Hof, auf den wir zuhalten. Ein kleineres Backsteingebäude, das einst als Hofladen diente, ruht an seiner Seite. Die Reifen des Transporters graben sich in den Kiesweg, als ich vor dem Hauptgebäude parke.
»Na, dann wollen wir mal gucken, wer das schönste Zimmer bekommt.« Juna öffnet die Autotür und klettert nach draußen.
Romy fällt mehr aus dem Wagen, als dass sie aussteigt. »Ich will aber Erste sein!«, quietscht sie, und aus einem der nahen Büsche flattern zwei Meisen erschrocken in den Himmel.
»Hey, wie wäre es, wenn ihr gleich was mit ins Haus nehmt?«, rufe ich den beiden nach und wische mir den Schweiß von der Stirn. Die Luft ist unglaublich drückend, von Osten schieben sich dunkle Wolken heran, und es sieht nach Regen aus.
Ich gehe um das Fahrzeug herum. Als ich die Türen zur Ladefläche öffne, fällt mir einer der blauen Säcke mit Romys Teddybären und Schweinestofftieren entgegen.
»Na hoppla, ihr habfts aber eilich«, höre ich mich sagen und erkenne das lispelnde Lama von neulich. Ist es also mit hierhergezogen, na, so was! Da wird sich Romy aber freuen.
In diesem Moment kehrt Juna zurück, klimpert mit dem Haustürschlüssel, schiebt sich an mir vorbei und greift sich eine Nachttischlampe aus dem Fundus der schlecht gestapelten Dinge.
»Uh, guck mal – Kermit!«, freut sie sich und deutet auf eine fette Kröte im Gestrüpp, bevor sie mir vor die Füße rennt und mit dem Kopf gegen die offene Tür der Laderampe knallt. Es scheppert, ich ziehe scharf die Luft ein und rufe in Gedanken schon mal 112 an. Doch Romy reibt sich nur die beeindruckend rasch wachsende Beule und haucht ein überraschtes »Huch«.
»Mensch, Romy!«, schimpfe ich. »Du musst aufpassen.«
»Wir sollten sie nur mit Sturzhelm rumrennen lassen«, meint Juna, während sie eine erste Ladung Kram den Kiesweg entlang zum Haus trägt.
Ich blicke ihr nach und kann nicht anders, als mich erst einmal an dem wunderschönen Anblick des Gebäudes zu erfreuen. Die vielen Details der Schnitzereien in den Elementen aus Holz und die Butzenfenster haben es mir angetan, auch wenn die Farben bereits Blasen werfen. Das Dach hat sich offensichtlich dem Ostwind gebeugt, und die Gauben brauchen dringend einen neuen Anstrich, dennoch sieht das Haus einladend und warm aus.
Romy hat etwas Neues entdeckt, das ihre volle Aufmerksamkeit fordert. Ein altes Windspiel in einer Eiche, die ihre Äste gefährlich über das Dach des Hauses streckt.
»Romy, mach mal bitte langsam. Ich habe keine Lust, mit dir ins Krankenhaus zu fahren.« Wie vorgestern, als sie die Treppe hinabsegelte, im Arm einen kleinen Umzugskarton mit ihren Malsachen.
»Nach Lust geht das aber nicht, Mama«, zitiert sie meinen Lieblingssatz, den sie regelmäßig zu hören bekommt, wenn sie ihr Zimmer nicht aufräumen will. Ich stelle fest, wie blöd er ist, und lasse Romy nach den bunten Glaselementen angeln, die leise im Wind klingen.
»Ich dachte, du hast schon sauber gemacht?«, schallt es in diesem Moment aus der Scheune. Die blaue Tür steht offen. Als ich den Hof überquere und hinübergehe, kommt mir Juna entgegen und weist mit dem Daumen hinter sich. »Da drin sieht’s aus …« Sie packt meinen Arm, legt eine Kehrtwende hin und zieht mich hinter sich her durchs Scheunentor.
Ein paar funzelige Lampen beleuchten das Innere des Gebäudes. In den zwei Pferdeboxen zur Rechten stehen alte Fahrräder. Überall hängen Spinnweben, und in zwei Kaninchenställen liegt jahrealter Mist.
Ich zucke mit den Schultern. »Das Haus war schon genug Arbeit für eine ganze Kolonne«, berichte ich von einem Wochenende, das ich hier allein mit Wischmopp, Staubsauger und Kalksteinreiniger verbracht habe, während Juna einen Job in Berlin erledigte und Romy sich von ihrer Oma verwöhnen ließ.
»Schon gut«, winkt Juna ab. »Biste da schon mal durchgegangen?« Sie deutet auf die Tür, die den Stall vom bewohnbaren Haupthaus trennt. »Ich hab sie gerade probiert, das ist voll cool.«
Sie stößt die Tür auf, und wir treten in einen mit Terrazzoboden ausgelegten Flur, auf dem man ohne Weiteres tanzen könnte. Die Decken sind hoch und mit offener Balkenlage geschmückt. Links beugt sich eine Holztreppe, von der himmelblaue Farbe blättert, nach oben in den zweiten Stock. Herrlich kühle Luft hüllt uns ein. Der klare Vorteil von soliden Gemäuern.
Durch die Haustür kommt Romy hereingesprungen, ihre Hände müssen einfach alles berühren, was sie finden. Die wurmstichige Kommode neben der Garderobe, die Spitzenvorhänge vor den Butzenfenstern, die kunstvollen Klinken der weißen Türen und die Schnitzereien des Treppengeländers.
»Nicht nach oben, Romy. Wir haben das besprochen«, mahne ich, und sie tänzelt zurück. Ihr Tüllrock bauscht sich um ihre dünnen Beine, während sie versucht, ein Ballett nachzustellen.
»Ja, Mami. Ich weiß, dass dort noch alles kaputt ist«, antwortet sie. Allerdings scheint das Wissen nicht in ihren Füßen angekommen zu sein, denn schon sind sie erneut unterwegs und im Begriff, die Stufen zu erklimmen. Ich hebe den Zeigefinger. Romy bremst, bevor ich meckern kann, und zieht den erhobenen Fuß zurück.
»Das kann ja was werden.« Juna bindet sich ihre Haare zu einem Dutt und klatscht in die Hände. »Auf ins Gefecht!«
Ich bin noch dabei, den Gussofen zu bewundern, der sich in eine der Ecken duckt, als es hinter mir so jämmerlich knarzt, dass sich meine Nackenhaare aufstellen. Romy hat eine der vielen Türen, die links und rechts vom herrlichen Flur abgehen, aufgerissen, um den nächsten Raum zu erkunden: die Stube.
Sie und Juna kennen das Haus nur von Bildern – wegen eines kurzfristigen Jobangebots hatte ich den Besichtigungstermin im März ohne meine Schwester wahrnehmen müssen und war allein hingefahren. Natürlich hatte ich den beiden alles genauestens beschrieben, Romy hauptsächlich den Garten, die Obstbäume und Wiesen, Juna den Zustand des Erdgeschosses, der gar nicht mal so übel ist, wenn man bedenkt, dass das Haus bereits seit einem Jahr leer steht.
Etwas klirrt.
»Huch«, höre ich Romy sagen und zähle innerlich bis drei, um ruhig zu bleiben. »Na, wer wird denn da gleich den Kopf verlieren?«
Als ich die Stube betrete, versucht meine Tochter gerade, zwei Teile einer Porzellanpuppe zusammenzusetzen, die von der Vitrine gestürzt sein muss. Das arme Ding wird den Perserteppich verpasst haben und auf den Dielen aufgekommen sein.
»Romy, du musst besser aufpassen.« Keine Ahnung, wie oft ich ihr das schon gesagt habe. Es nützt genauso viel, wie den Regen aufzufordern, weniger nass zu sein.
Seufzend wuchte ich den Sack mit Teddys in ein kleines Zimmer mit Erker, das ans Wohnzimmer grenzt. Hier werden Romy und ich vorerst schlafen.
»Um das scheußliche Ding ist es nicht schade«, höre ich Juna murmeln, als ich an ihr vorbeikomme. Sie war von Anfang an nicht sonderlich begeistert, dass ich die Möbel und einiges an Tand des verstorbenen Vorbesitzers behalten habe. Doch ich fand den Gedanken grausam, dass diese persönlichen Dinge andernfalls einfach entsorgt worden wären.
Romy gibt ihren Rettungsversuch auf, lässt die Scherben auf dem Boden liegen und setzt ihre Erkundungstour fort. Im nächsten Augenblick ist sie halb im Kamin verschwunden, und ich schicke ein Stoßgebet gen Himmel, dass sie endlich müde wird.
»Die Tapete gefällt mir. So retrospektiv.« Juna schaut sich skeptisch um.
»Keine Sorge, die bleibt nicht. Braun mit winzigen rosa Blüten wirkt doch ziemlich erdrückend. Ich sehe hier eher den Stilbruch zwischen Alt und Neu.« Während ich überlege, gerate ich ins Schwärmen. »Helligkeit muss hier rein. Vielleicht machen wir einen Durchbruch zur Küche …«
»Ja, und wir könnten die Balkenlage offen legen wie im Flur. Die Decke ist hier viel zu niedrig.«
»Dachte ich mir auch. Jemand muss sie abgehängt haben, um Heizkosten zu sparen«, gebe ich die Einschätzung des Maklers wieder, bleibe vor dem Kamin stehen und betrachte das Schwarz-Weiß-Foto, das auf dem Sims steht. Es zeigt zwei Männer, die vor Eichenfässern posieren. Sicher Produkte aus der Brennerei.
»Hm, die Feuerstelle muss sich der Schornsteinfeger aber noch mal angucken. Nicht dass der gar nicht mehr betriebsbereit ist.« Juna tritt neben mich, wirft einen Blick den Kaminschacht hinauf, und während wir beginnen, über Strohputz und Feuersicherheit zu diskutieren, wird es verdammt still im Haus.
Zuerst fällt es mir gar nicht auf. Doch dann brüllt mich die Stille beinahe an.
»Wo ist eigentlich Romy?« Ich wirble herum, eile in den Flur und lausche. »Romy?«
Nichts.
»Scheiße!«, stößt Juna aus. Wir wissen beide, dass einige Gefahren auf dem Gelände lauern, die wir noch nicht besprochen haben. Im Haus, auf dem Hof, im Garten, auf den Obstwiesen und in den alten Ställen. Überall quasi. Eiswasser schießt mir durch die Venen.
Juna erklimmt die verbotene Treppe, hinauf in den ersten Stock. »Wirbelwind, wo bist du?«
Ich hetze durch den Flur zum Haupteingang, der wahnwitzigerweise auf der vermeintlichen Rückseite des Hauses liegt. Die mit Blumenmotiv verzierte Haustür in bemerkenswerten fünf Blautönen steht offen. Statt ihr die verdiente Aufmerksamkeit zu schenken, stürze ich ins Freie.
Ein kleiner Wald empfängt mich, das Blätterrauschen verschluckt meine Rufe. Ich trete die unebenen Stufen hinab, folge dem Pfad aus Kopfsteinpflaster, der durch das Wäldchen hinüber zu den Obstwiesen führt.
»Romy!« Ich renne voran, durch kniehohes vertrocknetes Gras, weiß nicht, wo ich zuerst suchen soll. Mein Blick fällt auf den Brunnen, und ich mache einen Hechtsprung darauf zu, als ließe sich dadurch irgendwas verhindern, das hoffentlich, bitte, bitte, nicht passiert ist. Ich starre in das Dunkel hinab, aus dem es mir modrig entgegenriecht. »Romy?«
Auch wenn ich den Grund des Brunnens nicht erkennen kann, bin ich mir sicher, dass sie nicht hier ist. Ich gönne mir zwei Sekunden Erleichterung, bevor meine Augen über die Reihen der blühenden Apfelbäume wandern, die von denen der Kirschbäume abgelöst werden. Ein Meer aus Rosa und Weiß, so weit das Auge reicht.
Ich drehe nach Westen ab, zu den Blaubeerbüschen. Sie bestehen aus wild ineinander verschlungenen anderthalb Meter hohen Zweigen – das perfekte Versteck für eine beinahe Siebenjährige.
Plötzlich höre ich ihre Stimme.
»Weißt du, was das ist?«, fragt sie. »Das ist mein neues Haustier. Und wenn die Fahrräder aus dem Stall sind, dann bekomme ich ein Lama, hat Mama gesagt.«
Wann hab ich ihr das denn versprochen?, wundere ich mich, und mir dämmert, dass man nichts im Halbschlaf besprechen sollte.
»Weißt du, was Lamas können? Die können Wolle machen und sogar spucken. Ich darf nicht spucken, hat Mama mir verboten … Und weißt du noch was? Ich hatte mal einen Hamster, aber der ist gestorben.« Es war das Trauma des letzten Sommers, als Romy das arme Tier aus Versehen in der Sandkiste beerdigte. »Hier, guck dir die Schnecke an«, fährt sie fort. »Die ist fast so hübsch wie mein Hamster. Weißt du, warum der tot gegangen ist?
»Lass mich raten«, höre ich eine weibliche Stimme antworten und schlage mich weiter durch die Büsche in Richtung Nachbargrundstück. »Du hast ihn totgequatscht, oder?«
Oha.
Romy holt ungerührt Luft und redet einfach weiter über Schnecken und Schleimspuren auf den Händen. Und tote Hamster. Sie entdeckt mich, als ich einen Pfad finde, und winkt mir fröhlich zu. »Mama, guck mal, ich hab ’ne Schnecke. Und die Tante da, die wohnt neben uns und hat einen Hund.«
»Hach, so eine freudige Überraschung«, begrüßt mich eine schlanke Frau mit Pagenschnitt und Doppelkinn. Sie trägt ein Jackett mit Schulterpolstermonstern der Achtzigerjahre und dazu dunklen Lippenstift. Sie muss so um die siebzig sein, vielleicht etwas älter. Ich werfe einen Blick über die hüfthohe Mauer. Ihr Hund, ein heller Mops, rutscht mit dem Hintern über den Boden zu ihren Füßen. Der Gute könnte wohl eine Wurmkur vertragen.
»Hallo, freut mich. Ich hoffe, Romy hat Sie nicht gestört«, entschuldige ich mich und lächle. »Ich bin Leni, die Mutter des kleinen Wirbelwindes.«
Während ich meine Hand ausstrecke, rennt Romy einem Schmetterling nach, hüpft über Brennnesseln und setzt ihre Schnecke auf einem Baumstumpf ab. Hoffentlich vergisst sie das Tier, ich möchte es nicht im Bett wiederfinden.
»Ach was, nein.« Die Dame winkt freundlich ab und erwidert meinen Händedruck über die Mauer hinweg viel zu stark. »Ich mache gerade ein bisschen Gartenarbeit, dabei sind wir uns ganz zufällig über den Weg gelaufen.«
Gartenarbeit? Kurz wundere ich mich über ihr dafür gewähltes Outfit, bis mich der Mops ablenkt, der schwer hechelnd zu mir aufblickt. Er schielt, und ich weiß nicht, in welches Auge ich gucken soll.
»Ich bin Hannelore von Groeben.« Das Lächeln ist herzlich, gleichzeitig scannen mich die flinken Augen der Nachbarin in Sekundenbruchteilen ab. »Und das ist Chantall de la Fleur.«
Was für ein Name!
»Leni Mondtag«, stelle ich mich mit einem Knicks vor. Keine Ahnung, warum ich das Gefühl habe, mich wie ein Untertan verhalten zu müssen.
»Auf eine gute Nachbarschaft«, gurrt Hannelore und hebt die dicke Mopsdame auf den Arm. Chantall rülpst. Vielleicht sollte es ein Bellen werden. Hannelore hält mir ihr Prachtbaby halb über die Mauer hin, damit ich ihr den Kopf tätscheln kann. »Nicht wahr? Sie ist eine ganz Brave. Mit aristokratischer Abstammung.« Hannelore beginnt einen Vortrag über Stammbäume und Zuchtlinien.
Ich schaue mich immer wieder nach Romy um, nicht dass sie sich gleich wieder in Luft auflöst. Oder doch noch in den Brunnen fällt.
»Ziehen Sie heute etwa schon ein?«, wundert sich Hannelore irgendwann und linst zum Hof hinüber, wo man das Heck des Transporters vor dem Haus erahnt. »Wollen Sie gar nicht renovieren?«
»Doch, doch«, beeile ich mich und sehe gerade noch, wie Romy einen Ast herumwirbelt und im schönsten Schwung loslässt. Zielsicher knallt er in eine Scheibe des Gewächshauses, die in tausend Teile zerspringt. Verdammte Axt!
»Romy!«, brülle ich, was den Mops auf Hannelores Arm zusammenzucken lässt.
»Ich komm ja schon«, murrt mein Kind schuldbewusst, den Mund zu einer Schnute verzogen. Als sie mich erreicht, krallt sie sich an meinen T-Shirt-Saum und schmollt.
Hannelore sieht mich mitleidig an. »Sie haben bestimmt alle Hände voll zu tun mit der Kleinen.«
»Sie ist sehr lebhaft«, gebe ich zu. Meine Finger kraulen Romys Rücken, was ihre Schnute zum Schmelzen und ihren Körper zum wohligen Schütteln bringt.
»Ich bin ›Huch‹-begabt«, klärt meine Tochter unsere neue Nachbarin auf und grinst verschmitzt.
»Huch ist ihr Lieblingswort«, ergänze ich, und Romy kichert noch lauter. Ihre seelenvollen braunen Augen blinzeln zu mir hoch, und mir wird warm ums Herz.
»Na so was!« Hannelore stimmt in unser Lachen ein. Zumindest denke ich, dass es ein Lachen sein soll. Mopsdame Chantall pupst währenddessen ganz undamenhaft und erschreckt sich selbst.
»Haben Sie auch Kinder?«, rutscht es mir heraus, und ich merke sofort, dass ich einen wunden Punkt treffe. »Ach, das geht mich ja gar nichts an. Entschuldigen Sie bitte meine Neugierde.«
In der Ferne blitzt es. Schwarze Wolken verschlucken plötzlich die Sonne, und eine frische Böe trägt Apfelblüten zu uns herüber.
»Ist schon gut, Kindchen«, meint Hannelore, als sie sich gefangen hat. »Meinem Mann Dieter, Gott hab ihn selig, und mir war dieses Glück nicht vergönnt, müssen Sie wissen. Aber das ist vollkommen in Ordnung.« Sie lehnt sich an die Mauer. »Da ich sehr in die Dorfgemeinschaft eingebunden bin, habe ich auch so genug Hände zu halten, wenn Sie verstehen. Und ich habe Chantall.«
»O ja, natürlich«, sage ich, gefolgt von einem »Autsch!«, weil Romy mir auf den großen Zeh latscht, als sie mir den schwarzen Himmel mit seinen Blitzen zeigen will.
»Wenn Sie Hilfe brauchen, lassen Sie es mich doch wissen. Ich kenne einen Elektriker, einen Fliesenleger und einen Mann für alles sozusagen. Hier auf dem Dorf hilft man sich gern gegenseitig aus. Nicht wahr, mein Häschen?« Hannelore knutscht Chantall die dicke Nase. Dann sieht sie auf. »Oder macht Ihr Mann alles selbst?« Sie guckt hinter mich, wo Juna ihren Kopf aus einem der oberen Fenster des Hauses steckt.
»Ach, du hast Romy gefunden!«, brüllt sie uns über das Rauschen der Bäume hinweg zu und winkt. Ich winke zurück.
»Wir sind nur zu dritt«, antworte ich, und die Worte versetzen mir einen plötzlichen Stich. Alex fehlt mir. Immer noch. Und manchmal unerwartet heftig. »Meine Schwester, ich und Romy.«
»Ja, die Mondtag-Frauen«, ergänzt Romy und zupft erneut an meinem Pullover.
Hannelore keckert vor sich hin. »Ein Weiberhaushalt also. Wie schön!«
Der Stachel in meinem Herzen bewegt sich. Ganz leicht. Unwillkürlich berühren meine Finger die Narbe an meinem Kinn. »Ja, nur wir Mädchen.«
Mit einem Mal zerreißt ein heftiges Donnergrollen den Frieden des verträumten Gartens, und dicke Tropfen klatschen vom Himmel. Romy schreit auf, klammert sich an mein Bein, und ich hebe sie wie Hannelore den Mops auf meine Hüfte.
»Na gut, wir sehen uns bestimmt bald wieder«, verabschiede ich mich. »Und vielen Dank für Ihr Angebot. Ich werde bestimmt darauf zurückkommen.« Mit Romy auf dem Arm bahne ich mir einen Weg durch die Heidelbeersträucher.
»Jederzeit, Kindchen«, ruft Hannelore uns hinterher.
Im Haus und im Trockenen entdecke ich einen Wasserfleck auf der Tapete im Flur und ärgere mich, dass wir nicht Telefonnummern ausgetauscht haben. Irgendwo ist irgendwas nicht ganz dicht – sozusagen die erste Aufgabe für den Mann für alles sozusagen.
»Und, wie ist sie so?«, will Juna wenig später wissen. Sie ist dabei, Geschirr in den schiefen Küchenschrank zu räumen, und pfeift Kinderlieder vor sich hin.
»Och, ganz nett, glaub ich. Sie wohnt allein mit ihrem Hund in dem riesigen Klinkerbau mit den tausend Skulpturen.« Die müssen schweineteuer sein, die Dinger. »Sie ist auch Witwe.«
»Oh.« Juna mustert mich eingehend, ein Teller rutscht ihr aus der Hand und bricht entzwei.
»Ja, aber sie sagt, sie hat viele enge Kontakte zur Dorfgemeinschaft. Einsam wird sie nicht sein.« Zumindest macht sie nicht den Eindruck.
Die Stunden vergehen. Tropfen rinnen wie dicke Tränen übers Fensterglas. Die Bäume vor dem Haus biegen sich im Sturm, und eines der Windspiele, die zu gefühlten Hunderten in ihnen hängen, verfängt sich hoffnungslos in den Ästen.
Junas Hand legt sich auf meine Schulter, sie hält mir eine Tasse dampfenden Kaffee unter die Nase. Ich lächle selig. Sie weiß immer, was ich gerade brauche.
»Vielleicht haben wir ja Glück, und der Blitz schlägt ein. Dann können wir warm sanieren. Eventuell wird’s dann billiger«, scherzt meine Schwester und setzt sich ans Fußende der weinroten Chaiselongue, auf der Romy erschöpft eingeschlafen ist.
»Schade, dass es jetzt so regnet«, hauche ich. »Eigentlich wollte ich dir den Obstgarten mit seinen märchenhaften Blüten zeigen. Und die große Wiese hinterm Haus, auf der sich die Bienenstöcke befinden.«
Juna gähnt, nippt an ihrem Kaffee. »Das läuft ja nicht weg. Am besten, wir räumen erst mal so viele Kisten aus, wie wir können. Und bauen die Betten auf.« Sie zieht ihre perfekte Braue hoch. »Ich schlafe auf gar keinen Fall in der alten Kiste – du weißt schon, das Ungetüm mit Bettwanzen in dem kleinen Zimmer dort drüben.« Sie deutet nach links in den Flur, von dem das ehemalige Schlafzimmer abgeht.
»Och, ich dachte, es träfe genau deinen Geschmack«, frotzle ich und bekomme einen Teddy an den Kopf. Kaffee schwappt auf meine Jeans.
Ende der Leseprobe