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Wundervolle Gebäcksstücke und heiße Toddys: Willkommen im romantischsten Cafe Schottlands. Zwei Mal Highlands zum Wegträumen in einem E-Book
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Das kleine Cafe in den Highlands
Raelyn lebt als erfolgreiche Immobilienmaklerin in Manhattan. Sie liebt ihren besten Freund Adam, ihre Glücksjogginghose und genießt ihre One-Night-Stands. Leider geht einer davon gründlich schief und nun existieren pikante Bilder von ihr im Netz. Als ihr Chef sie zu einer kleinen Auszeit verdonnert, fliegt sie kurzentschlossen nach Duncan. Dort hat sie von ihrer leiblichen Mutter, die sie nie kennengelernt hat, ein kleines Café geerbt. Ihr Empfang ist alles andere als herzlich, das Café ist verschuldet und zu allem Überfluss spukt ihr auch noch der heiße Fotograf Colin MacArran im Kopf herum. Doch Rae gibt nicht auf und schon bald serviert sie den kühlen Schotten nicht nur heiße Hot Toddys, sondern auch die wundervollsten Kuchen. Aber dann soll Raelyn zurück nach New York und muss sich entscheiden... für die Großstadt oder das kleine Dorf in den schottischen Highlands?
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Winter im kleinen Cafe in den Highlands
Marcy Shark gilt mit ihren pinken Dreadlocks und ihren Tattoos als das schwarze Schaf in Duncan. Doch sie hat das Herz am rechten Fleck und hilft jedem, der ihre Hilfe benötigt. Als ihr bester Freund Iain sie darum bittet, in seiner Bäckerei für ihn einzuspringen, sagt Marcy ohne zu zögern zu, obwohl sie gar nicht backen kann. Als sie dann auch noch dem attraktiven, aber arroganten Serien-Star Henry Lucas über den Weg läuft, ist das Chaos perfekt. Denn Marcy soll nicht nur ihn und die Produktionscrew mit Backwaren versorgen, sondern gilt plötzlich offiziell auch noch als Henrys neue Eroberung.
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© Piper Verlag GmbH, München 2022
Redaktion: Brigit Förster
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Cover & Impressum
Das kleine Cafe in den Highlands
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Danksagung
Rae’s Zimtschnecken
Winter im kleinen Cafe in den Highlands
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Epilog
Danksagung
Rezept Cronuts
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Alice: »Wie lange ist für immer?«
Weißes Kaninchen: »Manchmal nur für eine Sekunde.«
Lewis Carroll, Alice im Wunderland
Iris – Goo Goo Dolls
Bad Luck – Adam Barnes
Someone like you – Adele
Closer to the Edge – 30 Seconds to Mars
In the end – Linkin Park
26 – Paramore
Slide – Goo Goo dolls
Push – Matchbox Twenty
Smells like Teen Spirit – Nirvana
The Hills – The Weeknd
Somewhere only we know – Keane
Black Hole Sun – Soundgarden
Kings and Queens – 30 Seconds to Mars
FürS*E*V*M
Rae
Das ist alles nur ein Albtraum. Sobald ich aufwache, wird sich alles in Luft auflösen und ich werde nur noch darüber lachen.
So muss es sein. Ganz sicher.
Aber egal wie lange ich auf den Bildschirm starre, es verändert sich nichts.
Ich wache nicht auf.
120.000 Aufrufe in den letzten vierundzwanzig Stunden.
Immer wieder aktualisiert Adam die Seite der derzeit angesagtesten Onlineplattform kissandhug, und es scheint kein Ende zu nehmen. Das Foto wurde bereits über vierhundert Mal geteilt, und sogar auf Facebook und Instagram ist es zu sehen. Es ist fast, als hätten die Menschen in New York nur ein einziges Thema.
Mich und meinen nackten Körper.
»Man kann deinen Bauchnabel sehen.«
Adams trockener Kommentar lässt mich zusammenzucken. Es sind die ersten fünf Wörter, die er sagt, seitdem ich vor einer Stunde die Seite aufgerufen und ihm das Foto gezeigt habe, das mir George, mein Boss, kurz zuvor über WhatsApp geschickt hat.
Sag mir, dass das nicht du bist, Rae.
Darunter war das Bild zu sehen, das mich in den Abgrund gerissen hat.
Immer noch entsetzt starre ich auf das Foto auf dem Bildschirm meines Laptops. Egal wie oft ich es betrachte, es fühlt sich vollkommen surreal an.
Ich liege auf einem Bett, die Augen halb geschlossen, und halte ein Glas Champagner in der rechten Hand. Die silberne Satindecke schmiegt sich wie eine Schlange um meinen Körper und verdeckt einen Teil meiner Haut.
Aber leider nicht alles.
Adam hat vollkommen recht. Man kann meinen Bauchnabel sehen und auch noch eine Menge mehr.
Er steht hinter mir, ich kann seinen Blick auf mir spüren. Es ist nicht seine Art, mich zu verurteilen, dafür ist er schon zu lange mein bester Freund, aber ich schätze, mit diesem Nacktfoto ist seine Toleranzgrenze überschritten.
»Was hast du da im Mund?«
»Eine Erdbeere.« Beschämt schließe ich die Augen und presse die Lippen zusammen. Ich erinnere mich, wie der Zimmerservice des Lincoln Hotels uns nur wenige Minuten vor besagtem Foto eine Schale mit Erdbeeren und eine Flasche Dom Pérignon vorbeigebracht hat. Das dämliche Grinsen auf seinem Gesicht habe ich damals vollkommen falsch gedeutet.
Wenn es nicht so furchtbar wäre, könnte ich fast darüber lachen. Sean hat sich diesen Abend echt etwas kosten lassen.
Natürlich ist mir bewusst, dass es eine dumme Idee gewesen ist, mich fotografieren zu lassen. Nackt, wohlgemerkt. Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass Sean so ein Freak ist.
Ein komplett durchgeknallter Irrer. Wer weiß, wie oft er diese Tour schon bei anderen Frauen durchgezogen hat?
Ich blinzle, werfe einen kurzen Blick über meine Schulter und stöhne auf. Adam starrt mich an, und sein Gesichtsausdruck ist voller Genugtuung, gepaart mit einem Schuss Mitleid und etwas Wut. Na schön. Damit muss ich klarkommen. Ich habe wirklich Mist gebaut.
»Erinnerst du dich, was ich dir an dem Abend im Stanley’s gesagt habe? Kurz bevor du mit ihm verschwunden bist?«
Ich verdrehe die Augen und nicke. Schon seine Anmache an diesem besagten Abend vor drei Wochen war Adam ein Dorn im Auge gewesen.
Ich habe eine Schwäche für Schönheit, und du bist momentan meine persönliche Nummer eins. Darf ich dich fotografieren?
Ich hätte Nein sagen müssen, aber seine tiefe dunkle Stimme und dieses Glitzern in seinen Augen hatten es geschafft, dass ich all meine Überzeugungen über Bord geworfen habe. Es gibt nicht viel, worauf ich bei One-Night-Stands Wert lege. Aber Nacktfotos und der Verzicht auf Verhütungsmittel sind für mich ein absolutes No-Go. Beides sind Dinge, die das Leben elementar verändern können, wenn man gegen seine Prinzipien verstößt.
Und jetzt stehe ich genau vor diesem Problem. Gott sei Dank habe ich wenigstens auf die Verhütung bestanden.
Das Internet vergisst bekanntlich nichts. Selbst, wenn es der Polizei gelingen sollte, die Bilder aus dem Netz zu löschen, schwirren sie immer noch im dunklen Internetnirwana herum. Für immer.
Der Gedanke, für den Rest meines Lebens mit diesem dämlichen Fehler konfrontiert zu werden, jagt mir eine Höllenangst ein. Ich habe eine Karriere vor mir, und dieses bescheuerte Foto droht mir gerade alles zu zerstören.
Ich atme tief ein. »Ich erinnere mich noch sehr gut an deine Worte. Traue niemals einem Mann, der dich lieber durch die Linse einer Kamera betrachtet als mit dem bloßen Auge. Er sieht Dinge, die anderen verborgen bleiben.«
»Wie es aussieht, habe ich recht gehabt.«
Wütend funkle ich ihn an. »Jedes Mal, wenn jemandem ein Unglück widerfährt, sprießen die guten Ratschläge wie Unkraut aus dem Boden. Ich bin mir sicher, dass ich diesen Fehler beim nächsten Mann nicht mehr begehen werde. Aber vermutlich täusche ich mich auch, und ich bin dafür prädestiniert, auf die falschen Männer hereinzufallen. Vielleicht ist der nächste Kerl ein Buchhalter, der seine Affären auf einer Excelliste festhält, während seine Frau zu Hause auf ihn wartet. Oder …«
»Oder du findest einen ganz normalen Mann, der dich ohne Hintergedanken liebt«, unterbricht er mich. »Bei dem du sein darfst, wie du bist, und für den du keine Rolle spielen musst.« Er greift nach meiner Hand und zieht mich nach oben, dann legt er mir die Arme um die Schultern. »Es wird Zeit, dass du nicht mehr suchst, Rae, sondern findest.«
»Ich suche nicht«, murmele ich an seiner Brust und atme seinen Duft ein, der mich sofort an Zuhause erinnert. Meine Art von Zuhause.
»Oh doch. Du weißt es nur nicht.«
Er löst sich von mir, und ein Lächeln umspielt seine Lippen, als sein Blick wieder zu meinem Schreibtisch wandert.
»Niemals hätte ich gedacht, dass Sean zu so etwas fähig ist«, murmele ich.
»Nun ja, One-Night-Stands bergen nun mal ein gewisses Risiko. Aber das muss ich dir ja nicht sagen.«
Ich rümpfe die Nase, drehe mich um und mache mich auf den Weg in die Küche. Adam ist der Meinung, meine Anzahl an One-Night-Stands entspricht der Stockwerkanzahl des Empire State Building, aber das ist natürlich Unsinn. Sie befinden sich definitiv im zweistelligen Bereich.
Adam kommt mir hinterher, lehnt gegen den Türrahmen und verschränkt die Arme vor der Brust.
Ich hole eine Flasche Corona und eine 7 Up aus dem Kühlschrank und halte ihm das Bier fragend hin. Es ist eher eine rhetorische Frage, Adam ist bekannt dafür, dass er ausschließlich mexikanisches Bier trinkt. Muss an seiner hispanischen Herkunft liegen. Egal, wie oft ich versuche, ihn zu einem guten Pale Ale zu überreden, verzieht er nur angewidert das Gesicht.
In der ganzen Aufregung habe ich meine Gastfreundlichkeit vollkommen vergessen. Obwohl er wie der Bruder ist, den ich nie hatte, benimmt er sich in meinem Apartment, als wäre er ein seltener Gast. Ohne seine Antwort abzuwarten, öffne ich eine Flasche, drücke ein Stück Limette hinein und halte sie ihm hin.
»Danke.« Er grinst und nippt daran.
Einen Augenblick starren wir uns stumm an. Ich weiß nicht, wie viele Male wir hier in meiner Küche zusammengesessen haben und er mir die Hölle heißgemacht hat, weil ich mal wieder mit irgendeinem Kerl nach Hause gegangen bin.
Während alle anderen mit dem Finger auf mich zeigen, hält Adam zu mir.
»George wird ausrasten, wenn er die Fotos sieht.«
Ich atme tief ein, dann lasse ich die Bombe platzen.
»Er weiß es schon.«
Adam verschluckt sich an seinem Bier. »Du machst Witze.«
Ich schüttle den Kopf und trinke einen weiteren Schluck. »Leider nicht. Er hat das Foto im Netz entdeckt. Ohne seinen Tipp wäre ich immer noch ahnungslos.«
Besorgnis macht sich auf Adams Gesicht breit. Er arbeitet zwar zusammen mit mir bei New York Estate, ist aber für die Stadtteile Queens und Brooklyn zuständig, während ich ausschließlich in Manhattan arbeite. Adam kennt George nur aus meinen Erzählungen, aber das reicht ihm, um sich eine Meinung über ihn zu bilden.
Und es scheint keine gute Meinung zu sein.
»Scheiße! Wie hat er reagiert?«
»Er hat gesagt, er wolle meinen hübschen Hintern erst wieder im Büro sehen, wenn die Sache aus der Welt geschafft ist. Ganz egal, wie lange es dauert.« Was sich wohl eine Weile hinziehen wird, wenn man dem Officer Glauben schenken kann, den ich gleich darauf angerufen habe. Herauszufinden, wer das Foto hochgeladen hat, ist eine komplizierte Angelegenheit. Und da ich von Sean nichts weiter weiß als seinen Vornamen, stellt sich das alles als noch viel schwieriger heraus. Es ist schon eine Herausforderung, jemanden mit vollständiger Adresse in New York zu finden, aber einen Unbekannten ist fast unmöglich.
Adam lehnt sich nach hinten und reibt sich den Nacken. »Man kann es George nicht übel nehmen. Er hat einen Ruf zu verlieren. Wenn die Geschäftsführung davon erfährt, gibt’s richtig Ärger. Es ist eine Sache, wenn der Boss sich im World Wide Web herumtreibt und sich Fotos von nackten Frauen ansieht, aber eine vollkommen andere, wenn seine beste Immobilienmaklerin eine dieser Frauen ist.«
Verlegen blicke ich zu Boden. »Jetzt übertreib mal nicht.«
»Das meine ich ernst, Rae. Vielleicht solltest du die Chance nutzen und dich ein wenig aus dem Geschäft zurückziehen. George wird schon sehen, was passiert, wenn sein bestes Pferd im Stall kein Geld mehr einbringt.« Adams Blick wandert durch die Küche und bleibt für den Bruchteil einer Sekunde an meinem Küchentisch hängen, dann sieht er wieder zu mir. »Was hast du jetzt vor?«
Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe einen SuB, der abgebaut werden müsste.«
Irritiert runzelt er die Stirn. »SuB?«
Ich verdrehe die Augen. »Ein Stapel ungelesener Bücher. So könnte ich meine Zeit sinnvoll nutzen.«
Adam verschränkt die Arme vor der Brust und starrt mich mit einem seltsamen Blick an, der mir nicht gefällt.
»Oder du öffnest endlich diesen verdammten Brief.«
Sobald er die Worte ausgesprochen hat, wandert mein Blick zum Küchentisch. Seit geschlagenen neununddreißig Tagen liegt er dort, und ich habe es bisher nicht über mich gebracht, ihn zu öffnen.
Nicht, weil ich Angst davor habe, was darin stehen könnte, sondern davor, dass danach nichts mehr ist wie zuvor.
Seit dem Tag, als ich diesen Brief aus dem Briefkasten gefischt habe, nervt Adam mich damit. Obwohl er überhaupt nicht weiß, was es damit auf sich hat. Aber allein der Stempel auf dem Umschlag hat ihn neugierig gemacht.
Notar Charles Stirling, Inverness.
»Der Brief interessiert mich nicht.« Das ist keine Lüge. Ich will wirklich nicht wissen, was darin steht.
Adam greift nach meinem Kinn und dreht meinen Kopf zu ihm. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich die ganze Zeit den Umschlag angestarrt habe. Fast, als hätte ich darauf gehofft, dass er sich in Luft auflöst.
Ein schwaches Lächeln umspielt seine Lippen. »Ich kenne dich besser, als du glaubst. Du kannst dir selbst etwas vormachen, Rae, aber mir nicht.«
Ich weiß, warum ich mich in den letzten Wochen so dagegen gewehrt habe. Es ist nicht der Schmerz, der mir so zusetzt, während ich das Schreiben des Notars lese, der mir mitteilt, dass Iris Donnerly verstorben ist und mir laut ihrem Testament ein Café in den schottischen Highlands hinterlassen hat.
Iris Donnerly ist meine leibliche Mutter.
Es ist Adams Gesicht, als er die Wahrheit erfährt. Die ich all die Jahre geheim gehalten habe. Vor meiner Sandkastenfreundin Amy. Vor den Jungs, die bei mir ein und aus gingen. Vor meinem besten Freund. Es ist das größte Geheimnis, das ich all die Jahre in mir getragen habe. Bis heute.
In Adams Gesicht spiegeln sich all die Gefühle, die ich niemals dort sehen wollte.
Mitleid.
Besorgnis.
Wut.
Scham.
»Du wurdest adoptiert? Warum hast du mir nie etwas davon erzählt?« Er ist verletzt, und ich kann es ihm nicht übel nehmen. Adam war immer der Meinung gewesen, meine Eltern wären bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen und Tante Louise hätte sich danach um mich gekümmert. Genau so ist es auch gewesen, nur dass Agnes und Jason Blair nicht meine richtigen Eltern waren und Tante Louise eine Pflegemutter gewesen ist.
Adam kennt nur die Rosa-Elefanten-Geschichte, nicht die Hardcorevariante.
Seufzend zucke ich mit den Schultern.
»Weil es einfacher ist zu sagen, dass deine Mutter gestorben ist, als zuzugeben, dass sie dich nicht haben wollte.«
»Scheiße, Rae«, flüstert Adam, greift nach meiner Hand und zieht mich in eine Umarmung. Er küsst mich auf den Scheitel und drückt mich an sich. Eine Weile sagt niemand von uns etwas. Aber seine Schultern beben, und ohne dass ich es sehe, weiß ich, dass er weint. Er weint all die Tränen, die ich schon vor vielen Jahren vergossen habe.
»Es ist okay. Ich bin ein großes Mädchen, ich komme damit klar.«
Ich hatte genug Zeit, mich damit auseinanderzusetzen.
»Nein«, murmelt er. »Kein Kind sollte so was durchmachen müssen.«
Er hat recht, aber die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Zumindest hatte ich das Glück, nicht von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht zu werden oder in einem Heim aufzuwachsen.
Nur wenige Stunden nach meiner Geburt wurde ich Agnes und Jason Blair übergeben, die mich adoptierten und mit mir nach New York zogen. Aber ein paar Tage nach meinem dritten Geburtstag verunglückte Jasons Cessna über Cooper’s Beach. Danach wurde ich zu Louise Chapman in Brooklyn gebracht, die sich um mich kümmerte.
»Wie geht es dir damit, dass deine leibliche Mutter gestorben ist?«
Ich zucke mit den Schultern. »So grausam es klingt, aber es berührt mich nicht. Weißt du, manchmal ist Blut nicht dicker als Wasser. Warum sollte ich für eine Frau Trauer empfinden, die ich überhaupt nicht gekannt habe?« Meine Worte scheinen Adam zu schockieren. Aber jemand, der nie in dieser Situation gesteckt hat, kann nicht nachvollziehen, wie es sich anfühlt.
Und ich bin froh, dass Adam so was nie durchmachen musste.
»Hast du in all der Zeit nie das Bedürfnis gehabt, nach ihr zu suchen?«, flüstert er. Fast als habe er Angst vor meiner Antwort.
Vehement schüttle ich den Kopf »Nein. Niemals. Sie wollte mich nicht, schon vergessen?« Ich weiß, dass ich mich wie ein trotziges Kind anhöre, aber es ist das, was ich fühle.
»Du warst nie neugierig?«
»Nein.«
Adam betrachtet mich und denkt über meine Worte nach. So gut kenne ich ihn, dass ich merke, wenn ihm etwas durch den Kopf geht. Dann taucht immer diese Falte auf seiner Stirn auf. Er hat sich in einen Gedanken verbissen, und ich bin mir sicher, dass er ihn mir gleich verraten wird. Und er wird mir mit Sicherheit nicht gefallen.
»Fahr nach Schottland, und schau dir an, was sie dir hinterlassen hat.«
Spöttisch lache ich auf. »Auf gar keinen Fall. Keine zehn Pferde bringen mich dazu, New York zu verlassen.«
Manhattan ist meine Base. Mein sicherer Hafen. Das einzige Zuhause, das ich je hatte. Außerdem kann ich nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Ich habe einen Job, der mir wichtiger ist als alles andere. Und eine wunderschöne Wohnung in Manhattan, die bezahlt werden will. Ich kann nicht einfach nach Schottland verschwinden.
»Warum denn nicht? Glaubst du, ich komme hier ohne dich nicht klar?«
Schnaubend funkle ich ihn an. »Ich kenne dich. Wenn ich nicht auf dich aufpasse, kommst du auf dumme Gedanken.«
Langsam zieht er eine Augenbraue nach oben. »Von mir findet man kein Nacktfoto im Internet.«
Da hat er wohl recht.
Er drückt mich an seine Brust und stützt sein Kinn auf meinem Kopf ab. Seine Hände reiben über meine nackten Oberarme.
»Fahr nach Schottland, Rae.«
Vehement schüttle ich den Kopf. »Mit dem Schiff dauert es eine Ewigkeit, und du weißt genau, dass ich in kein Flugzeug steige.«
»Jetzt ist nicht die Zeit, um abergläubisch zu sein.«
»Das bin ich nicht. Nur vorsichtig.« Die Menschen, die sich um mich kümmern sollten, sind mit einem Flugzeug ums Leben gekommen. Man muss kein Psychologe sein, um eine Verbindung zu meiner Flugangst herzustellen.
»Manchmal muss man über seinen Schatten springen, wenn man etwas Großes erreichen will.«
»Ich will aber gar nichts Großes erreichen«, brumme ich an seiner Brust. Ich schließe die Augen und genieße seine Umarmung.
Adam lässt nicht locker. »Du hast doch nichts zu verlieren. Wenn alles schiefläuft, verkaufst du dieses Café und alles, was dazugehört, und streichst noch einen Haufen Kohle ein. Du wärst dumm, wenn du dir das entgehen lassen würdest.«
Adam kennt mich viel zu gut, und er hat recht. Solange dieses Foto im Netz existiert, werde ich nicht arbeiten können.
Wie ein Jagdhund wittere ich meine Chance. Ich werde mir diese Immobilie ansehen, sie, so gut es geht, verkaufen und meine Vergangenheit für immer hinter mir lassen.
Rae
Zwei Tage später sitze ich in einer kleinen Maschine nach Inverness. Das Flugzeug ist kaum belegt, aber neben mir sitzt ein Mann, der eine erschreckende Ähnlichkeit mit Kurt Cobain aufweist. Er streckt seine Beine von sich, legt beide Arme auf die Armlehnen und pfeift seit einer halben Stunde den Refrain von Frank Sinatras New York, New York. Dieses Gepfeife macht mich nervöser, als ich sowieso schon bin. Einen Augenblick spiele ich mit dem Gedanken, meine Sachen zu packen und einfach den Platz zu wechseln, da erklingt auch schon die Durchsage, die Tische einzuklappen, sich anzuschnallen und die Lehnen geradezurücken. Die Stewardess schenkt mir ein freundliches Lächeln, während sie durch die Reihen geht und die Sitzpositionen kontrolliert, als sich das Flugzeug langsam in Bewegung setzt. Mit aller Kraft konzentriere ich mich auf den Brief, den mir der Notar geschickt hat, und halte ihn in meinen Händen, als hinge mein Leben daran.
Mr Sterling war so nett und hat mir sämtliche Unterlagen der Immobilie vorab per E-Mail geschickt. Grundrisse, Fotos, einen Lageplan und das Baugutachten. Sogar eine Abschrift der zuständigen Bank mit den restlichen Hypothekenzahlungen hat er beigefügt. Lediglich die Grundbuchauszüge hat er vergessen, aber mir mitgeteilt, diese würde er mir gerne persönlich aushändigen, sobald ich in Duncan angekommen bin, um das Erbe anzutreten.
Das Gutachten wurde vor drei Jahren von einem Immobilienmakler aus Inverness erstellt, und wenn nicht ein Hurrikan in Schottland gewütet und es in seine Einzelteile zerlegt hat, müsste es noch in demselben Zustand vorzufinden sein. In dem Gutachten ist vermerkt, dass die gesamten Elektroleitungen des Hauses erneuert wurden, die Heizungsanlage ausgetauscht und diverse andere Dinge repariert wurden. Der einzige Minuspunkt scheint die Lage zu sein. Ein Zweitausendseelendorf, mitten in den Highlands, hundertzwanzig Meilen von Inverness entfernt.
Sozusagen am Arsch der Welt!
Ich bin so sehr in die Unterlagen vertieft, dass ich den Flug, so gut es geht, ignorieren kann. Trotzdem bin ich erleichtert, als die Maschine nach knapp elf Stunden und einem kurzen Aufenthalt in London endlich in Inverness landet.
Zu meinem Glück dauert es nur zehn Minuten, bis meine Reisetasche auf dem Gepäckband erscheint, und auch die Schlange bei der Passkontrolle löst sich rasch auf, sodass ich das Flughafengelände schnell verlassen kann.
Allerdings besitze ich keinen Führerschein und bin somit auf ein Taxi angewiesen. Wenn die Taxipreise in Schottland nur annähernd so hoch sind wie in New York, bin ich gleich ein kleines Vermögen los. In Gedanken notiere ich es, diese Kosten auf den Verkaufspreis draufzuschlagen.
Am Straßenrand steht ein gelbes Taxi, und ein Typ mit mitternachtsschwarzen Haaren und einem Vollbart lehnt dagegen. Er trägt ein weißes Shirt, auf dem in schwarzer Schrift mo chridhe steht, und seine Unterarme sind komplett bunt tätowiert. Dazu ausgewaschene Jeans und schwere, schwarze Boots. Wegen dem Bart kann ich sein Gesicht kaum erkennen, was es ein wenig schwierig macht, sein Alter zu schätzen. Immer wieder wirft er einen Blick auf ein Stück Papier, das er in der Hand hält. Einen Augenblick zögere ich, aber dann reiße ich mich zusammen.
»Entschuldigen Sie, sind Sie noch frei?«
Überrascht hebt er den Kopf.
»Frei?«
»Fahren Sie auch nach Duncan?«
»Ich?«
Himmel, ist der Typ schwer von Begriff.
»Natürlich Sie.«
Er stößt sich von seinem Wagen ab und kommt auf mich zu. Verdammt, ist der Typ groß. Ich bin mit meinen ein Meter siebzig auch kein Zwerg, aber der Mann ist bestimmt zwei Köpfe größer als ich. Jetzt erst fallen mir seine kornblumenblauen Augen auf. Durch das dunkle Haar und den Bart stechen sie förmlich heraus. Wow. Ich habe noch nie so eine intensive Farbe gesehen.
»Was wollen Sie in Duncan?«
Seine Frage reißt mich aus meinen Gedanken. »Das geht Sie gar nichts an. Sie sollen mich doch nur fahren.«
»Warum ausgerechnet ich?«
Langsam verliere ich die Geduld. Ich stelle meine Tasche auf dem Boden ab und deute mit der Hand auf seinen Wagen. »Weil Sie das einzige Taxi hier sind und ich dringend nach Duncan muss.«
Er folgt meiner Hand und nickt stumm, als würde er jetzt verstehen. Seine Augen ziehen sich zu Schlitzen zusammen, er legt er den Kopf zur Seite und betrachtet mich von oben bis unten. Einen Augenblick fühle ich mich unwohl. Mein Gott, was muss ich für einen Eindruck auf ihn machen. Ich trage meine Glücksjogginghose, wie immer, wenn ich fliege. Ich habe sie zu einem Schnäppchenpreis bei Alexander McQueen im Schlussverkauf ergattert. Sie ist maisgelb mit braunen Streifen. Dazu passende Chucks, die definitiv schon bessere Zeiten erlebt haben, und einen übergroßen braunen Hoodie, den Adam mir geschenkt hat. Auf Make-up habe ich komplett verzichtet, und wenn ich mich recht erinnere, habe ich meine eisblonden Haare zu einem Knoten zusammengebunden.
Kurz gesagt, ich sehe aus wie eine Vogelscheuche.
»Wie heißen Sie?«
Wird das hier ein Verhör? Aber bitte, vielleicht funktionieren die Taxis in Schottland anders als in New York. Vermutlich liegt es daran, dass die Taxifahrer hier nicht so ausgelastet sind wie bei uns, denn in New York hätte man weder Zeit noch die Nerven, jeden Fahrgast erst minutenlang auszuhorchen.
»Raelyn Blair.«
Er schüttelt kurz den Kopf. »Der Name sagt mir nichts«, murmelt er.
»Natürlich nicht. Warum sollte er auch?«
Misstrauisch starrt er mich an. Vielleicht sollte ich doch nach einem anderen Taxi Ausschau halten. Dieser Kerl sieht zwar echt heiß aus, aber vermutlich hat er eine Schraube locker. Und nach meinem missglückten One-Night-Stand mit Sean sollte ich wirklich vorsichtiger in Bezug auf fremde Männer sein.
Aber bei meinem Glück ist natürlich nirgendwo ein anderes Taxi zu sehen.
»Und wohin genau möchten Sie in Duncan?« Himmel noch mal, der Kerl ist vielleicht neugierig. Stöhnend drehe ich mich wieder zu ihm um.
Wer in die USA einreisen möchte, muss eine Adresse angeben, wo er sich während seines Besuchs aufhalten wird.
Vielleicht ist es ja in Schottland auch so, und die Taxifahrer werden angewiesen, genau nachzufragen.
Ich krame nach dem Brief des Notars in meiner Tasche.
»Iris Café, Great King Street 51, Duncan.«
Er sieht mich wieder mit diesem seltsamen Blick an, den ich nicht einordnen kann, dann beginnt er zögerlich zu nicken. Irgendwie macht er mich nervös, und das beunruhigt mich noch mehr. Männer haben normalerweise nicht so eine Wirkung auf mich. Er dreht sich um, öffnet die Fahrertür, und bevor er einsteigt, raunt er mir zu: »Steigen Sie ein.«
Was für ein Gentleman.
»Verraten Sie mir auch Ihren Namen, jetzt, wo Sie meinen kennen?« Aus dem Radio dröhnt In the Endvon Linkin Park, und während ich aus dem Fenster starre und die Landschaft betrachte, merke ich, wie ich immer nervöser werde. Jetzt liegt es aber nicht mehr an dem schweigsamen Taxifahrer, sondern an der Tatsache, dass wir bald in Duncan ankommen werden und ich keine Ahnung habe, was mich dort erwartet.
Adam hatte angeboten, mich zu begleiten, aber ich schätze, das ist etwas, was ich allein hinter mich bringen muss. Augen zu und durch. Mein Blick fällt auf die Mittelkonsole. Dort liegt das zerknitterte Stück Papier, das der Taxifahrer vorhin noch in den Händen gehalten hat. Als ich ein wenig nach vorn rutsche, erkenne ich, dass es ein Flugticket ist.
Nach Santiago de Chile.
»Colin MacArran.« Ich zucke zusammen, als er schließlich antwortet. Damit habe ich nicht mehr gerechnet. Er greift nach dem Ticket und wirft es auf den Beifahrersitz.
»Dann sind Sie ein richtiger Schotte?«
»Aye.«
Ich lehne mich noch etwas mehr nach vorn, sodass ich zwischen Fahrer- und Beifahrersitz hindurchsehen und mich besser mit ihm unterhalten kann. Aber damit komme ich auch näher an ihn heran, und sein Duft weht mir entgegen. Es ist ein angenehmer Geruch nach Zitronen und frischem Holz. Herb und männlich. Das ist ganz schlecht. Männer, die heiß aussehen und dazu noch unwiderstehlich gut riechen, sind meine persönliche Schwäche.
»Stimmt es, dass die schottischen Männer unter ihrem Rock keine Unterwäsche tragen?«
»Setzen Sie sich bitte anständig hin. Ich bin für ihre Sicherheit zuständig, und ich habe keine Lust, Sie von der Windschutzscheibe zu kratzen, falls ich gezwungen bin, stark zu bremsen.«
Sofort lehne ich mich wieder nach hinten und starre aus dem Fenster. Was für ein unfreundlicher Kerl.
»Erstens heißt es Kilt und zweitens ja.«
Irritiert starre ich ihn an. »Was?«
»Ihre Frage. Es ist ein Kilt, kein Rock, und für gewöhnlich wird darunter nichts getragen.«
Ich sehe in den Innenspiegel und bemerke, wie er mich beobachtet. Immer wieder blickt er kurz auf die Straße, dann wieder in den Innenspiegel. Er lässt nicht locker, sein Blick klebt förmlich an mir. Dann runzelt er die Stirn, und zwei Falten machen sich bemerkbar.
»Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor.«
Sofort macht sich Panik in mir breit. Kann es sein, dass man sogar in Schottland von meinem Foto weiß? Himmel, daran hatte ich noch gar nicht gedacht.
»Ich glaube, da täuschen Sie sich.« Ich starre aus dem Fenster und versuche, ihn nicht mehr anzusehen.
»Ich glaube nicht. Ich vergesse selten ein Gesicht, das ich schon mal gesehen habe.«
So ein Mist!
»Woher kommen Sie?«
»Sie sind ganz schön neugierig.«
»Ich informiere mich einfach nur gerne über meine Fahrgäste. Außerdem …«, er wirft mir einen kurzen Blick zu, »sind Sie ja wohl die Neugier in Person.«
»Ich?«
»Wollten Sie nicht ein lang gehütetes schottisches Männergeheimnis ergründen?« Er klingt so trocken, dass ich nicht weiß, ob er mit mir flirtet oder einfach nur ein verdammt sachlicher Typ ist.
»Ich bin mir sicher, ich hätte es auch allein herausgefunden.«
Seine Augen funkeln, als er mich im Rückspiegel ansieht. »Sicher.«
Macht der Kerl sich über mich lustig? Ich beiße die Zähne zusammen und starre aus dem Fenster.
»New York«, murmele ich und bin mir nicht sicher, ob er mich verstanden hat.
Colin wechselt die Fahrspur, ohne zu blinken. Prompt ertönt ein lautstarkes Hupen von einem Transporter hinter uns. Himmel, der Kerl sollte in zusätzliche Fahrstunden investieren. Wäre vermutlich für ihn und den Rest der Welt ungefährlicher.
»Ich dachte immer, amerikanische Frauen haben ein gutes Gespür für Mode.«
Irritiert blicke ich ihn an. »Wovon sprechen Sie?«
»Ihr Outfit. Sagen Sie bloß, dass Sie dafür auch noch Geld ausgegeben haben. Sie sehen aus wie eine Monsterbiene.«
Empört starre ich auf mich herab. Der Kerl hat sie doch nicht alle!
»Sind Sie zu all Ihren Fahrgästen so charmant?«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich bin nur ehrlich.« Er wechselt die Spur, und ich höre, wie er erneut »Monsterbiene« murmelt.
Ich verschränke die Arme vor der Brust und funkle ihn wütend an, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob er das überhaupt bemerkt. Seine Lippen haben sich zu einem spitzbübischen Lächeln verzogen. In diesem Moment fällt mir Sean ein. Sein Lächeln war nicht mal annähernd so anziehend, und ich bin ihm ziemlich auf den Leim gegangen. Obwohl er mir überhaupt nichts bedeutet hat. Ganz anders als dieser Kerl. Er könnte mir wirklich gefährlich werden. Verdammt! Was mache ich mir da nur für Gedanken. Männer werden mir nicht gefährlich. Es kommt gar nicht erst dazu, dafür müsste ich sie erst einmal an mich heranlassen.
Ich bestimme die Regeln.
Immer.
Dieser Kerl wird keine Ausnahme sein.
»Es geht Sie zwar nichts an, aber die Hose ist meine Glücksjogginghose, die ich nur trage, wenn ich in einem Flugzeug sitzen muss, weil ich unter Flugangst leide, und den Pullover hat mir der Mensch geschenkt, den ich schrecklich vermisse. Haben Sie schon mal etwas geschenkt bekommen, das Sie hüten wie Ihren Augapfel?«
Er blickt nach unten, und einen Augenblick habe ich Angst, weil er sich nicht mehr auf die Straße konzentriert, dann hebt er wieder den Kopf, und sein Blick wandert zum Innenspiegel. Eine Traurigkeit ist darin zu sehen, die mir die Luft zuschnürt. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, dessen Augen so viel Schmerz in sich tragen. Schmerz, den man sogar als Außenstehender spüren kann.
Sein Blick hält meinen gefangen. Mein Magen krampft sich zusammen. Warum habe ich nicht einfach den Mund halten können?
Er sagt immer noch nichts. Kein einziges Wort. Aber das muss er auch gar nicht.
Es steht alles in seinem Gesicht geschrieben.
Irgendwie muss ich kurz eingenickt sein, denn als der Wagen anhält, schrecke ich hoch und stoße mir den Kopf an der Fensterscheibe. Meine Mundwinkel fühlen sich feucht an. Habe ich etwa im Schlaf gesabbert?
Nur nicht weiter darüber nachdenken. Es ist schon peinlich genug.
»Sind wir schon da?« Ich sehe aus dem Fenster und bemerke erst jetzt, dass wir an einer Tankstelle stehen.
Colin sitzt auf dem Fahrersitz und dreht sich zu mir um.
»Noch nicht, aber das Benzin ist alle. Kann ich Ihnen etwas mitbringen?«
»Nein danke«, murmele ich, hole meine Tasche hervor und krame nach einem Taschentuch. Als Colin aussteigt, beuge ich mich über die Mittelkonsole, um einen Blick in den Innenspiegel zu werfen, und wische mir den Speichel fort.
Peinlich, Rae.
Mein Blick fällt auf ein Foto, das auf dem Armaturenbrett klebt. Bisher ist es mir noch gar nicht aufgefallen. Es zeigt eine junge Frau, die einen kleinen Jungen mit einem strahlenden Lächeln und nachtschwarzem Haar im Arm hält. Seine Augen haben dasselbe intensive Blau wie bei Colin. Er steht hinter ihnen, die Arme um beide geschlungen, und lächelt in die Kamera.
Mutter, Vater, Kind.
Das Bild versetzt mir einen Stich. Genau so sollte es sein. Alles auf diesem Foto strahlt Liebe aus. Stolz und pures Glück.
Plötzlich schießen mir Tränen in die Augen, und ich habe keine Ahnung, warum. Es ist nicht so, dass ich ganz plötzlich etwas verloren habe. Tante Louise meinte immer, man kann nichts vermissen, das man nie kennengelernt hat. Und als meine Adoptiveltern starben, war ich gerade mal drei Jahre alt. Zu jung, um mich an sie zu erinnern, aber alt genug, um zu bemerken, dass da jemand fehlt.
So traurig es klingt, ich vermisse Agnes und Jason nicht, aber ich bemitleide mich dafür, dass ich sie verloren habe.
Die Tür öffnet sich, und ich lasse mich nach hinten fallen, in der Hoffnung, dass Colin nicht bemerkt, dass ich das Foto entdeckt habe. Es wäre mir peinlich, wenn er glaubt, ich stöbere in seiner Privatsphäre.
Rae
Willkommen in Duncan.
Die Distel auf dem Ortsschild ist das Erste, was mir auffällt, als wir endlich ankommen. Ich kurble das Fenster herunter, und kühler Wind weht mir entgegen, während die Landschaft an mir vorbeizieht. Einzelne Regentropfen verirren sich auf meine Nase.
Stumm betrachte ich Gegend. Während in New York Wolkenkratzer aus der Erde sprießen, sind es hier Steine, Mohnblumen und Disteln.
Himmel, wie kann es sein, dass diese Leute so fasziniert von diesem stacheligen Unkraut sind?
»Die Distel ist die Nationalblume Schottlands.«
Erschrocken hebe ich den Kopf.
»Woher wissen Sie, an was ich gerade gedacht habe?« Der Kerl wird mir langsam unheimlich. Entweder sollte ich an einem neutralen Gesichtsausdruck arbeiten oder dem Typ aus dem Weg gehen. Er hat etwas in seinem Blick, das mir Angst einjagt. Nicht vor ihm selbst, sondern vor der Art, wie er mich lesen kann.
»Das war nicht besonders schwer. Jeder, der noch nie hier in der Nähe war, fragt sich, was es wohl damit auf sich hat. Hat wohl was mit der Legende zu tun.«
Vorsichtig beuge ich mich zu ihm nach vorn. »Was für eine Legende?« Unsere Blicke treffen sich im Innenspiegel.
»Wer ist jetzt neugierig?«
Ich kann nicht anders und beginne zu lachen. »Touché. Aber klären Sie mich auf. Um was für eine Legende handelt es sich?«
Ein Schmunzeln umspielt seine Lippen. Er streckt die Hand aus und zeigt aus dem Fenster. »In der Schlacht von Largs, an der Westküste, soll sich ein Haufen schottischer Krieger nachts zum Schlafen auf eine Wiese gelegt haben, auf der ein paar Disteln wuchsen. Irgendwann tauchten die Wikinger auf, und als diese auf die Disteln traten, schrien sie vor Schmerz auf, sodass die Krieger aufwachten und dadurch gewarnt wurden.«
»Dann verdanken also die Schotten diesem Unkraut ihr Leben?«
Er reißt gespielt die Augen auf. »Das dürfen Sie niemals vor einem echten Schotten so ausdrücken. Sie machen sich damit keine Freunde.«
Ich lache auf. »Und was ist mit Ihnen? Habe ich Sie etwa auch beleidigt?«
Er zuckt nur mit den Schultern. »Mich stört es nicht.«
Ich möchte noch etwas sagen, so viel von ihm herausfinden, aber er hat den Blick abgewendet, und der Moment ist vorbei.
»Kennen Sie sich hier in Duncan aus?«, frage ich nach einer Weile.
»Aye. Was wollen Sie wissen?«
»Was macht diesen Ort so besonders?« Das ist eine Frage, die ich mir als Maklerin immer stelle. Es ist ein Verkaufsargument, auf das ich schlussendlich jedes Mal zurückgreife, wenn ich bei meinen Verhandlungen nicht mehr weiterkomme. Mein Ass im Ärmel sozusagen.
Er fährt sich mit der rechten Hand durch die Haare, die nun vollkommen zerzaust sind.
»Nun, Duncan ist der Sitz einer der ältesten Whiskybrennereien, die sich noch in Familienbesitz befinden. McKenzies Single Malt ist ein verdammt guter Whisky. Sie sollten ihn mal probieren.«
Ich presse die Lippen zusammen und schüttle den Kopf. »Ich trinke keinen Alkohol.« Zumindest nicht mehr, seit ein Kerl mich mit Champagner abgefüllt und Nacktfotos von mir gemacht hat.
Er fährt weiter die Straße entlang, und ich starre aus dem Fenster. »In Duncan findet man alles, was man zum Leben braucht.« Einen Moment hält er inne. »Fast alle, die gegangen sind, kommen eines Tages wieder zurück.«
»Bei Ihnen hört sich das wie ein Fluch an.«
»Vielleicht ist es das auch.«
Sein Blick ist geradeaus gerichtet, und ich traue mich nicht, nachzufragen, was genau er damit meint.
Langsam fährt Colin durch den Ort, und ich betrachte alte Backsteinhäuser mit weißen Fensterläden, die sich wie Zinnsoldaten aneinanderreihen. Ein paar Kinder spielen vor einem Springbrunnen, während ihre Mütter auf einer Parkbank sitzen und ihnen zusehen.
In Schrittgeschwindigkeit biegt Colin in eine gepflasterte Seitenstraße ab. Great King Street.
Ein Friseursalon namens Crazy Hair (Merke: Auf keinen Fall besuchen!), ein paar Touristenläden, eine Tierarztpraxis, ein Gemischtwarenhandel und Ginnie’s Pub. Fast jedes Schaufenster ist mit Mohnblumen, Disteln und blauen Fahnen geschmückt. Sogar am Eingang des Pubs ist eine Blumengirlande aufgehängt.
»Nächstes Wochenende findet das jährliche Dorffest statt. Die Leute hier sind ganz verrückt danach.«
Den Eindruck habe ich auch.
»Sie scheinen aber nicht sonderlich begeistert zu sein.« Vielleicht gelingt es mir jetzt, etwas mehr über ihn herauszufinden.
»Ich bin nicht so der gesellige Typ.«
Irgendwie glaube ich ihm das sogar. Etwas an ihm ist zurückhaltend und reserviert. Fast, als wolle er nicht viel von sich preisgeben. Ich möchte gerne mehr über ihn wissen, aber instinktiv spüre ich, dass er mir nicht mehr über sich verraten wird.
Der Wagen wird noch langsamer, bis Colin das Taxi am Straßenrand direkt vor einem alten weißen Steinhaus hält. Schlagartig wird mir übel. Das ist nun der Moment, vor dem ich mich so gefürchtet habe.
Ich zögere und blicke auf meine Hand, die den Türgriff umklammert, als hinge ihr Leben daran. Mühsam hole ich Luft und versuche die Nervosität zu vertreiben.
»Wir sind da. Das Iris ist das beste Café in der Gegend. Vermutlich sogar das beste in den Highlands«, sagt Colin und blickt in den Innenspiegel seines Wagens. »Na ja, es auch das Einzige im Umkreis von zwanzig Meilen.« Ein schwaches Lächeln ist darin zu sehen. »Geht es Ihnen gut?«
Nervös schüttle ich den Kopf. »Verraten Sie es nicht, aber ich habe ein wenig Angst«, gebe ich zu.
Er dreht sich zu mir herum, und seine Mundwinkel zucken. Wenn er lächelt, sieht er noch viel attraktiver aus. Ehrlich gesagt, ist er dann schon verboten heiß. Der Kontrast zwischen seinen blauen Augen und seiner gebräunten Haut ist faszinierend.
»Wovor?«
Einen Augenblick frage ich mich, wie viel ich ihm erzählen kann, aber was habe ich schon zu verlieren? Er wird sich jeden Moment einen neuen Fahrgast suchen, und ich sehe ihn nie wieder. Und so seltsam es klingt, macht mich der Gedanke traurig. Obwohl ich ihn gerade erst kennengelernt habe, fühlt es sich vertraut an.
»Ich habe Angst davor, was die Leute hier über mich denken. Verrückt, oder? Ich meine, ich kenne niemanden von ihnen, und es kann mir egal sein, was sie von mir halten, trotzdem zerbreche ich mir den Kopf darüber, welche Meinung sie über mich haben.«
Er betrachtet mich mit einem Blick, der mir einen Schauer über den Rücken jagt. Als wüsste er genau, wie es sich anfühlt.
»Das kann ich verstehen. Als ich das letzte Mal wieder nach Hause gekommen bin, hatte ich auch Angst.« Ich kann ihn nur anstarren. Noch nie zuvor habe ich Augen mit dieser Intensität gesehen. Sie haben etwas Hypnotisches an sich. Die plötzliche Stille raubt mir den Atem.
»Was haben Sie dagegen getan?«, wispere ich.
»Ich habe zwei Stunden in meinem Auto gesessen, bis ich meinen besten Freund angerufen habe und er mir gesagt hat, wenn ich nicht sofort meinen Arsch aus dem Wagen wuchte, würde er in wenigen Minuten vorbeikommen und mich aus dem Auto zerren. Und …«, er stockt einen Moment, dann spricht er weiter, »… dass es komplett unwichtig ist, was die anderen über mich denken. Denn ich bin zurückgekommen. Das ist alles, was zählt.« Colin atmet tief ein und blickt mich an. »Ich bin aus dem Wagen gestiegen und habe mir selbst gesagt, dass es egal ist. Es ist mein Leben, und niemand dort draußen weiß, wer ich wirklich bin.«
Es ist, als wolle er noch etwas sagen, aber dann verstummt er. Ein schwaches Lächeln umspielt seine Lippen, aber es erreicht seine Augen nicht.
Niemand dort draußen weiß, wer ich wirklich bin.
Warum habe ich plötzlich das Gefühl, dass ich gerne dieser Jemand wäre? Dass ich gerne wissen würde, wer er ist. Scheiße, dieser ganze Mist macht mich richtig sentimental.
»Keiner von denen dort draußen hat das Recht, über Sie zu urteilen, Raelyn. Ganz egal, was Sie getan oder nicht getan haben.«
Seine Worte schnüren mir die Luft ab.
Der intensive Blick seiner Augen bringt mich vollkommen aus der Fassung. Ich möchte wissen, was in Colin vorgeht, obwohl ich diesem Mann vor nicht ganz zwei Stunden zum ersten Mal begegnet bin. Ich möchte seine Geschichte hören.
Denn jeder Mensch hat eine Geschichte.
Aber er ist ein Fremder. Ich werde nicht wieder den gleichen Fehler machen wie bei Sean und auf ein schönes Gesicht hereinfallen.
Ich streiche mir eine Haarsträhne, die sich aus meinem Zopf gelöst hat, aus dem Gesicht und versuche zu lächeln. Ich bemühe mich wirklich, aber so recht gelingt es mir nicht.
»Sind Sie bereit?«
Ich atme tief ein. Augen zu und durch. Ich habe schon ganz andere Sachen geschafft. Ich nicke schnell, greife nach meiner Clutch und hole meine Brieftasche heraus.
»Wie viel bin ich Ihnen schuldig?« Der bloße Gedanke daran, dass er jetzt weiterfährt und ich allein zurückbleibe, bereitet mir Bauchschmerzen. Was komplett irrsinnig ist.
»Nichts.«
Verwirrt hebe ich den Kopf. »Aber …«
»Kein Aber.« Er sieht aus dem Fenster, dann presst er die Lippen zusammen. »Verdammt! Ich bin ein Idiot! Jetzt weiß ich, woher ich Sie kenne. Das hätte mir schon viel früher auffallen müssen.«
Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht.
Er deutet mit dem Kinn nach draußen, und ich folge seinem Blick. Dann schaue ich nach oben und erstarre.
Mein Gesicht blickt mir entgegen. Nein, nicht mein Gesicht. Eher ein Gesicht, das auf den ersten Blick aussieht wie meines. Nur auf den zweiten Blick erkennt man die Unterschiede. Es ist ein Porträt, das an eine Hauswand gemalt wurde.
Dieselben grauen Augen, das eisblonde Haar.
Aber meine Lippen sind ein wenig voller, und meine Nase ist krummer, nachdem ich als Elfjährige beim Schulsport einen Fußball mitten ins Gesicht bekommen habe. Tante Louise saß daraufhin zwei Stunden mit mir in der Notaufnahme und hat ständig »So viel Blut …« gemurmelt. Und da ist noch dieses marienkäfergroße Muttermal auf meiner Wange, das auf dem Bild fehlt. Neben dem Bild steht in geschwungener Schrift: Iris Café.
Wie alle Kinder, die adoptiert wurden, habe ich mich immer gefragt, wem ich wohl ähnlicher sehe. Meiner Mutter oder doch eher meinem Vater. Ich schätze, die Frage hat sich jetzt erübrigt.
»Sie sind Iris’ Tochter.« Er sagt es in einem Ton, als würde das nun alles erklären. Nur habe ich keine Ahnung, was das sein soll.
Überrascht blicke ich ihn an. »Sie kannten sie?«
Er presst die Lippen zusammen und nickt. »Ein wenig.« Wieder fällt mein Blick nach draußen.
»Himmel, ist das schräg«, murmele ich.
»Kommen Sie. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«
Aber anstatt darauf zu warten, bis ich ausgestiegen bin, und dann weiterzufahren, springt er aus dem Wagen und lässt mich zurück.
Was soll das? Ich atme tief durch, dann nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und verlasse den Wagen.
Zögerlich lege ich den Kopf in den Nacken und betrachte das Haus. Es ist viel größer als erwartet, aber wenn man die Fotos von Mr Sterling mit diesem Gebäude vergleicht, findet man kaum Ähnlichkeiten. Es ist, als würde man ein Penthouse in Manhattan mit einem Gartenhäuschen in New Jersey vergleichen. Der Lack der karminroten Holztür ist abgesplittert, und die dazu passenden Fensterläden wirken auf den ersten Blick morsch. Der Putz an der Außenfassade ist stellenweise aufgeplatzt, und die extragroße Fensterscheibe direkt neben der Eingangstür hat einen Sprung.
Mein Blick wandert weiter bis zur Veranda, die mit Blumenkübeln geschmückt ist. An den oberen Holzbalken hängen bunte Fähnchen. Das Geländer müsste dringend neu gestrichen und ein paar Holzlatten ausgetauscht werden. In Gedanken überschlage ich die Kosten.
Langsam gehe ich zur Seite und betrachte noch mal das Bild, das an der Hausmauer angebracht wurde. Wer zum Teufel lässt denn sein eigenes Porträt auf eine Wand zeichnen? Vielleicht war meine leibliche Mutter ja eine narzisstische Irre?
Es kostet mich auf jeden Fall eine schöne Stange Geld, die Außenfassade neu streichen zu lassen. Vielleicht sollte ich einen Farbwechsel in Betracht ziehen? Ein zartes Rosé wäre eine Überlegung wert. Mir fällt das Ferienhaus in den Hamptons ein, das George vor ein paar Wochen von einem Investmentbanker an der Wall Street in das Portfolio mit aufgenommen hat. Allerdings wäre ein Zitronengelb auch sehr schön.
»Colin, Sie sind schon wieder zurück?«
Erschrocken drehe ich mich um. Eine ältere Dame steht nur wenige Schritte hinter mir, und ihr Lächeln erblasst. In Sekundenschnelle werden ihre Augen kugelrund, und sie schlägt sich die Hand vor den Mund.
»Ja, Mrs Shark, und ich schätze, ich habe Besuch mitgebracht.«
»Oh, mein Gott«, flüstert sie und starrt mich an, als hätte sie eine Begegnung der dritten Art. »Du bist die kleine Rae, nicht wahr?« Und noch ehe ich mich versehe, kommt sie auf mich zu, breitet ihre Arme aus und zieht mich in eine innige Umarmung.
»Du siehst aus wie unsere Iris. Es tut mir so schrecklich leid.«
Ich bin mir nicht sicher, was genau sie damit meint. Missmutig spüre ich, wie sich eine Falte auf meiner Stirn bildet und ihre Umarmung die Luft aus meinen Lungen presst. »Raelyn«, bringe ich irgendwie heraus.
»Raelyn, natürlich«, murmelt die Frau, lässt mich los und geht einen Schritt zurück. Ihr langes, rehbraunes Haar trägt sie zu einem schlichten Zopf im Nacken, und ein paar feine Falten bilden sich um ihren Mundwinkel, als sie zaghaft lächelt. Sie richtet ihre Brille, und wenn ich mich nicht irre, hat sie sogar Tränen in den Augen. »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, bist du gerade erst zur Welt gekommen. Du warst so ein reizendes Baby.« Sie zögert. »Hast du Hunger?«
Immer noch benommen schüttle ich den Kopf. »Danke, nein.«
Ich habe keine Ahnung, wer diese Frau ist, noch, was ich dazu sagen soll. Diese ganze Situation fühlt sich so unwirklich an. Das peinliche Schweigen zwischen uns ist unangenehm.
Nervös blickt sie zu Colin. »Du hast sie mitgebracht?«
Vorsichtig schiele ich zu ihm.
Er nickt, steckt die Hände in die Hosentaschen und schlendert zu einer Tür, die sich auf der hinteren Seite des Cafés befindet. »Ja, sie war ganz scharf darauf, mitzufahren.«
Die ältere Dame runzelt die Stirn. »Was wolltest du denn am Flughafen?« Mit einem Mal wird seine Miene kühl und distanziert. Als hätte er einen inneren Vorhang heruntergelassen.
»Ich hatte dort zu tun. Aber nachdem Miss Blair darauf bestanden hat, dass ich sie nach Duncan bringe, habe ich meinen Plan erst mal verworfen.« Er deutet mit dem Daumen nach oben und öffnet die Tür. »Ich verschwinde jetzt. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Duncan, Miss Blair.«
Mrs Shark runzelt die Stirn, als er im Haus verschwindet.
»Er ist gar kein Taxifahrer?«, flüstere ich mehr zu mir selbst, aber die alte Dame scheint mich gehört zu haben.
»Colin? Aber nein, er ist Fotograf. Er bewohnt ein Zimmer im obersten Stock. Was für ein Zufall, dass ihr euch begegnet seid.«
Alles zieht sich in mir zusammen. Ein Fotograf. Kein Taxifahrer. Fuck! Von ihm sollte ich die Finger lassen.
Ich drehe mich zu ihr um. »Wer sind Sie?«
»Ich? Oh, natürlich. Tut mir leid«, sagt sie schnell. »Ich bin Rosalie Shark. Ich bin … war eine gute Freundin deiner Mutter.« Mit dem Daumen zeigt sie über ihre Schulter zu einem kleinen Häuschen gegenüber.
»Ich bin die gute Seele von Duncan.«
Ich nicke, denn zu mehr bin ich nicht in der Lage.
»Charles hat dich endlich gefunden.« Es ist keine Frage, eher eine Feststellung.
»Er hat uns gar nicht über deine Ankunft informiert. Hattest du einen guten Flug?«
Uns?
Gerade als ich fragen möchte, wen sie damit meint, höre ich eine Stimme hinter mir.
»Rosalie, Marcy sagte, du wolltest mich sprechen.«
Ich drehe mich um und sehe einen Mann, der im Türrahmen einer Bäckerei steht und sich die Hände an einem Handtuch abwischt.
Iain’s Bakery.
Bisher hatte ich nur Augen für das Café, sodass mir der kleine Laden, der sich direkt daneben befindet, gar nicht aufgefallen ist. Aber jetzt nehme ich den Duft von frisch gebackenem Brot wahr, und prompt beginnt mein Magen zu knurren. Die Fensterrahmen sowie die Eingangstür sind türkis gestrichen und vermitteln einen freundlichen Eindruck. Im Schaufenster stehen drei schwarze geflochtene Körbe, gefüllt mit Brötchen und bunten Lichterketten.
»Iain, meine Güte. Schau, wer hier ist. Das ist Rae.«
Rotblonde Strähnen hängen ihm ins Gesicht, die ihn aber nicht zu stören scheinen. Auf den ersten Blick schätze ich ihn ein wenig jünger als mich. Anfang zwanzig vielleicht.
Diese Situation fühlt sich schrecklich an, und am liebsten würde ich mich verstecken. Der Mann betrachtet mein Gesicht, zeigt aber sonst keinerlei Regung. Ich habe keine Ahnung, wer er ist oder warum er mich so anstarrt.
»Rae, das ist Iain.« Sie hält einen Moment inne, dann räuspert sie sich. »Dein Bruder.«
»Halbbruder«, verbessert Iain sie, lässt mich dabei aber keine Sekunde aus den Augen.
Vollkommen geschockt blicke ich abwechselnd von Iain zu Mrs Shark. Halbbruder? Mir wird schlecht, und ich habe nur noch den Wunsch, in dieses verfluchte Taxi zu steigen und zurück nach New York zu fliegen. Ich kann mich nicht erinnern, dass Charles Stirling einen Halbbruder erwähnt hätte. Allerdings habe ich ihn auch nicht gefragt, ob Iris Donnerly noch weitere Kinder hatte oder noch Angehörige von ihr existieren.
Ich habe ihn überhaupt nichts gefragt.
»Gibt es dafür eigentlich Beweise?«, reißt Iain mich aus meinen Gedanken.
Irritiert blicke ich ihn an. »Beweise?«
Er hält das Tuch immer noch in den Händen, aber jetzt hat er sie vor der Brust verschränkt und macht einen Schritt auf mich zu. Er ist ein wenig größer als ich, und seinem Körperbau nach zu urteilen, ist er entweder besonders sportlich oder hat einen extrem guten Stoffwechsel.
»Na ja, woher sollen wir wissen, dass du wirklich Iris Donnerlys Tochter bist? Bisher hatte dich ja niemand zu Gesicht bekommen.«
Wut brodelt in mir. »Das lag ja kaum an mir.«
Er zuckt nur mit den Schultern. »Soweit ich weiß, hast du nie versucht, Kontakt mit meiner Mutter aufzunehmen.«
Ich presse die Lippen aufeinander und nicke. »Stimmt. Bisher hatte ich keinerlei Interesse daran, die Frau kennenzulernen, die mich nicht haben wollte.« Ich weiß, dass es gemein von mir ist, so von einer Toten zu sprechen, noch dazu von einer Frau, die meine Mutter war, aber schließlich ist er auch nicht besonders nett zu mir.
Rosalie keucht auf, und ein Schatten legt sich auf Iains Gesicht.
»Dann frage ich mich, warum du jetzt hier bist.«
Ich greife in meine Tasche und hole den Brief des Notars hervor. Dann gehe ich ein paar Schritte nach vorn, sodass ich direkt vor ihm stehe, und wedele mit dem Blatt Papier vor seiner Nase herum. Er soll wissen, dass ich mich von seiner abweisenden Art nicht einschüchtern lasse.
»Hier steht, dass ich das Café geerbt habe, und jetzt bin ich hier, um mir anzusehen, was mir gehört. Damit ich es so schnell wie möglich verkaufen kann.«
Collin
48 Sekunden.
So lange habe ich gebraucht, um vor Mrs Shark zu flüchten und die Treppen nach oben zu laufen. Ich ertrage ihren Blick nicht. Von allen ist ihr Blick am schlimmsten. Es ist nicht nur Mitleid, das ich darin sehe, sondern auch Verachtung.
Eine stumme Schuldzuweisung.
Das kann ich echt nicht gebrauchen.
48 Sekunden – mein persönlicher Rekord.
Die Zimmertür fällt ins Schloss, und das Ticket in meiner Hand segelt zu Boden. Es ist ein One-Way-Ticket nach Santiago de Chile. Der Flug geht in vierzehn Tagen, und jede Minute zweifle ich mehr an meiner Entscheidung, Duncan zu verlassen.
Aber es ist meine Chance, alles hinter mir zu lassen. Ich habe keine Ahnung, wie oft ich in den vergangenen Monaten schon zum Flughafen gefahren bin und mir vorgenommen habe, einfach in ein verdammtes Flugzeug zu steigen und wegzufliegen. Irgendwohin, um neu anzufangen. Ohne zurückzublicken.
Aber jedes Mal, wenn ich kurz davor bin, bringe ich es nicht über mich, den verdammten Terminal zu betreten und mein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Walter, mein Boss und Verleger von New Planet, dem derzeit erfolgreichsten Umweltmagazin auf dem Markt, gibt mir noch diese eine Möglichkeit. Warum zum Teufel schaffe ich es nicht, über meinen Schatten zu springen?
Ich habe Wochen auf dem Kilimandscharo verbracht, bin tagelang nur mit Kamera und Rucksack durch die sibirische Tundra marschiert und habe an Arktisexpeditionen teilgenommen, aber ich schaffe es einfach nicht, in dieses verfickte Flugzeug zu steigen.
Doch jetzt ist meine Chance zum Greifen nah, und ich darf sie mir nicht entgehen lassen.
Diesmal nicht.
Stimmen reißen mich aus meinen Gedanken. Ich gehe zum Fenster und blicke nach unten. Mrs Shark steht immer noch weiß wie eine Wand vor dem Haus, während Iain aussieht, als wäre er unmittelbar davor, alles kurz und klein zu schlagen. Er scheint sich mit Raelyn zu unterhalten, und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, gefällt ihm nicht, was sie ihm zu sagen hat.
Raelyn.
Als sie mich angesprochen hat, dachte ich, sie verarscht mich. Dass sie mich für einen Taxifahrer gehalten hat, war schon ziemlich witzig. Den Wagen habe ich mir vor einem Jahr von Jack’s Garage geholt. Jack hat ein Faible für außergewöhnliche Fahrzeuge. Er hat einen alten Feuerwehrwagen, einen Leichenwagen und einen Volvo Bertone restauriert, aber das Taxi schien passend für mich zu sein.
Irgendwie gehört es nirgendwo hin.
So wie ich.
Wer hätte gedacht, dass ich dadurch eine nervige Amerikanerin kennenlernen würde.
Die aussieht wie eine Monsterbiene.
Und wunderschön ist.
Zu schön für mich.
Ich muss hier raus.
Jetzt.
Ich schlüpfe in meine Laufschuhe, und noch ehe ich mich versehe, poltere ich die Treppe hinunter und verschwinde zum Hinterausgang wieder. Wenn ich es vermeiden kann, möchte ich Raelyn Blair nicht mehr begegnen.
Ich möchte niemandem begegnen.
Ich laufe.
Vorbei an dem heruntergekommenen Haus des alten Mr Blaine, dessen Vorgarten aussieht, als hätte eine Horde Wikinger dort gehaust. Ich habe ihm schon ein paarmal meine Hilfe angeboten, aber der alte Mann lehnt immer wieder ab.
Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen.
Ich renne weiter, die Straße entlang, vorbei an Brendas Gemischtwarenhandel, und zwinge mich, weder nach rechts noch nach links zu sehen. Lautes Hundegebell lässt mich zusammenzucken, aber ich bleibe nicht stehen.
Ich weiß, diesmal würde ich nachgeben, und das darf ich nicht. Das macht alles nur noch schlimmer.
Ich laufe weiter. Vorbei an Jack’s Garage. Der Holzzaun ist morsch, und ein paar Latten fehlen. Sein alter Porsche 911 steht mit offener Motorhaube vor der Einfahrt. Jack hat mich schon ein paarmal zu einer Spritztour eingeladen, aber bisher habe ich mir immer eine Ausrede einfallen lassen. Ich ertrage den Gedanken nicht, mit ihm durch die Gegend zu kurven. Es weckt Erinnerungen, die ich lieber vergessen möchte.
Nicht mehr lange und ich kann alles hinter mir lassen. Dann bin ich frei.
Meine Lunge brennt, und ich bekomme kaum noch Luft, aber ich laufe weiter, bis ich endlich am Ziel bin.
Es ist jedes Mal dasselbe. Ich versuche vor meinen Gedanken davonzulaufen.
Vor den Schuldgefühlen.
Dem Schmerz.
Und dennoch lande ich immer wieder hier.
Tag für Tag.
Duncans Friedhof ist ein starker Kontrast zum Rest des Dorfes. Während der Ort an den üblichen Tagen eher trist und grau wirkt, ist es hier jedes Mal, als wäre man im Paradies. Der schlimmste Ort der Welt ist übersät mit Blumen, alles ist grün und zugewachsen. Fast so, als wolle man diesem schrecklichen Platz Leben einhauchen. Was für eine Ironie!
Mrs Greene ist gerade dabei, die Pflanzen am Grab ihres verstorbenen Mannes zu gießen, und wirft mir ein zaghaftes Lächeln zu. Ich nicke nur, und sie versteht. Es ist unser tägliches Ritual.
Danach kümmert sie sich um das Familiengrab der O’Brians. Dafür benötigt sie genau acht Minuten. Anschließend wird sie auf ihr Fahrrad steigen und nach Hause fahren.
Wie jeden verdammten Tag.
Ich setze mich auf die Friedhofsmauer und schließe die Augen. Der Geruch von nassem Gras geht mir unter die Haut. So seltsam es klingt, aber hier fühle ich mich geborgen. Es ist wie nach Hause kommen.
Ich kenne jeden Stein, jeden Grashalm. Ich weiß, wie viele Schritte es von der Friedhofsmauer zum Tor und wieder zurück sind. Wann die Straßenlaternen abends angehen und morgens wieder erlöschen.
Ich habe den Friedhof noch kein einziges Mal betreten. Weder zur Beerdigung noch an den Jahrestagen. Es ist fast so, als wäre die Mauer, die den Friedhof vom Rest des Dorfes trennt, auch meine persönliche Grenze.
Mein persönlicher Steinkreis, der mich davon abhalten soll, ihn zu betreten.
Vierzehn verfickte Tage. So lange ist meine Schonfrist. Dann werde ich mich verabschieden müssen. Es wird ein Lebewohl für immer sein. Diesmal werde ich nicht wiederkommen. Es gibt nichts mehr, was mich hier hält.
Mrs Greene öffnet das schmiedeeiserne Tor, lächelt und nickt mir zu, während sie auf ihr Fahrrad steigt und losfährt.
Ich bin wieder allein.
Wie jeden Tag.
Rae
Mrs Shark keucht auf, während Iain mich mit seinem Blick förmlich aufzuspießen versucht. Himmel, wenn Blicke töten könnten, würde ich sofort tot umfallen.
»Ist das dein Ernst?« Iains Stimme ist kühl und gleichgültig, aber ich sehe, wie sich seine Kiefermuskeln zusammenpressen, als würde er jeden Moment explodieren.
Ich hebe das Kinn und lasse ihn keinen Augenblick aus den Augen.
»Natürlich.«
Er nickt, dann wirft er einen kurzen Blick zu Mrs Shark, die uns mit weit aufgerissenen Augen anstarrt.
»Wenn das so ist, dann wünsche ich dir schon mal viel Glück! Du wirst es brauchen.« Er dreht sich um und marschiert zu der Bäckerei zurück, aber kurz davor bleibt er stehen und dreht sich noch mal zu mir um. »Ich bin froh, dass du dich bisher noch nicht hast blicken lassen. Meiner Mutter hätte es das Herz gebrochen, wenn sie gewusst hätte, was für ein Miststück sie zur Welt gebracht hat.«
»Iain«, keucht Mrs Shark lautstark auf, aber er beachtet sie nicht. Genauso schnell, wie er gekommen ist, verschwindet er auch wieder.
Er kennt mich nicht.
Er weiß überhaupt nichts über mich.
Colins Worte fallen mir wieder ein.
»Keiner von denen dort draußen hat das Recht, über Sie zu urteilen, Raelyn. Ganz egal, was Sie getan oder nicht getan haben.«
Sofort beruhige ich mich ein wenig. Ich muss nur das verdammte Haus verkaufen, dann kann ich so schnell wie möglich nach New York zurückkehren. Es ist nicht so, als würden mir seine Worte etwas bedeuten. Ich weiß noch nicht mal, woher er sich das Recht nimmt, sich eine Meinung über mich zu bilden.
»Nimm es ihm nicht übel«, höre ich Mrs Shark sagen, die plötzlich neben mir steht. Sie legt mir eine Hand auf die Schulter. Sofort zucke ich zurück. »Iain hat es nicht so gemeint, aber Iris’ Tod hat ihn sehr mitgenommen. Auch wenn es für uns alle nicht überraschend kam, riss es ihm den Boden unter den Füßen weg. Er ist immer noch nicht darüber hinweg. Vielleicht …«, sie seufzt und zieht einen Schlüssel aus ihrer Tasche. »… wird er das auch nie.«
Ich beiße die Zähne zusammen und blicke starr nach vorn. Ich weiß, jetzt wäre es an der Zeit, Fragen zu stellen. Wie ist sie gestorben? War sie krank? War es ein Unfall? Ich habe Mr Sterling nicht danach gefragt, und seltsamerweise hat er auch nichts darüber erwähnt. Vielleicht wäre es jetzt meine Chance, mehr über Iris Donnerly zu erfahren. Aber ich bringe kein Wort über meine Lippen.
Ich nicke nur und folge Mrs Shark, die direkt auf die Eingangstür des Cafés zusteuert. An der Hausmauer ist eine schwarze Tafel angebracht, auf der in Großbuchstaben »Coffee to go« geschrieben steht. Durch das große Schaufenster kann ich nichts erkennen, die Vorhänge sind zugezogen. Zaghaft bleibe ich vor der Tür stehen. Das Hausnummernschild hängt schief. Noch ein weiterer Punkt auf meiner Renovierungs-to-do-Liste, bevor ich wieder nach Hause fliege. Was bald geschehen wird. Keine Woche werde ich es hier aushalten.
Mrs Shark sperrt auf und hält mir die Tür auf.