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Ein Wohlfühlroman für alle, die Lust haben, sich in eine kanadische Kleinstadt zu träumen. Für Fans von Virgin River und Northern Love
»Die Creeks, wie man die Einwohner hier liebevoll nannte, waren bekannt dafür, dass sie Fremde mit offenen Armen empfingen und jedem sofort das Gefühl gaben, dazuzugehören. Allerdings waren sie ebenfalls bekannt dafür, dass sie jemanden, der bei ihnen in Ungnade gefallen war, keine zweite Chance gaben.«
Um ihrem besten Freund James, Bürgermeister von Golden Creek, bei seinem Sozialprojekt »Human4Human« zu helfen, beschließt Emma mit ihrem Sohn Ben von Calgary zurück in ihre kleine kanadische Heimatstadt Golden Creek zu ziehen. Dort trifft sie nicht nur auf ihre Vergangenheit und etliche eigenwillige Bewohner, die ihr das Leben nicht immer leicht machen, sondern auch auf den attraktiven Rechtsanwalt Lian Byron, der ihr Herz höher schlagen lässt. Aber Lian ist verlobt und Emma hat sich geschworen, sich niemals mehr mit einem liierten Mann einzulassen. Als dann auch noch das berühmte Blackcomb-Festival stattfindet und Emma ausgerechnet mit Lian zusammen daran teilnehmen soll, gerät ihr Leben ein wenig außer Kontrolle.
»Es ist ein reiner Wohlfühlroman mit dezenter Liebesgeschichte und teilweise herrlich skurrilen Figuren. Ein bisschen Tiefgang findet sich ebenfalls und jede Menge Leselust!« ((Leserstimme auf Netgalley))
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Redaktion: Susann Harring
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Cover & Impressum
Widmung
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Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
FürS*E*V*M
Jeder Tag ist ein neuer Anfang.
George Eliott
Somewhere I belong – Linkin Park
Glycerine – Bush
Tear in my Heart – Twenty One Pilots
Creep – Radiohead
When I was your Man – Bruno Mars
Angel with a Shotgun – The Cab
Drivers licence – Olivia Rodrigo
Run – P!nk
Afterglow – Ed Sheeran
Weak – Skunk Anansie
Save your Tears – The Weekend
Mr. Brightside – The Killers
Somewhere I belong – Linkin Park
Bohemian Rhapsody – Queen
Cradles – Sub Urban
Still into you – Paramore
A Drop in the Ocean – Ron Pope
Another Love – Tom Odell
All your Eyes – Julia Michaels
Down – Jason Walker
Gravity – Sara Bareilles
»Wir sind da«, murmelte Emma und parkte ihren roten Ford Pick-up auf dem Kiesplatz vor ihrem Elternhaus. Es war ein Blockhaus wie fast jedes andere in dieser Gegend, mit meterhohen Fenstern und einem Schaukelstuhl auf der Veranda. Nur gab es bei diesem eine Rampe vor dem Zweiteingang, die ihr Vater vor vielen Jahren für den Rollstuhl ihrer Mutter angefertigt hatte. Aus dem Lautsprecher drangen die letzten Klänge von Linkin Parks Somewere I belong, bevor Chester Benningtons Stimme im Radionirvana verhallte.
Einen Moment hielt Emma inne und ließ den Anblick des Hauses auf sich wirken. Sie hatte sich in den letzten Wochen den Kopf darüber zerbrochen, ob es eine gute Idee war, Jamies Angebot anzunehmen und zurück nach Golden Creek zu kehren. Die Zweifel hatten sie kaum schlafen lassen. Schließlich hatte es einen Grund gegeben, weswegen ihre Familie der Kleinstadt den Rücken gekehrt hatte. Und jetzt schien es, als wären alle schlechten Erinnerungen an damals, kaum hatte sie die Stadtgrenze passiert, zurückgekehrt. Es war wie ein Déjà-vu, nur intensiver. Gewaltiger. Wie Hagelkörner prasselten die Erinnerungen auf sie ein. So viele Jahre hatte sie sich darum bemüht, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Jetzt wieder damit konfrontiert zu werden erschien ihr fast unerträglich.
Vielleicht war es wirklich eine blöde Idee gewesen.
Ihr Blick wanderte über den Vorgarten und ein Bild flackerte kurz vor ihrem geistigen Auge auf. Sie dachte an ihre Mutter, die im Garten Wäsche aufgehängt hatte, während Emma und ihre Schwestern barfuß durchs nasse Gras gelaufen waren. Sogar an das Lachen ihrer Mutter konnte sie sich nach all den Jahren erinnern. Wärme durchflutete sie – aber auch Furcht. Sie hatte vergessen, welche Macht diese Erinnerungen hatten. Emma lehnte die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe und schloss die Augen. Golden Creek war ihr Zuhause gewesen. Ihr sicherer Hafen. Ihr Fels in der Brandung. Und plötzlich hatte man ihr das alles weggenommen. Tief seufzend setzte sie sich auf und strich sich eine kupferrote Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte.
Die Fahrt von Calgary nach Golden Creek war anstrengend gewesen und mit jedem Kilometer, den sie der Kleinstadt näher gekommen war, waren ihre Magenschmerzen stärker geworden. Leider konnte sie nicht sagen, ob das an der Angst oder der Aufregung lag.
Sie war bereits in den frühen Morgenstunden in Calgary losgefahren und jetzt, nach fast zehn Stunden Autofahrt wieder hier zu sein, brachte Unmengen an verschiedenen Emotionen in ihr hervor. Sie konnte es kaum erwarten, Jamie wiederzusehen, der vor acht Monaten zum Bürgermeister von Golden Creek gewählt worden war. In den letzten Jahren hatten sie einander kaum gesehen, was hauptsächlich ihre Schuld war. Sie redete sich gern ein, dass es an ihrer Arbeit lag, aber insgeheim wusste Emma, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Sie hatte einfach nicht den Mut gehabt, nach Golden Creek zurückzukehren. Dank ihrem Skype-Videochat hatten sie trotzdem relativ unkompliziert Kontakt halten können. Doch ihr bester Freund hatte ihr gefehlt.
Die Creeks, wie man die Einwohner hier liebevoll nannte, waren bekannt dafür, Fremde mit offenen Armen zu empfangen und jedem sofort das Gefühl zu geben, dazuzugehören. Allerdings waren sie ebenfalls bekannt dafür, jemandem, der bei ihnen in Ungnade gefallen war, keine zweite Chance zu geben. Dieser Gedanke versetzte Emma ein wenig in Panik.
Sie ließ die Fensterscheibe herunter und atmete tief ein. Luft. Sie brauchte dringend frische Luft. Der milde Herbstwind streichelte ihr Gesicht und ein paar Sonnenstrahlen fanden ihren Weg durch das Blätterdickicht des angrenzenden Waldes. Sie entspannte sich ein wenig. Der Herbst war schon immer ihre Lieblingsjahreszeit gewesen und Emma wurde schmerzlich bewusst, wie sehr sie das alles hier doch vermisst hatte. Sie inhalierte den frischen Duft der Pinienbaum-Haine, die sich über Golden Creek erstreckten. Wie sehr hatte sie diesen Geruch bereits als Kind geliebt. Ebenso wie das Farbspektakel der leuchtend rot und orange verfärbten Blätter. Wenn es etwas gab, das sie an zu Hause erinnerte, dann dies. Sie war damals so stolz darauf gewesen, hier leben zu dürfen, während Touristen aus aller Welt nach Golden Creek kamen. Schließlich war der Ort nicht nur für seine prachtvolle Natur, sondern auch für die vielen Sportaktivitäten bekannt. Im Winter konnte man seine Zeit mit Hundeschlittenrennen, Heliskiing oder Eisklettern verbringen, in der Zeit von Frühling bis in den Herbst hinein gab es viele Aktivitäten wie Kajak fahren oder Downhill Biken, um sich nicht langweilen zu müssen. In Golden Creek war für jeden Geschmack das Passende dabei. Emma war sich ziemlich sicher, dass sich das nicht geändert hatte.
»Mom?«
Bens Stimme drang leise von der Rückbank nach vorne. Emma atmete tief durch, ehe sie sich zu ihm umdrehte. Ihr vierzehnjähriger Sohn blickte sie müde an. Er hatte es sich während der Fahrt mit seinen iPad bequem gemacht und war irgendwann eingeschlafen. Emma unterdrückte den Drang, ihm das Haar aus der Stirn zu streichen, stattdessen lächelte sie nur. In seinem Alter fand man es nicht mehr cool, wenn die eigene Mutter sich zu solchen Gefühlsausbrüchen hinreißen ließ.
»Ich dachte, du schläfst.«
»Habe ich auch.« Er unterdrückte ein Gähnen, dann sah er aus dem Fenster.
»Ist das Grandpas Haus?«
Sie folgte seinem Blick, doch sah sie etwas anderes: den warmen Apfelkuchen, den ihre Mutter gebacken hatte und den sie und ihr Vater von der Fensterbank stibitzt hatten. Sie und ihre Schwestern, wie sie mit nackten Füssen durch den Wald hinunter zum Golden Creek – den Fluss, dem die Stadt ihren Namen verdankte – liefen und darin badeten. Jamie, mit dem auf dem Hausdach saß und Sterne zählte. Sie hatte so viele schöne Momente hier gehabt.
»Gefällt es dir?«
Ben runzelte die Stirn und presste missmutig die Lippen zusammen. Diese Mimik kannte Emma nur zu gut.
»Er hat nicht erwähnt, dass wir in einer Bruchbude wohnen werden.« Bens Worte und der Gedanke an ihren Vater schnürten ihr die Luft ab. Nein, er hatte nicht erwähnt, in welchem Zustand das Haus tatsächlich war. Was vermutlich daran lag, dass er sich kaum noch an die Dinge, die seit dem Tod ihrer Mutter geschehen waren, erinnern konnte. An guten Tagen erkannte er Emma und ihre Schwestern Lou und Rita, an schlechten brachte er keinen einzigen Ton heraus.Sie hatte nicht vor, Ben daran zu erinnern. Er und sein Großvater hatten eine ganz besondere Beziehung zueinander, und Emma wusste, dass Ben die Krankheit bewusst verdrängte. Sie musste nicht auch noch Salz in die Wunde streuen, indem sie ihn daran erinnerte, wie schlecht es seinem Großvater momentan ging und das sich sein Zustand niemals bessern würde.
Aber sie musste zugeben, dass er recht hatte. Das Haus glich tatsächlich einer Bruchbude. Die Haustür konnte einen neuen Anstrich vertragen, eine Fensterscheibe im ersten Stock war zerbrochen, heruntergefallene Dachziegel lagen im Vorgarten und es war nicht zu übersehen, dass einige Zaunlatten fehlten. Die Witterung hatte in all den Jahren auch vor ihrem Elternhaus nicht haltgemacht. Bruchbude war zwar etwas übertrieben, dennoch waren ein paar Renovierungsarbeiten dringend notwendig.
»Ich gebe zu, ein paar Dinge muss man reparieren, aber das bekommen wir schon hin.« Ben warf ihr einen skeptischen Blick zu, worauf Emma zu lachen begann.
»Ben und Emma, gemeinsam gibt es kein DilEmma«, reimte sie und zwinkerte ihm zu und streckte ihm eine Ghettofaust hin.
Ben stöhnte auf und ignorierte die Geste. »O Gott, Mom. Hör auf damit! Das ist so peinlich.«
»Emma und Ben …«
»MOM!«
Sie grinste und ließ die Hand sinken. Als er nur noch in Reimen gesprochen hatte, war er fünf Jahre alt gewesen. Auch wenn diese Zeit zu der schwersten ihres Leben zählte, erinnerte sie sich gerne daran zurück.
Ben öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen. Emma folgte ihm, hielt einen Moment inne und genoss den Moment. Das Haus lag eingebettet zwischen Zypressen, Kiefern und Zuckerahornbäumen am Rande einer Kiesstraße. Der alte, verrostete Chevrolet ihres Großvaters stand immer noch verlassen vor der Einfahrt, als hätte er die letzten fünfzehn Jahre auf ihre Rückkehr gewartet. Ihr Vater hatte ihn zurückgelassen, als sie nach Calgary aufgebrochen waren. Es war alles noch so, wie sie es in Erinnerung hatte. Fast, als wäre hier die Zeit stehen geblieben. Alles hier fühlte sich so vertraut an. Als wäre sie nicht über ein Jahrzehnt fort gewesen. Am liebsten hätte Emma die Arme ausgebreitet und ihr Elternhaus in die Arme genommen wie eine alte Freundin, die man nach Jahren wiedersah. Andererseits musste sie den Drang, zurück in den Wagen zu steigen und den Ort hinter sich zu lassen, niederkämpfen. Dieses Gefühlswirrwarr brachte sie noch um den Verstand.
Zum wiederholten Mal fragte sich Emma, ob es nicht egoistisch von ihr gewesen war, ihren Sohn in die kanadische Wildnis zu verfrachten, damit sie in ihr altes Leben zurückkehren konnte.
»Hörst du das?«, fragte Ben und riss sie damit aus ihren Gedanken.
Einen Augenblick hielt Emma inne.
»Nein. Es ist vollkommen ruhig hier.«
»Eben. Es ist zu ruhig, Mom. Total langweilig. Gibt es hier überhaupt einen Stromanschluss und fließendes Wasser?«
Emma schüttelte bedauernd den Kopf. »Wir mussten immer zum Fluss laufen, um uns die Haare zu waschen.«
Ben riss die Augen auf und starrte sie so entsetzt an, dass Emma losprustete und ihm auf die Schulter klopfte. »Du wirst auf deine Playstation schon nicht verzichten müssen.« Ben war Calgarys lärmenden Berufsverkehr gewöhnt, die Streitereien der Nachbarn, seine Schulkameraden, die mit ihm Fußball spielten. Viele Menschen dachten, es sei eine Herausforderung, in der Stadt zu überleben, aber eine viel größere war es, dies auf dem Land zu tun. Sie hatte sich so sehr bemüht, Frieden mit Golden Creek zu schließen, aber es gelang ihr nicht über Schatten zu springen. Als Jamie sie gebeten hatte, Mitglied seines Teams für das neue Sozialprojekt zu werden, hatte Emma mit dem Gedanken gespielt, abzulehnen.
Aber nachdem sie mit ihrer Schwester Rita über ihre Bedenken, zurückzukehren, gesprochen hatte, hatte sie Jamie schließlich zugesagt. Sie würde nur für ein Jahr hier tätig sein und Ben und sie konnten einen Tapetenwechsel vertragen. Es würde ihm guttun, die Großstadt mal für eine Weile hinter sich zu lassen und stattdessen seine Wurzeln kennenzulernen. Und ihr konnte nach der Geschichte mit Ethan ein Neuanfang auch nicht schaden. Es war an der Zeit gewesen, auf Stopp zu drücken und alles hinter sich zu lassen.
Sie lächelte beim Gedanken an die neuen Herausforderungen und an Jamies Elan und Tatendrang, mit dem er daran ging, die Dinge in ihrer Heimatstadt zu verändern. Das Sozialprojekt »Human4Human«, das er ins Leben gerufen hatten, schien nur der erste Schritt zu sein und Emma musste zugeben, dass sie neugierig auf Jamies Pläne war. Er hatte ihr die Agenda bereits zukommen lassen; die wichtigsten Punkte waren eine soziale Einrichtung für junge Mütter und Väter, ein mobiler Verpflegungsbus, der Kinder einkommensschwacher Familien mit gesundem Essen versorgen sollte, und ein neues Jugendhaus. Emma war angesichts von seinen Vorschlägen ganz warm ums Herz geworden.
»Bist du dir sicher, dass du das tun willst?«, hatte Rita sie über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg gefragt, als sie ihre ältere Schwester zum Lunch eingeladen hatte. »Die wenigsten Menschen ändern sich. Das trifft vermutlich auch auf die Creeks zu.«
Emma nippte an ihrem Glas Weißwein und seufzte. »Vielleicht hast du recht. Aber Ben sollte wissen, woher seine Familie kommt.«
Rita runzelte die Stirn und zeigte mit den Finger auf sie. »Das ist nicht der wahre Grund. Gib es zu. Du willst zurück und ihnen etwas beweisen.« Emma zuckte mit den Schultern. Rita hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, aber so ganz wollte sie es nicht zugeben. »Vielleicht.«
»Wusste ich es doch!« Sie grinste und legte ihre Hand auf Emmas Unterarm. »Aber du musst das nicht tun. Schau dochnur, was du erreicht hast.«
»Du hast vermutlich recht«, murmelte Emma und zupfte einen Faden von ihrem Pullover. Sie dachte an die Antworten, die sie in sich trug. Sie würde sie erst preisgeben, wenn jemand die richtigen Fragen stellte. Emma schluckte, als sie an dieses Gespräch dachte. Sie spürte wieder dieses nagende Gefühl, das sie einfach nicht losließ. Vielleicht war es wirklich die richtige Zeit für eine Veränderung.
Emma warf einen Blick zurück zu ihrem Pick-up.
Bevor sie das Haus beziehen konnten, mussten sie bei Jackie Stewart den Zweitschlüssel für das Haus abholen und Paul Sullivan das Päckchen übergeben, das ihre Tante für ihn vorbereitet hatte. Im Stillen schickte Emma ein Dankgebet gen Himmel, dass Jamie so aufmerksam gewesen war und vor ihrer Ankunft dafür gesorgt hatte, dass das Wasser und auch der Strom angestellt worden waren. Emma sehnte sich nach etwas Ruhe, aber erst mal hatte sie etwas zu erledigen.
Gerade als sie zurück zum Wagen ging, riss eine bekannte Stimme sie aus ihren Gedanken.
»Das glaub ich jetzt nicht. Na, wenn das nicht Emma Thompson ist.«
Eine ältere Dame mit pechschwarzem Haar, das im Nacken zu einem strengen Knoten zusammengebunden war, stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und wedelte mit ihrem Gehstock. Einen Moment hielt Emma inne und musterte sie. Ihr Gesicht war faltig wie ein zerknittertes Blatt Papier. Sie trug einen schwarzen Baumwollrock, eine weiße Bluse und darüber eine graue Strickjacke. Es dauerte einen Moment, bis Emma die Stimme zuordnen konnte, dann begann sie zu lächeln. Ben zog eine Augenbraue nach oben und warf Emma einen fragenden Blick zu.
»Miss Julie«, rief sie. »Schön, Sie wiederzusehen. Geht es Ihnen gut?«
»Aber natürlich, mein Kind. Ich lebe seit über vierzig Jahren allein und bin mein eigene Herrin. Warum sollte es mir denn nicht gut gehen?« Langsam kam sie über die Straße, bedacht einen Schritt vor den anderen setzend, und lächelte Emma freudig an. Als sie schließlich vor Emma und Ben stehen blieb, breitete sie die Arme aus und zog Emma in eine innige Umarmung. Im ersten Augenblick versteifte Emma sich und unterdrückte das Bedürfnis, zurückzuweichen. Dann entspannte sie sich und erwiderte die Umarmung.
Miss Julie war die gute Seele von Golden Creek. Wenn es eine Person in dieser Kleinstadt gab, die nicht über Emma geurteilt hatte, dann sie. Julie drückte sie, dann ließ sie von ihr ab und ging einen Schritt zurück.
»Jamie hat mir von deiner Ankunft erzählt. Er hat dich also tatsächlich überredet, zurückzukommen. Ich dachte, der Junge nimmt mich auf meine alten Tage noch auf den Arm.«
Mit seinen fünfunddreißig Jahren war Jamie schon lange kein Junge mehr, dachte Emma und schmunzelte bei dem Gedanken daran, wie dieser wohl darauf reagieren würde. Aber Miss Julie wäre er sicherlich nicht böse.
»Wie wunderschön du geworden bist. Ich habe deiner Mom schon bei deiner Geburt gesagt, dass du das hübscheste der Thompson-Mädchen werden wirst. Und ich habe recht behalten.« Sie zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Es lag Emma auf der Zunge, Miss Julie daran zu erinnern, dass sie ihre Schwester in den letzten fünfzehn Jahren auch nicht zu Gesicht bekommen hatte, aber sie verkniff sich den Kommentar. Sie wollten diesen Moment des Wiedersehens nicht mit Banalitäten zerstören. Sie freute sich so sehr darüber, die alte Dame wiederzusehen.
»Bist du hier, um deine Mom zu besuchen? Ich bin mir sicher, sie freut sich darüber, dich wiederzusehen.«
Emmas Lächeln verblasste und sie blickte zu Ben, der sie verwirrt anstarrte. »Ich dachte, Grandma ist tot?«, sagte er.
Es war eine Sache, wieder hier zu sein und in Erinnerungen zu schwelgen, aber eine ganz andere, sich der Gegenwart zu stellen. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
»Oh, das entspricht auch der Wahrheit«, antwortete Miss Julie auf Bens Frage. »Ich kümmerte mich schließlich seit eurem Umzug um ihr Grab. Dennoch, glaube ich, würde es sie freuen, wenn du sie bei Gelegenheit auf dem Friedhof besuchen würdest. Glaub mir, die Toten sich allgegenwärtig.«
»Das ist gruselig«, flüsterte Ben und Emma schluckte. Sie musste ihm recht geben. Obwohl sie die alte Frau schon von Kindesbeinen an kannte, war sie ihr schon immer ein bisschen unheimlich gewesen. Miss Julie war im Ort für ihre esoterische, manchmal sogar übersinnliche Ader bekannt. Die Kinder in Golden Creek hatten sie früher oft eine Hexe genannt. Das lag vor allem daran, dass die alte Dame bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Tarotkarten zückte, um anderen ihre Zukunft vorherzusagen. Zu Emmas Überraschung hatten die meisten von ihnen Miss Julie Glauben geschenkt. Ja, manche von ihnen hatten sich sogar vor ihrer Hochzeit die Karten legen lassen. Emma hatte nie groß darüber nachgedacht, aber dass sie jetzt von den Verstorbenen sprach, als wären sie noch unter ihnen war dann doch etwas zu viel für Emma.
Sie fühlte sich ein wenig unwohl.
Miss Julie schien ihr Unbehagen zu bemerken, denn sie lächelte und wechselte das Thema.
»Deine Tante hat mich all die Jahre auf dem Laufenden gehalten. Sie hat mir erzählt, du kümmerst dich in Calgary um Kinder, die auf der Straße leben?«
Erleichterung machte sich in Emma breit. Das war ein Gesprächsthema, bei dem sie sich wohlfühlte. »Unter anderem. Eigentlich kümmere ich mich um alle, die Hilfe benötigen.« Emma fand es immer etwas schwierig, zu erklären, was genau ihre Tätigkeit als Streetworkerin ausmachte. Miss Julie lächelte und Emma glaubte Stolz darin zu sehen. Ganz sicher war sie sich aber nicht.
»Dann bist du so was wie ein Straßenengel? Das hätte deiner Mom gefallen.« Emma errötete und blickte zu Boden.
»So würde ich es nicht nennen. Wir sind ein Team von vielen Streetworkern und jeder tut sein Bestes.«
»Also Jamie hat dich genauso genannt.«
Emma atmete tief ein. Wärme breitete sich in ihr aus. Dass ihr bester Freund aus Kindheitstagen ihr über all die Jahre die Treue gehalten hatte, bedeutete ihr unendlich viel. Noch dazu hatte er nicht nur zu ihr gestanden, sondern ihr auch den Bewohnern Golden Creeks gegenüber den Rücken gestärkt. Sie war sich nicht sicher, ob sie Jamie jemals gesagt hatte, wie viel ihr das bedeutete.
Dennoch wusste sie nicht, was sie auf dieser Eröffnung erwidern sollte. Miss Julie ließ ihr aber auch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn ihr Blick fiel auf Ben, der die ganze Zeit über hinter ihr gestanden hatte.
»Und du musst Benjamin sein, richtig?«
»Einfach nur Ben«, murmelte er.
»Ihr jungen Leute könnt es vermutlich nicht mehr hören, aber groß bist du geworden. Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du nichts weiter als ein schwarzer-weißer Fleck in der Größe eines Pennys auf dem Ultraschallbild deiner Mom und ich muss zugeben, jetzt gefällst du mir viel besser.«
»Danke«, antwortete er und lächelte die alte Dame an.
Gott sei Dank, dachte Emma. Bens Schutzmauern zu durchdringen stellte sich manchmal als ein Mammutprojekt heraus, aber Miss Julie war es schon in den ersten fünfzehn Minuten gelungen. Das stimmte Emma zuversichtlich. Ben würde sich in Golden Creek wohlfühlen und das war alles, was für sie zählte. Die Sorge, wie die Bewohner von Golden Creek auf sie reagieren würden, blieb jedoch. Miss Julie hatte ihr den Fehler damals nicht übel genommen, was sie vom Rest der Bewohner allerdings nicht sagen konnte.
»Ich habe einen Braten im Ofen und werde wohl nicht darum herumkommen, einen Blick darauf zu werfen. Ich bin mir sicher, dass ihr erst einmal Golden Creek neu entdecken müsst. Es hat sich so viel verändert, und dennoch ist alles gleich geblieben. Du wirst schon sehen.« Sie winkte ihnen zu, ging über die Straße und kehrte zurück in ihr Haus. Emma indes war sich nicht sicher, ob sie schon bereit dafür war, den Creeks gegenüber zu treten.
Golden Creek hatte sich tatsächlich kaum verändert, stellte Emma erleichtert fest. Pittoresk gelegen am Fuße des Blackcomb Mountain, befand sich das Örtchen direkt am Fluss. Der Charme der Kleinstadt war nicht zu übersehen, dachte Emma, während sie die Mainstreet entlangfuhren. Sie versuchte, die Stadt durch die Augen eines Touristen zu sehen. Eine Reihe von Läden, deren Fassaden in pudrigen Farben gestrichen und die in ihrer Kindheit noch nicht da gewesen waren, zog sich durch den Ort. Sie entdeckte einen Souvenirladen, vor dem ein aus Holz geschnitzter, lebensgroßer Bär stand, daneben das Touristenzentrum und ein Friseursalon.
Emma parkte ihren Pick-up am Straßenrand vor Jimmy Bobs Autowerkstatt. Einen Augenblick lang zögerte sie und wischte sich die schweißnassen Hände an ihrer Jeans ab. Sie würde es schaffen. Sie konnte den Bewohnern von Golden Creek gegenübertreten. Emma atmete tief durch, während Ben schon die Tür aufriss und aus dem Wagen stieg. Dann folgte sie ihm.
Auf der Suche nach einem Becher Kaffee für Emma und einem Schokoladenbrownie für Ben wanderten sie durch die Innenstadt. Mit ein wenig Glück existierte Lindas Coffeeshop noch und sie könnten sich dort die Zeit vertreiben, bis sie sich mutig genug fühlte, den Menschen von Golden Greek gegenüberzutreten. Was total lächerlich war. Schließlich war sie mittlerweile dreißig Jahre alt, hatte ihr Studium an der York Universität in Calgary abgeschlossen und ein Kind großgezogen. Unzählige schlaflose Nächte waren bei ihr an der Tagesordnung gewesen, Auseinandersetzungen mit Ärzten und Pädagogen hatten ihren Alltag bestimmt und sie hatte Unmengen von Kindertränen getrocknet. Sie besaß die Stärke einer alleinerziehenden Mutter und hatte keinen Grund, sich zu verstecken.
Und trotzdem machte sie sich bei dem Gedanken daran, einen von ihnen wiederzusehen, fast in die Hose. Sie musste zugeben, dass das weder besonders mutig noch erwachsen war.
Als sie vor dem Gebäude ankamen, in dem Lindas Coffeeshop hätte sein sollen, blieb Emma enttäuscht stehen. Der Laden hatte einem Laden für Angelbedarf Platz gemacht.
So viel dazu, es hätte sich hier kaum etwas verändert.
»Mom? Können wir hier kurz reingehen?« Ben deutete auf einen Laden, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Die Fassade war in einem hellen Gelb gestrichen worden und stach aus den anderen Gebäuden hervor. Books & Tea stand auf der Tafel über der Eingangstür. In ihrer Jugend hatte sie sich immer einen Buchladen in Golden Creek gewünscht, aber das Geld der Gemeindekasse hatte nur für eine spärlich ausgestattete Schulbibliothek gereicht. In kürzester Zeit hatte sie zum Entsetzen ihrer Lehrerin bereits jedes Buch darin gelesen gehabt. Ben wartete ihre Antwort gar nicht ab, sondern lief bereits über die Straße. Emma seufzte. Sie musste wohl auf ihren dringend benötigten Kaffee verzichten und sich stattdessen mit einer Tasse Tee begnügen.
Der Geruch von Marzipan und Zimt lag in der Luft und ein melodisches Klingeln ertönte, als sie den Laden betraten. Emma fühlte sich sofort wohl. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Kuchen jeder Art gehabt, was man ihrer Figur leider auch ansah. In Verbindung mit einem Buchladen war das ihre Vorstellung vom Paradies. Ben steuerte sofort ein Regal im hinteren Bereich des Ladens an, in dem sich japanische Comics befanden. Vor geraumer Zeit hatte er eine Schwäche für Mangas entwickelt. Emma war so glücklich darüber gewesen, dass er seine Leidenschaft fürs Lesen entdeckt hatte, dass es ihr im Grunde genommen völlig egal war, was er las.
Sie ließ sich Zeit, den Laden zu erkunden, der in verschiedene Genres aufgeteilt war. Immer wieder blieb sie stehen, zog ein Buch aus dem Regal und blätterte darin, ehe sie es zurückstellte und weiterging. Es dauerte nicht lange, bis sie ein paar Liebesromane entdeckt hatte, die sie schon länger lesen wollte. Vielleicht würde sie hier in Golden Creek ein wenig mehr Zeit dafür finden. Sie beschloss, sich die Bücher zu gönnen. In der Vergangenheit hatte sie stets sparsam gelebt und oftmals auf Dinge verzichtet, sodass sie ein hübsches Sümmchen angespart hatte. Gerade als Emma sich auf den Weg zur Kasse machte, entdeckte sie im hinteren Teil des Ladens eine kleine Teeküche. Dort stapelten sich Tassen und mit Gebäck bestückte Teller. In einer Glasvitrine daneben waren verschiedene Kuchen, Torten und frische Macarons ausgestellt. Eine Frau lehnte an der Arbeitsplatte und nippte an einer Tasse Tee.
»Möchten Sie auch eine?«, fragte sie, als sie Emmas Blick bemerkte, und schenkte ihr ein freundliches Lächeln. Ihre langen hellblonden Haare trug sie zu einem eleganten Zopf geflochten, der ihr über die Schulter hing. Sie trug eine weiße Seidenbluse, eine schwarze Chinohose und beige Ballerinas. Emma warf einen kurzen Blick auf ihre eigenen Garderobe. Angesichts der langen Fahrt hatte sie sich für zerschlissene Jeans, Turnschuhe und einen dunkelblauen Hoodie mit dem Logo der York-Universität entschieden. Sie hatte schon immer legere, gemütliche Kleidung bevorzugt und griff nur selten nach einem hübschen Kleid und schicken Schuhen. Bisher hatte sie das auch nie gestört. Seltsamerweise tat es das aber in genau diesem Moment. Trotzdem lächelte sie und trat einen Schritt vor.
»Sehr gerne.«
Die Frau erwiderte ihr Lächeln, griff nach der Kanne und schenkte ihr ein.
»Ich bin der Meinung, zu einem guten Buch gehört eine schöne Tasse Tee.« Ihr Lächeln war wirklich ansteckend und Emma sofort sympathisch. Ihrem Aussehen nach passte sie perfekt in eine Ausgabe der Cosmopolitan.
»Ein Stück Kuchen? Die Apfel-Zimt-Torte kann ich wärmstens empfehlen. Mit Jack Monroes hauseigenem Ahornsirup.«
Emma zögerte einen Moment, bevor sie die mahnende Stimme in ihrem Kopf, die sie daran erinnerte, dass ihre Wunschkonfektionsgröße dabei war, in weite Ferne zu wandern, zum Verstummen brachte.
»Vielen Dank.« Sie legte die Bücher auf den Tresen und nahm der Frau den Teller ab.
»Da haben Sie sich ja ein paar echte Klassiker herausgesucht. Sinn und Sinnlichkeit gehört zu meinen Lieblingsbüchern. Ich bin übrigens Claire.« Die fremde Frau streckte ihr die Hand hin, die Emma sofort ergriff.
»Ich bin Emma. Ich habe das Buch in meiner Jugend unzählige Male gelesen, aber leider ist die Ausgabe bei meinem Umzug verloren gegangen. Seltsamerweise habe ich es in all den Jahren nie vermisst, aber als ich es jetzt im Regal stehen sah …« Emma zuckte mit den Schultern. »Irgendwie verbindet es mich mit diesem Ort.« Emma konnte es sich selbst nicht erklären, aber sie verspürte plötzlich den Drang, es zu kaufen.
»Das kann ich absolut verstehen.« Claire griff nach einer Serviette und reichte sie Emma.
»Gehört das Geschäft Ihnen?«
Claire schüttelte den Kopf. »Nein, meiner Tante. Aber sie hat heute ihren Pokernachmittag in der Stadt und ich habe ihr versprochen, so lange den Laden zu übernehmen.«
Emma lachte auf. »Finden sie immer noch bei Miss Alice statt?«
Überrascht sah Claire sie an.
»Sie kennen sie?«
»Ja. Allerdings ist unsere letzte Begegnung schon eine Weile her. Führt sie immer noch die kleine Pension? Alice muss doch schon mindestens achtzig Jahre alt sein.«
Claire lachte und biss in einen Keks. »Oh ja, und sie hält immer noch die ganze Stadt auf Trab. Woher kommen Sie?«
Einen Moment zögerte Emma. Sie fragte sich, ob sie erwähnen sollte, dass sie vor Jahren hier gelebt hatte, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort wieder. Es war nicht weiter von Belang.
»Aus Calgary«.
»Bleiben Sie lange in Golden Creek?«
Emma warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, fast so, als läge dort die Antwort auf diese Frage.
»Wenn es nach meinem Sohn ginge, würden wir sofort wieder von hier verschwinden.« Sie lachte und wie auf Kommando tauchte Ben mit einem Stapel Bücher hinter dem Regal auf.
»Wenn man von ihm spricht. Claire, das ist Ben.«
Überrascht richtete sich Claire an Ben, dann sah sie wieder zu ihr. »Das ist Ihr Sohn?«
Emma lachte. An diese Reaktion war sie mittlerweile gewöhnt. Ben war bereits einen Kopf größer als sie und auch sonst kämen die wenigsten auf die Idee, dass es sich bei ihnen um Mutter und Sohn handelte. Stolz nickte sie. »Ja, das ist er.«
»Tut mir leid«, stammelte Claire und schüttelte den Kopf. »Ich wollte nicht anmaßend sein. Es ist nur … Sie sehen so jung aus.«
Ben verdrehte die Augen und stöhnte auf. »Jeder reagiert so, wenn er erfährt, dass sie meine Mom ist.«
Claire musterte ihn. »Wie alt bist du?«
»Vierzehn.«
Emma konnte sehen, wie Claire in Gedanken zu rechnen begann. So war es jedes Mal. Sie warf ihr einen kurzen Blick zu, doch Emma fiel es schwer, ihn zu deuten.
»Dann besuchst du sicher auch die Schule hier, oder? Ich bin Englischlehrerin an der Golden Creek Highschool.«
Ben seufzte. »Ja, leider. Zumindest so lange, wie Mom hier arbeitet.«
Claire warf Emma einen fragenden Blick, sodass diese sich gezwungen fühlte, hinzuzufügen: »Ich unterstütze den Bürgermeister bei seinem Sozialprojekt Human4Human.« Emma hatte nicht vor zu erwähnen, dass Jamie ihr bester Freund war. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass man nach solchen Aussagen allzu schnell in eine Schublade gesteckt wurde.
»Wirklich? Meine Freundin Caroline ist Ernährungsberaterin und kümmert sich um die Schulküche. Wissen Sie schon, für welchen Bereich Sie zuständig sein werden?«
»Noch nicht wirklich. Ich werde mich aber in erster Linie um die Jugendlichen kümmern.«
»Dann sind Sie also Sozialarbeiterin. Das klingt fantastisch. Ich kann nicht glauben, dass Jamie Ihre Ankunft nicht erwähnt hat. Mein Verlobter ist ein guter Freund unseres Bürgermeisters und er war erst vor ein paar Tagen zum Essen bei uns. Er hat Sie mit keinem Wort erwähnt.«
Erleichterung machte sich in Emma breit. Sie hatte Jamie das Versprechen abgenommen, niemandem von ihrer Arbeit hier zu erzählen. Das Letzte, was sie brauchen konnte, waren Gerüchte über sie, die noch vor ihrer Ankunft die Runde machten. Das hätte für Ben alles noch verschlimmert, dabei wollte Emma ihm den Start hier doch so leicht wie möglich machen – sofern das überhaupt möglich war. Dass Jamie sein Wort gehalten hatte, ließ sie aufatmen.
Claire lächelte sie an. »Aber es freut mich, dass er Sie eingestellt hat. Dann werden wir uns auf jeden Fall noch öfter sehen.«
»Da bin ich mir sicher.«
Emma nickte und streckte ihr einen Zwanzigdollar-Schein hin.
Claire schüttelte den Kopf und winkte ab. »Sehen Sie es als Willkommensgeschenk an.«
Emma lächelte dankbar. Auch wenn sie den Drang, Claire mitzuteilen, dass sie sich nicht sicher war, ob sie hier wirklich willkommen war, nicht unterdrücken konnte.
Denn manche Dinge änderten sich einfach nicht.
Lian Byron wischte sich den Schweiß von der Stirn und starrte auf die Hausfassade von Alice’ Bed & Breakfast, auf die jemand mit roter Farbe Ich liebe Dich geschrieben hatte. Alice, die achtzigjährige Besitzerin, stand neben ihm und fluchte lautstark vor sich hin. Neben ihr schüttelte Candice Jennings, die Besitzerin von Books & Tea, missbilligend den Kopf. Mittlerweile hatten auch ein paar andere Anwohner den Weg zu ihnen gefunden und begutachteten das Gebäude. Lian war sich sicher, dass dies in den nächsten Tagen das Gesprächsthema Nummer eins in Golden Creek sein würde. Er lebte bereits lange genug hier, um zu wissen, wie die Creeks tickten.
»Vielleicht sollten Sie doch Officer Brown holen«, sagte Lian zu Alice und rieb sich den Nacken. »Ich schätze, dass er mehr ausrichten kann als ich.«
Die betagte, aber rüstige Dame verschränkte die Arme vor der Brust und schnalzte mit der Zunge. »Mit ihm habe ich schon gesprochen. Er ist momentan verhindert. Er meinte, ich solle Sie anrufen.«
»Du solltest Anzeige erstatten, Alice. Das ist Sachbeschädigung. Lian, sagen Sie es ihr. Von mir will sie ja keinen Rat annehmen.«
Lian stöhnte und ließ den Kopf hängen. Langsam entwickelte er sich zum Mädchen für alles. Dabei hatte er mit seinem eigentlichen Job als Anwalt schon alle Hände voll zu tun. Vor sechs Jahren war er nach Golden Creek gekommen und damals war er überzeugt gewesen, vor Langeweile zu sterben. Er und Jamie hatten das Jurastudium an der University of Toronto erfolgreich abgeschlossen, daraufhin hatte sein Freund ihn überredet, mit nach Golden Creek zu kommen und zusammen mit ihm eine Rechtsanwaltskanzlei zu eröffnen. Das Leben in einer Kleinstadt könne durchaus aufregend sein, hatte Jamie gesagt, was Lian mit einem Lachen quittiert hatte. Dennoch hatte er sein Angebot angenommen und war nach Golden Creek gezogen. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass er in Jamie einen echten Freund gefunden hatte, oder einfach nur daran, dass in Toronto niemand mehr auf ihn wartete. So genau wusste er es nicht.
Aber Jamie hatte recht behalten: Jeden einzelnen Abend war Lian froh, die Tür zu seiner Kanzlei schließen und alles hinter sich lassen zu können. Seit Jamie als Bürgermeister in Golden Creek tätig war, blieb die ganze Arbeit nämlich an ihm hängen.
»Candice hat recht. Aber ich befürchte, dass ich Ihnen da nicht helfen kann, Alice.« Unter anderen Umständen hätte er der alten Dame geraten, ein paar Kameras zu installieren und sich einen Wachhund zuzulegen, aber Alice weigerte sich, selbst etwas gegen diesen unerwünschten Kavalier zu unternehmen. Es war bereits das dritte Mal in diesem Monat, dass jemand ihre Hauswand auf diese Weise verunstaltet hatte.
»Ich weiß, wer es ist.«
Candice zog scharf die Luft ein, während Lian sie nur überrascht ansah. »Ach ja?«
Alice nickte stumm, sprach aber nicht weiter.
Seufzend schüttelte er den Kopf. Er musste es ihr wohl aus der Nase ziehen. »Verraten Sie mir auch, wer Ihr heimlicher Verehrer ist?«
Einen Moment hielt sie inne und warf Candice einen kurzen Blick zu. Dann seufzte sie. »Stan.«
Candice schnappte nach Luft und legte sich eine Hand auf die Brust. Genau dort, wo ihr Herz schlug. »O mein Gott! Das ist ja eine Katastrophe!«
Lian reagierte weitaus gelassener. Eine Katastrophe würde er es nicht nennen. Eher eine recht amüsante Angelegenheit. Er zog eine Augenbraue hoch und sah die alte Dame fragend an.
»Der Stan?«
Langsam nickte sie und strich sich über den perlmuttgrauen Pullover. »Er möchte es mit einer Paartherapie versuchen, aber ich habe ihm gesagt, dass ich mit diesem neumodischen Quatsch nichts am Hut habe. Jetzt versucht er, hiermit meine Aufmerksamkeit zu bekommen.«
Lian kniff sich mit Zeigefinger und Daumen in den Nasenrücken und schloss für einen Moment die Augen. Am frühen Morgen hatte er bereits ein anstrengendes Meeting hinter sich gebracht und den Vormittag mit einem Zehnkilometerlauf und einer guten Tasse Kaffee verbringen wollen. Stattdessen musste er sich mit Beziehungskram auseinandersetzen, der nicht einmal sein eigener war.
»Ich wusste gar nicht, dass sie beide sich so nahe standen.«
»Das wusste niemand. Ich war Stans schmutziges Geheimnis.«
Lian widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten. Er musst wirklich nichts über das Liebesleben der beiden erfahren. Aber es war nun mal so, dass jeder in Golden Creek das Gefühl hatte, ihn holen zu müssen, sobald es Probleme gab. Er wusste nicht, wann es geschehen war, aber er war zum Geheimnisverwahrer der Bewohner von Golden Creek geworden.
»Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«
»Nein.«
»Ich will mich ja nicht einmischen, aber ich schätze, das wäre eine gute Möglichkeit, das Problem aus der Welt zu schaffen.«
Missmutig schüttelte Alice den Kopf. »Auf keinen Fall. Er ist ein selbstsüchtiger Choleriker und ich habe keine Lust, mich mit ihm zu unterhalten.«
Lian seufzte. Er würde erst wieder Ruhe finden, wenn diese Angelegenheit erledigt war, das stand fest. Also musste er in den sauren Apfel beißen und mit Stan sprechen.
»Na schön. Ich werde mich mit ihm unterhalten. Aber sollte so etwas noch einmal geschehen, will ich, dass Sie den Officer rufen. Haben Sie das verstanden?«
Alice grummelte so leise vor sich hin, dass Lian sie nicht verstand.
»Alice?«, wiederholte er, diesmal in strengerem Ton.
Diese presste die Lippen zusammen und nickte. »Ja, verstanden.«
»Gut. Dann werde ich mich mal mit Stan unterhalten.« Lian griff nach seinem Jackett, öffnete die Wagentür seines Jeeps und stieg ein. So wie er Stan kannte, würde es ihm der alte Mann nicht leicht machen. Lian startete den Motor, warf einen letzten Blick auf Alice, die ihn immer noch grimmig anblickte, und nickte ihr zu. Dann machte er sich auf den Weg in die Stadt. Seine Laufrunde musste er wohl verschieben.
Diesen Tag hatte er sich weitaus angenehmer vorgestellt.
Emma fragte sich, ob es für Hausverbot wohl eine Verjährungsfrist gab, als sie Mr. Grabowitz’ Gemischtwarenhandel betrat. Ein Klingeln ertönte und Ben warf ihr einen kurzen fragenden Blick zu, den Emma mit einem Lächeln quittierte, auch wenn ihr ganz und gar nicht danach zumute war. Ben wusste nichts von den Ereignissen der Vergangenheit, aber die Anspannung, die von ihr ausging, blieb auch ihm sicherlich nicht verborgen.
Innerlich verfluchte sie sich dafür, dass sie nicht daran gedacht hatte, unterwegs ein paar Lebensmittel einzukaufen. Sie waren an Safeway und Walmart vorbeigefahren und es wäre ein Leichtes gewesen, dort anzuhalten, um ein paar Dinge zu besorgen.
Stattdessen musste sie sich jetzt mit einem mürrischen alten Mann herumschlagen. Sie war davon überzeugt, dass Mr. Grabowitz sich nicht verändert hatte.
»Huch!« Noch ehe Emma sich’s versah, wurde sie von einer jungen Frau angerempelt, die in diesem Moment aus dem Laden stürmte. Ohne eine Entschuldigung oder ein freundliches Wort lief sie an ihnen vorbei, hastete die Treppe hinab und rannte die Straße entlang. Emma schüttelte verwundert den Kopf, während Ben dem Mädchen neugierig nachsah.
Emma atmete tief durch und wischte sich die feuchten Hände an ihrer Jeans ab. Warum um Himmels willen war sie nur so nervös? Sie hatte doch nichts zu befürchten. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie sich das nur einzureden versuchte oder wirklich davon überzeugt war.
Als sie das Geschäft betraten, musste Emma feststellen, dass sich hier tatsächlich nichts verändert hatte. Noch immer stapelten sich neben der Eingangstür Wasserkanister, auf dem Boden standen leere Obstkisten und an der Wand hing ein Bild, das Herrn Grabowitz bei einem seiner Angelausflüge am Beaver Lake zeigte. Emma erinnerte sich noch gut, wann es aufgenommen worden war. Damals war sie zehn Jahre alt gewesen und hatte mit ihren Schwestern, den zwanzig Pfund schweren Red Snapper bestaunt, den Mr. Grabowitz aus dem Wasser gezogen hatte. Emma schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen daran zu verdrängen. Dafür war jetzt keine Zeit. Ben machte sich auf die Suche nach Knabbereien und einer Packung Oreo Keksen, während Emma sich um das Gemüse kümmerte. Sie hatte bislang noch niemanden entdeckt, aber es war nur noch eine Frage der Zeit. Sie griff nach ein paar Tomaten, als sie plötzlich eine Stimme hörte.
»Halt! Stehen geblieben.« Vor Schreck ließ Emma eine Tomate fallen, die über den Fliesenboden rollte und unter einem Regal liegen blieb.
Überrascht drehte sie sich um. Was hatte das zu bedeuten? »Ben?«
»Her damit! Ich habe dich beobachtet!«
Die Stimme kam aus dem hinteren Bereich des Ladens. Ihr Herz raste und sofort fühlte sie sich sechzehn Jahre zurückversetzt.
Himmel, das kann doch nicht wahr sein!
Emma runzelte die Stirn und folgte der Stimme. Irgendetwas stimmte hier nicht.
»Lassen Sie mich los!«, rief Ben und Emma traute ihren Augen nicht, als sie Mr. Grabowitz am Ende der Reihe stehen sah, der ihren Sohn am Arm gepackt hatte.
»Ich hole den Officer. Das ist Diebstahl.«
»MOM!«
»Was ist hier los?«, rief Emma und lief zu Ben, der sie Hilfe suchend ansah.
Mr. Grabowitz machte keinerlei Anstalten, Ben loszulassen, und funkelte Emma wütend an. Seinen Blick nach zu urteilen hatte er sie noch nicht erkannt.
»Er hat mich bestohlen!«
»Das ist nicht wahr! Mom!« Emma ging auf die beiden zu und hob beschwichtigend die Hände. »Hören Sie, das muss ein Missverständnis ein. Lassen Sie bitte meinen Sohn los.«
Der alte Mann schnaubte. »Ich bin doch nicht verrückt. Sobald ich ihn loslasse, wird er von hier verschwinden.«
Fassungslos starrte Emma ihn an. Ben wurde behandelt wie ein Schwerverbrecher. »Warum sollte er das tun?«
Mr. Grabowitz kniff die Augen zusammen und betrachtete sie näher, dann stahl sich Erkenntnis auf seine Züge.
»Wen haben wir denn da? Emma Thompson. Soweit ich weiß, habe ich dir Hausverbot erteilt. Seit wann bist du wieder in der Stadt?«
Ende der Leseprobe