Winter im kleinen Cafe in den Highlands - Birgit Loistl - E-Book
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Winter im kleinen Cafe in den Highlands E-Book

Birgit Loistl

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Beschreibung

Willkommen im romantischsten Cafe Schottlands: Sie ist auffällig wie ein bunter Hund, aber nur er sieht sie wirklich. Für alle LeserInnen von Jenny Colgan, Kelly Moran & Susann Bowen »Jeder glaubt mich zu kennen, Henry, dabei kenne ich mich noch nicht einmal selbst.« Marcy Shark gilt mit ihren pinken Dreadlocks und ihren Tattoos als das schwarze Schaf in Duncan, doch sie hat das Herz am rechten Fleck und hilft jedem, der ihre Hilfe benötigt. Als ihr bester Freund Iain sie darum bittet, in seiner Bäckerei für ihn einzuspringen, sagt Marcy ohne zu zögern zu, obwohl sie gar nicht backen kann. Als sie dann auch noch dem attraktiven, aber arroganten Serien-Star Henry Lucas über den Weg läuft, ist das Chaos perfekt. Denn Marcy soll nicht nur ihn und die Produktionscrew mit Backwaren versorgen, sondern gilt plötzlich offiziell auch noch als Henrys neue Eroberung. »Sehr schöner Liebesroman für die kühlere Jahreszeit und zum Kuscheln auf der Couch in einem warmen Zimmer.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Tolle sympathisch und einprägsame Figuren, tolles Setting und viel Herz. Für mich ein tolles Buch, was Spaß macht.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Ich habe das Buch regelrecht verschlungen. Es ist ein richtiger Kuschelroman.« ((Leserstimme auf Netgalley)) 

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Redaktion: Birgit Förster

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Zitate

Playlist

1

2

Alles, was du brauchst, ist Glaube, Vertrauen und ein bisschen Feenstaub.

James Matthew Barrie

Für alle, die gesehen werden wollen.

Jemand sieht dich.

Playlist

A beautiful Lie – 30 Seconds to Mars

From yesterday – 30 seconds to Mars

Grenade – Bruno Mars

Bring Me to Life – Evanescence

That’s the Way Love Goes – Janet Jackson

Why Georgia – John Mayer

Famous Last Words – My Chemical Romance

I’m Not Okay – My Chemical Romance

Dynasty – MIIA

Manic Monday – Green Day

Can You Feel My Heart – Bring Me the Horizon

Everybody Talks – Neon Trees

Lights – Ellie Goulding

See You Again – Wiz Khalifa

Perfectly Imperfect – Declan J Donovan

Don’t Ask – Blood Red Shoes

Bad Liar – Imagine Dragons

Rescue Me – OneRepublic

Sad Song – We The Kings

Dirty Little Secret – The All-American Rejects

Ignorance – Paramore

Seven Nation Army – The White Stripes

1

Marcy

»Lauren veranstaltet tatsächlich eine Scheidungsparty?«, murmle ich und binde meine pinkfarbenen Haare zu einem Messy Bun zusammen. Mein Wecker hat aus unerklärlichen Gründen heute nicht geklingelt, und ich bin mal wieder viel zu spät dran. In weniger als zehn Minuten muss ich das Café öffnen, und dabei bin ich noch nicht einmal dazu gekommen, mir eine Schürze umzubinden. Geschweige denn, zu duschen und mich zu stylen. Aus den Lautsprechern ist leise Michael Bublés Stimme zu hören, wie er darüber singt, dass es ihm gut geht. Ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir behaupten.

Jack lehnt an der Kuchenvitrine und beobachtet mich stirnrunzelnd. Heute hat er seine Lederjacke gegen ein schwarzes Button-down-Hemd eingetauscht und die zimtbraunen Haare, die an den Spitzen noch feucht sind, unter einem Beanie versteckt. Ich ignoriere seinen kritischen Blick und mache mich an die Arbeit.

Noch acht Minuten.

Ich kann nur hoffen, dass sich heute der ein oder andere Gast in das Café verirrt und sich einen Coffee to go des Tages gönnt. Heute habe ich mich für einen Caramel macchiato entschieden und ihn auf die Tageskarte gesetzt.

Ich staple die zitronengelben und himbeerfarbenen Macarons auf eine Etagere und stelle sie in die Kuchenvitrine. Darin befinden sich bereits ein gedeckter Apfelkuchen, eine Buttercremetorte mit Marzipanstückchen, eine Schokoladentarte und frische Zimtrollen. Allein bei dem Anblick werde ich wieder schwach. Aber ich habe in der letzten halben Stunde schon so viele Macarons genascht, dass es mich nicht wundern würde, wenn Raelyn sie mir in Rechnung stellt.

Es ist verdammt schwer, standhaft zu bleiben, wenn man täglich in Versuchung geführt wird. Dabei habe ich mir bereits ein straffes Fitnessprogramm auferlegt, aber mit meiner Disziplin ist es nicht weit her.

Wenn es so weitergeht, werde ich mir eine neue Garderobe zulegen müssen.

Die Krümel, die sich auf meiner weißen No-Name-Bluse befinden, schüttle ich ab und blicke zu Jack, der mich immer noch beobachtet.

»Wie viele von diesen Dingern hast du schon gegessen?«

Ich zucke mit den Schultern und binde mir eine schwarze Schürze um, auf der in roter Schrift Iris geschrieben steht. »Keine Ahnung. Fünf oder sechs.« Okay, es waren neun. Ich habe diese Dinger praktisch inhaliert. Aber Jack würde mich nur damit aufziehen, deshalb diese kleine Notlüge. Es wäre nicht das erste Mal, dass er sich über mein Gewicht lustig macht.

»Du weißt, dass sie einen Zuckerschock auslösen können.« Ich verdrehe die Augen und stecke demonstrativ einen mintgrünen Macaron in den Mund. Ich kann es nicht ausstehen, wenn er den Gesundheitsapostel heraushängen lässt.

»Das zieht bei mir nicht«, murmle ich und schlucke das zuckersüße Zeug hinunter. Aber ein wenig muss ich Jack recht geben. Iain könnte sich wirklich eine kalorienreduzierte Variante davon überlegen. Vielleicht würde das auch sein Geschäft ankurbeln.

»Das ist nur eine Masche, um mich davon abzubringen, weiterzuessen. Du solltest sie probieren, sie sind echt lecker. Iain hat sich mal wieder selbst übertroffen.«

Jack verzieht angewidert das Gesicht und deutet auf seinen Becher. »Danke, ich bleibe bei meinem Kaffee. Schwarz und bitter wie meine Seele.«

Noch drei Minuten.

Grinsend schüttle ich den Kopf, hole einen Lappen unter der Verkaufstheke hervor und mache mich daran, die neuen Holztische abzuwischen. Das Iris gehört meiner Freundin Raelyn, die aus New York nach Duncan, einem kleinem Dorf mitten in den schottischen Highlands gekommen ist, um das Café zu verkaufen, das sie von ihrer leiblichen Mutter geerbt hatte. Aber während ihres Aufenthalts hier hat sie nicht nur Duncan lieben gelernt, sondern auch Colin, der in einem der Fremdenzimmer hier im Haus gelebt hat. Nun sind die beiden verheiratet und haben eine acht Monate alte Tochter namens Gwendolyn.

Wann immer es mir möglich ist, helfe ich im Iris aus. Mittlerweile ist das Café mein zweites Zuhause geworden. Ich glaube sogar, ich hab im letzten Jahr öfter hier in einem der Sitzsäcke geschlafen als in meinem eigenen Bett.

Letzten Sommer haben Rae und Colin beschlossen, umzubauen und die Wand, die direkt an Iains Bäckerei angrenzt, eingerissen und einen Durchgang geschaffen. Jeder Kunde, der sich nun in der Bäckerei aufhält, kann einen Blick in das Café werfen. Im Gegenzug ist es Rae jetzt auch möglich, die Kunden, die sich an den Stehtischen in der Bäckerei befinden, zu bedienen, wenn Iain gerade mal alle Hände voll zu tun hat. Allerdings ist das in den letzten Monaten eher selten vorgekommen.

Den hinteren Teil des Cafés, der mit meterhohen Regalen und einem Wintergarten ausgestattet ist und hauptsächlich als Leseoase dienen soll, haben sie allerdings nicht verändert. Er ist noch genauso nostalgisch, wie Iris, Raes leibliche Mutter, ihn hinterlassen hat. Schwarz-Weiß-Fotografien an den Wänden, dazwischen ein alter französischer Spiegel und ein Meer von Büchern.

Raes Wohnung, in der früher ihre Mutter gelebt hat, wurde um zwei Zimmer erweitert, sodass Colin, Gwendolyn und Rae nun genug Platz zu dritt dort haben. Nur zwei Fremdenzimmer sind übrig geblieben, die Rae ihrem Besuch zur Verfügung stellen oder bei Bedarf auch an Gäste vermieten möchte. Sollten sich doch mal wieder ein paar Touristen nach Duncan verirren.

Jack schüttelt den Kopf und nippt an seinem Becher Kaffee. Dabei lässt er mich nicht aus den Augen. »Du findest die Idee mit der Party nicht gut?«

Ach ja, die Party. Die hatte ich ganz vergessen.

»Na ja, eine Scheidungsparty ist irgendwie befremdlich, findest du nicht?«, murmle ich, während ich die Stühle zurechtrücke und die leuchtend roten Vorhänge aufziehe. Ich krame in meiner Tasche nach dem Schlüssel und sperre die Tür auf. Aber wie vermutet, ist weit und breit kein Gast zu sehen. Vielleicht darf ich auch nicht zu viel erwarten. Es ist früh am Morgen, und es hat die ganze Nacht geschneit. Die Straßen sehen aus wie mit Puderzucker überzogen.

Ich trete hinaus und blicke mich um. Das Licht der Straßenlaterne vor dem Iris flackert in unregelmäßigen Abständen. Fast, als wollte sie ein SOS-Notsignal abgeben. Ich puste mir in die Hände und reibe sie aneinander. Die am Straßenrand parkenden Autos sind komplett mit Schnee bedeckt. Ein langweiliger, trister Novembermorgen. Genau das brauche ich jetzt noch.

Ich gehe zurück ins Iris und schließe die Tür. Vielleicht sollte ich für heute auch einen Tea to go auf die Tafel schreiben. Bei diesen arktischen Temperaturen gönnt sich sicherlich der ein oder andere eine schöne heiße Tasse Tee.

Jack steht immer noch an der Kuchenvitrine und wartet auf mich. Mist!

»Wo waren wir stehen geblieben?«

»Wir haben über Laurens Party gesprochen«, sagt er und nippt an seinem Becher.

Stimmt. Die Party.

»Ich finde, Lauren sollte traurig darüber sein, dass ihre Ehe mit Jeremiah zerbrochen ist. Wer kommt denn auf die Idee, seine Scheidung zu feiern?«

Ich ziehe den Lappen aus meiner hinteren Jeanstasche und beginne die alte Jukebox, die Colin vor ein paar Wochen auf einem Flohmarkt erstanden hat, abzuwischen. Sie unterstreicht den nostalgischen Flair des Cafés noch. Ich habe mich sofort in sie verliebt. Bisher hat nur noch niemand herausgefunden, wie sie funktioniert.

Dass Lauren und Jeremiah sich scheiden lassen, war für mich eine ziemliche Überraschung. Im Grunde genommen für alle hier aus dem Ort. Niemand hatte auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, dass die beiden glücklich miteinander waren. Aber so ist das in einem Dorf wie Duncan. Einer für alle und alle für einen. Jeder hier möchte Lauren unter die Arme greifen, nachdem Jeremiah nach Edinburgh gezogen ist. Nur leider bleiben hier Geheimnisse auch nicht lange geheim.

Niemand von uns wusste, wie es um die Ehe von Lauren und Jeremiah stand. Nach außen hin galten sie als das perfekte Paar, doch hinter der Fassade bröckelte bereits der Putz. Jack greift nach einem Scone, den ich vor wenigen Minuten in einem Korb angerichtet habe, und beißt hinein.

»Jemand, der nach vorn blickt und die Vergangenheit hinter sich lassen möchte«, brummt er mit vollem Mund.

»Sie und Jeremiah haben sich auseinandergelebt. Und soweit ich weiß, geht er seit ein paar Wochen mit einer heißen Krankenschwester aus. Er ist also auch kein Kind von Traurigkeit.« Er zwinkert mir zu und tunkt den Scone in seinen Kaffee. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Auch wenn ich eine offensichtliche Vorliebe für Kuchen habe, habe auch ich meine Grenzen.

»Du darfst das nicht so verbissen sehen, Marcy. Schon Konfuzius hat gesagt: Wo sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere.« Als ich seine Worte höre, zieht sich etwas in meinem Magen zusammen.

»Das Zitat stammt von Molière«, murmle ich und reiche ihm eine Serviette.

»Ist doch vollkommen egal. Ich will dir nur sagen, dass Lauren mit dem Thema abschließen will. Warum an etwas festhalten, dessen Haltbarkeitsdatum bereits abgelaufen ist?« Ich hole ein paar weitere Servietten hervor und beginne sie zu falten.

»Weil sie sich einmal geschworen haben, gemeinsam durch dick und dünn zu gehen. Ich finde den Gedanken schrecklich, so austauschbar zu sein.«

Jack stellt den Kaffeebecher ab, geht um die Theke herum und bleibt vor mir stehen. Er legt die Hände um meine Taille und zieht mich an sich.

»Dick und dünn – du meinst, so wie wir beide.« Ich erstarre bei seiner Bemerkung, während Jack nur über seinen eigenen Witz lacht. Er nimmt eine meiner pinkfarbenen Locken in die Hand und zwirbelt sie um seinen Finger.

»Entspann dich, Pinkie Pie. Das war ein Witz. Du weißt, dass ich jedes Gramm an dir liebe. Und du musst dir auch keine Sorgen machen. Für mich bist du einmalig.« Ich ignoriere den so verhassten Spitznamen und auch die Tatsache, dass er immer wieder Witze auf meine Kosten macht und es danach so darstellt, als würde er über mein Gewicht hinwegsehen. Obwohl ich weiß, wie unnötig es ist, ziehe ich instinktiv den Bauch ein, als seine Hand an meiner Taille hinabwandert und auf meinem Hintern liegen bleibt.

Er grinst, dann zieht er mich noch näher zu sich heran und küsst mich. Seine Zähne knabbern an meinem Lippenpiercing, und sanft zieht er daran. Obwohl ich immer noch über seine Worte verletzt bin, genieße ich die zarte Berührung, ehe er den Kuss unterbricht und sich seine Lippen zu einem spitzbübischen Lächeln formen.

»Hast du heute Abend schon etwas vor?« Er spielt mit den Fingern an den Knöpfen meiner Bluse.

»Wir könnten uns einen Film ansehen und danach noch ein wenig Spaß haben.« Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle. Ich weiß genau, wie der Abend zu Ende gehen wird. Wir landen im Bett, und wenn ich nachts aufwache, ist Jack verschwunden. Danach höre ich ein paar Tage nichts von ihm, bis es wieder von vorn losgeht. So läuft das schon seit fünf Jahren mit uns, und ich bin es mittlerweile leid.

»Ich habe Quentin versprochen, ihm in der Bar zu helfen.« Das ist keine Lüge, aber während ich früher immer ein schlechtes Gewissen hatte, wenn ich Jack absagen musste, stört es mich jetzt seltsamerweise nicht mehr.

Jack legt den Kopf in den Nacken und stöhnt auf.

»Himmel, Marcy. Könntest du vielleicht mal aufhören, immer so verdammt hilfsbereit zu sein?«

Irritiert löse ich mich von ihm und gehe einen Schritt zurück. »Wie meinst du das?«

Sichtlich genervt schüttelt er den Kopf. »Genau so, wie ich es gesagt habe. Ständig hilfst du jemandem. Rae im Café, Quentin im Ginnie’s, Iain in der Bäckerei. Du kümmerst dich um deine Tante, und vorgestern hast du sogar auf Gwendolyn aufgepasst, damit Rae und Colin in dieses neue Restaurant in Westhill fahren konnten.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust und funkle ihn an. »Na und? Was ist falsch daran, anderen zu helfen?«

»Du selbst bleibst dabei vollkommen auf der Strecke.«

»Das ist absoluter Unsinn«, entfährt es mir. Jack ist nur eingeschnappt, weil ich ihn versetze. Mit Zurückweisung kommt er nicht sonderlich gut klar.

»Nicht? Okay. Dann erklär mir, warum du dein Studium abgebrochen hast. Und den Job bei deinem Dad hast du auch nicht angenommen.«

Ich schlucke, sage aber kein Wort. Dabei weiß ich ganz genau, dass es einen anderen Grund dafür gibt, warum ich meinem Dad gesagt habe, dass ich auf keinen Fall in seiner Firma als Marketingassistentin arbeiten werde. Von meinem Studium will ich gar nicht erst reden. Internationales Management schien mir einfach nicht der geeignete Studiengang für mich zu sein.

»Warum sollte ich einen Job annehmen, der mir nicht gefällt?«

»Das ist ja das Problem. Du hast überhaupt keine Ahnung, was dir gefällt. Weil du bisher gar keine Zeit hattest, dich damit zu befassen. Du musst ja ständig irgendwelchen Leuten helfen.«

»Das sind nicht irgendwelche Leute. Es sind unsere Freunde.«

»Mag sein, aber manchmal muss man erkennen, wenn man ausgenutzt wird.«

Seine Worte versetzen mir einen Stich.

»Niemand nutzt mich aus. Ich biete ihnen meine Hilfe von allein an.«

»Wirklich? Oder machst du das nur, damit du dich nicht damit auseinandersetzen musst, was du wirklich mit deinem Leben anfangen willst?«

Müde fahre ich mir über das Gesicht, als könnte ich so meine Sorgen wegwischen. »Ich bin nicht du, Jack. Autos zu reparieren war schon immer dein Ding. Du hast noch nie auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, dass du die Werkstatt deines Vaters übernehmen willst. Aber ich habe andere Pläne.«

Er zieht eine Augenbraue nach oben und mustert mich mit diesem Blick, den ich so sehr verabscheue. Es ist eine Mischung aus Spott und Unglauben.

»Etwa Theater spielen?«, äfft er.

Ich richte mich kerzengerade auf. Eine alberne Geste, trotzdem kann ich nicht anders. Bei Jack habe ich immer das Gefühl, mich verteidigen zu müssen. »Ganz richtig.«

»Es wird nicht umsonst brotlose Kunst genannt. Weil man dabei verhungert.«

Ich kann diese Worte nicht mehr hören. Es ist jedes Mal dasselbe.

»Eigentlich sollte es deine Aufgabe sein, mich zu unterstützen.«

»Nein, meine Aufgabe sollte es sein, dir diesen Schwachsinn auszureden, damit du dich auf vernünftige Dinge konzentrieren kannst.« Vielleicht ist jetzt der richtige Augenblick, die Bombe platzen zu lassen. Störrisch hebe ich das Kinn.

»In zwei Tagen findet in Glasgow ein Vorsprechen statt.«

Jack runzelt die Stirn. Ich kann das Fragezeichen darauf förmlich sehen. Ich spreche sofort weiter, damit er gar nicht erst auf die Idee kommt, mich zu unterbrechen.»David Long sucht für sein aktuelles Theaterstück eine neue Besetzung, und Hannah hat einen Artikel in der Zeitung entdeckt, deshalb …«

»Moment …«, würgt Jack mich ab und hebt seine rechte Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. »Du willst zu einem Vorsprechen? Für ein Theaterstück?«

»Genau.« Meine Stimme klingt viel selbstbewusster, als ich bin. Ich weiß, was Jack davon hält. Dasselbe wie Dad. Nachdem ich mein Studium an den Nagel gehängt habe, strich er mir jegliche finanzielle Unterstützung.

Schau, wie du selbst klarkommst, Marcelyn.

Tante Rose wird auch nicht begeistert sein von dieser Idee, aber wenigstens redet sie es mir nicht aus. Ich bin noch nicht so weit, diesen Traum fallen zu lassen. So verrückt es auch klingt.

»Das ist doch kompletter Schwachsinn!« Bei seinen Worten zucke ich kurz zusammen, aber er scheint es nicht zu bemerken. Stattdessen kommt er auf mich zu und legt mir die Hände auf die Schultern.

»Nur weil du vor Jahren mal die Hauptrolle in einem Theaterstück gespielt hast, heißt das noch nicht, dass du deinen Lebensunterhalt damit verdienen kannst.«

»Du hörst dich an wie mein Vater.«

»Und er hat verdammt recht damit. Du hast überhaupt keine vernünftige Perspektive. Und wir wissen beide, dass du dir eine Schauspielschule niemals leisten könntest.«

Dass man bei diesem Vorsprechen auch ein Stipendium für die beste Schauspielschule Schottlands erhält, sollte man gewinnen, erwähne ich nicht.

»Außerdem hast du bei diesem Casting vermutlich eh keine Chance. Die haben sicherlich alle Unmengen an Erfahrung. Und …«

Er stockt, dann schüttelt er kurz den Kopf, als wolle er sich selbst bremsen, weiterzureden.

»Was? Sprich weiter!«

Er sieht mich mit diesem Blick an, den ich so sehr hasse. Als würde er mich bemitleiden.

»So toll war deine Leistung in dem Theaterstück nun auch wieder nicht.« Er meint es nicht so. Er ist nur aufgebracht. Trotzdem kann ich den Schmerz, den seine Worte in mir auslösen, nicht ignorieren.

Jack gehört zu den Menschen, die man als Elefant im Porzellanladen bezeichnen würde. Empathie war noch nie seine Stärke. Aber mit diesem Satz hat er mich mehr verletzt als in all den Jahren, die wir uns kennen.

Ich bemühe mich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Auf keinen Fall werde ich ihm zeigen, wie sehr mir seine Worte wehgetan haben.

Es war eine Inszenierung der Theatergruppe in Westhill, und gemeinsam führten wir eine moderne Version von Tennessee Williams’ Die Katze auf dem heißen Blechdach auf. Auch wenn Jack es jetzt so herunterspielt, ich war die perfekte Maggie. Es gibt keine Figur, die mich so inspiriert hat wie sie. Manchmal träume ich davon, wieder auf der Bühne zu stehen. Die Blicke der Zuschauer auf mir zu spüren. Theaterluft zu atmen. Aber die Schauspielgruppe wurde vor einem Jahr aufgelöst, und seitdem hat sich keine Möglichkeit mehr für mich ergeben, weiterzuspielen. Trotzdem werde ich mich von Jack nicht unterkriegen lassen.

»Na und? Ich werde es auf jeden Fall versuchen. Egal, was du davon hältst.« Aber ein wenig Zuspruch wäre nett gewesen.

Es ist nicht so, dass ich keinen Plan B habe, wenn das mit dem Theaterspielen nicht klappen sollte, trotzdem hoffe ich, dass ich ihn nicht brauche. Ich habe so lange auf diese Chance gewartet, dass ich sie mir von Jack nicht kaputt machen lassen werde.

»Du weißt, was ich davon halte. Und Rose wird dir dasselbe sagen, aber bitte …« Er hebt die Hände, als würde er aufgeben. »Wenn du in dein Unglück rennen willst.«

Das war nicht, was ich hören wollte. Dass er mir Glück wünscht, wäre schön gewesen. Oder dass er an mich glaubt. Aber vermutlich ist das zu viel verlangt.

Gerade als ich noch etwas sagen möchte, klingelt mein Handy.

Ich seufze, trete einen Schritt zurück und hole es aus meiner Tasche. Eine Nachricht von Tante Rose. Mist! Nervös lese ich sie. Als ich heute Morgen die Wohnung verlassen habe, lag sie noch immer in ihrem Bett und schlief tief und fest. Im ersten Moment wunderte ich mich darüber, denn Tante Rose ist der Inbegriff eines Morgenmenschen, aber dann dachte ich, dass sie vielleicht nachts nicht gut geschlafen hatte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, sie allein zu Hause zu lassen, deshalb bat ich Janet Greene, ihre Nachbarin, später bei ihr vorbeizuschauen.

»Was ist los?« Jack greift noch mal nach einem Scone und tunkt ihn in den mittlerweile kalten Kaffee.

»Tante Rose braucht dringend ihre Tabletten, aber ich kann hier nicht einfach so weg.«

»Was ist mit Rae? Kann sie deine Schicht nicht übernehmen?«

»Sie ist vor einer Stunde nach St. Clara gefahren, um ihren Großvater zu besuchen.«

Er schürzt die Lippen und lehnt sich an die Theke.»Und Colin?«

Ich ziehe eine Augenbraue nach oben und blicke ihn fragend an. »Was glaubst du wohl? Er passt in der Zwischenzeit auf Gwendolyn auf.«

»Kennst du niemand anderen, der zu Dr. Kendall fahren könnte?«

Stirnrunzelnd blicke ich ihn an. »Was ist mit dir?«

Er hebt beschwichtigend die Arme. »Tut mir leid, Pinkie Pie, aber ich kann nicht.«

»Warum nicht?«

Er zieht sein Handy aus der Jackentasche und wirft einen Blick darauf. »Ich habe gleich ein Date mit einem Mustang, Baujahr 1964. Den kann ich unmöglich warten lassen. Ich bin praktisch schon weg.«

Warum wundert mich das nicht? Es ist so typisch für Jack, dass er irgendeinen Wagen als Ausrede benutzt.

Aber ich habe keine Lust mehr, mit ihm darüber zu streiten.

»Okay, dann frage ich Iain.«

»Mach das«, murmelt er und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.

»Was hältst du eigentlich von meiner Idee?«

Irritiert blicke ich ihn an. Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. »Welche Idee?«

»Von der ich dir erzählt habe. Wegen Laurens Scheidungsparty.«

Ich habe immer noch keinen blassen Schimmer, wovon er spricht. Aber mein Handy vibriert schon wieder in meiner Tasche. »Ist bestimmt super!«, murmle ich und werfe einen Blick auf das Display.

»Finde ich auch. Dann werde ich mal Lauren Bescheid geben.« Und noch bevor ich fragen kann, was er wirklich damit meint, ist er auch schon verschwunden.

Der Duft von warmen Scones, Muffins und frisch gebackenem Brot liegt in der Luft, und schon wieder beginnt mein Magen zu knurren.

Ich werfe einen Blick aus dem Schaufenster und entdecke Jack, der vor dem Café steht und sich mit Lauren Walker unterhält. Er scheint es nicht mehr eilig zu haben, zu seinem Wagen zu kommen.

Weit und breit ist kein einziger Kunde zu sehen. Iain ist gerade dabei, ein Blech Croissants aus dem Ofen zu holen.

»Guten Morgen«, sage ich und hole einen Korb aus dem Regal.

»Es ist fast Mittag«, murmelt er und schiebt ein neues Blech in den Ofen.

»Ist es nicht.«

»Für mich schon. Ich bin seit 4 Uhr morgens auf den Beinen«, erklärt er mir, ohne mich dabei anzusehen.

»Oh, oh, da hat ja jemand heute gute Laune. Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«

Er dreht sich zu mir um und presst die Lippen aufeinander. Ich kenne meinen besten Freund gut genug, um zu spüren, dass er etwas auf dem Herzen hat, auch wenn ich weiß, dass ich ihm alles aus der Nase ziehen muss.

Zu meiner Überraschung ist das heute jedoch nicht der Fall.

»Die Bank will den Kredit nicht verlängern.«

Bevor Rae das Café ihrer Mom übernommen hat, ist sie zurück nach New York geflogen mit dem Plan, Duncan für immer zu verlassen. Damals überließ sie Iain einen Scheck über eine Stange Geld, aber leider nicht genug, um den gesamten Kredit zurückzahlen zu können. Wenn die Bank sich weigert, ihn zu verlängern, müsste Iain die Bäckerei verkaufen, damit würde alles den Bach runtergehen.

»Das ist übel.«

»Kannst du laut sagen.«

»Weiß Rae es schon?«

Er schüttelt den Kopf. »Sie hat momentan genug um die Ohren. Du kennst sie doch, ich will ihr das nicht auch noch aufbürden.«

»Sie bringt dich um, wenn sie herausfindet, dass du es ihr verschwiegen hast.«

Er zuckt zusammen und wird ein bisschen blasser um die Nase, dann verhärtet sich seine Miene.

»Das ist mir egal. Ich werde das Problem irgendwie allein lösen.«

»So wie damals mit Dunn?«

Er schluckt, und sofort überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Es ist nicht fair von mir, ihn damit zu konfrontieren.

Vor fünf Jahren gab es eine Brandserie in Duncan, und die Polizei verdächtigte einen kurzen Moment Iain. In seiner Angst ging er auf einen Deal mit Bürgermeister Archie Dunn ein, der es vor allem darauf angelegt hatte, Iain damit zu erpressen.

»Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen.«»Es ist schon in Ordnung. Aber nein, diesmal werde ich das Ganze selbst in die Hand nehmen.«

»Du solltest zumindest Colin einweihen.«

Iain schüttelt den Kopf. »Damit er es vor Rae geheim halten muss? Nein, auf keinen Fall.« Er runzelt die Stirn und starrt auf den Korb in meiner Hand.

»Du solltest ins Café gehen. Es reicht, wenn einer von uns bis zu den Schultern in Schulden steckt.«

Ich seufze, gebe ihm den Korb und warte, bis er ihn mit frischem Gebäck gefüllt hat. Schokoladencroissants, Scones und Cookies.

Er reicht ihn mir und lächelt mich an. Aber ich kann Traurigkeit darin sehen.

»Ich krieg das allein hin, Marcy. Mach dir keine Sorgen.« Ich nicke, dennoch bekomme ich die Gedanken nicht mehr aus meinem Kopf. Ich kenne Iain. Es muss schon die Welt untergehen, damit er über seinen Schatten springt und jemanden um Hilfe bittet.

»Kann ich dich um einen Gefallen bitten?«, wechsle ich das Thema. »Ich muss kurz zu Dr. Kendall und Tabletten für meine Tante abholen. Meinst du, es wäre möglich, dass du ein Auge auf das Café hast, bis ich wieder zurück bin?«

»Klar, kein Problem. Es ist sowieso kaum etwas los.« Der wehmütige Unterton in seiner Stimme entgeht mir nicht. Ich würde ihm so gerne helfen, aber ich weiß nicht, wie.

»Danke. Du hast was gut bei mir.« Ich zwinkere ihm zu, und er nimmt die Schürze ab. Wenn man Rae und Iain sieht, erkennt man auf den ersten Blick nicht, dass sie, wie Hannah und ich, Halbgeschwister sind. Nachdem Iris Donnerly Rae zur Adoption freigegeben hatte, bekam sie mit ihrem Ehemann Scott Iain. Während er sein ganzes Leben von Rae wusste, erfuhr sie erst vor einem Jahr von seiner Existenz. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten verstehen die beiden sich aber mittlerweile echt gut.

»Keine Ursache.«

Dann deute ich auf das Café. »Ich beeile mich.«

»Bis später.«

Ich drehe mich um, hole meine Tasche aus dem Café und mache mich auf den Weg zu Dr. Kendall.

2

Marcy

»Tante Rose?«

Der Gestank von verbrannter Milch versetzt mich in Panik, als ich die Wohnungstür hinter mir schließe. Ob ihr etwas zugestoßen ist? Ihre Nachricht klang ziemlich dringend. Nicht, dass ich mir zu viel Zeit gelassen habe, aber das Wartezimmer bei Dr. Kendall war ungewöhnlich voll. Anscheinend macht gerade eine Lebensmittelvergiftung die Runde, und Lindsay Rowe, seine Sprechstundenhilfe, war gerade dabei, Protokoll zu führen, um den Ursprung herauszufinden.

»Tante Rose?«, wiederhole ich noch mal, diesmal klingt meine Stimme noch eine wenig panischer. Auf einmal wirbeln verschiedene Bilder vor meinem geistigen Auge umher. Tante Rose bewusstlos am Boden. In der Badewanne. Im Bett. Denk logisch, Marcy. Dann hätte sie dir keine Nachricht mehr schreiben können, und es würde hier auch nicht nach verbrannter Milch stinken.

»Hallo?«

James, der graue Main-Coon-Kater von Tante Rose, schleicht aus ihrem Schlafzimmer, wickelt seinen Schwanz um meine Beine und maunzt leise. Ich nehme ihn in den Arm, und sofort reibt er sich an mich.

»Na? Hast du Tante Rose gesehen?« Er reagiert überhaupt nicht, stattdessen schließt er die Augen und genießt die Streicheleinheiten.

Ruhe bewahren. Es nutzt niemandem etwas, wenn ich in Panik gerate. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Ich setze James auf den Boden und mache mich weiter auf die Suche.

»Tante Rose?«

Als ich einen Blick in die Küche werfe, sehe ich sie in ihrem blassrosa Morgenmantel in der Küche stehen. Sie ist gerade dabei sich eine Tasse Tee aufzubrühen. Ihre frisch gefärbten braunen Haare sind auf klopapierrollengroße Lockenwickler gedreht. Und sie trägt Kopfhörer. Erleichtert gehe ich zu ihr und tippe ihr vorsichtig auf die Schulter. Sie hebt den Kopf, blickt mich überrascht an und nimmt die Kopfhörer ab.

»Marcy? Ist was passiert? Du bist ja ganz außer dir.«

Ich lege die Tabletten auf den Esstisch und lasse mich auf einen Stuhl fallen.

»Es geht dir gut«, stelle ich erleichtert fest.

Verwirrt blickt sie mich an. »Aber natürlich. Warum sollte es mir denn nicht gut gehen?«

»Ich habe deine Nachricht gelesen. Sie klang ernst.«

Tante Rose seufzt laut auf. »Die Nachricht hat Janet geschrieben. Vielleicht hat sie ein wenig übertrieben. Du kennst doch ihren Hang zum Drama.«

Das überzeugt mich noch nicht ganz. »Sie kam von deinem Handy.«

Tante Rose stellt mir eine Tasse hin und setzt sich neben mich an den Tisch. Behutsam legt sie ihre knöchrige Hand auf meine. Sie fühlt sich kalt an. »Sie war zu Besuch und hat nach dem Rechten gesehen. Worum du sie gebeten hattest.« Sie wirft mir einen strengen Blick zu, den ich aber gekonnt ignoriere. Sie ist jetzt nicht in der Position, mir deshalb Vorhaltungen zu machen.

»Ich habe ihr gesagt, sie soll dir eine Nachricht schreiben. Es tut mir leid, dass ich dich damit beunruhigt habe.«

»Schon gut«, murmle ich und greife nach einem Schokoladenkeks, der sich in einer Schale auf dem Tisch befindet. Nervennahrung ist jetzt genau das Richtige.

»Warum stinkt es hier nach verbrannter Milch?«

»Ich habe sie vergessen, als ich ins Bad gegangen bin.«

Ich schüttle den Kopf, sage aber nichts weiter dazu. Tante Rose ist dreiundsechzig Jahre alt und gehört noch nicht zum alten Eisen. Vermutlich war es nur ein Versehen. Trotzdem kann ich meine Sorge um sie nicht einfach ignorieren. Tante Rose ist meine Familie. Im Grunde genommen ist sie die Einzige, die mir noch geblieben ist. Wir sind füreinander verantwortlich.

»Ich muss zurück ins Iris. Iain hat für mich übernommen.«

»Ein paar Minuten wirst du schon noch haben. Trink eine Tasse Tee, und ruh dich ein wenig aus. Du arbeitest sowieso zu viel.«

Schmunzelnd greife ich nach der Tasse, die sie mir hinhält, und nippe daran.

»Du musst das nicht tun, Marcy.«

Irritiert blicke ich sie über den Rand meiner Tasse an.

»Was meinst du?«

»Dich um mich kümmern. Du solltest es nicht als deine Pflicht betrachten, all diese Dinge für mich zu tun.«

Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle. Tante Rose ist die Mutter, die ich nicht hatte, nachdem meine eigene Mom aus Duncan weggezogen ist, um sich mit ihrem neuen Partner Pete ein anderes Leben aufzubauen. Sie hat ihr neues Leben mir vorgezogen. Ihrem einzigen Kind.

Tante Rose war es, die mich damals gewollt hat.

Die ihr eigenes Leben hinten angestellt hat, um sich um ihre achtjährige Nichte zu kümmern.

Und ich war weiß Gott kein einfaches Kind.

Ich greife nach ihrer Hand und drücke sie. Sie ist kalt und knochig, und auf ihrem Handrücken sind unzählige Altersflecken zu sehen. Und sie fühlt sich so vertraut an.

»Ich mach das gerne. Du hast dich auch um mich gekümmert.«

»Du warst so ein bezauberndes Kind, Marcy. Und auch wenn es auf den ersten Blick so ausgesehen hat, dass ich dich bei mir aufgenommen habe, so war es letztendlich doch so, dass du bei mir geblieben bist. Bei deiner alten, schrulligen Tante.«

Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen.

»Weißt du, man sagt immer, man kann sich Familie nicht aussuchen. Aber das stimmt nicht. Wir haben einander ausgesucht.«

Sie lächelt, und ich sehe, wie ihre Augen schimmern.

Wenn wir beide nicht losheulen wollen, muss ich das Thema wechseln.

»Was hast du heute noch vor?«

Sie nickt, zwingt sich zu einem Grinsen und stemmt sich hoch. Ohne ein Wort zu sagen, schlendert sie zum Kühlschrank, öffnet das oberste Fach des Gefrierschranks und holt etwas heraus.

Ben & Jerry’s Caramel. Dabei ist noch nicht einmal Mittag. Iain darf ich das nicht erzählen.

»Damit werde ich es mir auf der Couch gemütlich machen und die nächste Staffel War of Kingdoms ansehen.«

Ein strahlendes Lächeln umspielt ihre Lippen.

Diesmal bin ich es, die laut auflacht, während die Wangen meiner Tante etwas röter werden.

»Tante Rose«, sage ich in diesem Ton, den ich als Kind immer zu hören bekam, wenn sie mich bei etwas Verbotenem erwischt hatte.

»Du siehst dir eine Serie mit halbnackten Männern an, die sich gegenseitig die Köpfe einschlagen, nur um das Herz einer Frau zu gewinnen?«

»Ach«, winkt sie ab, »sie ist so viel mehr als das. Da geht es um Intrigen, um Mord und um Liebe.« Beim letzten Wort wirft sie mir einen sehnsüchtigen Blick zu.

Ich gebe zu, ich habe die Serie noch nie gesehen. Aber sie wird in den Medien in den Himmel gehoben, und der Hype ist enorm.

Tante Rose steht auf und tätschelt dabei meine Hand. »Du solltest sie dir wirklich mal ansehen. Du könntest eine Menge lernen.«

»Was soll das denn heißen?«

»Für die Erfüllung seiner Träume muss man kämpfen.«

»Wer hat das gesagt?«

»Valerius Baron.«

»Muss man den kennen?«

Sie zeigt mit dem Finger auf mich. »Genau aus diesem Grund solltest du dir diese Serie ansehen.«

Dann lächelt sie mich an. »Du solltest zurück ins Café gehen und Iain ablösen. Ich werde mich jetzt frisch machen.«

Ich blicke ihr nach, bis sie in ihrem Schlafzimmer verschwunden ist.

Ich habe keine Ahnung, was ich mit der Information anfangen soll.

3

Marcy

Immer wieder werfe ich einen Blick in die Bäckerei. Iain hat sich vor einer halben Stunde auf den Weg nach Westhill gemacht, um sich dort mit seinem Bankberater zu treffen, und hat die Bäckerei in der Zwischenzeit geschlossen. Ich kann seine Sorgen verstehen. Die Bäckerei läuft noch schlechter als das Iris. Was vermutlich auch daran liegt, dass die Leute mittlerweile lieber nach Westhill in den neuen Supermarkt fahren, sich dort mit frischem Brot und Gebäck versorgen und sich nach einem Einkaufsbummel eine Tasse Kaffee gönnen. Die wenigsten besuchen noch das Iris oder holen sich in der Bäckerei einen Scone.

Vor ein paar Tagen habe ich einen Blick in die Bilanzen geworfen. Im Grunde genommen kenne ich mich damit nicht aus, aber Rae hat es mir ein wenig erklärt. Wenn es den beiden nicht bald gelingt, das Café und die Bäckerei aus den roten Zahlen zu holen, müssen sie wohl verkaufen. Das Geld, das Rae aus der Erbschaft ihrer Adoptiveltern erhalten hat, wurde dafür benutzt, um Iains Kredit bei Archie Dunn zurückzuzahlen. Aber ganz hat es wohl nicht gereicht, und nachdem die Touristen in den letzten Monaten kaum noch einen Weg nach Duncan finden, sieht es immer schlechter aus. Nicht nur Rae und Iain haben damit zu kämpfen, auch alle anderen könnten ein wenig Unterstützung gebrauchen. Lauren mit ihrem Antiquitätengeschäft, Kate und ihr Friseursalon und auch Brenda mit ihrem Gemischtwarenhandel.

Aus dem ersten Stock höre ich ein lautes Scheppern. Verwirrt blicke ich nach oben und sehe Rae die Treppen hinunterlaufen.

Auf ihrer Hüfte trägt sie Gwen, die laut gluckst, während Rae in der anderen Hand einen Koffer die Stufen hinabzieht. Ich halte mittendrin inne und drehe mich zu ihr herum.

»Willst du verreisen?«

»Nein. Umziehen«, stöhnt sie und stellt den Koffer neben der Eingangstür ab.

Wieder lautes Geschepper. Diesmal ist es Colin, der ebenfalls die Treppen hinunterpoltert und in jeder Hand einen Koffer trägt.

»Umziehen?«, frage ich verblüfft und sehe abwechselnd von Rae zu Colin. »Habe ich etwas verpasst?« Für einen Moment macht sich Panik in mir breit. Trennen die beiden sich etwa auch wie Lauren und Jeremiah?

Colin verdreht die Augen und stellt die Koffer neben seiner Frau ab.

»Meine Frau ist eine Verräterin.«

Rae schnappt nach Luft und boxt Colin in die Schulter. Gwen scheint das zu gefallen, denn sie gluckst lauter.

»Ich bin keine Verräterin. Aber wenn Henry Lucas hier wohnen wird, werde ich …« Okay, irgendetwas habe ich hier wohl nicht mitbekommen.

»Hab ich was verpasst? Wer ist Henry Lucas?«

»Danke«, seufzt Colin und streckt mir seine Hand entgegen, die ich stirnrunzelnd einschlage. »Ich dachte schon, ich bin der Einzige, der den Kerl nicht kennt.«

Rae schnaubt und wischt sich eine weißblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. »Henry Lucas alias Valerius Baron. Sag bloß, du bist genauso ein Banause wie Colin? Ich hätte nicht gedacht, dass es noch ein Lebewesen auf dieser Welt gibt, das War of Kingdoms nicht kennt.« Seufzend lasse ich den Kopf sinken. Mir fällt das Gespräch mit Tante Rose wieder ein.

»Ich habe nie behauptet, dass ich die Serie nicht kenne. Mord, Intrigen, nackte Männer und heißer Sex, wie Tante Rose es nennen würde. Ziemlich einfallslos, wenn du mich fragst, aber anscheinend ein Quotengarant. Tut mir leid, aber ich steh nicht so auf dieses Fantasygedöns.«

Colin bricht in schallendes Gelächter aus, während Rae entsetzt die Augen aufreißt. »Das ist nicht nur so ein Fantasygedöns. Allein die Bücher sind regelmäßig auf der Bestsellerliste.«

Ich zucke mit den Schultern. »Bücher sind auch nicht so mein Ding.« Das stimmt zwar so nicht, aber das ist momentan nicht wichtig. »Aber was hat das mit dem Iris zu tun?«

Jetzt ist es Colin, der mich überrascht anstarrt. »Hast du es noch nicht gehört? Der halbe Ort spricht davon. Sie beginnen hier in den nächsten Tagen mit den Dreharbeiten für die dritte Staffel, und gestern hat sich die Managerin von Henry Lucas gemeldet und zwei Zimmer reserviert.«

»Hier? Ausgerechnet in Duncan?«

»Der Regisseur ist ein Schulfreund vom alten Dunham. Er hat ihn auf die Idee gebracht, ein paar Szenen in den Highlands zu drehen.«

»Und wo wollt ihr hinziehen?«

»Zu Brenda«, meldet sich Colin, »sie hat uns angeboten, die nächsten Wochen bei ihr zu wohnen.« Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wenn ich meinen Flug noch erwischen will, müssen wir uns beeilen.«

»Du fliegst weg?«

»Für drei Tage nach Dublin. Ich muss an einem Workshop teilnehmen.« Colin ist Fotograf bei NewPlanet, einem Magazin für Umwelt und Lifestyle. Sein Foto von einer Eisbärenmutter, die mit ihrem Jungen auf einer Eisscholle in der Hudson Bay trieb, ging um die Welt. Er wirft mir einen gespielt besorgten Blick zu. »Du musst in der Zwischenzeit auf Rae aufpassen. Nicht, dass dieser Henry Lucas meiner Frau den Kopf verdreht.« Ich schnaube laut auf. Als wenn das jemals passieren würde.

»Okay, klärt mich mal auf. Wer ist dieser Kerl?«

»Du hast echt überhaupt keine Ahnung, Marcy.«

»Hey, wie ich bereits sagte. Ich steh nicht so auf dieses Fantasyzeugs.«

Außerdem bin ich kein Serienjunkie.

»Vielleicht solltest du auch zu Brenda ziehen, dann können wir uns in der Zeit, wenn Colin nicht da ist, ein paar heiße Serien ansehen. Und mit War of Kingdoms fangen wir an.«

»Ganz bestimmt nicht.« Ich werde mir diesen Unsinn sicherlich nicht ansehen. Ich kann diesen Hype sowieso nicht verstehen.

Rae stellt sich auf die Zehenspitzen und drückt Colin einen Kuss auf die Lippen.

»Ich vermisse dich jetzt schon.«

Ich finde es immer noch bewundernswert, wie Colin und Rae mit der ganzen Situation umgehen. Brenda ist Colins Schwiegermutter. Ihre Tochter Erin, Colins erste Frau, starb zusammen mit ihrem gemeinsamen Sohn Elliott bei einem Brand. Anfangs hatte ich befürchtet, dass es zwischen den dreien komisch werden könnte, doch Rae hat von Anfang an klargemacht, dass Brenda zur Familie gehört. Manchmal glaube ich, dass Brenda in Rae die Tochter sucht, die sie verloren hat, und bei Rae ist es ähnlich. Auch sie hat in Brenda die Mutter gefunden, die sie nie gehabt hat.

»Keine Sorge«, sagt Rae und greift nach dem Koffer. »Wir sind ja gleich um die Ecke. George wird auch bei Brenda wohnen, solange er in Duncan ist.«

»George?« Ich frage mich, was Raes alter Boss aus New York damit zu tun hat.

»Ich habe dir doch erzählt, dass er für ein paar Tage nach Schottland kommen will. Die Geschäftsleitung von New York Estate möchte den europäischen Markt erobern und ein paar Häuser in Edinburgh mit ins Portfolio aufnehmen. George hat gedacht, er könnte damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und uns besuchen. Eigentlich wollte er im Iris übernachten, aber da das ja jetzt nicht geht, nehmen wir ihn einfach mit zu Brenda.«

»Wann wird er denn ankommen?«

»Oh, er ist schon seit ein paar Tagen in Schottland. Er meinte, er würde spontan vorbeikommen, da er nicht wisse, wie lange er in Edinburgh bleiben muss.«

Ende der Leseprobe