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Wenn Dunkelheit und Liebe aufeinandertreffen »Täusch dich nicht in mir, Ariana aus dem Hause Wynter. Man nennt mich nicht umsonst den eisigen Nachtprinz.« Schneewittchens Schwester Ariana ist dazu verdammt, ein Leben ohne Happy End zu führen, während alle um sie herum ihr Glück zu finden scheinen. Sie sehnt sich nach einem eigenen Märchen und flieht aus dem Schatten ihrer berühmten Schwester. Ein Missgeschick führt sie statt in die Welt der Menschen ins eisige Königreich Linnea, wo sie dem geheimnisvollen Nachtprinzen Damian begegnet. Trotz aller Warnungen kann sie sich seiner düsteren Anziehungskraft nicht entziehen. Doch dann geraten die Märchen in ihrer Heimat aus den Fugen: Schneewittchen wird entführt, Rapunzel fällt ins Koma und die gute Fee verschwindet. Wie könnte Ariana da noch ihrem Herzen folgen? Erlebe, wie sich Märchenfiguren in Schurken verlieben und die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischen. Dies ist der erste der drei Märchenchroniken-Romane, die in eine finstere Märchenwelt entführen. »Strangers to Lovers« trifft in dieser Romantasy auf »Forbidden Love«. //Jeder Roman dieser Fantasy-Romance-Reihe enthält sein ganz eigenes Märchen. Die drei Bände bauen nicht aufeinander auf und lassen sich separat voneinander lesen.: -- Die Märchenchroniken 1: A Tale of False Villains -- Die Märchenchroniken 2: A Fate of Shattered Curses (erscheint Dezember 2024) -- Die Märchenchroniken 3: A Myth of Banished Witches (erscheint Juni 2025)//
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Impress
Die Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.
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Birgit Loistl
Die Märchenchroniken 1: A Tale of False Villains
Wenn Dunkelheit und Liebe aufeinandertreffen
»Täusch dich nicht in mir, Ariana aus dem Hause Wynter. Man nennt mich nicht umsonst den eisigen Nachtprinz.«Schneewittchens Schwester Ariana ist dazu verdammt, ein Leben ohne Happy End zu führen, während alle um sie herum ihr Glück zu finden scheinen. Sie sehnt sich nach einem eigenen Märchen und flieht aus dem Schatten ihrer berühmten Schwester. Ein Missgeschick führt sie statt in die Welt der Menschen ins eisige Königreich Linnea, wo sie dem geheimnisvollen Nachtprinzen Damian begegnet. Trotz aller Warnungen kann sie sich seiner düsteren Anziehungskraft nicht entziehen. Doch dann geraten die Märchen in ihrer Heimat aus den Fugen: Schneewittchen wird entführt, Rapunzel fällt ins Koma und die gute Fee verschwindet. Wie könnte Ariana da noch ihrem Herzen folgen?
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Danksagung
©Marcus Vetter
Birgit Loistl wurde 1977 geboren. Trotz ihrer Ausbildung zur Bankkauffrau galt ihre Liebe schon immer mehr den Buchstaben als den Zahlen. 2015 veröffentlichte sie ihren ersten New-Adult Roman im Self-Publishing, seitdem folgten viele erfolgreiche romantische Wohlfühlromane mit starken Heldinnen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie und dem Familienhund in der Nähe von München.
Für meine Emma.Dieses Märchen ist für Dich.
Märchen, Substantiv, Neutrum (das)
Definition: Erzählungen, in denen wundersame oder fantastische Begebenheiten eine Rolle spielen und das Gute am Ende gewinnt und das Böse verliert.
Meistens.
Ein Märchen ohne Happy End ist kein Märchen.
Artikel 1, Absatz 1 – Auszug aus dem Gesetz der Märchenchroniken
In der Märchenstadt Kolis, vor 7 Jahren
»Einst lebten in einem fernen Königreich ein König und eine Königin, die liebten einander sehr. Ihre Liebe war so groß und mächtig, dass das Königspaar sie mit allen Lebewesen im Königreich teilte und so gaben sie jedem, der darum bat, ein Stück davon ab. Mit den Jahren wurde die Liebe der beiden immer größer und stärker und als die Königin eines Tages einen Sohn gebar, konnte nichts ihr Glück trüben. Doch dann starb der König unverhofft und die Königin fiel in tiefe Trauer. In …«
»Hör endlich auf, Alma. Ich will nicht schon wieder dieses doofe Märchen hören!« Ari ließ sich rücklings auf ihr Bett fallen und starrte zur Decke.
Alma blickte auf und drückte das schwere in Leder gebundene Buch an sich. »Aber warum denn nicht?«
»Weil es immer dieselben Geschichten sind.« Missmutig drehte Ari den Kopf und sah ihre ältere Schwester an. »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Bla, bla, bla», äffte sie die Stimme ihrer Schwester nach und verdrehte die Augen. »Entweder wird das Mädchen von einer hässlichen alten Frau entführt und lebt in einem dämlichen Turm, bis ein Prinz sie rettet. Oder sie leidet unter ihrer bösen Stiefmutter, verliert ihren bescheuerten Schuh und letztendlich ist es wieder ein Prinz, der sie heiratet und sie aus ihrer misslichen Lage befreit. Was total dämlich ist, denn niemand trägt Schuhe aus Glas und niemand schneidet sich die Ferse ab, um dort hineinzupassen. Schon gar nicht, um die Braut eines Prinzen zu werden.« Ari holte tief Luft und sprach weiter. »Oder aber, die böse Königin versucht das Mädchen zu vergiften und weil es ihr beim ersten Mal nicht gelingt, versucht sie es gleich noch mal und noch mal, aber selbstverständlich überlebt das Mädchen, weil wieder ein Prinz auf seinem weißen Pferd sie rettet und wachküsst wie bei … »
»Mir», seufzte Alma.
Sofort bekam Ari ein schlechtes Gewissen. Es war nicht fair, Alma ihre eigene Geschichte so abfällig unter die Nase zu reiben. Ihre Schwester hatte wirklich genug durchgemacht.
Glücklicherweise schien ihr Alma das aber gar nicht übel zu nehmen. »Aber so sind Märchen nun mal und zum Schluss gibt es ein glückliches Ende. Ich finde, wenn man es aus dieser Perspektive betrachtet, ist es gar nicht mehr so schlimm. Und ich weiß, wovon ich spreche. Ich bin schließlich dreimal auf Mutters Trick hereingefallen.« Alma zwinkerte ihrer kleinen Schwester zu.
Ari jedoch ließ den Kopf hängen. »Ich weiß …«, flüsterte sie. »… es tut mir leid.»
Alma griff nach ihrer Hand und drückte sie. »Es muss dir nicht leidtun. Was ich dir damit sagen will: Jeder hat seine eigene Geschichte und letztendlich führt alles zu einem guten Ende. Vertrau mir!«
Ari biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. »Nein, nicht jeder.« Sie hob den Kopf und sah ihre Schwester traurig an. »Ich habe keine.»
Ihre Schwester lächelte. »Du wirst auch noch ein Märchen bekommen. Warte nur ab.« Die Zuversicht in Almas Worten versetzte ihr einen Stich.
»Woher weißt du das?«, flüsterte sie und die Angst vor der Antwort ihrer Schwester ließ ihr Herz schneller schlagen.
Alma strich ihr eine schneeweiße Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Berührung war so sanft und federleicht, dass Ari sie kaum spürte. »Weil du etwas ganz Besonderes bist.»
Ari presste die Lippen zusammen. »Das sagst du immer. Aber ich bin jetzt schon zehn Jahre alt und noch immer hat niemand nach mir gefragt. Erst letzte Woche waren die Wächter hier und haben sich nach Madeira erkundigt. Kannst du dir vorstellen, dass sie ein eigenes Märchen erhält? Sie hat abstehende Ohren und faule Zähne. Außerdem sabbert sie, wenn sie isst. Das ist nicht gelogen, ich habe es gesehen.«
»Hab Geduld. Eines Tages wirst du auch eines bekommen und es wird fantastischer sein als jedes andere davor. Du musst nur ganz fest daran glauben.»
»Manchmal denke ich, dass sie mich vergessen haben.« Das war Aris größte Angst. Vielleicht wartete dort draußen eine magische Geschichte auf sie und man hatte es einfach übersehen, sie zu benachrichtigen. Was sollte sie dann tun?
Alma legte lachend den Kopf in den Nacken. »So läuft das nicht. Du musst das Märchen nicht suchen. Es kommt zu dir.«
Ari zuckte mit den Schultern. Sie versuchte, gelassen zu reagieren, aber es gelang ihr nicht. »Bei mir vielleicht nicht.«
Alma hielt inne und kniete sich vor ihrer Schwester hin. »Du wirst eine Heldin sein. Ich weiß es.« Alma legte die Hand unter Aris Kinn und hob es hoch, sodass sie ihrer Schwester in die Augen sehen musste. »Es gab eine Zeit, da habe ich auch gezweifelt. Du weißt gar nicht, wie oft ich Isis damit auf die Nerven gegangen bin. Aber sie hat genau dieselben Worte an mich gerichtet und ich habe ihr vertraut.«
Ari zog die Augenbrauen zusammen. »Hast du deswegen Mutters Versuche, dich zu töten, nicht ernst genommen? Weil du gewusst hast, dass du ein Happy End bekommst?« Sie erinnerte sich an den vergifteten Kamm oder den Gürtel, den Alma von Aris Mutter gekauft hatte. Und an den Apfel, der sie letztendlich beinahe getötet hätte. Manchmal konnte sie über den Leichtsinn ihrer Schwester nur den Kopf schütteln.
Traurig sah Alma sie an. »Nein.« Sie stand auf und strich ihr Kleid glatt. »Ich habe immer gehofft, dass sie mich nicht so sehr hassen könne, um mich wirklich töten zu wollen.« Schmerz zeichnete sich in Almas Gesicht ab, aber noch ehe Ari etwas darauf erwidern konnte, lächelte ihre Schwester. »Aber wir wissen beide, wie meine Geschichte zu Ende gegangen ist, also wollen wir uns nicht beklagen.«
Missmutig presste Ari die Lippen zusammen. Sie konnte die Zuversicht ihrer Schwester nicht verstehen. Niemals, nicht eine Sekunde lang hatte Alma böse Worte über ihre Mutter gefunden.
Wie war es nur möglich, niemals die Hoffnung zu verlieren? Alma hatte so viel durchstehen müssen, mehr als die anderen Märchenfiguren, und trotzdem nie den Glauben an das Gute verloren.
Wenn ich doch nur etwas mehr von ihr hätte, dachte Ari. Sie hob den Kopf und betrachtete Alma, die das Buch wieder aufgeschlagen hatte und sanft über die alten, vergilbten Seiten strich. »Liest du das Märchen zu Ende?«
»Aber natürlich.« Alma lächelte und dann begann sie zu lesen. »… die Königin fiel in tiefe Trauer. In ihrer Verzweiflung beschloss sie, ihr Kind vor dem Schmerz des gebrochenen Herzens zu schützen und bat den mächtigsten Zauberer des Landes um Hilfe. Er versprach, ihr zu helfen, im Gegenzug verlangte er, sie heiraten zu dürfen, um neuer König des Landes zu werden. In ihrem Schmerz versprach es die Königin. Da riss der Magier dem Kind das Herz aus dem Leib und legte ihm stattdessen einen Stein in die Brust.
Die Königin war so erschrocken über die schreckliche Tat des Zauberers, dass sie sich weigerte, eine solch grausame Kreatur zu heiraten. Da wurde er sehr wütend und legte einen Fluch über das Kind. Erst wenn es jemandem gelingen sollte, das Herz aus Stein zu brechen, würde der Fluch von ihm abfallen und der Stein würde sich in sein wahres Herz verwandeln. Bis dahin würde das Land nur aus Eis und Stein bestehen, so kalt und hart wie das Herz des Prinzen. So soll es sein, rief er aus und noch ehe er die Worte gänzlich ausgesprochen hatte, verfiel das Land in Dunkelheit und eine Eiseskälte legte sich darüber. Kein Mensch, kein Tier, kein Lebewesen, das die Nacht unter freiem Himmel verbrachte, überlebte sie.«
»So ein schrecklicher Mann«, platzte es aus Ari heraus. »Wie kann er so etwas nur tun? Ich würde ihn bestrafen für seine Tat.«
Fragend blickte Alma sie an. »Was würdest du tun?«
Darüber musste Ari erst nachdenken. Was würde sie tun? Schließlich besaß sie keinerlei magische Kräfte, noch verfolgte sie das Glück, wie es bei den anderen Märchenfiguren oft der Fall war. »Man müsste ihm seine Magie nehmen. Ein Zauberer ohne Zauberkraft ist keine Gefahr mehr, oder?«
»Das ist kein schlechter Ansatz. Aber es dürfte schwierig werden. Magie ist immer an einen Körper gebunden und kaum jemandem gelingt es, sie zu bündeln oder gar zu vernichten.«
Aufgeregt setzte Ari sich auf. »Vielleicht müsste man den Zauberer schwächen oder seine Magie gegen ihn verwenden, damit er gar nicht mehr auf die Idee kommt, anderen zu schaden. Bestimmt gibt es einen Trank oder ein magisches Artefakt, das gegen ihn verwendet werden kann.«
Alma tippte ihr an die Nasenspitze. »Siehst du? Du bist klug und mutig. Du würdest sogar mit einem Drachen kämpfen, um jemanden zu retten. Genau deshalb wirst du eines Tages dein eigenes Märchen bekommen.«
Alma kicherte und Ari verdrehte die Augen. »Lies weiter, Alma. Ich will wissen, wie es ausgegangen ist.«
Ein Lächeln breitete sich auf Almas Lippen aus, dann blätterte sie um und blickte verwirrt auf.
Sofort spürte Ari, dass etwas nicht stimmte. »Was ist denn los? Du wirst ja ganz blass.«
Alma schüttelte den Kopf, dann sah sie Ari bestürzt an. »Hier hört das Märchen auf.«
Ari sprang auf und setzte sich neben ihre Schwester auf den Boden. »Du täuschst dich bestimmt. Das kann nicht sein. Es gibt kein Märchen ohne ein gutes Ende.«
»Die Seiten sind verschwunden.« Alma zeigte Ari das Buch und tatsächlich konnte sie genau sehen, dass jemand die Seiten herausgerissen hatte.
»Was bedeutet das?« Sie hob den Kopf, blickte ihre Schwester an und ein eiskalter Schauer rann ihr über den Rücken.
»Das weiß ich nicht.«
Jedes Wesen, dem bis zu seinem vollendeten 17. Lebensjahr nicht sein eigenes Märchen zugewiesen wurde, hat das Recht, die Märchenstadt zu verlassen und die Menschenwelt zu betreten.
Allerdings wird davon ausdrücklich abgeraten (…)
Artikel 25, Absatz 1 – Auszug aus dem Gesetz der Märchenchroniken
In der Märchenstadt Kolis, Gegenwart
Ari schlüpfte in ihre Lederstiefel, raffte ihren Rock und sprang die letzten Stufen der breiten Steintreppe, die zum Schloss führte, empor. Die kühle Lederscheide, in der ihr Dolch steckte, der einst ihrem Vater gehört hatte, presste sich versteckt unter ihrem Rock gegen die nackten Schenkel. Sie konnte nur hoffen, dass keiner der Wachen heute auf die Idee kam, sie zu durchsuchen. Hauptmann Arrick würde ganz bestimmt kein Erbarmen mit ihr haben.
Sie bringen das Königreich noch in Verruf, Ariana. Für die Tochter der bösen Königin gehört es sich nicht, eine Waffe bei sich zu tragen.
Für die Tochter der toten bösen Königin hätte Ari am liebsten erwidert, stattdessen hatte sie die Worte hinuntergeschluckt. Nach der grausamen Ermordung ihrer Mutter und den Aufständen, die es in Kolis gegeben hatte, war sie der Meinung, sich selbst verteidigen zu müssen. Quentin, Wächteranwärter ersten Grades und ihr bester Freund, hatte sich bereit erklärt, mit ihr zu trainieren. Aber Hauptmann Arrick hatte sie nur ausgelacht, als er von ihrem Vorhaben erfahren hatte.
Sie müssen sich keine Gedanken machen, Ariana. Niemand, der klar bei Verstand ist, würde Ihnen etwas antun. Wer ist schon so töricht, den Galgen zu riskieren, um eine Märchenlose zu verletzen? Glauben Sie mir, sie benötigen keinen Schutz. Ihre Schwester ist diejenige, um die ich mir Sorgen mache.
Märchenlose. Noch immer versetzten ihr seine Worte einen Stich.
Ari verdrängte die Erinnerung an das Gespräch mit dem Hauptmann und strich ihren Rock glatt. Die Schlammspritzer und die unzähligen Grasflecken würden Arrick sofort auffallen, aber mit ein wenig Glück würde sie ihm gar nicht begegnen. Ansonsten würde sie sich eine verdammt gute Ausrede einfallen lassen müssen.
Sie hatte den ganzen Morgen mit Isis auf dem Gewürzmarkt im Hahnenviertel verbracht. Zusammen mit der alten Hexe hatte sie dort Ausschau nach Lavendelsamen, Eisenhut und exotischen Früchten gehalten, die Isis für ihre Salben und Kräutertinkturen benötigte. Auf der Suche nach frischen Froschbeinen, Schwarzhaarwurzeln und getrockneten Mandelfischschuppen waren sie an einen zwielichtigen Händler geraten, der Ari genauso unheimlich war wie die Zutaten, die Isis ihm abkaufte. Die schwarze Lederklappe, die er über seinem linken Auge trug und seine verfaulten Zähne sorgten nicht gerade dafür, dass Ari sich sicher fühlte. Aber Isis hatte ihr versichert, dass sie sich keine Gedanken machen musste.
Ich habe einen Ruf zu verlieren, Kind. Glaubst du wirklich, jemand geht das Risiko ein und legt sich mit der bösen Hexe an?
Ari hatte überlegt, Isis darauf aufmerksam zu machen, dass sie doch schon ein stattliches Alter auf dem Buckel hatte, es dann aber doch sein gelassen. Isis hatte recht, es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass es nur eine böse Hexe in Kolis gab und das war nun mal sie.
Schließlich war die Geschichte von Hansel und Gretchen kein Mythos und auch die Tatsache, dass Isis kannibalistische Vorlieben hatte, war nicht an den Haaren herbeigezogen. Aber auch dieses Märchen hatte ein Happy End erhalten und daher beschwerte sich niemand in Kolis. Im Gegenteil, es gab sogar noch andere Bewohner dort, deren Geschichten weitaus grausamer waren. Allerdings war in der Stadt niemand so gefürchtet wie Isis.
Isis hatte Ari nie etwas Böses gewollt und seit dem Tod ihrer Mutter hatte die alte Hexe sich um sie und Alma gekümmert und die Schwestern ins Herz geschlossen. Was in Isis’ Fall bedeutete, dass sie bisher noch kein einziges Mal versucht hatte, Ari, Alma oder eine ihrer Freundinnen zu verspeisen.
Nachdem sie den Morgen mit Isis verbracht hatte, trainierte sie mit Quentin am Fluss. Wenn einer der Wachen sie näher betrachtete, musste er nur eins und eins zusammenzählen und Hauptmann Arrick Bericht erstatten. Er war imstande, sie für den Rest des Tages zur Strafe in einem der Schattenzimmer einzusperren. Was so viel bedeutete wie vollständige Dunkelheit, permanenter Hunger und unglaubliche Kälte. Sie konnte gar mehr zählen, wie viele Tage und Nächte sie dort schon verbracht hatte.
Nein, heute würde er sie auf gar keinen Fall dort hineinstecken.
Die schwere Holztür knarzte, als sie sich stöhnend dagegenstemmte. Es kostete Ari alle Kraft, sie zu öffnen. Verdammt! Sie würde ein ernstes Wort mit Quentin reden müssen. Das viele Training hatte überhaupt nichts gebracht. Was nutzte es ihr, mit einem Schwert kämpfen zu können, wenn ihr die notwendige Kondition dafür vollkommen fehlte?
Schweiß brannte auf ihrer Stirn und ihre Lunge schmerzte von der Anstrengung.
»Alma«, keuchte sie, noch ehe sie die große Halle betreten hatte und strich sich eine verirrte weiße Haarlocke aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf löste. Die Absätze ihrer Stiefel klapperten über den glänzenden Marmorboden. Sie blieb einen Moment stehen, holte tief Luft und blickte sich suchend nach ihrer Schwester um. Ari hatte das Schloss schon immer geliebt, während die meisten Bewohner der Märchenstadt Kolis aus Angst vor ihrer verstorbenen Mutter einen weiten Boden darum gemacht hatten. Verzierungen aus Stuck waren an den hohen Decken angebracht. Der mächtige Kronleuchter, der in der Mitte hing und dessen Glastropfen im Sonnenlicht wie Diamanten glitzerten, verlieh dem Raum eine wahrlich königliche Ausstrahlung. Ari warf einen Blick auf die Wachleute, die starr geradeaus blickten, so als würden sie Ari nicht bemerken. Aber sie wusste, dass sie sie beobachteten und später ihrem Vorgesetzten Bericht erstatten würden. Wenn es jemanden gab, dem die Wachen loyal gegenüber waren, dann dem ersten Hauptmann der Königswache. Auch wenn es schon seit Jahren keinen König mehr gab.
Das Rascheln des Blatt Papiers unter dem Bund ihres Rocks machte ihr nur allzu deutlich, dass sie jetzt keinen Rückzieher mehr machen konnte. Ihr Traum würde in Erfüllung gehen. Sie musste es nur noch ihrer großen Schwester schonend beibringen.
Aus der Küche drang der Duft von gebratenen Hühnchen, Buttermaiskolben und Zitronensoufflé. Augenblicklich knurrte ihr Magen. Später. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, wie ihre Mutter immer so schön gesagt hatte. Sie musste zuerst mit Alma sprechen. Ari legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die prächtige Treppe, die in die oberen Stockwerke führte. Als kleines Mädchen war sie zusammen mit Alma das Geländer hinuntergerutscht, wenn sich ihre Mutter mit Hauptmann Arrick in ihr Arbeitszimmer zurückgezogen hatte. Bei dem Gedanken daran überkam Ari ein wehmütiges Lächeln.
Vielleicht sollte ich es heute noch einmal versuchen. Ein allerletztes Mal.
»Verdammt, Alma, wo steckst du?«, murmelte Ari und widerstand dem Drang, nach ihrer Schwester zu rufen. Das Letzte, was sie wollte, war schlafende Hunde zu wecken. Oder in ihrem Fall den schlafenden Hauptmann.
Plötzlich hörte sie Schritte, dann erschien das Gesicht ihrer Schwester an der Balustrade hoch über ihr.
Auf ihrem Arm hielt sie ihre neugeborene Tochter fest an ihre Brust gedrückt. »Ari, da bist du ja. Ich habe schon nach dir suchen lassen.« Ein entschuldigendes Lächeln huschte über Aris Lippen, aber sie konnte es sich nicht nehmen lassen, die Augen zu verdrehen. Seit Alma Mutter geworden war, benahm sie sich noch fürsorglicher als zuvor. Wie eine Katze schlich Ari über den grauen Marmorboden bis zum Fuße der geschwungenen Treppe. So schnell sie konnte, sprang sie die Stufen empor, bis sie schließlich vor ihrer Schwester stehen blieb. Mit ihren achtundzwanzig Jahren ähnelte Alma auf erschreckende Weise ihrem Vater, der kurz nach Aris fünftem Geburtstag an einer Lungenentzündung gestorben war. Sie besaß dasselbe ebenholzschwarze, glänzende, glatte Haar, die schneeweiße Haut und die blutroten Lippen, dazu noch die weichen Züge in ihren milchschokoladenbraunen Augen und die hoffnungsvolle Überzeugung, dass sich alles zum Guten wenden würde. Alma sah genauso so aus, wie die Welt sie unter ihrem Märchennamen Schneewittchen kannte. Ari hingegen wirkte wie die jüngere Version ihrer Mutter. Zu klein, zu zierlich. Dazu weiße, widerspenstige Locken und eisblaue Augen, vor denen so mancher Bewohner der Märchenstadt angsterfüllt zurückschreckte. Genau wie sie es bei ihrer Mutter getan hatten. Sie verdrängte die Erinnerung daran und zog das Blatt Papier unter ihrem Rock hervor. Grinsend wedelte sie damit vor Almas Gesicht herum. »Du errätst nie, was ich hier habe.«
Alma betrachtete sie mit einem tadelnden Blick. Aber als Ari keine Anstalten machte zu antworten, seufzte Alma tief. »Du wirst es mir sicher gleich verraten.«
»Willst du es wirklich wissen?«, neckte Ari sie. »Es ist eine sensationelle Neuigkeit.«
»Mach es nicht so spannend.«
»Ein bisschen mehr Begeisterung, große Schwester. Die Nachricht ist von außergewöhnlich großer Wichtigkeit.«
Alma lachte und schüttelte den Kopf. »Jetzt spuck’s schon aus!«
»Okay, aber du musst versprechen, dich zu beherrschen. Versuch ja nicht, in Jubel auszubrechen oder gar vor Freude zu schreien. Du weißt, wie empfindlich die Ohren der Wachen sind. Hauptmann Arrick hält vermutlich gerade seinen wohlverdienten Mittagsschlaf. Er wird sehr erzürnt sein, wenn er geweckt wird.« Ari grinste und konnte sich vor Begeisterung kaum bremsen.
Alma verdrehte die Augen. »Versprochen.«
»Nun …« Ari holte tief Luft. »Meinem Antrag wurde stattgegeben. Ich muss noch heute bei Sonnenuntergang am Götterhain sein.«
Jegliche Farbe wich aus Almas Gesicht. Sie keuchte auf und schlug sich die Hand vor den Mund. »Was?«
»Es ist unfassbar, nicht wahr? Ich kann es selbst kaum glauben. Isis sagt, das gab es schon lange nicht mehr. Seit mehr als zehn Jahren wurde kein Antrag mehr genehmigt.« Ari griff nach der Hand ihrer Schwester und drückte sie. Damals hatten die Wächter Hans Mutter die Möglichkeit gegeben, die Märchenstadt zu verlassen. Nachdem ihr Sohn sein Glück gefunden hatte, hatte seine Mutter die Bitte geäußert, die Märchenstadt verlassen zu dürfen.
»Endlich bin ich frei, Alma.«
»Aber …« Alma schluckte und drückte Lisbeth noch ein wenig fester an sich. »Weiß Quentin schon davon?«
Schnell schüttelte Ari den Kopf. »Nein. Er war schon fort, als Isis mir die Nachricht überbracht hat. Ich werde es ihm später erzählen.« Obwohl Ari vor Freude am liebsten schreiend durchs Schloss gelaufen wäre, verspürte sie einen Stich in ihrer Brust, wenn sie an ihren besten Freund dachte. Allein der Gedanke daran, Quentin zurückzulassen und ihn niemals wiederzusehen, zerriss ihr fast das Herz.
Erst jetzt bemerkte Ari die Tränen, die in den Augen ihrer Schwester schimmerten. Das waren keine Freudentränen.
Lisbeth wimmerte und Alma streichelte ihr sanft über den Rücken.
Mit einem Mal verflog Aris Freude. »Freust du dich gar nicht für mich?«
»Doch … natürlich«, flüsterte Alma und strich sich das ebenholzfarbene Haar aus der Stirn. »Aber … aber was wird denn dann aus mir?«
Ari schnaubte und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Du hast einen höllisch heißen Ehemann an deiner Seite, der dich vergöttert und eine kleine Tochter, die dich liebt. Außerdem, schau dich um!« Ari gestikulierte wild mit ihren Armen. »Du lebst in einem verdammten Schloss und die ganze Welt liegt dir zu Füßen. Du bist Schneewittchen. Du brauchst mich nicht.«
So sehr Ari sich auch bemühte, sie konnte nichts dafür, dass ihre Stimme ein klein wenig eifersüchtig klang.
Obwohl Alma Tränen in den Augen standen, warf sie Ari einen strengen Blick zu. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du aufhören sollst zu fluchen? Das schickt sich nicht für eine Prinzessin.«
Alma verzog die Lippen zu einem schmalen Strich und wirkte plötzlich wie ein trotziges Kind. »Außerdem ist das nicht wahr.« Sie hielt inne, dann senkte sie den Kopf. »Du wirst mich vergessen.«
Ari hätte ihrer Schwester gerne widersprochen. So viele Worte lagen ihr auf der Zunge, doch keines entsprach der Wahrheit. Daher nickte sie nur. Sie konnte ihrer Schwester keine Versprechungen schenken, aber wenigstens würde sie ehrlich sein. »Das werde ich.«
Diese Tatsache ließ ihr Herz bluten. Nun konnte auch Ari ihre Tränen nicht zurückhalten.
Sie würde ihre Schwester vergessen. Nein, nicht nur Alma. Sie würde alles vergessen. Quentin, ihren besten Freund. Ihre Familie. Ihre Freunde. Ihr gesamtes Leben. Die Erinnerungen an die Märchenstadt würden komplett verschwinden.
Aber sie hatte gewusst, was es bedeuten würde, den Antrag auf Verbannung den Wächtern vorzutragen. Schon so viele Male hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihr altes Leben hinter sich zu lassen, um neu anzufangen. Und jetzt war diese Möglichkeit zum Greifen nah. Sie konnte sich diese Chance nicht entgehen lassen, auch wenn Ari nicht wusste, was sie erwartete. Sie würde ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Ganz egal, was ihre Zukunft für sie bereithielt, endlich war sie selbst für ihr Glück verantwortlich.
Genau das war das Aufregende daran. Bei allen guten Geistern, Ari fühlte sich, als würde sie träumen.
Sie hatte den Brief schon so viele Male gelesen und dennoch konnte sie es immer noch kaum glauben. Ihre Hände zitterten, als sie ihn zusammenfaltete und wieder unter ihren Rock steckte. Sie spürte Almas Blick auf sich und hob den Kopf. Tränen rannen ihrer Schwester über die Wangen, aber sie lächelte. »Vater wäre so stolz auf dich.«
Ari schluckte. »Glaubst du wirklich?«
Alma nickte. »Ich weiß es. Er hat immer gesagt, Ari ist zu etwas Größerem geboren.«
Traurig ließ Ari den Kopf hängen. »Das hat er zu mir nie gesagt«, flüsterte sie.
»Weil er nicht wollte, dass du eine eingebildete Schnepfe wirst. Er wusste immer, dass du die Mutigste von allen bist.« Sie legte Ari die Hand auf die Schulter und zog sie in eine Umarmung. Lisbeth wimmerte leise in ihrem Arm. »Nimm Mutters Zauberspiegel mit. Vielleicht können wir so in Kontakt bleiben.«
Ari presste die Lippen zusammen. »Ich glaube nicht, dass er außerhalb von Kolis funktioniert.«
Auch wenn ihre Mutter außerhalb der Märchenstadt den Ruf einer furchteinflößenden Hexe gehabt hatte, so waren ihre Zaubereien eher Glück statt wirkliches Können gewesen. Was dieser bescheuerte Zauberspiegel bewies. Schon allein die Tatsache, dass er ihrer Mutter jeden Tag aufs Neue immer wieder denselben Spruch vorjammerte:
»Meine Königin, Ihr seid die Schönste im ganzen Land. Aber Schneewittchen hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen ist tausendmal schöner als Ihr.«
Bei dem Gedanken daran verdrehte Ari die Augen. Jeder in Kolis hatte gewusst, dass Alma sich damals nicht bei den sieben Zwergen aufgehalten hatte. Außerdem gab es in ganz Kolis überhaupt keine sieben Berge. Aber ihre Mutter war zu stolz gewesen, um zu bemerken, dass ihre Zauberkunst ein paar Fehler aufwies.
»Einen Versuch ist es wert, nicht wahr?«, sagte Alma und schenkte ihr ein gequältes Lächeln.
Ari nickte, zu mehr war sie nicht mehr Lage, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Und so sehr sie sich auch auf ihr neues Leben außerhalb der Märchenstadt freute, so sehr fürchtete sie sich auch davor.
Denn die einzige Person, die ihr sagen konnte, was sie außerhalb von Kolis erwarten würde, war nicht mehr am Leben.
»Um ein guter König zu sein, bedarf es mehr als nur königlichem Blut und einer großen Ahnenreihe. Aber wenn ich mich zwischen Herz und Verstand entscheiden müsste, würde ich immer den Verstand wählen.«
Interview mit König Tychon vor seiner Krönung
Im Königreich Linnea, zur selben Zeit
»Er ist tot.« Vaarus stieß mit der Stiefelspitze gegen den Leichnam des Mannes und verzog angewidert das Gesicht. »Sieh dir nur das Bein an. Bis auf den Knochen abgenagt. Diesen elenden Kreaturen gehört das Fell abgezogen, ihre Kadaver gehören auf dem Nachtmarkt für tausend Silberlinge verkauft. Tote Eiswölfe sind ein kleines Vermögen wert, habe ich mir sagen lassen.«
Ob es wirklich Wölfe gewesen waren, die den Wanderer so zugerichtet hatten? Der Tote lag bäuchlings im Schnee, getränkt in seinem eigenen Blut. Ridon schätzte ihn auf siebzehn, vielleicht achtzehn Winter. Er konnte den goldenen Falken auf seinem Handrücken erkennen. Das Zeichen, mit dem alle Bewohner der Nachtstadt gezeichnet worden waren und das auch Ridons Hand zierte. Auch wenn er schon seit vielen Jahren nicht mehr dort lebte.
Wer einmal in der Nachtstadt gelebt hatte, war für immer gezeichnet.
Es war der vierte Tote, den sie heute aufgefunden hatten. Auf den ersten Blick schienen sie alle von einem wilden Tier getötet worden zu sein. Vaarus’ Vermutung ließ ihm allerdings keine Ruhe. Eiswölfe töteten ihre Opfer mit einem einfachen Biss in die Kehle, zerrten sie ins Unterholz, um sie ausbluten zu lassen und dann bei Dunkelheit aufzufressen. Sein Vater hatte ihm Bücher vorgelesen, in denen es um Legenden über die Tiere ging. Eine schauriger als die andere. Manche sprachen davon, in ihren Augen spiegelte sich der eigene Tod. Andere behaupteten, das Blut der Tiere hätte magische Kräfte. Ein Grund, warum sie so teuer gehandelt wurden. Selbst ein toter Wolf war sehr begehrt.
Er war sich nicht sicher, was davon stimmte, aber sein Vater hatte erwähnt, dass diese Tiere ihre Beute immer von vorne angriffen. Auge in Auge. Noch dazu waren ihre Opfer ihnen immer ebenbürtig. Jäger, Soldaten, Krieger. Niemals griffen die Tiere Kinder oder Kranke an.
Deshalb nannten die Leute in den Dörfern sie auch Ehrenwölfe.
Sie waren größer als Pferde, mit messerscharfen Zähnen und schneeweißem Fell. In den Legenden hieß es sogar, wer das Fell eines Eiswolfes berührte, wurde selbst zu Eis. Zudem waren es ausgesprochen scheue Tiere, die sich in den Schattenbergen versteckt hielten. Es gehörte also auch noch eine große Portion Pech dazu, ihnen zu begegnen.
Eine Leiche am Tage am Wegesrand liegen zu lassen, noch dazu so zugerichtet, sprach nicht unbedingt für sie. Noch dazu war der Mann von hinten angefallen worden. Das konnte Ridon anhand der Kratzspuren auf seinem Rücken erkennen. Sein Hemd hing in Fetzen an ihm herab, sein Lederwams war keine Sekunde lang ein Schutz gewesen.
Vielleicht waren es Räuber oder Vagabunden gewesen? Ridon zog sich den schwarzen Umhang über die Schultern und blickte sich um. Der Geruch von feuchter Erde und Fäulnis lag in der Luft. Unbehagen machte sich in ihm breit. Er wusste nicht, wie lange der Tote hier schon lag, aber es waren keine Fußspuren im Schnee zu sehen.
Es schien, als wäre seit Stunden niemand mehr hier entlanggegangen.
Aber vielleicht etwas, das keine Fußspuren hinterließ?
Ein eiskalter Schauer jagte ihm über den Rücken und die Nackenhaare sträubten sich. Seit fünfundzwanzig Tagen waren Vaarus und er nun schon unterwegs. Von Norden aus waren sie durch die silbernen Wälder in den Westen Linneas’ geritten, an den vergessenen Seen vorbei, durch die Bärenschlucht und den trauernden Witwen über das Flachland durch die Sümpfe von Santos, um dem Prinzen in der Nachtstadt einen Besuch abzustatten. Er zuckte zusammen, als er an Damian dachte. Weder Wind noch Schnee oder gar Eis hatten ihm in den letzten Tagen zugesetzt, aber der Gedanke an seinen ehemals besten Freund jagte ihm eine Höllenangst ein.
Er hatte ihn so viele Jahre nicht mehr gesehen und erinnerte sich noch allzu lebhaft daran, dass sie nicht im Guten auseinandergegangen waren. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Er war der Einzige, der ihm noch helfen konnte. Wenn der Nachtprinz auch nur einen Funken Gnade im Körper hatte, dann würde er ihn anhören. Aber wenn nicht, dann würde Ridon Schreckliches erwarten. Schrecklicher als der Tod. Er rieb sich die Hände und blickte noch mal zu dem jungen Toten.
Kalter Wind wehte, die Blätter zitterten und gaben Ridon das Gefühl, die Bäume sprachen zu ihnen und warnten sie, weiterzugehen.
Er hatte das Flüstern schon oft gehört und sich immer zurückgezogen.
Auf ihre Worte war Verlass.
Du kannst in diesem Land nur den Bäumen trauen, sonst niemandem, hatte sein Vater ihn schon als kleinen Jungen gelehrt und Ridon hatte immer auf seine Worte gehört.
Er würde es auch heute tun.
Er sprang vom Pferd und betrachtete seine Umgebung. In diesem Teil von Linnea hatte er sich schon eine ganze Weile nicht mehr aufgehalten. Aber die Zeit hatte das Land hier verändert. Die Wälder waren dichter bewachsen, der Winter war kälter und die Bewohner waren mürrischer und zurückgezogener geworden.
Einen Augenblick lang sehnte er sich nach Lamos, dem Dorf, in dem er seit vielen Jahre lebte. Selbst jetzt, während des ewigen Winters, war es dort wärmer als hier. Es war, als würde die Sonne sich besonders viel Mühe geben, diesen Teil des Landes zu erwärmen. Was würde er dafür geben, jetzt dort zu sein. Zusammen mit Magda am Feuer zu sitzen, bei einem Becher Wein und eine lange leidenschaftliche Nacht zu verbringen. Nach gut einem Jahr hatte er fast schon vergessen, wie ihr Lachen klang. Anfangs hatte Ridon sich oft dazu gezwungen, die Erinnerungen an sie aufleben zu lassen. Ihren Duft, den Geschmack ihrer Lippen, das Leuchten ihrer Augen. Aber mit der Zeit gingen die Erinnerungen verloren und jetzt, nach so langer Zeit, konnte er sich nicht einmal mehr richtig an ihre Stimme erinnern. Vielleicht wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt, selbst zu sterben. Was nützte schließlich ein Leben ohne Erinnerungen? Er war des Kämpfens müde.
Ein guter Krieger weiß, wann er das Schwert senken muss, wie ein altes Sprichwort in Linnea sagte. Aber Ridon wusste, dass er kein guter Krieger war. Er war überhaupt kein Krieger mehr. Nur noch ein Jäger.
Aber vielleicht kann Damian mir helfen. Sofort wollte er die Hoffnung im Keim ersticken. Je näher die Nachtstadt kam, desto mehr Zweifel plagten ihn. Der Nachtprinz würde ihm helfen, aber zu welchem Preis?
»Der Tote kann hier nicht bleiben. Sobald die Nacht hereinbricht, kommen die Schatten aus ihren Verstecken.« Ridon sah sich um. Es war eine Sache, sich vor den Eiswölfen zu fürchten, aber die Schatten waren weitaus angsteinflößender.
Irgendwo heulte eine Eule. Vaarus kaute an einem Pfefferminzstängel und zuckte mit den Schultern. Ridon kannte den alten Mann noch nicht lange, aber er hatte ihm schon unzählige Geschichten von sich erzählt. Wenn er ehrlich war, hatte er nicht zugehört. Vaarus hatte schon siebzig Winter auf dem Buckel und in einigen Kriegen unter der Herrschaft von König Tychon gekämpft, bis dieser vor zwanzig Jahren an rotem Fieber gestorben war. Wie eine Welle war es über Linnea hergefallen und hatte Männer, Frauen und Kinder mitgerissen.
Es hatte das Land fast ausgerottet.
Nur wenige Tage vor König Tychons Tod war sein Sohn Damian zur Welt gekommen und noch im Kindbett war seine Frau Elinora plötzlich spurlos verschwunden. Man hatte sie im ganzen Land jenseits der silbernen Wälder gesucht, aber niemand, weder die Wachen noch ihre Vertrauten, hatte sie gesehen. Die Leute glaubten, die Königin war über den Tod ihres geliebten Mannes nicht hinweggekommen, dem Wahnsinn verfallen und lebte seitdem bei den trauernden Witwen. Andere wiederum dachten, sie hätte sich vor lauter Trauer im Fluss Lyros ertränkt, aber Ridon glaubte nicht daran. Welche Mutter nahm sich das Leben und ließ ihr Neugeborenes alleine zurück? Nein, bei all den Geschichten von König Tychon und seiner Gemahlin konnte er sich nicht vorstellen, dass sie zu so etwas fähig gewesen wäre.
Aber was wusste er schon? Er hatte auch nicht geglaubt, dass Magda ihn verlassen würde.
»Ich habe schon viele Tote gesehen. Manchen sind dem Tod freiwillig gefolgt und mit anderen hatte er kein Erbarmen. Dieser hier wurde gewaltsam aus dem Leben gerissen, aber was macht es schon, wenn ihn die Schatten erwischen? Er bekommt es ja doch nicht mehr mit«, murmelte Vaarus.
Ridon ging einen Schritt auf den alten Mann zu. »Die Schatten sehen alles. Auch Dinge, die wir verstecken wollen. Sie werden uns mit den Leichen in Verbindung bringen. Ich habe keine Lust, heute Nacht schon zu sterben.«
»Wenn man bedenkt, wen sie töten, könnte man fast sagen, sie seien gerecht. Sie sind aufgetaucht in jener Nacht in der König Tychon gestorben ist und haben dem Krieg ein Ende gesetzt.« Vaarus seufzte und griff nach seinem Beutel Eiswein. Er trank einen Schluck und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Ein guter König. Der beste, den Linnea je hatte. Wäre er nicht gestorben, wäre vielleicht alles anders gekommen. Man mag gar nicht glauben, dass Prinz Damian sein Fleisch und Blut ist.«
»Es war schon immer falsch, jemanden aufgrund seines Geburtsrechts König zu nennen. Es wird Zeit, dass Linnea seinen König wählt und ihn sich nicht aufzwängen lässt.«
Er war dein bester Freund. Die Stimme in seinem Kopf ließ Ridon zusammenzucken.
Ist es fair, dass du ihm jetzt so in den Rücken fällst? Wo du doch seine Hilfe so dringend benötigst?
Der alte Mann lachte laut auf. »Gefährliche Worte, mein Freund. Wahr, aber gefährlich.« Vaarus hielt ihm den Beutel hin.
Ridon griff danach und nahm einen kräftigen Schluck. Der Wein brannte in seiner Kehle, dann hinterließ er ein warmes Gefühl in seinem Bauch.
»Die Wahrheit ist immer gefährlich. Deswegen spricht sie niemand aus. Niemand will wegen ihr sein Leben lassen.« Ridon wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Außer Euch.«
Ridon zuckte mit den Schultern. »Ich habe nichts mehr zu verlieren.« Ich habe meinen besten Freund und die Liebe meines Lebens verloren. Was soll mir noch geschehen?
»Was ist aus Eurem Eifer geworden, Eure Verlobte zu finden? Wenn man Euch hängt, werdet Ihr sie wohl nie wieder sehen.« Ridon blickte in die Dämmerung. Nicht mehr lange und die Sonne wäre hinter den Bergen verschwunden. Dann würden die Schatten aus der Dunkelheit kriechen. Man sagte, dass sie mit Bedacht töteten, aber Ridon glaubte nicht daran. Jedem unterlief irgendwann ein Fehler. »Ich suche schon so lange nach ihr und niemand hat sie gesehen. Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht, um sie zu finden. Vielleicht ist es ja an der Zeit loszulassen.«
»Ach so ist das«, sagte Vaarus und nickte. »Ihr habt aufgegeben und reißt deshalb das Maul so weit auf. Nun, ich hätte Euch für schlauer gehalten.«
Instinktiv griff Ridon nach seinem Schwert. »Vorsicht. Passt auf, was Ihr sagt, alter Mann.«
Vaarus zog eine Augenbraue nach oben. »Ihr wollt mich töten, weil ich das Offensichtliche ausgesprochen habe?« Er trat einen Schritt näher an Ridon heran. »Ich habe meine Frau im Feuer brennen sehen. Während unser Haus abgefackelt ist, bin ich hineingelaufen, um sie zu holen.« Vaarus zog sich die Fellmütze vom Kopf und entblößte seinen verbrannten Hinterkopf. Der Hals war ebenfalls mit Brandnarben übersät und Ridon wollte gar nicht wissen, wie der Körper des alten Mannes wohl aussah.
»Die Flammen haben nach mir gegriffen, dennoch bin ich weiter hinein. Immer weiter, bis ich sie an mich gerissen und aus dem Haus geschleppt habe.« Vaarus setzte sich die Mütze wieder auf und richtete seinen Mantel.
»Sie starb in meinen Armen.« Er hob den Blick und funkelte Ridon gefährlich an. »Sagt mir also nicht, Ihr hättet alles getan, was in Eurer Macht steht, solange Ihr nicht ihren toten Körper in den Händen haltet.«
Vaarus seufzte und holte ein Stück Brot aus seinem Beutel. Er brach ein Stück davon ab und reichte es Ridon. Einen Augenblick zögerte er, dann griff er danach.
»Und wegen der Schatten. Wir sind nichts weiter als zwei Wanderer, die auf dem Weg zum Schloss sind und die einen Toten auf der Lichtung entdeckt haben.«
Vier Tote. Zu viel für einen Tag.
Vaarus griff nach seinem Stock. »Macht Euch nicht so viele Gedanken, Ridon. Sattelt das Pferd und lasst uns aufbrechen. Wenn wir uns beeilen, werden wir in weniger als einer Stunde im Goldenen Falken eintreffen. Vielleicht haben sie auch noch einen Teller Brotsuppe für uns übrig.«
Ridon nickte, dann ging er zurück, packte den Leichnam an den Armen und zog ihn ins Gebüsch. Er würde verdammt sein, wenn er den Mann einfach am Wegesrand liegen lassen würde. Wenn die Schatten aus ihren Verstecken kämen, dann würde er gegen sie kämpfen. »Ich werde ihn trotzdem nicht hier liegen lassen.«
Vaarus betrachtete ihn stumm. »Ihr wärt ein guter Schattenjäger. Habt Ihr mal darüber nachgedacht?«
Ridon wischte sich die Hände an seinem Mantel ab und schüttelte den Kopf. »Früher einmal. Bevor ich mich auf die Suche nach Magda gemacht habe. Aber nachdem ich das halbe Land nach ihr abgesucht hatte, habe ich meine Träume begraben. Jetzt will ich nur noch mein Mädchen wiederfinden.«
»Wie ist sie eigentlich verschwunden?«, fragte Vaarus und schnalzte mit der Zunge.
»Auf dem Gewürzmarkt von Lamos. Sie ging hinter mir und als ich mich zu ihr umgedrehte habe, war sie weg. Ich habe die ganze Stadt nach ihr abgesucht, aber keiner hatte sie gesehen. Es war, als wäre sie vom Erdboden verschluckt worden.«
»Ich bin mir sicher, Ihr findet sie. Gebt nur nicht die Hoffnung auf.«
Nachdem er den Leichnam im Unterholz versteckt hatte, ging Ridon zurück zu seinem Pferd.
Vaarus schüttelte den Kopf. »Ihr seid ein anständiger Kerl.«
Ridon zuckte nur mit der Schulter, schwang sich auf das Pferd und hielt dem alten Mann die Hand hin, aber dieser schüttelte nur den Kopf.
Er hatte darauf bestanden, den ganzen langen Weg zu Fuß zu gehen. Buße hatte er es genannt, auch wenn Ridon nicht wusste, von was der alte Mann sprach. Es hatte ihn auch nicht interessiert. Fünf Tage war er schon unterwegs gewesen, als sie sich an der Seenbucht getroffen hatten. Sie hatten sich ein Feuer und ein Eichhörnchen geteilt und sich dann zusammen auf den Weg gemacht.
Es war nicht mehr weit bis zum Schloss. Einen halben Tagesritt, vielleicht auch etwas mehr. Wenn sie morgen bei Morgengrauen losritten, konnten sie bereits mittags dort sein. Ridon wusste nicht, was er sich von dem Besuch beim Prinzen versprach, aber es war seine letzte Chance. Er hatte ganz Linnea nach Magda abgesucht.
Langsam trabte er neben Vaarus her, da hörte er plötzlich ein Knacken. Es kam aus dem Unterholz. Er hielt inne und sein Blick glitt zur Seite. Er hatte die Dunkelheit unterschätzt. Der Mond kroch bereits über den schwarzen Himmel. Das war das Beängstigende an Linnea. Diese verdammte Dunkelheit. Nichts als Schwärze, so dicht, dass man nicht einmal die Hand vor Augen sah. Kalter Wind blies ihm ins Gesicht. Sein Mantel wehte im Wind wie ein Gespenst.
»Warum geht Ihr nicht weiter?«, fragte ihn Vaarus, der ebenfalls stehen geblieben war. »Wenn wir hier noch länger stehen, bekommen wir keine Unterkunft mehr für diese Nacht.«
»Hört Ihr das auch?«
Vaarus hielt inne, dann schüttelte er den Kopf »Nein. Es ist totenstill.«
»Genau. Kein Rascheln der Blätter. Kein Heulen der Eulen. Nichts.«
»Bei allen guten Geistern. Ihr könnt einem alten Mann wirklich einen Schrecken einjagen.«
Aus den Augenwinkeln nahm Ridon eine Bewegung wahr.
Schatten krochen aus dem Unterholz und sammelten sich zu Vaarus’ Füßen wie ein Schwarm Ameisen. Der alte Mann schrie, dennoch bewegte er sich keinen Meter, fast als wäre er am Boden festgefroren. Die Augen panisch aufgerissen stieß er qualvolle Schreie aus, die Ridon das Blut in den Adern gefrieren ließen.
Er sprang vom Pferd, versetzte ihm einen Hieb, sodass es davon galoppierte und lief zu Vaarus, der den Mund nun zu einem stummen Schrei weit aufgerissen hatte.
Starr vor Schreck blieb Ridon stehen und voller Grauen beobachtete er, wie die Schatten Kreise um Vaarus’ Beine zogen und dann langsam an seinen Beinen nach oben waberten.
Jetzt oder nie. Ridon griff nach Vaarus’ Hand, um den alten Mann hinter die Bäume zu ziehen.
»Verdammt seid Ihr, kommt mit«, schrie Ridon und packte den alten Mann am Arm.
»Geht ohne mich! Sucht Eure Frau.«
»Ich lasse Euch nicht hier. Wir müssen uns verstecken.«
»Es ist zu spät.«
Vaarus musste die Worte nicht aussprechen, um Ridon die Wahrheit dessen mitzuteilen. Den Schatten war kein Fehler unterlaufen. Vaarus hatte jemanden getötet. Nur deshalb holten sie ihn.
Starr vor Schreck blickte Ridon den alten Mann an und ließ ihn los, als hätte er sich verbrannt. Vaarus bewegte sich immer noch nicht. Stocksteif stand er am Wegesrand und blickte auf die Schatten, die sich um seine Stiefel kräuselten. Panik machte sich in Ridon breit. Was sollte er machen? Den alten Mann seinem Schicksal überlassen?
Oder ihn retten?
***
Schwer atmend saß Ridon im Gebüsch und blickte starr auf den Fleck, an dem Vaarus vor wenigen Minuten noch gestanden hatte. Bis auf seinen zerfetzten Mantel war von ihm nichts übriggeblieben.
Er wusste, dass der Tod schmerzhaft sein konnte. Aber ihm war nicht bewusst gewesen, welch entsetzliche Qualen es ihn kostete zu überleben. Diese Bilder würden ihn sein Leben lang verfolgen.
Die Schatten waren schon längst verschwunden, aber Ridon wagte es immer noch nicht, sein Versteck zu verlassen. Dabei hatte er nichts zu befürchten. Er hatte noch nie jemanden getötet. Trotzdem ließ ihn die Angst nicht los.