Bullshit und andere Eigentümlichkeiten - Ekkehard Krüger - E-Book

Bullshit und andere Eigentümlichkeiten E-Book

Ekkehard Krüger

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Beschreibung

"Wie geht's?" ist eine häufig gestellte Frage. Es geht gut. Hat man allerdings das ganze Land oder gar die Welt im Hinterkopf, ist die Antwort oft "Schlimm". Es driftet auseinander. Eine Schieflage ist zu bemerken, die Welt ist verrückt geworden. Ich empfehle jedem, auf seinen Bauch zu achten. Ein ruhiges Gespräch mit seinen Nachbarn, den Arbeitskollegen und Freunden kann neue Sichtweisen bringen. Hysterie ist ein schlechter Ratgeber. Ich hoffe, in den vorliegenden Geschichten sind neue Ideen versteckt, die die Sicht auf die Welt vielfältiger machen. Über den Weltuntergang kann man sprechen. Eine Weltuntergangsstimmung ist nicht angebracht.

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Inhalt:

1. Vorwort

2. Bullshit

3. Dummheit

4. Das vorbestimmte Leben

5. Steinkreise

6. Ziele

7. Festhalten

8. Stille

9. Gedankenexperiment

10. Herr G.

11. Da war doch noch was

12. Ein Monster

13. Die große Freiheit

14. Schicksal

15. Hoffnung auf Frieden

16. Kipppunkte

17. Demokratie

18. Betonköpfe

19. Klimahandel

20. Der Kugelschreiber

21. Finden

22. Angst

23. Die wirklich Mächtigen

24. Das Fundament

25. Wer war eigentlich Bersarin?

26. Die stille Runde des Unsagbaren

27. Ein Platz am Main

28. Der Tag

29. Freiheitsgedanken

30. Gedanken zum Glück am 12.01.2024

1. Vorwort

Wie geht’s? Ist eine häufig gestellte Frage. Es geht gut. Hat man allerdings das ganze Land oder gar die Welt im Hinterkopf ist die Antwort oft: Schlimm. Es driftet auseinander. Eine Schieflage ist zu bemerken. Die Welt ist verrückt geworden. Dabei ist eine treffende Zustandsbeschreibung Hysterie. Ideen setzen sich nicht mehr so einfach durch, es muß lauter geschrieen werden. Es wird diskreditiert, denunziert, mißverstanden. Technische Manipulationen sind in aller Munde. Die Nachrichtenanstalten werden der ideellen Hurerei angeklagt. Was kann man denen noch glauben? Ich empfehle jedem, auf seinen Bauch zu achten. Ein ruhiges Gespräch mit seinen Nachbarn, den Arbeitskollegen und Freunden kann neue Sichtweisen bringen. Hysterie ist ein schlechter Ratgeber. Ich hoffe, in den vorliegenden Geschichten sind neue Ideen versteckt, die die Sicht auf die Welt vielfältiger machen. Über den Weltuntergang kann man sprechen. Eine Weltuntergangsstimmung ist nicht angebracht.

Bullshit

Es ist Pilzzeit. Spätsommer oder Frühherbst. Wir sind auf einer Waldwiese und stieren auf den Rasen. - Früher gab’s hier Champignons. - Das ist doch eine Kuhweide. - Auf einer Wiese mit Kuhfladen wachsen Champignons besonders gut. - Das ist doch Bullshit. Das habe ich noch nicht gehört. - Kuhfladen sind Bullshit. Aber es ist nicht alles gleich Bullshit.

Dem Wort Bullshit begegnet man ziemlich oft. Wir setzen uns an den Waldsaum und machen eine Pause. Pilze gefunden haben wir noch nicht.

- Laß’ uns mal über Bullshit reden. Das ist ein ergiebiges Thema.

Die Bäume rauschen beruhigend über uns. Nur wenige Fliegen und Käfer stören. Keine Pilzsammler, keine Ablenkung.

- Wie würdest du Bullshit beschreiben?

Nach kurzem Nachdenken kommt die Antwort.

- Das Wort ist zu schwammig. Das läßt sich nicht umfassend erklären.

- Was ist schwammig? Schwammig ist eine Rede, die alles aufsaugt, egal ob zum Thema passend oder nicht. Wir können vielleicht das Wort eingrenzen, für uns konkreter beschreiben. Auch wenn unsere Definition keine Allgemeingültigkeit erhält.

- Versuchen wir es. Wird schon kein Bullshit rauskommen.

Wir erheben uns und laufen am Waldrand entlang. Keine

Menschenseele zu sehen. Ein schöner Nachmittag. Die Sonne ist noch unangenehm heiß, wir bleiben im Schatten.

- Ich merke öfter, wenn jemand im Gespräch mit einer Gegenrede nicht einverstanden ist sagt er schnell: Bullshit. Er kann auch Nonsens, Humbug, Schwachsinn, Unsinn, Kauderwelsch, Gefasel, heiße Luft, Mogelei, dummes Gelaber, Blödsinn, loses Geschwätz, dummes Gequatsche oder blödes Gerede sagen. Schärfer wird es, wenn er dem anderen Schwindel, fake news oder Propaganda unterstellt.

- Gibt es denn keine Definition dafür?

- Im Jahre 2005 schrieb der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt das Buch “On Bullshit”. Seine Theorie geht etwa so: Nonsens hat meist eine negative Wirkung auf das Gespräch. Es unterbricht eine sinnvolle Diskussion. Nonsens ist erstens gedankenloses Gerede, bei dem es dem Bullshitter egal ist, ob die Aussagen korrekt sind oder inhaltlich zusammen passen und welche Konsequenzen sie haben, z.B. den Fußballkommentar mit Handballgeschichten unterbrechen. Zweitens ist es heiße Luft, mit der sich der Redner persönlich oder emotional in den Vordergrund stellen will. Effekthascherei. Die Worte und das Verhalten der Gesprächspartner sind wichtig, nicht der Inhalt, z.B. bei der Darstellung eines Autounfalles nur die unmöglichen Reaktionen der Zaungäste und die eigenen Gefühlswallungen zu beschreiben und das Unfallgeschehen zu ignorieren. Drittens ist es belangloses Reden, in dem nicht erkennbar ist, ob derjenige hinter den Aussagen steht. Es ist verantwortungsloses Gerede, z.B. allgemein über Ertrunkene im Mittelmeer zu schwadronieren und ausschließlich über die Zahl 2, 3 oder 10 Tote zu diskutieren, ohne Würdigung der Hintergründe der Migration. Viertens will der Bullshitter ein bißchen bluffen. Seine Absichten sind nicht klar erkennbar. Er will zwar nicht bewußt lügen oder täuschen, aber es ist ihm gleichgültig, ob er diese Wirkung erzielt, z.B. das Lavieren in der Frage klimaneutrales

Heizen, indem über alle Länder der Welt und deren Anteil geredet wird und die eigene Möglichkeiten geflissentlich übersehen werden, pures Ablenken. Fünftens ist in der Rede des Bullshitters keine Richtung und kein Ziel bzw. Zweck erkennbar. Es wird geredet um des Redens willen, es ist einfach Unterhaltung ohne Substanz, z.B. ob die Sängerin Shakira im Ausland 10 oder 15 Mio$ Steuern hinterzogen hat und in welches Gefängnis sie bei einer Verurteilung eingeliefert werden wird. Die Yellow- Press ist voll von Bullshit.

- Das ist doch mal eine Menge. Wir können weitere Beispiele konstruieren.

- Wenn du sagst, deine Oma fliegt jedes Jahr einmal zum Mond, dann sage ich, das ist Bullshit. Wenn der Mond aber ein Synonym für einen Ort auf der Erde ist, der per Flieger erreichbar ist, dann ist das falsch. Der Kontext macht’s.

Wir laufen weiter durch den Kiefernwald. Der Blick ist aber eher nach innen als nach außen gerichtet. Beim Nachdenken sieht man nicht so viel.

- Schau mal da. Da kann man noch die Vorbereitungen für den Bau einer Autobahn von vor 90 Jahren sehen.

Ich betrachte die sanften Erdwälle im Waldboden und brauche viel Fantasie, um eine Autobahngründung auszumachen. Es ist alles überwachsen. Aber es ist auch nicht natürlich geformt.

- Zurück zum Bullshit. Warum wird so viel darüber geredet?

- Weil selbst normale Diskussionen mit diesem Wort abgewürgt werden. Der springende Punkt ist die Absicht im konkreten Falle.

- Ich würde ebenfalls noch Unterscheidungen treffen. Zum einen kann ich Bullshit im privaten antreffen, zum anderen in öffentlichen Diskussionen. Das hat jeweils unterschiedliche Auswirkungen. Andererseits kann ich unbewußten Bullshit von vorsätzlichem Bullshit unterscheiden. Eine mögliche Absicht sollte untersucht und angemerkt werden.

- Das wird ja immer komplizierter. Ich denke Bullshit sollte nicht verteufelt werden, er ist unvermeidbar in der heutigen Welt. Harry Frankfurt ist sich übrigens in seinem Buch abschließend sicher, wenn jeder zum Narziß wird oder auf seiner Meinung beharrt, dann ist eine Verständigung auf Kriterien zur Beurteilung von Fakten nicht möglich. Das ist für Bullshitting im privaten und öffentlichen Dialog zutreffend.

Der Wald wird dichter. Wir laufen durch Unterholz und Gestrüpp. So also soll der Umbau des Waldes aussehen. Mehr Laubbäume bzw. Mischwald. Trotzdem ist die Kiefern-Monokultur unübersehbar. Der weiche Waldboden läuft sich angenehm weich.

- Konzentrieren wir uns auf den vorsätzlichen Bullshit. Es werden beim Bullshitting Fakten und Argumente aneinandergereiht, die nicht zusammengehören. Dabei soll das Thema diskreditiert oder zerredet werden. Wenn es z.B. um Müllvermeidung geht werden die Lieferketten, die Armut in Afrika, das Profitstreben in Amerika und die aktuelle Weltraumforschung als unnötiger Blinddarm ins Feld geführt, eine vollständige Überfrachtung des Themas. Das eigene Engagement wird als unbedeutend also nicht notwendig dargestellt.

- Das ist eine Variante. Vorsätzlich ist auch, wenn der Bullshitter sich an Details klammert und keine Weiterführung des Gesprächfadens zuläßt. Er verweigert das Verständnis für das übergeordnete Thema und beharrt auf einer Detaildiskussion, auf einem Punkt, in dem er Recht hat. Das führt das ganze Gespräch schließlich ad absurdum.

- In Talkshows ist eine andere Form allgegenwärtig. Die Teilnehmer werden zu allem gefragt und fühlen sich genötigt überall mitzureden. Dabei wird das mangelhafte Wissen sichtbar, es kommt oft Blödsinn raus.

Jetzt sind wir schon eine ganze Weile unterwegs und waldbaden. Die würzige, weiche Luft tut gut. Ich schaue auf die Uhr. Mit Pilze sammeln wird das heute nichts mehr. Wir sollten zum Auto zurück.

- Ist Bullshit also allgemein schlecht?

- Die Einordnung ist schwierig. Bullshitting ist ein wichtiges Phänomen. Ich bin der Meinung, viele Gespräche sind nicht notwendigerweise Bullshit. Es kommt auf die Absicht an.

- Reden Leute, die wenig wissen, automatisch Bullshit?

- Auf keinen Fall. Wenn sie beliebige Fakten zusammenbringen und eigenartige Schlüsse ziehen ist das noch nicht schlecht. Sie tun das, um Licht in einen Sachverhalt zu bringen. Sie fragen und wollen ihr Wissen erweitern. Nur ein umfassender Wissensstand motiviert die Leute und schafft Mehrheiten für neue Lösungen. Doch wenn selbst Fragestellungen als Bullshit verunglimpft werden, dann ist das heimtückisch, kurzsichtig und ungerechtfertigt. Wenn die Fragen allerdings das Ziel haben, eine Aufklärung zu verhindern, dann ist das schon Bullshitting.

- Wie ist denn das TV einzuordnen? Die vielen Berichte über Katastrophen können doch kein Bullshit sein?

- Fernsehen bzw. alle elektronischen und sozialen Medien sind ein gefährliches Pflaster. Die Flut der Nachrichten und die schnelle Abfolge der Bilder behindern das eigene Nachdenken. Für die eigene Reflektion ist aber jeder selbst verantwortlich. Wenn einzelne Bilder in Dauerschleife oder auf allen Kanälen gesendet werden, dann werden sie extrem überhöht. Wenn ich das Brennglas stark auf einen Ort richte und der Eindruck einer Verallgemeinerung entsteht, dann erfüllt das das Kriterium des Bullshit. Eine Folge kann Hysterie sein. Aktuell sind die Brände auf Rhodos überall präsent. Man könnte denken, ganz Griechenland brennt und die Klimakrise vernichtet in Kürze die Mittelmeerstaaten. Das ist Bullshit, eine rationale Einordnung ist geboten. Die wird nicht immer vom TV bzw. den Medien geliefert. Das Fernsehen bzw. die Medien sind schon gefährlich.

Wir haben glücklicherweise das Auto gefunden. An anderen Tagen sind wir länger umhergeirrt. Wir haben eine Menge giftiger Pilze gesehen. Das passt zum Thema. Insgesamt war es ein schöner Nachmittag.

- Was kann man abschließend zum Humbug, Nonsens, Bullshit sagen?

- Gedankenloses Reden ist in vielen Situationen normal. Das Plaudern über Gott und die Welt ist sozialer Klebstoff, das kann auch mal ohne Sinn und Ziel sein. Harry Frankfurt benennt allerdings den gefährlichen Punkt. Wenn jeder zum Narziß wird oder auf seiner Meinung beharrt wird es schwierig. Wenn eine Verständigung auf Kriterien zur Beurteilung von Fakten nicht möglich ist sind wir in einer Sackgasse.

- Sind wir also dem Untergang geweiht?

- Davon geht die Welt nicht unter. Es wird halt komplizierter.

Wir fahren langsam zurück in die Stadt. Es bleibt eine angenehme Erinnerung an den Wald. Im Wald kann man gute Gespräche führen.

Dummheit

Licht durchflutet den großen Hörsaal der Hochschule. Der Professor steht an der Tafel und doziert über mathematische Gleichungssysteme. Sein Blick schweift über das Auditorium. Er sieht viele Studenten abwesend. Entweder mit dem Handy beschäftigt, im tuscheln oder im gelangweilten Dösen auf die Bank hingelümmelt. Er hebt die Stimme und wird lauter: “Ein Ganzes besteht immer aus zwei gleich großen Hälften. Aber die größere Hälfte von Ihnen wird das sowieso nicht begreifen, so wie Sie hier mitmachen.” - Verblüffung. Ein Student traut sich zu lachen, andere stimmen ein. Größere Hälfte?! Nach ein paar Sekunden merkt der Professor, daß er dummes Zeug geschwätzt hat und wird rot. Wütend korrigiert er sich und fährt mit dem Stoff fort. Marlen stößt Vanessa an. Beide sind im dritten Semester und kichern weiter. Einen solchen Fauxpas hätten sie ihrem Prof nicht zugetraut.

Nach der Vorlesung laufen sie zum Nachbargebäude. Rocco, ein Student aus der Parallelseminargruppe, schließt sich ihnen an. Es ist herrliches Juniwetter, es bleibt genügend Zeit bis zur Vorlesung über politische Ökonomie. Sie setzen sich auf die Wiese und gucken in die Luft. Vanessa fragt ins Blaue: “ War das vom Prof Dummheit oder Kalkül?” - Rocco wirft ein: ”Das war Ignoranz vom Prof. Dem ist es eh’ egal, wer seine Formeln kapiert. Er hat halt was unbedachtes ‘rausgehauen.” - “Du würdest Dummheit mit Ignoranz gleichsetzen?” wundert sich Marlen. Vanessa schiebt dazwischen: “Dummheit ist für mich die mangelnde Fähigkeit, Dinge zu verstehen und zu behalten. Ein dummer Mensch kann keinen Kontext herstellen. Auf jeden Fall bei etwas komplizierteren Dingen. Allerdings wird Klugheit oder Dummheit mit körperlichen Fähigkeiten oder Entwicklung verknüpft. Ein Kind, ein geistig behinderter oder ein dementer Mensch werden kaum als dumm bezeichnet. obwohl sie dumm handeln oder sprechen. Ihnen fehlen die Voraussetzungen.” - Rocco bleibt hartnäckig. “Das ist doch blöd. Es gibt so viele dumme Leute.” - “Das kommt dir schnell über die Lippen. Was ist denn klug? Vielleicht die Abwesenheit von Dummheit? Kennst du mehr kluge als dumme Menschen?” stichelt Marlen. Vanessa erweitert: “Gibt es einen Unterschied zwischen dumm und blöd?” Das Gespräch wird auf Nachmittag verschoben, da die ersten Studenten zur nächsten Vorlesung eintreffen. Sie steuern die offene Tür an, sie wollen nicht die schlechtesten Plätze bekommen.

In der Vorlesung zur politischen Ökonomie wird das Kapital von Karl Marx behandelt. Es wurde um 1850 verfasst. Marx hatte die Verhältnisse des Kapitalismus in England vor Augen. Aus heutiger Sicht sind seine Ansichten zu den Klassen, der Geldakkumulation und den resultierenden Kämpfen in manchen Punkten fragwürdig. War Marx wegen der Fehleinschätzungen dumm? War seine These: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! zu naiv? Heute käme so ein Spruch keinem mehr über die Lippen. Die Leute würden fragen: Was sind denn Proletarier?

Marlen, Vanessa und Rocco schlendern gemeinsam nach Hause. Sie haben beschlossen, ein Kaffeekränzchen anzuhängen. Marlen singt leise vor sich hin: “So blöd kann doch kein Mann sein, didel didel dum, hat er auch einen Trauschein ..” Rocco stubst sie an. Blöder Mann ist eine Provokation. “Du singst wohl den Gassenhauer von Gitte aus den Siebzigern? Das hieß aber: So schön kann doch kein Mann sein ..” - “Ist ja gut, blöd passt auch” grummelt Marlen. Konstantin begegnet ihnen. Er ist aus Rocco’s Fußballverein. ”Hast du gestern Union gesehen? Man sind die blöd, verlieren schon wieder. Wollen die den Urs loswerden?” Er hastet weiter ohne eine Antwort von Rocco abzuwarten.

Vanessa erzählt, letzes Wochenende war sie bei einem Kindergeburtstag. Beim spielen gab es großen Lärm. Einem Kind wurde mit einem Holzhammer auf den Finger gehauen. Der Finger wurde blau, das Kind schrie vor Schmerz. Es drehte sich wütend um und riß dabei einen Tisch um, auf dem Spielzeug lag. Das ging zu Bruch und verletzte ein weiteres Kind, das auch anfing zu schreien. Ein Erwachsener wollte schlichten, ohne Erfolg. Jedes Gespräch wurde vom ersten Kind verhindert mit dem Zeigen auf den blauen Finger. Es war sich keiner Schuld bewußt, lebte mit seinem blauen Finger in einer eigenen Welt. Das andere Kind sah zwar den blauen Finger, zeigte aber auf sein kaputtes Spielzeug und seine Schrammen und gab dem ersten die Schuld. Nach mehreren Versuchen der Beruhigung kapitulierte der Erwachsene. Jedes Gespräch zerschlug das erste Kind wie mit einem Hammer. Es hielt seinen Finger hoch. Es wollte nicht gleichberechtigt mit dem anderen sprechen. Es schien immer eine Sonderrolle zu reklamieren, wahrscheinlich waren die Eltern etwas besseres. Ist das Kind, das nur seinen Schmerz gelten läßt, dumm? Ist es dumm, wenn es sich weigert, auf die anderen Schmerzen zu sehen? Marlen erklärt: “Seinen Schmerz herauszustellen und den anderen zu ignorieren ist menschlich. - Aber ist das auch richtig? Sich in seiner Welt einzukapseln ist immer problematisch. Und mit einem Argumentehammer, mit einem Totschlagargument alle Gespräche zu verhindern ist falsch.” Rocco wirft ein: “Um die Bereitschaft einzuschätzen, ob die Leute eine Lösung wollen, muß man nur in den Diskussionen oder Medienbeiträgen die Wörter “blauer Finger” (das Böse) oder “Lösung des Problems” (das Gute) zählen. Wenn die Beschäftigung mit dem Bösen überwiegt, läßt das vielleicht auf eine Affirmation des Status quo schließen.” - “Eine Bejahung oder Bestätigung der schlimmen Zustände würde ich nicht unterstellen. Die mangelnde Beschäftigung mit einer Lösung ist allerdings schon schwierig” unterstreicht Vanessa. Sie legt nach: “Hast du jetzt die große Weltpolitik im Hinterkopf?” - “I wo. Wie werd’ ich denn.” - “Naja, das weigern an Lösungen zu arbeiten und sich einzukapseln ist ziemlich verbreitet.”

Mittlerweile sind sie im Wohnheim angekommen. Alle freuen sich auf eine frische Tasse Kaffee. Der Tisch wird gedeckt, Kuchen aufgeschnitten. Rocco bohrt weiter. “Wir haben immer noch nicht den Unterschied von dumm und blöd aufgeklärt.” - Vanessa nimmt auf: “Blöd hat den Vokal ö. Er hat eine höhere Frequenz und klingt sympathisch. Dumm hat das u, das eine niedere Frequenz aufweist und ungemütlicher klingt. Blöd wird mit albern, töricht, unwissend aber auch schwach, geistig behindert, scheu beschrieben. Im normalen Sprachgebrauch meint man ärgerlich. Es ist blöd, daß ich mein Handy vergessen habe. Dumm oder dämlich heißt im wesentlichen unwissend. Ich laß’ mich nicht für dumm verkaufen. Es kann auch für etwas peinliches gebraucht werden oder wenn mir benommen ist. Die Worte können im weitesten Sinne synonym eingesetzt werden. Blöd hebt mehr auf den Ärger ab. Für dumm wird auch manchmal einfältig gebraucht, aber das geht etwas weiter.” Ok, das wäre geklärt.

“Wen würdest du denn als dumm bezeichnen?” wendet sich Marlen an Rocco. “Prinz Harry, Dieter B., Minister H. und Ministerin B., Ricarda L.” - “Prinz Harry, weil er ungefragt private Sachen öffentlich macht, was an sich peinlich ist und ihn in einem fragwürdigen Licht erscheinen läßt. Dieter B. wegen seiner ätzenden Kommentare” vermutet Vanessa. Marlen schwärmt: “Das DSDS war zwar platt, aber so schön bunt und crazy. Dagegen kann ich mir “Voice of Germany” nicht ansehen. Die Sänger sind ja niedlich, aber die Kommentare der Juroren beleidigen jeglichen Intellekt, sie sind flach und unterirdisch. Man kann diese Sendung nur als Stummfilm aushalten (abgesehen von den Gesangsbeiträgen). Das Niveau geht auf Tauchstation, der Geist wird sehr weit unten gehalten, ist halt Unterhaltung. Das Denken muß bei der Sendung ausgeschaltet werden, sonst ist das ästhetische Schmerzempfinden zu groß.” Vanessa unterbricht Marlen. “Kein jammern. Du kannst auch nicht singen. Zurück zum Thema. Was ist an den Leuten dumm?” wendet sie sich an Rocco. “Du kannst Politiker nicht leiden und hälst sie für dumm. Was meinst du konkret?” pflichtet Marlen Vanessa bei. “Außerdem sind Dieter B. und Prinz Harry Geschäftsleute.”

Das Gespräch driftet ab zur Politik. Politiker sollen ihre Meinung sagen. Sie sind vom Volk gewählt, sollen also Volkes Meinung sagen. Das beißt sich oft. Ist dann das Nichts-Sagen klug oder dumm. Ein Politiker ist eine tragische Gestalt, was er sagt wird gegen ihn verwendet. Und wenn er nichts sagt erst recht. Politiker sollen Konturen zeigen, im Zweifel die unterschiedlichen Positionen korrekt nebeneinander stellen. Rocco erzählt, früher wurden Politiker als Währung für Dummheit genommen. Fünf Honecker machten einen Ulbricht. Wieviel wert sind die heutigen Politiker?

Vanessa stellt eine Flasche Rotwein auf den Tisch. Als die Gläser gefüllt sind erheben alle die Gläser und trinken auf das Studium. “Der Wein ist kräftig, hat ein volles Buket” lobt Marlen. “Ich schmecke nichts” outet sich Rocco. Er ist eher Biertrinker. “Bist du blöd. Der Wein ist köstlich, ein teurer Franzose” ereifert sich Marlen. Beide streiten eine Weile über die Qualitäten des Weins. Marlen ist eindeutig die kundigere Seite. Rocco will sein dürftiges Wissen nicht eingestehen. Beim Geschmack gibt’s allerdings kein dumm oder blöd.

Rocco lenkt ab zum Fußball. “Letztes Wochenende gab es eine Fehlentscheidung auf dem Platz. Der Schiri übersah einen Elfmeter. Das war glasklar. Nach dem Spiel ruderte der Schiri zurück, das Spiel war aber gelaufen.” - “Hat der Schiri im Augenblick der Entscheidung dumm gehandelt?” fragt Vanessa. “Vor zwanzig Jahren gab es noch keine VAR- Kontrolle mit Kamera. Da wurden solche Entscheidungen nicht so diskutiert. Können Augenblicksentscheidungen überhaupt dumm sein?” gibt Marlen zu bedenken. Vanessa plädiert: “Nein, denn es setzt ja Wissen voraus, das bei der Entscheidung noch nicht vorhanden ist.” - “Ja, aber” lenkt Rocco ein. “Ja, weil er vielleicht im Augenblick nicht seinen ganzen fußballerischen Sachverstand parat hatte. Nein, weil er vielleicht die Situation nicht voll im Blick hatte, nicht alles wußte. Deshalb gibt es im Spiel nun mal Tatsachenentscheidungen und nicht KI-Entscheidungen.”

Vanessa will nicht weiter über Fußball reden. “Lanz und Precht machen doch einen Podcast. Precht beschrieb letztens die Juden ziemlich einseitig und unvorteilhaft. Ist Precht deshalb dumm?” - “Naja, den Philosophen Richard David Precht mit seinem Megaerfolg als dumm zu bezeichnen trifft es wohl nicht ganz. Er hat da gedankenlos geschwätzt. War vielleicht von seinem Erfolg zu besoffen. Und hat sich nachher entschuldigt. Das ist das mindeste, um einen dummen Patzer auszumerzen.”

Im Gespräch kristallisiert sich heraus, daß Dummheit eine Eigenschaft von Aussagen oder Handlungen ist. Dummheit kennzeichnet selten eine Person insgesamt. Eine Person, die es bis in eine exponierte Position geschafft hat, kann nicht durchweg dumm sein. Dumm ist ja an Unwissenheit gekoppelt. Mangelndes Verständnis für Zusammenhänge ist oft zu finden. Es gibt ehrliche Politiker wie aber auch Schlitzohren, Wendehälse und korrupte Politiker. Alle sind nicht naiv. Dumme Personen halten sich nicht auf hohen Stühlen. Auch manipulierte Gestalten sind nicht per se dumm.

Marlen fragt: “Wer ist denn nun dumm?” - “Vielleicht ist der dumm, der einen Fehler nicht erkennt.” - “Der ist eventuell ignorant.” - “Oder der ist dumm, der das Wort dumm nicht definieren kann?” Alle blicken betroffen auf ihr Glas. Keiner will was falsches sagen. Ist aber auch zu dumm.

Das vorbestimmte Leben

So richtig zufrieden bin ich nicht denkt Bernd. Er ist auf dem Weg ins Schwimmbad. Jeden Dienstag geht er vormittags schwimmen. Er hat den Eindruck, sein Leben ist vorbestimmt. Als wenn er in einem Boot säße und der Strom ihn träge vorwärts treibt. Er will zwar nicht in diese Richtung, aber er weiß auch nicht recht wohin eigentlich. Er müßte das Ruder einschlagen, ihm fehlt jedoch die Motivation. Ein Mann begegnet Bernd. Er kennt ihn, er trottet immer in derselben Spur. Der ist 10 Jahre älter als ich, was hat der vor 10 Jahren gemacht? denkt Bernd. Er schlendert die Straße entlang und spinnt weiter. Es gibt soviel Optionen. Früher war alles einfacher. Heute muß ich nachdenken, priorisieren, wählen, entscheiden. Wie sah es früher aus? Im Dorf geboren, im Dorf geblieben. Heute Morgen hörte er von Wilhelm Maybach. Er wurde 1846 geboren und verlor als Kind beide Eltern. Als Waisenkind hatte er normalerweise keine Chance. Ein Pfarrer kümmerte sich und ermöglichte eine Ausbildung zum Technischen Zeichner. Er wurde ein begnadeter Konstrukteur und baute mit Gottlieb Daimler den ersten schnelllaufenden Ottomotor, das Herzstück des ersten Kraftfahrzeuges. Er besaß Talent und hat mit seiner Energie viel erreicht. Er war aktiv.

Bernd ist nicht entscheidungsfreudig. Er ist ja aktiv, aber nur ein bißchen. Im Grunde ist ihm Veränderung ein Graus. Muß man Ziele haben? Er hat letztens mit einem Coach gesprochen. Antriebslosigkeit und Gleichgültigkeit sind eine Krankheit, dessen muß man sich bewußt sein. Wie bringt man Gott zum lachen? Erzähl’ ihm deine Pläne. Wie bringt man ihn zum weinen? Erzähl’ ihm, dir ist alles gleichgültig, alles egal. Aktivität kommt aus einem gesunden Selbstwertgefühl. Bernd weiß was er kann. Selbstwertgefühl ergibt sich aus Erfolgserlebnissen. Wenn es läuft macht es Spaß. Positive Erfahrungen können sich aus allen Situationen ergeben. Bernd hat schon einiges erfolgreich gemacht. Er hilft und ist karitativ tätig. In Diskussionen kann er überzeugen. Der Chef und die Kollegen wertschätzen ihn bei guter Arbeit. Er kann Selbstdisziplin einhalten und im Fitnessstudio und in der Diät sich selbst bezwingen. Schwierig wird es, zu Fremden einfach Kontakte zu knüpfen und neue Freunde gewinnen. Es fehlt da noch ein Quäntchen. Die Kommunikation ist ein Schwachpunkt. Bernd fühlt sich introvertiert, schweigsam, zurückhaltend. Er sieht sich in der Minderheit, er gehört nicht zu den Lemmingen. Seine Glaubenssätze sind fundiert. Leider kann er nur wenige überzeugen.

Bernd ist eine halbe Stunde zu früh. Er setzt sich auf eine Bank vor dem Schwimmbad. Sein innerer Analytiker meldet sich. Es muß einen Kipppunkt, eine Schwelle geben, nach der die Vorbestimmtheit wegfällt. Dafür gibt es äußere und innere Kriterien. Von außen wirken die Lebensumstände. In welchem Land, in welchem Erdteil, in welcher Epoche bin ich geboren? Wie sind meine finanziellen Verhältnisse, die Wohnverhältnisse, die familiären Verhältnisse. Wie groß ist der Leidensdruck für Veränderungen? Die persönlichen Kriterien zeigen sich in der Motivation, der Energie, der Entscheidungsfreude, der Risikobereitschaft, dem Durchsetzungswillen und der Kondition bzw. Gesundheit. Wie vorbestimmt leben die Wanderburschen aus Syrien, Tunesien oder Afghanistan? Wie vorbestimmt war das Leben von Thomas Müntzer, Christoph Kolumbus, Tamara Bunke, Stauffenberg, Alois Ratzinger alias Papst Benedikt, Heinrich VIII., Ronald Keiler alias Roland Kaiser? Was heißt eigentlich vorbestimmt? Gibt es ein Komitee oder eine höhere Macht, die das Leben bestimmt? Es kann doch nur die allgemeine Erwartung sein, die ein normaler Bürger von der Zukunft hat. Jeder kann sich selbst die Zeit ausmalen und vorstellen was kommt. Der Haken ist, kann ich mich mit diesem Gemälde anfreunden? Will ich aktiv die Breite des vor mir liegenden Weges austesten? Wie breit ist der Weg oder die Straße eigentlich? Wie ist die Straßenneigung, gibt es viele Schlaglöcher? Ein Joker ist immer im Spiel. Glücksfälle ändern jedoch nicht viel. Katastrophen werfen das ganze Spiel um. Die Wahrscheinlichkeit von Katastrophen kann man abschätzen. Je länger ich gehe desto langsamer werde ich. Es ist mehr vorbestimmt als gedacht.

Es wird Zeit für’s Schwimmbad. Bernd läuft weiter. Gestern stand er noch in einem Saal mit 200 Schachspielern. Wie vorbestimmt ist deren Leben? Der Gedanke ist hartnäckig. Bernd fällt das Gedicht von Erich Weinert “Ferientag eines Unpolitischen” ein. Das Leben von Emil Pelle war ebenfalls vorbestimmt. Beim Schwimmen verflüchtigen sich die Gedanken. Als er frisch gekämmt auf die Straße tritt sind sie wieder da. Bernd denkt an einen Verwandten, der Maler ist. Er lebt allein in einem Haus, geht regelmäßig der Arbeit nach, alles ist vorbestimmt. Bernd sieht sich die Passanten an. Oha, der müßte für sein Gewicht 2.80 m groß sein. Vorbestimmt. Eine Frau schleicht mit ihrem Rentnerporsche, dem Rollator über den Gehweg. Vorbestimmt. Ein drahtiger junger Mann sitzt mit geschlossenen Augen auf der Bank und genießt die Sonne. Zum ersten vorbestimmt. Ein Mittzwanziger läuft in seinem Sonntagsstaat zielstrebig in die Kirche. Vorbestimmt. Eine Dame reckt ihren Bauch nach vorn und schlendert selbstsicher zur Haltestelle. Vorbestimmt.