Bürgerwache - Wildis Streng - E-Book

Bürgerwache E-Book

Wildis Streng

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Beschreibung

In Crailsheim herrscht Feierlaune, denn die Bürgerwache lädt zum jährlichen Parkfest. Doch zwischen Polkagedudel und Marschmusik kommt es zu einem grausamen Mord. Schellenbaumspieler Tobias Baumann trifft der Schlag, als er sein Instrument berührt. Jemand muss es unter Strom gesetzt haben. Das hohenlohisch-westfälische Ermittlerteam um Lisa Luft und Heiko Wüst findet bald heraus, dass Baumann nicht bei allen beliebt war. Da taucht ein anonymer Drohbrief gegen die Bürgerwache auf. War Baumann nur ein Zufallsopfer?

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Wildis Streng

Bürgerwache

Kriminalroman

Zum Buch

Tatwaffe Schellenbaum Tobias Baumann ist ein beliebtes Mitglied des Spielmannszuges der Bürgerwache Crailsheim – eigentlich. Denn am Parkfest stirbt der Schellenbaumträger durch einen Stromschlag, als er sein Instrument berührt. Das hohenlohisch-westfälische Ermittlerteam um Lisa Luft und Heiko Wüst ermittelt in dem Fall. Zwischen Polkagedudel und Schellenbaumgeklingel stellt sich bald heraus, dass das Mordopfer wohl doch nicht bei allen beliebt war. Dann taucht auch noch ein Drohbrief gegen die Bürgerwache auf, dessen Verfasser zunächst im Dunkeln bleibt. Leute, die ein Problem mit der Bürgerwache haben, gibt es offenbar viele – von militanten Pazifisten bis hin zu lokalen Linksextremisten. Richtete sich der Anschlag überhaupt gegen den Musiker oder war Baumann vielleicht nur ein Zufallsopfer? Welches Geheimnis verbirgt seine Ehefrau? Und welche Rolle spielt der Haller Sieder, mit dem das Mordopfer am Kuchen- und Brunnenfest eine Schlägerei hatte? Mitten im Hohenloher Hochsommer begeben sich Lisa und Heiko auf Mörderjagd.

Wildis Streng ist in Crailsheim geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie in Karlsruhe Germanistik und Malerei, seit 2006 arbeitet sie als Gymnasiallehrerin. Nach längerem Aufenthalt im Badischen lebt sie heute wieder in ihrer Heimat und unterrichtet in Crailsheim Deutsch und Bildende Kunst. In ihrer Freizeit widmet sich die überzeugte Hohenloherin der Malerei, der Fotografie und dem Schreiben. Aus ihrer Feder stammen bereits mehrere Kriminalromane rund um das sympathische hohenlohisch-westfälische Ermittlerduo Lisa Luft und Heiko Wüst. www.wildisstreng.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Wildis Streng

ISBN 978-3-8392-6868-1

Widmung

Für Lola und Sissi, danke für eure Liebe und für alles, was ihr uns gegeben habt!

Stadtfeiertag Crailsheim

Es war kalt an jenem Mittwoch im Februar. Walter Lilienfelder ließ den Blick wohlwollend über seine Bürgerwache schweifen. Er war stolz auf seine Truppe. Stolz darauf, dass sie in den letzten Jahren wieder gewachsen war, auf beachtliche Stärke. Und das, nachdem der Verein beinah wegen Mitgliedermangels hätte aufgegeben werden müssen.

Gerade eben waren der Fanfaren-, der Spielmanns- und der Musikzug vorausgegangen und hatten die Kreuzritterfanfare gespielt, gefolgt von der Kompanie. Jetzt standen sie bei bedecktem Himmel – wenigstens betrug die Regenwahrscheinlichkeit nur fünf Prozent – vor dem Rathaus der guten Stadt Crailsheim. Die Bürgerwache war auch an diesem Stadtfeiertag angetreten, um der Stadt die Ehre zu erweisen. Etwa 200 Menschen hatten sich auf dem Marktplatz unweit des Brunnens mit den steinernen Marktfrauen Dorle und Paula versammelt, der Dicken und der Dürren. Es war extrem kalt an diesem Mittwoch im Februar, die Leute wickelten ihre Mäntel enger um ihre Körper. Die Mitglieder der Bürgerwache froren genauso, aber sie hielten durch.

»Ach-tung!«, kommandierte Walter Lilienfelder. Dann drehte er sich zur Rathaustreppe um. Der Oberbürgermeister Dr. Christoph Grimmer stand im Anzug und mit der schweren goldfarbenen Ehrenkette der Stadt behangen auf den Stufen des Rathauses vollkommen aufrecht da, als Lilienfelder mit lauter Stimme rief: »Herr Oberbürgermeister und Ehrenleutnant der Bürgerwache Crailsheim, ich melde, die Bürgerwache ist anlässlich des Stadtfeiertags vollständig angetreten zum Ehrensalut auf die gute Stadt Crailsheim. Ich bitte um Abnahme der Ehrenformation.«

Walter Lilienfelder entfuhr ein kleiner, von den meisten unbemerkter Seufzer, es war wirklich, wirklich schade, dass dies sein letzter Stadtfeiertag als Kommandant war. Aber er wusste, dass sein Nachfolger das ebenso gut machen würde, und es war nun mal Zeit für den Ruhestand.

Christoph Grimmer nickte würdevoll und ernst und kam die Treppe herunter zum Kommandanten. Der Präsentiermarsch setzte ein, und gemeinsam schritten sie langsam die Reihe der Bürgerwache ab, die Arkaden entlang und endlich wieder zurück. Die Menge wippte teilweise im Takt mit, war aber ansonsten für Hohenloher Verhältnisse relativ aufmerksam. Dann folgte Walter Lilienfelders Lieblingsteil. Nach dem Präsentiermarsch war es ganz still. »Ach-tung!«, rief er wieder, und seine Stimme echote von den umliegenden Hauswänden wider. Seine Leute nahmen Haltung an. »Präsentiert–das–Gewehr!«

Zackig waren die Bewegungen seiner Kompanie, perfekt einstudiert. So war es recht, ein gutes Vermächtnis, das war keine Schande. Er wartete eine Sekunde, bevor er befahl: »Hoch!«

24 Schweizer Ordonnanzgewehre richteten ihre Läufe gen Himmel, alle genau im selben Winkel ausgerichtet.

»Geeeeebt Feu-er!«, befahl Lilienfelder und war zufrieden mit den fast unisono erklingenden ersten Salutschüssen. »Laden!«, ordnete er an, dann zum zweiten und dritten Mal, »Geeeeebt Feu-er!« und »­Geeeeebt Feu-er!«

Und Walter Lilienfelder lauschte lange, lange dem verklingenden Schuss nach, denn er glaubte fälschlicherweise, dass dies sein letztes Ehrensalut-Kommando gewesen war.

Kuchen- und Brunnenfest, Pfingstsonntag

Die Sonne lachte von einem wolkenlosen Hohenloher Himmel. Es war sommerlich warm, ach was, geradezu heiß. Die Siedersknechte auf dem Kuchen- und Brunnenfest in Schwäbisch Hall hatten den ganzen Tag in ihren roten Wämsern und den Kniebundhosen über grünen Kniestrümpfen geschwitzt. Manchen war der Schweiß in Bächen in die weißen Krägen gelaufen. Die Frauen hatten es nicht viel besser, über ihren hochgeschlossenen weißen Blusen trugen sie ein schwarzes Leible, an das ein roter Rock mit zwei schwarzen Streifen angenäht war, darüber eine weiße Schürze. Die Kleidung war Tradition, so wie auch der Rest des Haller Kuchen- und Brunnenfestes. Nach dem Böllerschießen frühmorgens waren die Sieder durch die Stadt gezogen. Dann hatte es einen Gottesdienst in der Michaelskirche gegeben. Ab drei viertel elf war der Siederskuchen präsentiert worden, die Sieder hatten getanzt und ein historisches Programm abgehalten, zur Unterhaltung des großen, durchaus interessierten Publikums. Der Tag war lang und ereignisreich gewesen, und Bernd Seiler wischte sich über die Stirn, um wenigstens ein bisschen von dem Schweiß loszuwerden. Auch jetzt, um halb acht Uhr abends, als sich die Leute auf dem Unterwöhrd zur gänzlich unmittelalterlichen Rockmusik-Party einfanden, trugen fast alle Sieder noch ihre Kluft. Wenige hatten sich entnervt umgezogen, aber was ein rechter Sieder war, der hielt es aus. Schließlich ging es um die Tradition der Stadt, und so was war wichtig. Bernd sah sich um, er war eigentlich mit ein paar Freunden verabredet gewesen, unter ihnen war eine, die ihn ziemlich interessierte – Tina. Er glaubte zwar nicht, dass sie auch an ihm Interesse hatte, aber was hatte er zu verlieren? Er war schon viel zu lange Single. Gut, womöglich war er nicht grade der Hauptgewinn mit seinen doch deutlich zu vielen Kilos auf den Rippen und der beginnenden Stirnglatze. Immerhin war er ein guter Kerl, und das musste doch auch etwas gelten. Außerdem waren noch bedeutend Dickere bei den »Siedern« als er. Er hatte das Herz am rechten Fleck, gab es denn gar keine Frauen mehr, die das …

»Wen haben wir denn da!«, tönte es hinter ihm, und eine Hand landete unsanft auf seiner rechten Schulter.

Bernd drehte sich um und erblickte zwei Kompaniemitglieder der Bürgerwache Crailsheim. Was die blöden Horaffen-Deppen jedes Jahr auf dem Kuchen- und Brunnenfest sollten, verstand er ja so gar nicht, aber die Kompaniechefs aller Bürgerwachen der Gegend schickten eifrig Delegationen auf den Festen hin und her, anscheinend fanden die das ganz toll, von wegen Städtefreundschaft und so. Dabei würde es nie eine echte Freundschaft zwischen Crailsheim und Hall geben. Und den Horaffen war die gute Haller Tradition sowieso egal, die nutzten das Fest maximal zum Besäufnis. Dabei hatten die selber gar keine richtige Traditionsveranstaltung, nicht mal die Sage mit der fetten Bürgermeisterin stellten sie nach – die wäre ja eigentlich prädestiniert! Nein, die machten einfach nur ein Fest in einem Park, das sie dann »Parkfest« nannten. Wie überaus originell! Kein Sieder wollte da hin, das war langweilig bis zum Gehtnichtmehr. Den ganzen Tag nur Blasmusik und Saufen. Und auch noch das falsche Bier, kein Haller Löwenbräu.

»Kenne ich euch?«, fragte Bernd und ärgerte sich, dass seine Stimme dabei nicht so volltönend klang, wie er geplant hatte. Er musterte die beiden feixenden Horaffen, die schon leicht angetrunken wirkten und sich aneinander festhielten – wohl, um nicht umzufallen.

»Wir kennen dich! Den dicken Bernie kennt doch jeder«, begann ein Blonder und grinste. »Ein Haller Doofele, wie es im Buche steht, und noch dazu der beste Siederskuchen-Esser von ganz Hall!«

»Tobi, sei net sou gemein«, murmelte der andere, ein kleinerer Dunkelhaariger, und hängte sich schwerer an den Arm seines Kameraden.

Tobi schüttelte ihn unwirsch ab und stellte sich aufrecht hin, dabei schwankte er leicht.

»Aber weißt du was, Bernie, schick schaust du aus mit dem weißen Krägelchen zum roten Pulli. Hat das deine Mami gebügelt? Bei der wohnst du doch sicher noch, oder? Du bist ja erst 40!«

Bernd spürte die Wut in sich aufsteigen, er sah sich um, ob irgendwo andere Sieder waren, die ihm vielleicht beistehen könnten, zumindest verbal. Aber der nächste stand etwa 20 Meter entfernt und bekam nichts mit, weil er gerade mit einer üppigen Blondine im kurzen Kleid flirtete. »Besser als eure Filzhüte mit Faschings-Hühner-Bastelfedern«, gab er zurück.

»Ououou, jetzt hast du’s mir aber gezeigt!«, lachte Tobi. »Aber hey, ich sag dir was: Unsere Klamotten sind wenigstens männlich. Und die Kleidle passen eigentlich ganz gut zu eurem ›Wir tragen einen riiiiiiiesigen Kuchen durch die Gegend!‹«

»Hör auf jetzt … Tobi!«, forderte Bernd.

»Hey, Bernd«, kam es plötzlich von hinten, und seine Kumpels Timo und Frank sowie Tina standen neben ihm.

Bernd schluckte schwer, als er Tinas blaues Sommerkleidchen sah, das unterhalb der schmalen Taille ihre Hüften umspielte.

»Na, alles klar?«, begrüßte sie ihn und lächelte mit ihren schönen vollen Lippen.

»Vorsicht, Hallerin, ich glaub nicht, dass der beim Schießen trifft!«, geiferte Tobi. »So, wie die Doofele ihre Salutschüsse abfeuern und ihren … Kuchen rumtragen.« Ein glucksendes Lachen entfuhr seiner Kehle, er kriegte sich gar nicht mehr ein.

»Jetzt reicht’s, Tobi«, versuchte es der andere noch mal.

Aber Tobi machte weiter: »Such dir lieber einen Horaffen, einen echten Stecher, so einen wie mich oder wie den da, und nicht so eine Haller Pussy.«

Bernd sah zu Tina hin und entdeckte ein kleines, amüsiertes Lächeln. Er fühlte, wie ihm schwarz vor Augen wurde, er würde nicht umkippen, nein, er würde ruhig atmen und er würde die Situation anders lösen, ganz anders. Er schloss die Augen und atmete noch einmal tief durch. Zählte innerlich langsam bis drei. Dann holte er aus und haute dem verdammten Horaffen so eine in die Fresse, dass der einfach nach hinten umfiel.

Am Abend vor dem Parkfest, Mitte Juli

Es war ein lauer Sommerabend in Crailsheim. Der Wind bewegte die Äste der hohen Bäume des Spitalparks und brachte die Blätter dazu, leise zu rascheln. Grillen zirpten irgendwo. Die Straßenbeleuchtung war bereits ausgeschaltet, und doch war es nicht vollkommen dunkel, denn die Nacht war sternenklar. Die Luft war warm, und diejenigen, die noch unterwegs waren in dieser Freitagnacht, befanden sich im »Apfelbaum« oder auf einer Grillparty mit Freunden, denn sonst war ja alles geschlossen. Und die Leute waren fast alle sommerlich gekleidet, die Frauen mit bunten, meist kurzen Kleidern oder Dreiviertelhosen mit luftigen Tops, die Männer in Shorts und T-Shirt. So hätte einem Beobachter die dunkle Figur, welche die Treppe zum Spitalpark hinunterschlich, seltsam vorkommen müssen – der Kapuzenpullover und die dicke schwarze Jeans waren viel zu warm für die Julinacht. Aber es gab keine Beobachter, und so setzte die Person ihren Weg ungehindert fort. Der schwarze Rucksack baumelte lässig auf ihrem Rücken, und ein siegessicheres Grinsen umspielte ihre Lippen. Die Gestalt schlenderte weiter, quer durch den Park, um schließlich vor der Wand der Volkshochschule stehen zu bleiben. Sie setzte den Rucksack ab, blickte sich um, drehte sich um die eigene Achse und vergewisserte sich, dass auch niemand ihr Tun beobachtete. Aber da war niemand, die Person war allein, nur ein einzelner Frosch quakte aus der Richtung, in der sich der Teich befand. Zufrieden öffnete sie den Rucksack, so leise wie möglich, denn das Ratschen des Reißverschlusses konnte ungewollte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, entnahm der Tasche die Spraydose, schüttelte einige Male kräftig und sprühte mit schnellen Bewegungen unter dem Zischen der Graffitidose »ACAB« an die Wand der Volkshochschule – All Cops Are Bastards.

Parkfestsamstag

»Wirklich schön hier«, fand Lisa und streichelte Heiko über die Wange.

Der brummte und lächelte leicht. Dieses Brummen war es, was seine Freundin Lisa, die aus Westfalen stammte, dazu gebracht hatte, ihn »Bärchen« zu taufen, allerdings nannte sie ihn niemals in der Öffentlichkeit so. Und schon gar nicht auf dem Revier. Da waren sie Kriminalkommissarin Luft und Kriminalkommissar Wüst. Heiko kratzte die letzten Reste des leckeren Spaghettieises aus der erdbeerförmigen rot-grünen Schale, steckte sich den Löffel in den Mund und lehnte sich dann zurück. »Scho«, gab er zu, und sein Blick schweifte zum plätschernden Brunnen mit den zerfetzten Bronzeschweinen und den marmornen drehbaren Kugeln, der den Crailsheimer Schweinemarktplatz dominierte. Es war ein wunderschöner Julitag, und normalerweise hätten sie Sita, Heikos Rauhaardackeldame, dabeigehabt. Aber nachher wollten sie noch aufs Parkfest, und der kleine Hund würde wohl zu Tode erschrecken, wenn in seiner Nähe die »Gertrud« abgefeuert werden würde. Heikos Blick wanderte zurück zu Lisa, die ein letztes Mal an ihrem Eiskaffee sog. Sie sah schon gut aus mit ihren blonden Haaren, die sie oft zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Und heute hatte sie ein grünes Sommerkleid mit weißen Blumen darauf an. Jetzt, wo er sie so musterte, zog sie irritiert die Augenbrauen zusammen.

»Ist irgendwas?«, erkundigte sie sich.

»Nein, nix«, beeilte sich Heiko zu versichern.

»Wann fängt das denn an, dieses Parkfest?«

»Um fünfe«, antwortete Heiko.

»Dann müssen wir jetzt aber los«, erklärte Lisa und wies auf die Uhr, die am Tiefgaragenaufgang angebracht war. »Schau mal, es ist Viertel vor fünf.«

»Des haaßt drei viertel fünf«, korrigierte Heiko grinsend und winkte dem Eiscafébesitzer, einem sehr schlanken Italiener mit dunkelblondem Spitzbart und Brille, um die Rechnung zu begleichen.

Minuten später waren sie unterwegs zum Spitalpark – und sie waren nicht die Einzigen. Das Parkfest der Bürgerwache war eine feste Größe im Crailsheimer »Festmarathon«, es fand kurz vor dem Kulturwochenende statt. »Und diese Bürgerwache … das sind doch die mit den Federhüten, gell?«, erinnerte sich Lisa.

»Richtig. Crailsheimer Tradition. Die Ursprünge der Bürgerwache reichen bis ins 15. Jahrhundert zurück. Und bis heute bewacht die Bürgerwache die Stadt.«

Lisa verdrehte unmerklich die Augen. »Ist ja auch dringend notwendig«, befand sie.

Heiko schnalzte mit der Zunge. »Na, stell dir mal vor, was wäre, wenn die Haller bei uns einmarschieren würden! Nicht auszudenken!«

Lisa grinste. Heiko fand, dass es schön war, bei der Eröffnung dabei zu sein, und hatte vorgeschlagen hinzugehen. Sie überquerten den Zebrastreifen, der früher zur Musikschule geführt hatte, die längst gesprengt worden war. Dann standen sie vor dem Park.

»Da haben die sich aber richtig Mühe gegeben«, lobte Lisa und ließ ihren Blick über die zahlreichen Buden schweifen, die unter den hohen Bäumen im Karree aufgestellt waren. Mittig befand sich eine Bühne, davor und rechts daneben warteten Dutzende Bierzeltgarnituren auf die Besucher. Zwar waren schon einige Leute da, allerdings würden es im Lauf des Abends und auch morgen wohl noch deutlich mehr werden.

»Ja, das ist immer schön, komisch, dass wir da noch nie waren.«

Lisa zuckte die Achseln und nahm seine Hand. »Jetzt sind wir ja da«, meinte sie, und gemeinsam schritten sie die Treppe hinunter.

»Da hinten ist die Eröffnung«, erklärte Heiko und deutete auf einen Pulk Menschen, die im Halbkreis versammelt standen. Sie stellten sich dazu, möglichst leise, da anscheinend bereits eine Rede im Gange war.

»Und wir bedanken uns sehr herzlich bei unserem scheidenden Kommandanten Walter Lilienfelder, Walter, du hast das echt super gemacht, und deshalb wird dir jetzt die Ehre zuteil, unsere ›Gertrud‹ abzufeuern.«

»Wen soll der abfeuern?«, wisperte Lisa konsterniert, in der Hoffnung, sich verhört zu haben.

»Das ist die Kanone der Bürgerwache. Die haben alle Namen«, informierte Heiko grinsend.

»Ach so«, lachte Lisa. »Na, dann bin ich ja froh, dass die Kanone nicht Lisa heißt.«

»Nee, da nehmen sie andere Frauennamen, so ältere …« Heiko hielt inne, denn er bemerkte an Lisas Stirnrunzeln, dass sie drauf und dran war, etwas gegen die Namensdiskriminierung älterer Frauen einzuwenden. Gott sei Dank wurde ihre Aufmerksamkeit aber wieder von der Szene angezogen, die sich vor ihnen abspielte. Mehrere Mitglieder der Bürgerwache, trotz der drückenden Hitze sämtlich in Uniform und mit Hüten auf dem Kopf, die mit verschiedenfarbigen Federn geschmückt waren, hantierten an der Kanone, die in Richtung der Volkshochschule gedreht war. »Maaacht scharf!«, rief soeben einer, der einen schneeweißen Federbusch trug, einigen Männern mit grünen Federn zu. Der mit den weißen Federn hob einen Säbel waagerecht vor sich.

»Schnell, halt dir die Ohren zu!«, riet Heiko, und Lisa fragte zurück: »Warum denn?«

Der Mann senkte den Säbel, der scheidende Kommandant Walter Lilienfelder betätigte daraufhin irgendeine Vorrichtung an der »Gertrud« und die Kanone wurde mit einem unsagbar lauten Knall abgefeuert. Lisa stieß einen spitzen Schrei aus, was Heiko zu einem Grinsen verleitete.

»Deshalb!«, entgegnete er und nahm die Hände herunter.

Lisa versetzte ihm einen Klaps auf den Arm. »Du hättest mich vorwarnen müssen!«

»Habe ich doch!«, verteidigte sich Heiko.

»Maaacht scharf!«, erscholl es wieder zackig aus dem Mund des Weißbefederten, und diesmal presste Lisa geistesgegenwärtig ihre Hände auf beide Ohren. Der Knall, der entstand, als »Gertrud« ein weiteres Mal abgefeuert wurde, war auf diese Weise immer noch laut, aber Lisa musste nicht mehr um ihr Hörvermögen fürchten. Inzwischen erfüllte Rauch die Luft, es roch nach Schwarzpulver, und Lisa fühlte sich ein klein bisschen an Silvester erinnert. Der Einfachheit halber ließ sie ihre Hände dort, wo sie waren, bis »Gertrud« zum dritten Mal geschossen hatte. Und dann noch ein paar weitere Sekunden, zur Sicherheit, bis sich endlich alle von der Kanone entfernt hatten und die unmittelbare Gefahr eines Hörsturzes gebannt war.

»Hiermit erkläre ich das Parkfest für eröffnet«, rief der Hagere mit den weißen Federn auf dem Hut. Die Menge spendete Applaus, und die Szenerie sah seltsam idyllisch aus, weil der Rauch, den die Kanonenschüsse erzeugt hatten, nur sehr langsam aufstieg. Die Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die Baumwipfel und erleuchteten die Rauchschwaden, als seien sie einzelne Nebelbahnen, die sich vom Boden bis zum Himmel zogen. Bezaubernd wirkte das, auch wenn die Ursache eigentlich ein Kanonenschuss war. Irgendwie märchenhaft.

Alle bewegten sich zu den Bierbänken, in Erwartung der »Bierprobe«, die als nächster Programmpunkt vorgesehen war. Der Name »Bierprobe« war eigentlich Quatsch, denn wirklich »erproben« musste man das Crailsheimer Engel-Bräu nicht, es war ja bekannt, dass es gut war. Trotzdem war die Stimmung sehr andächtig, als der Junior-Chef der Brauerei, Alexander Fach, in ein kariertes Hemd und Lederhose gewandet, mit feierlichem Ernst den Bierhahn an das Fass ansetzte und mit drei gekonnten Hammerschlägen versenkte. Applaus brandete auf, und die ganz Durstigen beeilten sich, nach vorne zu drängen und etwas vom Freibier abzubekommen.

Heiko war nicht der Typ, der an der Bühne um Freibier rangelte, aber Durst hatte er trotzdem. Die sommerliche Hitze hatte dafür gesorgt.

»Da hinten ist der Getränkestand«, machte Lisa ihn auf den achteckigen Stand in sattem Engel-Brauerei-Gelb aufmerksam.

Heiko schüttelte den Kopf. »Anfängerfehler«, belehrte er. »Auf dem Parkfest muss man zuerst Bons kaufen.«

Weil es praktisch war, kaufte er an der Bude mit der Aufschrift »Kasse« – quasi auf Vorrat – zwei Bier für sich und zwei Apfelschorle für Lisa sowie zwei Gulasch-Bons. Lisa konnte ihn allerdings davon abhalten, sofort einen Teller des deftigen Fleischgerichts zu ordern. Immerhin kamen sie gerade erst aus der Eisdiele. Sie holten sich die Getränke und setzten sich mit Blick auf die Bühne auf eine der Bierbänke, um dort mit einem Ohr dem folgenden Programm zu lauschen und sich ein wenig zu unterhalten, wie es alle hier taten.

»Also, die Musik ist ja schon … gewöhnungsbedürftig«, fand Lisa.

Heiko stellte sein Bier ab, schluckte und meinte dann: »Wieso? Ist doch nett. Ist halt Marschmusik. Polkas und so …«

»Kann man dazu nicht auch tanzen?«, hoffte Lisa und hielt Ausschau in Richtung Bühne, ob da jemand tanzte.

Heiko brummte unwillig – Tanzen war so gar nicht seins. »Ich hoffe nicht«, murmelte er und trank erneut einen Schluck Bier.

Tobias Baumann entdeckte seinen alten Kumpel André auf einer der Bierbänke. Er hatte ihn gesucht, denn irgendwie hatte er das Gefühl, dass es seinem Freund nicht so gut ging. Er wirkte unsicher, irgendwie fremd. Und das, obwohl er schon so lange bei der Bürgerwache war. Und obwohl sie schon so lange befreundet waren. André tat sich gerade an einem Gulasch gütlich, saß mit einem der Ehinger Bürgerwachler zusammen und unterhielt sich angeregt. Tobi fasste seinen Halbekrug fester und marschierte auf die entsprechende Bierbank zu, um sich neben André zu setzen.

»Und dann hat die dicke Bürgermeisterin ihren Arsch über die Stadtmauer gehängt«, erzählte André soeben dem Gast, der einen braunen Rock zur blauen Hose trug und ungläubig zuhörte. Sein schwarz-goldener Helm ruhte neben ihm auf der Bank. Offenbar ging es um die Horaffen-Sage, und diese rief bei den meisten, die sie zum ersten Mal hörten, mildes Erstaunen, wenn nicht sogar Unverständnis hervor.

»Da bisch ja«, grüßte Tobi und quetschte sich neben seinem Freund auf die Bank.

André rutschte ein kleines bisschen und biss in sein Weckle, das er zuvor in das appetitlich rotbraune Kanonengulasch getunkt hatte.

»Is alles recht?«, erkundigte sich Tobi, während er dem Mittfünfziger, der gegenüber saß, freundlich zunickte. »Du bisch so allein.«

André schwieg und kaute. Schluckte. »Tja, da kannsch ja mal überlegen, warum das so ist«, versetzte er endlich, und ein schmales Lächeln trat auf seine Lippen. Eines, bei dem die Augen nicht mitlächelten.

Tobi seufzte. »Immer noch beleidigt«, vermutete er. »Aber weisch was, du bisch mir mal noch dankbar, eines Tages.«

»Möglich«, gab André zurück, es klang nicht wirklich überzeugt.

»Das wär eh nicht gut gegangen, glaub mir. Die ist …«

»Ich will nicht darüber reden, Tobi, ja?«, unterbrach André.

»Ja, und die hat wirklich den Belagerern ihren nackigen Arsch gezeigt?«, schaltete sich der Ehinger ein, dem die schlechte Stimmung offensichtlich unangenehm war.

»Ja, hat sie. Und dann sind die Belagerer abgezogen und Crailsheim war gerettet«, erzählte André weiter und löffelte wieder Gulasch.

Tobi erhob sich und tätschelte die Schulter seines Eigentlich-Freundes. »Waasch was, wenn dii abgsponna hasch, noa trink mer nochher an Asbach-Cola zsamm«, raunte er ihm ins Ohr, bevor er zurück zu seiner überaus heißen Ehefrau Ezgi ging.

»Jetzt habe ich aber wirklich Hunger«, erklärte Heiko und blickte Lisa auffordernd an.

Die verdrehte die Augen und sah auf die Uhr. »Noch nicht mal sechs!«, klagte sie.

»Das Gulasch ist soooooo gut!« Heiko grinste derart entwaffnend, dass Lisa ihm ein Lächeln schenkte und mit ihm seufzend zu jenem Stand ging, der schlicht »Gulasch« hieß.

Ein Pärchen stand vor ihnen, die Frau, die rotblonde Locken hatte und ein orangefarbenes Crinkle-Kleid trug, wandte sich gerade an ihren Mann, einen schütterhaarigen Endfünfziger im Karohemd.

»Also, Karl-Heinz, mir ist das Ganze hier eigentlich viel zu martialisch, du weißt doch, dass ich Pazifistin bin!«

Karl-Heinz lächelte sie leutselig an. »Margit! Das ist nur die Bürgerwache! Entspann dich! Kein Grund für linkspolitische oder radikale Diskussionen!«

»Nur weil ich Pazifistin bin, muss ich noch lange nicht linksradikal sein! Du weißt, dass ich nicht linksradikal bin, jede Form von Gewalt ist mir zuwider! Ich löse meine Probleme verbal, durch Diskussion.«

»Entschuldigung«, mischte sich Heiko ein, »des glaab ii glei. Aber vielleicht däda Sie etz bstella? Mir warta nämlich.«

Die Angesprochene drehte sich überrascht zu ihm um, beschloss dann jedoch anscheinend, ihn mit Missachtung zu strafen, und wandte sich endlich den beiden Herren zu, die für die Gulaschausgabe zuständig waren. »Also, dann bitte zweimal Gulasch …«, begann sie, erstarrte aber mitten im Satz und rief: »Halt!«

Die beiden jungen Männer hinter dem Stand, die sich schon in Bewegung gesetzt hatten – der eine hielt bereits einen Teller in der Hand, der andere ein Brötchen –, erstarrten, irritiert ob des scharfen Befehlstons.

»Sagen Sie mal, ist das Ihr Ernst?«, fragte Margit und pikte mit spitzem Zeigefinger auf das Schild, das »Gulasch aus der Gulasch-Kanone« anpries. »Wieso muss das denn immer was mit Krieg zu tun haben?«, wandte sie sich an den jüngeren der beiden Männer, den mit dem tiefen Teller, und stemmte die Hände in die Seiten.

»Das heißt halt so«, stammelte der.

»Nennen Sie das Gericht doch Gulasch-Töpfchen«, schlug Margit honigsüß vor. »Was ist daran so schwierig?«

Karl-Heinz verdrehte die Augen, murmelte etwas von Bier holen und ließ seine Frau stehen, was die allerdings gar nicht bemerkte, weil sie dermaßen in Fahrt war.

»Des is ja woll kaum a ›Töpfchen‹, guadi Fraa«, wandte der mit dem Brötchen ein und wies auf den Kochtopf, der sicherlich 30 Liter fasste.

»Wir könnten auch ›Feldküche‹ dazu sagen!«, schaltete sich der Jüngere ein, der den Teller inzwischen wieder abgestellt hatte.

Margit schnappte nach Luft. »Wie bitte? Feldküche? Ist das Ihr Ernst, junger Mann? Wollen Sie wirklich in den Krieg ziehen? Wissen Sie, wie das damals war, als Napoleon, der Erfinder der Feldküche, Europa verwüstet hat? War Ihr Uropa nicht auch im Krieg? Schämen Sie sich!«

»Wella Sie jetz a Gulasch odder net?«, traute sich endlich der Ältere nachzufragen.

Die Dame straffte sich, strich sich die rotblonden Locken aus dem Gesicht und rauschte mit einem »Mir ist der Appetit vergangen. Ich kaufe mir eine Wurst!« davon.

»Sie awwer«, wandte sich der Mann an Heiko, absolut unberührt.

»Zweimal, mit Weckle«, bestellte Heiko, und er sah sehr glücklich aus dabei.

Christian Blumenstock betrachtete den weißen Federhelm, der neben ihm auf der Bank ruhte. Er hatte ihn seit diesem Jahr. Schneeweiß waren die Federn, reinweiß, blütenweiß. Bewundernd ließ er seine Finger durch den Busch gleiten, zart, um sie nur ja nicht zu zerzausen. Normalerweise hätte er einen roten Federbusch getragen, aber jetzt war er Oberst, Oberst der Bürgerwache, ein Ehrentitel. Er freute sich darüber, trug die Epauletten mit den goldenen Fransen mit Stolz. Er fuhr sich durch das schüttere Haar, das das magere Gesicht krönte. Es war nicht leicht gewesen, den Rang verliehen zu bekommen, und der Tobi war ein scharfer Konkurrent gewesen, der es durchaus auch mit unlauteren Mitteln versucht hatte. Aber Christian Blumenstocks Ruf war untadelig, würde es immer sein. Und so waren die fiesen Attacken des Musik-Gefreiten an ihm abgeperlt wie Wasser von einem Waschbecken mit Lotuseffekt. Nichts war kleben geblieben, und das war gut so. Allerdings wusste er nicht, ob es bei der nächsten Wahl auch so sein würde. Er würde sich bis dahin beweisen müssen, als Offizier. Und keinesfalls würde er weitere ungerechte Attacken dulden.

Später am Abend standen Tobi und Ezgi am Weinstand. Ezgi trank zwar selbst keinen Alkohol, hatte aber kein Problem damit, wenn sich Tobi mal einen genehmigte. Und er besoff sich selten bis zur Besinnungslosigkeit, da gab es andere.

»Der Tobi!«, erklang es plötzlich von rechts, und Ezgi sah Lars auf ihren Freund zuwanken. Der war eindeutig einer von denen, die nie wussten, wann es genug war. Er hatte seine Jacke ausgezogen und den Helm abgelegt, in der Hand hielt er ein Longdrinkglas, das verdächtig nach Jacky-Cola aussah.

»Hey, Lars!«, grüßte Tobias zurück und prostete ihm mit seiner Weißherbstschorle zu.

Lars lehnte sich theatralisch nach hinten. »Auf dich, mein Freund!«, prostete er, leerte das Glas in einem Zug, stellte es auf der Theke ab und ließ sich dann beinah unkontrolliert nach vorne fallen, wohl in der Absicht, Tobias Baumann zu umarmen. »Weißt du, ich habe dir längst verziehen, die Sache von damals, hat ja noch alles geklappt«, lallte er.

Ezgi trat einen Schritt zurück und vergewisserte sich mit einem Blick, dass ihr Freund klarkam.

»Scho recht, bisch mei Kumbel«, versicherte Tobi und tätschelte Lars die Wange.

»Des wor scho scheiße von dir, weisch, aber ich hab’s dir verziehen!«, versicherte Lars.

»Was meint er denn?«, wollte Ezgi wissen.

Tobi winkte ab. »Ach. Alte Geschichte. Vergiss es.«

»Willsch a Kippe?«, bot Lars an und nestelte in seiner Hosentasche herum. Es waren die guten, selbst gedrehten, ganz speziellen, das wusste Tobi.

»Heut net, Lars. Und du lässt das besser auch.«

»Jaja, net, dass mir des noch amol bassiert, gell!«, grinste Lars und hob gespielt mahnend den Zeigefinger. Er steckte die Zigarette wieder ein und wankte davon.

»Was war denn da los?«, erkundigte sich Ezgi noch einmal.

»Wie meinsch?«, fragte Tobi zurück.

»Was hat er denn gemeint?«, insistierte sie. »Komm, sag!«

Aber Tobias winkte in einer Art ab, die klarmachte, dass er nicht darüber reden würde.

Und Ezgi kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass das unumstößlich war.

Parkfestsonntag

André Hellmer stand vor dem Spiegel. Er hatte sich extra einen lebensgroßen gekauft, damit er sich ganz betrachten konnte. So einen hatte er schon immer gehabt, auch vorher. Es gab vorher und nachher, ganz klar, das würde es immer geben. Seit einem halben Jahr war er jetzt ein ganzer Mann, auch körperlich. Es war eine harte Zeit gewesen.

Schon immer hatte Andrea, wie er früher geheißen hatte, gewusst, dass etwas mit »ihr« nicht gestimmt hatte. Dass »sie« anders gewesen war als die anderen Mädchen. »Sie« war nie eine von ihnen gewesen, gefühlt. »Sie« hatte sich schon immer besser mit den Jungs verstanden, sich »Cars« und »Transformers« statt Disneys »Eiskönigin« angeschaut. In der Pubertät hatte »sie« sich die Haare raspelkurz geschnitten und war in Schlabberpullis und weiten Hosen herumgelaufen. Schnell hatte »sie« in der Schule »ihren« Stand gehabt, und erstaunlicherweise hatten die meisten »sie« so akzeptiert, wie »sie« eben war. Der Tobi war ihr da immer eine große Hilfe gewesen, schon damals auf der Realschule, und er hatte denjenigen, die »sie« dumm angemacht hatten, Schläge angedroht oder ihnen wirklich mal die Fresse poliert. Denn dazu war »sie« tatsächlich selbst zu schwach gewesen – körperlich hatte »sie« nicht mithalten können mit den Jungs. Und deshalb war »sie« dem Tobi immer dankbar gewesen, nur einmal, neulich, da hatte er sich echt was geleistet, das ging gar nicht. Aber egal.

André war eher klein, mit nicht allzu breiten Schultern. Aber das würde sich jetzt ändern, er nahm fleißig seine Hormone. Nach und nach, seit seinem endgültigen Entschluss vor drei Jahren. Er hatte beobachtet, wie seine Stimme tiefer geworden war, wie ein Bart zu sprossen begonnen hatte, den er hegte und pflegte, bis er ein perfekt getrimmter Vollbart war. Die Brüste waren kleiner geworden, und dann hatte er die finalen Operationen machen lassen. Und er war froh darum, denn seither war er, was »sie« schon immer hatte sein wollen – ein Mann. Nicht mehr Andrea, sondern André. André drehte sich zur Seite und strich über die Uniform, die perfekt saß und wirklich, wirklich gut aussah. Männlich! Er setzte den Federhelm auf, die roten Federn wallten in einem fließenden Busch über sein dunkles Haar, bildeten einen hübschen Kontrast. Wieder drehte er sich frontal. Gut sah er aus, so konnte er gehen, so konnte er sich mit den anderen treffen, mit ihnen mithalten.

Simone Reißig war noch im Bett. Sie liebte es, sonntags ewig lang liegen zu bleiben. Tobi schlief immer bei ihr. Auf ihren Füßen, um genau zu sein. Und er schlief immer so lange, bis sie aufwachte und sich bewegte. Dann erhob er sich, streckte sich und wanderte die Bettdecke nach oben, um ihr Ohr abzulecken. Simone kicherte meistens ein bisschen und streichelte dem Kater, der eigentlich Felix hieß, über den Kopf. Das Tier schmiegte sich in ihre Hand, der Schädel passte genau in die Höhlung. Simone hatte Felix nach der Trennung umbenannt in »Tobi«, denn auf diese Weise konnte sie immer noch seinen Namen sagen.

Tobi sprang mit einem Satz vom Bett, um in der Küche etwas zu trinken. Etwas enttäuscht drehte sich Simone wieder um, angelte nach ihrem Handy und tat, was sie jeden Morgen tat: ihre letzte Nachricht erneut schicken und nachsehen, ob sie diesmal ankam. Denn die Nachrichten kamen nicht mehr an, seitdem er sie blockiert hatte. Das machte sie wütend, ein bisschen. Ach was, unglaublich wütend. Was fiel dem ein! Er hatte sich anzuhören, was sie ihm zu sagen hatte, das war nur fair. Er hatte ihr jedes Gespräch verweigert. Das war nicht in Ordnung. Es fraß sie auf. Sie konnte nichts anderes mehr denken als … ach. Sie wechselte zu Clix-Mix und scrollte die Belanglosigkeiten durch, die ihre »Freunde« gepostet hatten. Schönen Sonntag, dazu ein Bild von einem knuffigen, debil treudoof dreinblickenden Bärchen mit Herzchen. Habe soeben einen Kuchen gebacken, lautete ein Post, der 67 Likes bekommen hatte. Bin total glücklich mit meinem … – schnell scrollte sie weiter. Like, wenn du mich magst, bat eine Freundin, und sie scrollte weiter, ohne zu liken. Lecker Low-Carb-Frühstück, warb ein Kerl, den sie seit Neuestem auf der Freundesliste hatte, den sie aber im Verdacht hatte, dass er ihr nur irgendwelche Abnehmpülverchen andrehen wollte. Nächster Post: Klicke auf deine Geburtsnuss, und wir verraten dir, was für ein Liebestyp du bist. Simones Mund verzog sich zu einem freudlosen Grinsen. Aha, die Geburtsnuss! Das wurde ja immer abstruser. Sie betrachtete das Bild: Es gab die Haselnuss, die Macadamianuss, die Erdnuss, die Pekannuss, die Cashewnuss, die Walnuss, die Edelkastanie, die Hanfnuss, die Steinnuss, die Wassernuss, die Eichel und die Buchecker. Als im März Geborene war sie die Erdnuss, die sie nicht einmal mochte, war ja klar. Simone klickte trotzdem auf die Erdnuss. Loggte sich wie gewohnt auf der Seite ein, und es war ihr egal, dass dabei womöglich dubiose Marktforscher all ihre Daten abzogen. Simone, du bist ein liebevoller und gütiger Mensch. Allerdings kann es vorkommen, dass du deinen Partner mit deiner Liebe erdrückst. Die Menschen kommen nicht mit der Gewalt deiner Liebe klar. Lerne deshalb, loszulassen, wenn dich jemand zurückstößt. Es wird bald jemand kommen, der deine Liebe will und auch verdient. Simone schluckte. Verdient! Und will! Sie warf das Handy mit einer schnellen Bewegung in das Wasserglas, das auf ihrem Nachttischchen stand. Es machte eigentlich nichts aus, denn das Gerät war wasserdicht. Und trotzdem verschaffte es ihr Genugtuung. Dann schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf, um Tobi zu füttern.

Die Johanneskirche war eines der ältesten Gebäude Crailsheims. Das große, für eine mehrheitlich gotische Kirche sehr schwer wirkende Bauwerk stand wirklich mitten in der Stadt und war nachgerade unspektakulär in ein Grundstück der Fußgängerzone eingebettet. Vielmehr musste man eigentlich sagen, dass die Fußgängerzone um die Kirche herumgebaut worden war, denn der erste Bauabschnitt des Gotteshauses war bereits 1398 begonnen worden. Stand man vor der Kirche, so empfand man sie als würdiges, mächtiges Gebäude. Durch schwere Holztüren waren an diesem Sonntag die Gläubigen hereingeströmt, deutlich mehr als sonst. Denn es handelte sich am Parkfestsonntag nicht nur um die übliche Gemeinde, sondern auch noch um die Mitglieder der Bürgerwache und ihre Familien, zudem um die Mitglieder der jeweiligen Abordnungen befreundeter Bürgerwehren. All diese Menschen füllten die hölzernen Bänke der drei Kirchenschiffe, sodass eine durchaus beachtliche Gemeinde zusammenkam. Neben dem Altar hatten sich die Fahnenträger aller Bürgerwachen aufgestellt. Der Fahnenträger wurde jeweils von zwei Fahnenbegleitern und teilweise von einem Kommandanten flankiert.

Pfarrer Langsam, ein großer, hagerer Mann mit grauer Stoppelfrisur und Brille, stand in seinem Talar auf der Kanzel und hatte zunächst die Abordnungen der Bürgergarde Esslingen, der Haller Sieder, der Bürgerwache Ehingen, der Bürgerwehr Schwabach, der Bürgerwehr Lauchheim, des Historischen Schützencorps Bad Mergentheim, der Bürgergarde Ellwangen und der Bürgergarde Hüttlingen begrüßt. Proppenvoll war der Altarraum, was für die meisten Gläubigen ungewohnt war. Dann hatte Pfarrer Langsam eine Bibelstelle verlesen. »Johannes der Täufer hörte im Gefängnis vom Wirken des Messias und schickte einige seiner Jünger zu ihm. Er ließ ihn fragen: ›Bist du wirklich der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?‹«, zitierte er gerade noch einmal. »Liebe Gemeinde«, machte er weiter, und seine Stimme hallte von der hohen Kirchendecke wider. »Lasst Jesus sein, wie er sein möchte! Er ist ein lieber, ein gütiger Jesus, der die Menschen liebt! Er ist womöglich moderner, als wir denken. Er lässt sich nicht in spießige Muster pressen. Er war ein Vorreiter, ein Pionier! Jesus …«

»Es reicht!«, kam eine Stimme aus der Gemeinde.

Der Pfarrer suchte irritiert nach dem Störenfried, sein Blick schweifte unsicher umher, streifte den einen oder anderen. Dann beschloss er offensichtlich, einfach weiterzupredigen.

»Jesus ist …«

»Jesus!«, rief es wieder aus der Gemeinde, und diesmal sprang der Rufer auf.

Alle Augen wandten sich ihm zu, es war ein kleiner, schmächtiger Mann mit dunklem, strähnigem Haupthaar. Einige verdrehten die Augen, denn den Zwischenrufer kannte man schon.

»Paul. Bitte!«, tadelte der Pfarrer mit mildem Lächeln.

»Hogg dii nou und halt dei Gosch«, befahl der Banknachbar des Angesprochenen und fasste ihn am Arm.

Paul machte sich brüsk los und trat aus der Bank heraus. »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, proklamierte er.

Pfarrer Langsam verdrehte nur innerlich die Augen, noch hatte er sich gut im Griff. Auch Paul war eines seiner Schäfchen, auch der.

»Jesus hätte euch Kriegsgeschmeiß aus dem Tempel geworfen! So, wie er die Händler rausgeworfen hat. Denn mein Haus soll ein Bethaus heißen, ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht!«

»Hier wird keiner ermordet, mein lieber Paul«, berichtigte der Pfarrer von der Kanzel herab, »und jetzt setz dich bitte wieder.«

Paul dachte kurz nach, schüttelte dann trotzig den Kopf und marschierte nach vorne, wo er Anstalten machte, die Fahnen und Standarten der Abordnungen umzurangeln. Er visierte den Schellenbaumträger der Bürgerwache an, der während des ganzen Gottesdienstes schon unbeweglich hinter seinem riesenhaften Instrument stand, die weiß behandschuhten Hände auf den silbernen Metallhörnern abgelegt.

Tobias Baumann fixierte den Angriffslustigen, überlegte wohl gerade, wie ihm beizukommen sei, und die Mitglieder der entsprechenden Bürgerwehren tauschten unsichere Blicke, denn man konnte ja in der Kirche kaum eine handfeste Schlägerei anfangen.

»Paul!«, gellte es in diesem Moment von der Kanzel. »Bitte benimm dich. Wir sind alle Brüder im Geiste!« Pfarrer Langsam eilte die Stufen der Kanzel hinunter, lief zu dem Übereifrigen und baute sich zwischen ihm und den Standarten auf. »Setz dich wieder hin, Bruder. Bitte! Störe den heiligen Gottesdienst nicht.«

Paul schluckte, die Autorität des Pfarrers schien zu wirken, zumindest im ersten Moment. Nach einer Schrecksekunde jedoch breitete er die Arme aus, als wären es Engelsflügel, und mit in Richtung der Fahnen ausgestreckten Zeigefingern rief er: »Eine Mördergrube! Habt keine Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis!« Er drehte sich um, schritt durch die Reihen und verließ hocherhobenen Hauptes das Gotteshaus, begleitet vom zischenden Gemurmel der Gemeinde.

Und Pfarrer Langsam erklomm wieder die Kanzel und ließ in die Predigt einfließen, dass der gute Bruder Paul das noch lernen müsse, dass die Dinge manchmal anders lägen, als er geglaubt habe, und dass auch Jesus manchmal eben ein anderer sei. Aber er fügte noch hinzu, dass der Paul in vielen Dingen auch ein Vorbild sei. »Und nun, lasset uns beten«, schloss er seine Predigt, und Christian Blumenstock ließ ein zackiges »Helm ab zum Gebet!« durch den Kirchenraum schallen, dem alle Mitglieder der anwesenden Bürgerwehren augenblicklich Folge leisteten.

Helles Sonnenlicht fiel durch die Wipfel der Bäume und malte gelbgrüne Flecken auf die Wiese des Spitalparks. Die Luft hatte noch Spuren jener morgendlichen Restkühle, die verhießen, dass es ein schöner, klarer Sommertag werden würde.

»Ein ganz tolles Kleid hast du da an, Lisa!«, lobte Doris, Heikos Mutter.

Lisa lächelte und bedankte sich.

»Gell, Werner?«, fuhr Doris fort und versetzte ihrem Mann einen kleinen Klaps auf den Oberarm.

Heikos Vater brummte. »Ja, gut!«, meinte er dann, was wohl höchstes Lob oder auch Gleichgültigkeit beziehungsweise irgendwas dazwischen ausdrücken sollte.