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Hermann Kappes 10. Fall 1928: Am Neujahrsmorgen wird in der Neuköllner Kleingartenkolonie "Stolz von Rixdorf" eine stark verweste Leiche gefunden. Rasch wird die Verstorbene als eine wohlhabende Witwe und erfolgreiche Unternehmerin identifiziert, die seit dem Tod ihres Mannes dessen wertvolle Büchersammlung fortgeführt hat. Kommissar Hermann Kappe wird mit den Ermittlungen betraut, die ihn zunächst auf die Spur eines polizeibekannten Heiratsschwindlers führen. Doch auch der weltgewandte Autohändler und Bücherliebhaber Tomuschat benimmt sich verdächtig. Als die Ermittlungen ins Stocken geraten, schaltet sich der große Ernst Gennat in den Fall ein. Kappe jedoch lässt sich nicht beirren und folgt seinem eigenen Instinkt …
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Seitenzahl: 281
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Horst Bosetzky
Bücherwahn
Kappes 10. Fall
Kriminalroman
Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt als «Denkmal der deutschen Kriminalliteratur». Mit einer mehrteiligen Familiensaga sowie zeitgeschichtlichen Spannungsromanen avancierte er zu einem der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Zuletzt erschienen im Jaron Verlag von Bosetzky die Werke «Der Lustmörder» («Es geschah in Berlin 1920», 2008), «Schau nicht hin, schau nicht her» (in der Reihe Berliner Mauerkrimis, 2009) und «Kempinski erobert Berlin» (2010).
Originalausgabe
1. Auflage 2010
© 2010 Jaron Verlag GmbH, Berlin
1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
www.jaron-verlag.de
Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin
ISBN 9783955520090
Cover
Titelseite
Impressum
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
NACHTRAG
Es geschah in Berlin …
EXEMPLARE DER GATTUNG CALLIPHORIDAE, allgemein Schmeißfliegen genannt, konnten Leichen über mehrere Hundert Meter wittern, und so hatten sie die Tote als Erste entdeckt und ihre Eierpakete noch schnell abgelegt, bevor die kalten Tage kamen. Bald waren die weißen Maden geschlüpft und hatten sofort begonnen, mit ihren Mundhaken kleine Gewebestücke zu fressen. Danach hatten sich Aaskäfer und Ratten an der Toten gütlich getan. Die Grünverfärbung hatte eingesetzt, zuerst am Unterbauch, dann am gesamten Körper, die Augäpfel waren eingesunken, Fäulnisblasen hatten sich gebildet, der Leib hatte sich aufgebläht, rötliche Fäulnisflüssigkeit war aus Mund und Nase herausgepresst worden, die Haut hatte sich in Fetzen abgelöst, und das Gesicht war nun derart aufgedunsen, dass auch enge Verwandte die Frau nicht mehr wiedererkannt hätten, zumal Nase und Lippen abgefressen worden waren. Die Fettwachsbildung hatte eingesetzt, die Mumifizierung begonnen.
Karl und Eva Wolz wohnten am südöstlichen Ende der ewig langen Weserstraße, die am Hermannplatz ihren Anfang nahm und bis zur Ringbahn reichte, genauer gesagt bis zur Neuköllner Gasanstalt an der Teupitzer Straße. Bis zu ihrer Laube in der Kolonie «Stolz von Rixdorf» am Dammweg waren es, nahmen sie ein paar Abkürzungen, anderthalb Kilometer, also mit dem Fahrrad ein Klacks und selbst zu Fuß kein Problem. Und so protestierte er auch nicht, als sie vorschlug, zwischen Mittagessen und Kaffee einen kleinen Spaziergang zu machen und nach dem Rechten zu sehen.
«Ich habe so ein komisches Gefühl», sagte Eva Wolz.
«Wieso denn das?»
«Na, dass unsere Laube diesmal wirklich abgebrannt ist.» Diese Angst war nicht ganz unbegründet, denn es gab einige Laubenpieper, die Silvester gern draußen in der Kolonie feierten, weil man dort ungestört lärmen und riesige Feuerwerke veranstalten konnte. Letztes Jahr war dabei das Holzhäuschen eines Nachbarn in Flammen aufgegangen.
«Ich fürchte eher was anderes», sagte Karl Wolz. Dass nämlich einer der Besoffenen irgendwann mal ihre Laube aufbrechen würde, um dort seinen Rausch auszuschlafen.
Da es früh dunkel wurde, machten sie sich gleich nach dem Mittagessen auf den Weg. Auf die beiden Kinder passte inzwischen die Oma auf.
«Wieder ein neues Jahr», sagte Eva Wolz.
«Was soll es schon Gutes bringen?» Karl Wolz war ein zu politischer Mensch, um nicht zu spüren, dass es im Gebälk der jungen Republik mächtig krachte. «Sie werden die NSDAP wieder zulassen - und dann …»
Karl Wolz, Elektriker bei der Gasag und seit fünf Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei, erinnerte sich an die blutige Schlacht, die es im gerade zu Ende gegangenen Jahr, in der Nacht vom 20. zum 21. März, gegeben hatte. Auf dem S-Bahnhof Lichterfelde-Ost hatte es ein kleiner Trupp von Kommunisten mit sechshundert SA-Leuten aufgenommen.
Eva Wolz war nicht so pessimistisch wie er. «Es kann doch alles nur noch besser werden.» Sie hatte zwei Brüder im Krieg verloren und als Kind zwei Winter lang mächtig gehungert und gefroren.
Sie gingen über die Teupitzer Brücke und dann am Neuköllner Schifffahrtskanal entlang bis zur Dieselstraße, von der aus sich ihre Laubenkolonie sozusagen von hintenherum erreichen ließ. Auf dem Hauptweg wurden sie von Kolonisten empfangen, die mit einigen Sektflaschen angerückt waren, um hier draußen miteinander anzustoßen.
«Prosit Neujahr!»
«Prosit Neujahr! Und Glück und Gesundheit für die nächsten 365 Tage!»
«366 Tage - denn wir haben ’n Schaltjahr.»
«Trinkt ihr was mit?»
«Klar, wir holen uns nur Gläser aus der Laube.» Sie machten noch ein paar Schritte, dann standen sie vor der Parzelle 74. Ihr flaches, selbstgebautes Holzhäuschen leuchtete mit seinem roten Anstrich selbst an einem Tag, der so diesig war, dass alle Farben verschluckt wurden.
«Es ist ja gar nicht abgeschlossen gewesen!» Karl Wolz war verblüfft. Das musste er glattweg vergessen haben, als sie die Laube Ende Oktober winterfest gemacht hatten.
«Und stinken tut’s auch», sagte Eva Wolz, als ihr Mann die Tür nach innen gedrückt hatte. «Hast du den Harzer Käse vergessen?»
Hermann Kappe quälte sich durch den Vormittag. Silvester hatten sie bei Verwandten gefeiert, bei den Börnickes, und dort hatte er so viel getrunken, dass er seinem Kater nicht beikommen konnte. Fünf Rollmöpse hatte er schon gegessen, aber er fühlte sich noch immer hundeelend. Zum Glück spielten die beiden größeren Kinder mit der Oma Mensch-ärgere-dich-nicht, und Klara war dabei, ihre Patience zu legen. Das galt als vornehm. Der kleine Karl-Heinz lag in der Wiege und versuchte unverdrossen, aus seinem Nuckel Muttermilch zu saugen.
Kappe holte sich einen Eisbeutel aus der Küche und legte sich auf die Couch, um seinen Kopf zu kühlen. Die Bilder der letzten Nacht tauchten wieder auf. Beim Bleigießen hatten sie, als er an der Reihe gewesen war, alle aufgeschrien: «Ein Grabkreuz!» Das galt als böses Omen, und sie hatten sich gefragt, wer wohl im neuen Jahr vom Herrn heimgeholt würde in die Ewigkeit. Sein Vater, seine Mutter, er selber? Bei seinem Beruf als Kriminalkommissar … Quatsch! Er hatte gelacht und gesagt: «Das ist nur die Warnung des Himmels, dass ich im Februar vierzig werde. Memento mori!» Carpe diem – das Leben auskosten. Er stöhnte auf. Nein, nicht noch einmal ein solches Theater wie vor sechs Jahren bei seiner Affäre mit der kleinen Chinesin. Bei seinem früheren Chef, Waldemar vom Canow, hatte ein Spruch von Theodor Fontane hinter dem Schreibtisch gehangen: In der Arbeit wohnt der Friede, in der Mühe wohnt die Ruh’, und je älter Kappe wurde, desto mehr flüchtete er sich in die Arbeit, um nicht pausenlos über das Wieso, Weshalb, Warum des Lebens nachdenken zu müssen und darunter zu leiden, dass sich alles im Leeren drehte. So begann er, Feiertage zu fürchten, und ertappte sich öfter bei dem stillen Gebet: Herr, lass wieder einen Mord geschehen, damit ich nicht durchdrehe! Nein, bitte nicht! Als Christenmensch musste er sich schämen, solche Gedanken zu haben.
Das Mittagessen fand heute am Neujahrstag zwei Stunden später als üblich statt, weil ja allen noch die Pfannkuchen schwer im Magen lagen, und er schlief noch einmal ein. Das war ein Segen.
Als seine Mutter ihn dann zum Essen rief, ging es ihm schon wieder besser. Es gab traditionsgemäß gebratenen Karpfen, und die Stücke sahen so knusprig aus, dass sein Appetit zurückkehrte. Doch kaum hatte er den ersten Bissen im Mund, klingelte das Telefon.
«Lass es klingeln», sagte Klara.
Kappe sah seine Frau kopfschüttelnd an. «Das ist ein Diensttelefon, und wenn es klingelt, muss ich rangehen.»
«Das ist doch nur dein Freund Lubosch.»
«Das kann aber auch das Präsidium sein.»
Und er sollte recht haben. In einer Laubenkolonie in Neukölln habe man eine Leiche gefunden, und in einer Viertelstunde würde das Mordauto bei ihm vor der Tür stehen, um ihn abzuholen.
«Du Ärmster!», sagte seine Mutter.
«Wenn ich noch mal die Wahl hätte, würde ich einen Mann heiraten, der nicht immer weg muss», murmelte Klara. So leise, dass es nur ihre Schwiegermutter hörte, nicht aber die Kinder.
Draußen auf dem Flur sagte Kappe zu ihr, dass sie bitte nicht versuchen solle, ihn umzubringen, denn der große Ernst Gennat würde den Mord an einem Kollegen schon aufgeklärt haben, bevor er begangen worden sei. Da Hartmut und Margarete angelaufen kamen, um ihm adieu zu sagen, küssten sie sich formvollendet wie im Film.
Unten im Mordauto hockte Gustav Galgenberg, Urgestein der Berliner Kriminalpolizei, und war am Meckern, kaum dass er Kappe ein gesundes und glückliches neues Jahr gewünscht hatte. «Nicht mal die Feiertage über hat man seine Ruhe! Det hätte doch allet ooch noch bis morjen Zeit gehabt.»
«Was hätte Zeit gehabt?», fragte Kappe.
«Det mit der Toten. Die soll schon ziemlich verwest sein.»
«Ist denn schon klar, dass es sich um einen Mord handelt?» Kappe war so förmlich, dass Galgenberg ihn erstaunt anguckte.
«Der Schupo, der se jesehn hat, meint ja.» Auch Galgenberg hatte ausgiebig gefeiert und rieb sich stöhnend die Schläfen. «Joethe musste sterben, Schiller musste sterben, und ick fühl ma ooch nich wohl.»
«Wo genau in Neukölln müssen wir denn hin?», fragte Kappe den Chauffeur.
«Dammweg, Kolonie ‹Stolz von Rixdorf›.»
«Nie gehört.»
«Und det dir als Neu-Neuköllner!», rief Galgenberg. «Aber wenn allet nich existieren würde, wovon wir nüscht jehört ham, dann wär die Welt ziemlich arm dran.»
Kappe sah ihn staunend an und formulierte seinen Gedanken in einem druckreifen Satz: «Hast du beschlossen, im neuen Jahr ein Philosoph genannt zu werden?»
«Viel Sophie is ma imma recht», erklärte Galgenberg. «Davon kann ick nie jenuch kriegen. Hast du die Sophie mal gesehen, meine neue Nachbarin?»
«Nein, leider nicht.»
«Die hat so ’n Silberblick, det se sich selba in de Pupille kieken kann, aber die Figur …» Er schnalzte mit der Zunge.
Vom Lowise-Reuter-Ring, Kappes neuer Heimat, bis zum Bahnhof Köllnische Heide war es nur ein Katzensprung, denn die Hufeisensiedlung stieß fast an die Rudower Chaussee, und bog man von der rechts ab in die Späthstraße, war man schnell in Baumschulenweg und damit am Beginn der Sonnenallee, wie der Straßenzug hieß, der dann hinter der Ringbahn als Kaiser-Friedrich-Straße ganz Neukölln durchzog. Obwohl an sich gar kein Irrtum möglich war, gelang es dem Chauffeur mühelos, sich zweimal in der Richtung zu irren.
«Hoffentlich is nich allet so verfahren», sagte Galgenberg.
«Wat wolln Se denn, wir sind doch schon da!», rief der Chauffeur, als sie kurz vor dem Bahnhof Köllnische Heide von der Sonnenallee links in den Dammweg einbogen.
«Noch nicht ganz», korrigierte ihn Galgenberg. «Wir müssen noch weiter, fast bis zur Kiefholzstraße.»
Die Dämmerung brach schon herein, als sie ihr Ziel endlich erreicht hatten. Nichts konnte so trist sein wie eine Laubenkolonie an einem trüben Wintertag, und sogar ein so fröhlicher Mensch wie Gustav Galgenberg verfiel in schwermütiges Schweigen.
Kappe dagegen fand den Kontrast zur grellen Silvesternacht eher erholsam. So überdreht wie auf Silvesterfeiern waren die Menschen selten, und Klara war ihm dabei besonders auf die Nerven gegangen. Und umgekehrt. Sie hatte ihn als märkischen Hinterwäldler beschimpft. Dabei kam sie selber aus einer Holzfällerhütte an einem gottverlassenen See südlich von Wendisch Rietz. Sein Vater hatte es immerhin zu einem ansehnlichen Haus gebracht.
Ein Schutzmann winkte sie heran, so dass sie nach der Laubenkolonie «Stolz von Rixdorf» nicht lange suchen mussten. Die Menschenmenge, die sich ansonsten bei einem Kapitalverbrechen immer schnell am Tatort ansammelte, bestand in diesem Falle nur aus einigen Laubenpiepern. Dazu kamen ein paar Kollegen, die scheinbar ziellos herumwuselten.
Galgenberg murmelte, dass sie doch einen schönen Beruf hätten und sang: «Sehen wir ’ne Leiche,/so is et nie die jleiche.»
Der Kollege von der Schutzpolizei nahm sie in Empfang, führte sie durch das Labyrinth der Wege zur richtigen Laube und gab ihnen die ersten Informationen.
«Gefunden hat die Tote das Ehepaar Wolz. In seiner Laube. Die liegt so, dass sie von der Straße her nicht eingesehen werden kann. Auch im Winter nicht, wenn keine Blätter an den Bäumen und Sträuchern sind.»
«Was haben die Leute Neujahr hier draußen zu suchen?», fragte Kappe.
«Die wollten nur sehen, ob alles noch steht. Letztes Jahr hat es hier gebrannt.»
Galgenberg dachte nach. «Die letzte verkohlte Leiche hatten wa 1910 uff ’m Kohlenplatz in Moabit. Wär mal wieda eene fällich jewesen.»
Als Kappe die Tote sah, konnte er den Reflex nicht ganz unterdrücken und hätte beinahe Schleim hervorgewürgt.
Galgenberg war da härter im Nehmen und murmelte, eine verwesende Leiche sei doch etwas ganz Natürliches. «Und wie sagt der jeborene Berliner: Halte dir an die Natur,/sie allein bejlückt dir nur.»
Als er die Maden sah, wurde Kappe vollends übel, während Galgenberg nur meinte, man müsste Angler sein. «So ville Köder!» Dr. Kniehase war schon zehn Minuten vor ihnen eingetroffen und konnte mit den ersten Erkenntnissen aufwarten. «Da die junge Frau, die mit ihrem Mann die Tote entdeckt hat, kollabiert ist, hatten wir sehr schnell einen Arzt hier.»
«Sehr praktisch», murmelte Galgenberg.
Dr. Kniehase, in letzter Zeit sehr schnell narzisstisch gekränkt, guckte böse. «Wenn Sie mich bitte nicht unterbrechen würden!»
«Wie würde ich das wagen, Herr Doktor!»
«Also …» Dr. Kniehase musste tief durchatmen, um die Contenance zu wahren. «Wir beide, der Mediziner und ich, wir sind aufgrund des Stadiums von Fäulnis, Verwesung und Madenfraß sowie der beginnenden Fettwachsbildung und Mumifizierung der Meinung, dass der Tod vor etwa acht bis zehn Wochen eingetreten sein muss. Vielerlei Anzeichen deuten darauf hin, dass die Frau erschlagen und erwürgt worden ist.»
«In welcher Reihenfolge?», fragte Galgenberg.
Dr. Kniehase wusste nicht, ob der Kollege ihn vergackeiern wollte, und überhörte die Frage.
Kappe war das zunächst einmal egal, ihn interessierte eher das Alter der Toten.
«Mitte bis Ende dreißig, würde ich schätzen.» Dr. Kniehase war da sehr vorsichtig. «Und nach den Resten ihrer Kleidung und den Goldzähnen zu urteilen, dürfte sie den höheren Ständen angehört haben.»
«Komisch», sagte Kappe. «Wie kommt eine Frau aus den höheren Ständen in diese Laubenkolonie?»
«Sie ist woanders getötet und danach hierher verbracht worden», antwortete Dr. Kniehase. «Kampf- und Blutspuren haben sich hier keine entdecken lassen.»
«Und - ist die Tür zur Laube aufgebrochen worden?», fragte Galgenberg, der für die reine Routine zuständig war.
«Nein, es scheint so, als wäre sie ganz normal aufgeschlossen worden beziehungsweise gar nicht abgeschlossen gewesen, was der Eigentümer aber mit Nachdruck bestreitet.»
«Wer kann denn auf die Idee kommen, sein Mordopfer ausgerechnet an dieser Stelle abzulegen?», fragte Kappe, um sich gleich selber die Antwort zu geben: «Doch nur einer, der sich hier auskennt und weiß, dass die Kolonisten in der Regel erst Anfang März wieder rauskommen, um alles auf Vordermann zu bringen.»
«Wenn wir wenigstens schon wüssten, wie die verweste Dame heißt», sagte Galgenberg.
«Fragen wir doch mal den Pächter, ob er ’ne Ahnung hat.» Kappe machte sich auf, den Eigentümer der Laube zu finden. Ein Kollege von der Schutzpolizei sagte ihm, dass der in der Nachbarlaube säße und warten würde, ein gewisser Karl Wolz aus der Weserstraße.
Kappe ging hinüber, stellte sich vor und fragte, ob Wolz die Tote schon einmal gesehen habe.
«Nein, meines Wissens nicht, aber von ihrem Gesicht ist ja kaum noch was zu erkennen.»
«Ja, leider Gottes.» Kappe überlegte einen Augenblick. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Zu stark schmerzte sein Kopf. «Sagen Sie … äh … Eine Verwandte von Ihnen könnte das nicht sein? Es kommt ja manchmal vor, dass Frauen ihren Männern davonlaufen und dann froh sind, irgendwo Unterschlupf zu finden.»
Wolz nickte. «Klar, meine Schwester hat das wirklich mal gemacht, aber die lebt jetzt gesund und munter in Stralsund.»
Kappe hatte immer mehr Mühe, sich zu konzentrieren. «Und einen Schlüssel zu Ihrer Laube hatte keiner außer Ihnen?»
«Nicht dass ich wüsste.»
Kappe konnte sich gerade noch zu einer letzten Frage aufraffen: «Wann waren Sie denn zum letzten Mal hier?»
Wolz musste einen Augenblick nachdenken. «Das muss am letzten Sonntag im Oktober gewesen sein.»
Kappe rechnete. «Das ist dann rund zwölf Wochen her.»
«Acht, wenn ich Sie verbessern darf.»
«Acht, ja.» Kappe überlegte, wann und wo er diese Zahl schon einmal gehört hatte. Erst nach ein paar Sekunden fiel es ihm ein: Dr. Kniehase hatte davon gesprochen, dass die Frau vor acht bis zehn Wochen gestorben sein müsse.
Er hätte sich am liebsten in die nächstbeste Ecke gelegt und seinen Mittagsschlaf fortgesetzt. Wenn er etwas hasste, dann waren es Leichen, die man erst Wochen oder gar Jahre nach der Tat entdeckte, denn mit jeder Stunde, die verging, nachdem sie ihr Leben ausgehaucht hatten, sank die Wahrscheinlichkeit, den Täter zu finden, und schnell lag sie bei null Prozent.
Galgenberg, der inzwischen herbeigekommen war, erriet seine trüben Gedanken und versuchte, ihn mit den Kranichen des Ibykus zu trösten. « Doch wehe, wehe, wer verstohlen/Des Mordes schwere Tat vollbracht,/Wir heften uns an seine Sohlen,/Das furchtbare Geschlecht der Nacht!.
«Wenn wir das furchtbare Geschlecht der Nacht sein sollen, dann ist das Beamtenbeleidigung», sagte Dr. Kniehase. «Sie sollten das lassen!»
«Mir ist nicht gut, ich gehe nach Hause», sagte Kappe in Richtung Dr. Kniehase und Galgenberg. «Sie bleiben ja noch hier, bis alle Spuren gesichert sind und alles photografriert worden ist.»
Er hatte tatsächlich photografriert gesagt, halb erfroren, wie er war. Das neue Jahr fing ja wunderbar an - höchstwahrscheinlich mit einer Lungenentzündung!
HANNS-MARTIN TOMUSCHAT gönnte seinem Chauffeur eine etwas längere Mittagspause und setzte sich selber ans Steuer seines Opel «Laubfrosch», um zum Mittagessen nach Hause zu fahren. Vier Zylinder und zwölf PS waren nicht gerade standesgemäß, aber er liebte diesen Wagen. Von der Firma in der Seesener Straße bis zu seiner Wohnung in der Johann-Georg-Straße, die in etwa zwischen Kurfürstendamm und Hochmeisterplatz gelegen war, mochten es nur neunhundert Meter sein, aber für einen Autohändler war es irgendwie unschicklich, zu Fuß zu gehen.
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