Fischerkönig - Wildis Streng - E-Book

Fischerkönig E-Book

Wildis Streng

4,8

Beschreibung

Ein lauer Sommerabend am Asbacher Weiher. Im Fischerheim prüft der Fischerkönig Walter Siegler nochmals die Kasse. Was er nicht weiß: Auf dem Weg zum Parkplatz lauert bereits sein Mörder. Wenig später wird seine Leiche gefunden. Das hohenlohisch-westfälische Ermittlerteam Lisa Luft und Heiko Wüst findet schnell heraus, dass nicht nur viele Angelfreunde Siegler gern am Haken hätten zappeln sehen. Und welche Rolle spielt Sieglers blutjunge und schöne Ehefrau Irina?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 324

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
13
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wildis Streng

Fischerkönig

Kriminalroman

Zum Buch

Tod eines Tyrannen Ein lauer Sommerabend am Asbacher Weiher im Herzen Hohenlohes. Im Fischerheim prüft der amtierende Fischerkönig Walter Siegler nochmals die Kasse. Er ahnt nicht, dass auf dem Weg zum Parkplatz sein Mörder auf ihn lauert. Siegler wird ausgerechnet mit der Fischerkönigskette erdrosselt. Beim Sommerfest des Angelsportvereins Crailsheim, das am nächsten Tag stattfindet, wird die Leiche gefunden. Das hohenlohisch-westfälische Ermittlerteam Lisa Luft und Heiko Wüst, das außer Kollegen auch noch ein ungleiches Liebespaar ist, findet bald heraus, dass nicht nur viele Angelfreunde Siegler gern am Haken hätten zappeln sehen. Auch die blutjunge und schöne Ehefrau des Mordopfers hätte allen Grund gehabt, ihren Mann loszuwerden. Während der Ermittlungen taucht außerdem immer wieder ein geheimnisvoller Mann mit schwarzer Lederjacke auf. Welche Rolle spielt er in dem Mordfall? In Sieglers Heimatdorf Goldbach brodelt und rumort es, und das nicht nur wegen des anstehenden Lichterfestes.

Wildis Streng ist in Crailsheim geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie in Karlsruhe Germanistik und Malerei. Seit 2006 arbeitet sie als Gymnasiallehrerin. Nach längerem Aufenthalt im Badischen lebt sie heute wieder in ihrer Heimat und unterrichtet in Crailsheim Deutsch und Bildende Kunst. In ihrer Freizeit widmet sich die überzeugte Hohenloherin der Malerei, der Fotografie und dem Schreiben. Aus ihrer Feder stammen bereits zehn Kriminalromane rund um das sympathische hohenlohisch-westfälische Ermittlerduo Lisa Luft und Heiko Wüst.

Mehr Informationen zur Autorin unter: www.wildisstreng.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © AndreasF. / photocase.com

ISBN 978-3-8392-4378-7

Widmung

Für meinen Onki Alfred Glock.

Ich vermisse Dich.

Du bist mein Held.

Sonntag, 06. Juli 2014

Stille lag über dem Jagstufer, und die sommerliche Landschaft wirkte absolut friedlich. Träge trieb die Strömung kleine Äste voran, nur hier und da hörte man ein Blubbern und kleines Plätschern der Fische. Kein Laut deutete jedoch darauf hin, dass hier Menschen waren, und hätte man die Augen geschlossen, so wäre man völlig überzeugt gewesen, hier mutterseelenallein in der Hohenloher Wildnis zu sein, fernab von jeglichem Trubel. Und doch war das Ufer des Flusses bevölkert. Gut 20 Männer saßen am Ufer, die meisten auf beängstigend fragil wirkenden Klappstühlen oder Hockern. Und alle waren still. Denn heute war Königsfischen des ASV Crailsheim, jenes Kräftemessen, bei dem der neue Fischerkönig des Angelvereins bestimmt wurde. Und jeder der Männer, die das Ufer der Jagst säumten, hatte vor, den Titel zu erringen.

Heinz Hintermann nahm einen zappelnden Tauwurm und spießte ihn auf den Haken. Sofort begann das große, speckig glänzende Tier, sich aufgeregt zu winden. Hintermann nickte. Prima. Das würde sich gut machen unter Wasser. Unwiderstehlich sein für einen fetten Spiegelkarpfen, der hoffentlich beißen würde. Er schielte kurz nach links und rechts. Neben ihm saßen Walter Siegler, der alte Fischerkönig, und Harald Zundel, sein härtester Konkurrent. Lass dich nicht ablenken, ermahnte sich Hintermann, konzentrier dich, das hier ist wichtig. Denn immerhin war das Königsfischen nur einmal im Jahr, nur einmal im Jahr gab es die Chance, sich als der beste Fischer des ASV Crailsheim zu beweisen und dann ein Jahr lang den Titel zu tragen. Fischerkönig. Das wäre schon was. Hintermann prüfte den Sitz der Spaltbleie, die den Tauwurm nach unten ziehen würden, wo die fetten Spiegelkarpfen gründelten. Denn beim Königsfischen war es wichtig, den größten Fisch zu fangen. Den schwersten. Welche Art, war vollkommen egal. Und Nummer Sicher waren auf jeden Fall Spiegelkarpfen, denn die wurden 20 Pfund und schwerer. Hintermann überblickte die Oberfläche der Jagst, schirmte seine Augen mit der flachen Hand vor dem allzu gleißenden Sommerlicht ab. Da. Da hinten. Luftblasen, die von einem Karpfen stammen könnten! Der Angler holte zum Überkopfwurf aus und positionierte den Köder mit einem leisen, aber peitschenden Wurfgeräusch gerade an der Stelle, wo er den Karpfen vermutete.

Harald Zundel beobachtete die Anstrengungen seines unmittelbaren Nachbarn. Hintermann ging auf Spiegelkarpfen, das war keine schlechte Idee. Aber ihm war das zu langweilig. Denn er liebte die Herausforderung. Spiegelkarpfen! Pah. Das waren Friedfische, langweilig bis zum Gehtnichtmehr. Gut, ein fetter Karpfen war unter Umständen ein würdiger Gegner. Aber die Wahrscheinlichkeit war hoch, eben statt eines riesigen Exemplars einen kleineren Fisch herauszuziehen, der für den Wettbewerb vollkommen nutzlos war. Er selbst ging auf Hecht. Nahezu mechanisch fasste er neben sich in den Eimer mit den Fetzen von kleinen Fischen. Hechte liebten Fischfetzen. Mit konzentrierter Ruhe befestigte Zundel den Fischkadaver am Haken, indem er ihn mehrfach aufspießte. Das wäre der perfekte Happen für einen riesigen Hecht. Er überprüfte den Sitz des Stahlvorfachs. Dies war nötig, um den großen Raubfisch daran zu hindern, die Schnur einfach durchzubeißen und abzuhauen. Gut so. Mit Schwung warf er die Angel in Richtung des anderen Ufers aus. Denn Hechte lauerten dort im Dickicht der Unterwasserpflanzen. Sie waren Jäger, wie er, Harald Zundel, einer war.

Walter Siegler betrachtete das zuckende Wurmbündel an der Angelschnur. Er nickte zufrieden. Dieser Tag war wichtig für ihn, sehr wichtig. Denn es ging um die Titelverteidigung. Es wäre eine rechte Schande, den Titel abgeben zu müssen, womöglich noch an so einen Nichtskönner wie den Hintermanns Heinz oder einen Hippie wie den Zundels Harald. Nein, das durfte nicht passieren. Siegler wischte sich den Schweiß von der Stirn, ein heißer Tag war das heute, sehr heiß. Und warum sollte jetzt, Anfang Juli, nicht ein richtig fetter Wels beißen. Welse waren eine echte Herausforderung. Gut, es war relativ unwahrscheinlich, hier an dieser Stelle ein 30-Pfund-Prachtexemplar aus der Jagst zu holen. Aber trotzdem, zwischen 0 und 30 gab es ja schließlich alles, und jeder Wels toppte einen läppischen Spiegelkarpfen oder einen popligen Hecht, auf den der Zundels Harald ja wohl ging. Und ein Bündel Tauwürmer war nun mal der beste Köder für Welse. Sie bewegten sich, wanden und drehten sich. Und das würde garantiert jeden Wels hinter dem Ofen bzw. zwischen dem Grundbewuchs hervorlocken. Das Kevlarvorfach saß auch. Der Fisch hätte keine Chance. Mit Schwung warf er den graubraunen Köder in das Wasser der Jagst. Er musste den Titel behalten. Es durfte nicht schiefgehen. Was würden denn da die Leute sagen.

Samstag, 09. August 2014

Die Kette um seinen Hals klimperte. Es war ein vertrautes Klimpern, eines, das ihm in diesem Jahr lieb geworden war. Und obwohl die Kette schwer und unhandlich war, trug er sie gern, denn sie wies ihn als König aus, als Fischerkönig, um genau zu sein. Walter Siegler seufzte schwer. Ein ganzes Jahr hatte er die Kette tragen dürfen, so war es der Brauch. Bis der neue Fischerkönig gekrönt wurde, und das wäre morgen beim Sommernachtsfest des ASV Crailsheim der Fall. Dieses Jahr hatte es der Heinz geschafft, naja, so war eben das Leben. Es war ja nicht so, dass er die Kette ununterbrochen getragen hätte in diesem Jahr. Auf keinen Fall, das wäre ja albern. Aber zu besonderen Gelegenheiten, ja, das schon. Hauptsächlich natürlich zu Veranstaltungen des ASV. Wieder seufzte er, und die Kette hob und senkte sich auf seiner schmalen Brust. Er schloss die Tür des Fischerheims und ließ seinen Blick wohlwollend über die Landschaft schweifen. Ruhig und friedlich lag der Asbacher Weiher vor ihm. Die Schwere des Spätsommers hatte sich über die Szenerie gelegt. Ohrenbetäubendes Grillenzirpen schwängerte die Luft. Mückenschwärme schwirrten im hellgoldenen Licht. Es war Abend geworden, und er liebte die Abende im August. Abwesend spielten seine Finger mit den Kettengliedern. Eine lieb gewordene Angewohnheit, die er sich ab morgen wieder würde abgewöhnen müssen. Aber so schlimm war es nun auch nicht. Denn schließlich gäbe es im nächsten Frühsommer wieder ein Königsfischen, und dann hätte er die Chance, die Trophäe zurückzuerobern. Und er würde es schaffen, jawohl. Er warf einen letzten Blick auf das Fischerheim, wo morgen die verhängnisvolle Zeremonie stattfinden würde. So war eben das Leben, sagte er sich und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen. Er umrundete die kleine Allee und ging auf seinen Mercedes zu. Walter Siegler bemerkte nicht, dass ihm jemand huschend folgte. Erst, als sich die Fischerkönigskette um seinen Hals schlagartig zuzog, ein brennender Schmerz seine Kehle durchfuhr und seine Augen aus ihren Höhlen quellend hervortraten, wusste er, dass es vorbei war.

Irina Siegler wartete. Sie wartete auf ihren Mann. Sie hatte keine Ahnung, wo er war. Er ging abends oft alleine in die Kneipe nach Crailsheim. Er musste in die Stadt, denn in Goldbach, dem Dorf, in dem sie lebten, hatte die letzte Wirtschaft schon vor Jahren dichtgemacht. Es war nicht so, dass sie ihn wirklich vermisste. Oder sich ehrlich um ihn sorgte. Es war eher Gewohnheit. Eine Art Pflichtbewusstsein. Lästiges Pflichtbewusstsein. Sie sah auf die Uhr. Halb drei. So spät war er schon lange nicht mehr nach Hause gekommen. Sein Handy war aus, was aber nicht unüblich war, er war eben nicht der Typ für die modernen Medien. Vielmehr gehörte Walter gerade jener Generation an, die einen Tick zu alt dafür war. Sicher, er hatte ein Handy. Aber es war so gut wie nie an. Irina ging ins Kinderzimmer, wo die Kleine selig in ihrem Bettchen schlummerte. Ein hübsches Kind war ihre Viktoria, ein liebes Kind. Soeben lächelte Irinas Tochter im Schlaf und sah aus wie ein kleiner Engel. Die Mutter streichelte dem Mädchen die verschwitzten blonden Locken aus der Stirn und ging zurück ins Wohnzimmer, von wo aus sie die Garageneinfahrt einsehen konnte. Ein seltsames Gefühl beschlich sie, ein latentes Unwohlsein, das sich in ihrem Bauch festsetzte. Wenn nun etwas passiert wäre? Wenn der Walter nicht mehr nach Hause käme, nie wieder vielleicht? Oder wenn Alex doch …, nein, das könnte er nicht. Sie starrte zum Fenster hinaus, vorbei an den unsagbar hässlichen olivgrünen Vorhängen, die hatten bleiben müssen, weil sie schon immer da gewesen waren und da gut hingen. Die Vorhänge waren schon länger da als sie und hatten sozusagen Vorrang. Irina war neu und hatte sich anzupassen. Wenn der Walter nie wiederkäme – würde es ihr etwas ausmachen? Oder wäre es ihr egal, gleichgültig, würde sie sich auch hier fügen, gerade so, wie sie sich in ihre Hochzeit gefügt hatte? Sie schaute, ob vielleicht draußen der vertraute Lichtkegel des protzigen Mercedes erschien oder ob der kraftvolle Motor der Karosse in der Ferne zu hören war. Aber sie lauschte und schaute vergeblich. Kurz vor drei beschloss sie, ins Bett zu gehen. Vielleicht war der alte Sack doch noch in die Mauerklause gegangen.

Sonntag, 10. August 2014

»Wie weit ist es denn noch?«, wollte Lisa Luft wissen. Sie saß neben ihrem Kollegen und Partner Heiko Wüst in dessen M3, einem BMW, der sein ganzer Stolz war. »Nicht mehr weit«, informierte der Kriminalkommissar. Auch nach anderthalb Jahren in Hohenlohe staunte die ursprünglich nordrhein-westfälische Lisa noch immer über die Weitläufigkeit der Landschaft. Hier in der Gegend konnte man manchmal kilometerweit durch die sanft gewellten Hügel fahren, ohne auch nur auf ein Dorf zu treffen. Einige der Weiler, durch die der Weg dann doch führte, bestanden aus nicht einmal 20 Häusern. Man konnte es nicht anders sagen – hier, zwischen Goldbach und Schwarzenhorb, war die Landschaft die reinste Idylle, voller Obstbäume, die schon lange nicht mehr blühten, aber dafür bereits kleine Früchte trugen, die schnell wachsen würden. Und auf den Wiesen leuchteten Hahnenfuß, Lichtnelken und Ochsenaugen. Die Luft flirrte vor Hitze, und selbst im Vorbeifahren konnte man das ohrenbetäubende Zirpen der Grillen hören. Die Wälder waren düster und schwer von einem satten Dunkelgrün, das es nur zu dieser Jahreszeit gab. Es war ein schöner Spätsommertag, und sie fuhren mit offenem Dach. Denn der M3 war ein Cabrio. Ein Auto, das die beiden Kommissare auch als Dienstwagen benutzten. Aber momentan waren sie nicht im Dienst. Sie waren privat unterwegs, auf dem Weg zum Sommernachtsfest des Fischereivereins. Heikos Vater war ein langjähriges Mitglied dieses Vereins, und so war es Ehrensache, dass die ganze Familie bei diesem Fest dabei war. Die Veranstaltung fand im und ums Fischerheim am Asbacher Weiher statt. Lisa war noch nie dort gewesen, aber Heiko hatte versprochen, dass es dort schön sei. Sie bogen in Waldtann nach links ab und folgten einer Straße, die eher ein Feldweg war. Trotzdem gab es hier Straßenschilder, an einer Gabelung ging es links nach Wüstenau und rechts nach Asbach. Heiko folgte dem Weg, der sich etwa einen weiteren Kilometer durch sanfte Hügel und weite Felder schlängelte, bis sie schließlich an ihrem Ziel waren.

Der hohenlohische Kriminalkommissar parkte den Wagen, und sie passierten eine kleine Allee, neben der der Bach plätscherte, der den Weiher speiste. Verstohlen musterte Heiko seine Freundin. Sie sah umwerfend aus in ihrem leichten, rotgeblümten Sommerkleid, das ihr kaum bis zum Knie reichte. Die langen blonden Haare hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden. Außerdem trug Lisa hochhackige Pumps, was zwar gut aussah, wie Heiko fand, aber in diesem Fall doch ziemlich unpraktisch war, weil sie ja immerhin durch die Wiese laufen mussten. Sie hatten die Allee umrundet, und zu ihrer Rechten lag jetzt ruhig und friedlich der Asbacher Weiher, wo schon mehrere Kinder am flachen Wasser spielten. Geradeaus entdeckte Lisa ganze drei Häuser, die wohl Asbach bildeten. Und links war geschäftiges Treiben im Gange. »Lisa! Heiko!«, ertönte eine Stimme. Es war Heikos Mutter, die aufgeregt winkte und auf sie zukam. Die Kommissarin registrierte das Fischerheim links, das im hellen Sommerlicht düster und höhlenartig wirkte. Die meisten Menschen saßen allerdings an Tischen, die unter einem gewaltigen weißen Zelt aufgestellt waren. Ein Duft nach Würstchen und gebratenem Fisch erfüllte die Luft. »Lisa, mei Madle!«, begrüßte Doris Wüst ihre Schwiegertochter in spe und umarmte sie stürmisch. Auch Heiko wurde geknuddelt, nur weniger auffällig, weil ihm das immer so peinlich war. »Papa hat sich schon hingesetzt. Wir sind da drüben«, erläuterte Doris und wies auf einen der Tische.

Wenig später hatten sie alle ein Getränk vor sich stehen. »Und das ist jetzt also der Angelverein«, stellte Lisa fest und nippte am Apfelsaftschorle. »Der Angelsportverein!«, präzisierte Werner Wüst. »Und heute wird der neue Fischerkönig prämiert«, erklärte Doris, und ihr Tonfall verriet ergebenes Interesse an der Materie, wohl ihrem Mann zuliebe. »Fischerkönig?«, fragte Lisa zweifelnd.

»Ja, der wird beim Königsfischen ermittelt.« Werner Wüst nahm einen Schluck von seinem Hefeweizen. »Und was macht man beim Königsfischen?« Werner brummte. »Ja. Das ist immer an irgendeinem Gewässer des Vereins. Jedes Mitglied des Fischereivereins, das Zeit und Lust hat, kann mitmachen. Alle treffen sich an der Jagst oder an einem Weiher, und dann geht es darum, wer in der vorgegebenen Zeit den größten Fisch fängt. Das geht dann nach Gewicht.« »Ah!«, machte Lisa.

»Und jeder der Herren hat natürlich so seine eigenen Methoden und Mittelchen, auf die er schwört«, präzisierte Doris mit ironischem Unterton, den Werner aber gar nicht wahrzunehmen schien. Beseelt nickte er. »Ich persönlich gehe beim Königsfischen ja immer auf Hechte. Die bringen ordentlich Kilo und sind außerdem eine Herausforderung, weil sie Raubfische sind. Friedfische sind mir zu langweilig, weil …«

»Was sind denn Friedfische?«, unterbrach Lisa.

»Ja, solche, die höchstens mal eine Muck fressen, aber sonst ganz brav sind!«

»Wie langweilig!«, befand Lisa und zwinkerte Doris zu. Nun schien der Angler die Ironie zu ahnen und musterte seine Frau mit kritisch-prüfendem Blick. Er trank wieder einen Schluck Weizen und schwieg verstimmt. Heiko rettete die Situation, indem er fragte: »Und wer ist dieses Jahr Fischerkönig?« Werner entspannte sich. »Der neue oder der alte?«

»Beide?«

»Also der alte ist der Walter Siegler.« Prüfend ließ er seinen Blick über die Feiernden schweifen. »Aber ich sehe ihn nirgends. Das wird ihm arg schwerfallen, die Kette abzugeben.«

»Die Kette? Welche Kette?«, fragte Lisa.

»Die Fischerkönigskette. Der Fischerkönig darf sie für ein Jahr tragen.«

»Und dann?«

»Na, dann kriegt sie der neue König, wieder für ein Jahr. Und so weiter und so fort.«

»Und wer wird der neue?«, hakte Doris nach.

»Der Hintermanns Heinz, soweit ich weiß«, informierte Werner Wüst.

»Warst du auch mal Fischerkönig?«, fragte Heiko seinen Vater. Der nickte und wirkte auf einmal tatsächlich königlich. »1985«, erzählte er. »In den letzten Jahren hab ich allerdings nur noch so hobbymäßig mitgemacht. Es gibt aber manche, die denken an nichts anderes.«

»Ist ja auch sehr kleidsam, die Kette«, befand Doris und trank Weißherbstschorle.

»Ja? Wie sieht sie denn aus?«, wollte Lisa wissen.

»Na, das wirst du schon noch sehen, nachher, bei der Krönung!«

Es sollte nicht zur Krönung kommen. Denn Walter Siegler blieb natürlich verschwunden. Die Feiernden kannten den wahren Grund dafür noch nicht, vielmehr wurde im Flüsterton gemutmaßt, dass Siegler nicht willens sei, seine Insignien abzugeben. So oder so kam der Vorstand allmählich in die Bredouille, weil der wesentliche Programmpunkt des Tages, nämlich die Krönung des neuen Fischerkönigs, ohne die Kette auch nicht stattfinden konnte. Heinz Hintermann hingegen hockte mit triumphierend-herausforderndem Grinsen an seinem Tisch vorne rechts und konnte sich den einen oder anderen dummen Witz über seinen Amtsvorgänger nicht verkneifen. Lisa und die Wüsts hatten sich inzwischen gebratenes Karpfenknusper mit Pommes bestellt und taten sich bald daran gütlich. Der Vorsitzende des Fischereivereins, Otto Waller, sah gerade zum wohl hundertsten Mal auf die Uhr und nickte schließlich dem wohlgenährten Alleinunterhalter zu, der sogleich einige Schlager zum Besten gab. Nach einer weiteren halben Stunde wurde auch dieser Puffer allmählich unglaubwürdig, und Waller betrat die Bühne. Er räusperte sich und klopfte unauffällig gegen das Mikrofon, bevor er sagte: »Guten Abend, meine Damen und Herren, und herzlich willkommen zum Sommernachtsfest des ASV Crailsheim!« Verhaltener Applaus. Noch einmal suchte Waller mit seinen Augen die Szenerie ab, ob der amtierende Fischerkönig nicht doch noch aufgetaucht war. Dann fuhr er fort: »Ich möchte Ihnen einen kleinen Abriss der Geschichte des ASV geben.« Er setzte eine weihevolle Miene auf, und sein silberner Schnurrbart bebte ehrfürchtig, als er begann: »Der ASV wurde gegründet im Jahre …« Ein Schrei unterbrach den Redner, ein Schrei, der so laut und entsetzlich war, dass er alle verstummen ließ, weil jeder hörte, dass dies ein Kinderschreien war, das erschreckenderweise etwas Tierisches, Gehetztes hatte. Die Tonlage war hoch, der Schrei verriet blankes Entsetzen und kam schnell näher. Wie in Zeitlupe richteten die Anwesenden ihre Blicke auf das etwa neunjährige Mädchen im rosa gestreiften Kleid, das soeben das Fischerheim passierte. Das Kind stand unter Schock. Eine Frau, wohl die Mutter der Kleinen, sprang nach einer Schrecksekunde auf und eilte auf das Mädchen zu, um es schließlich hochzunehmen und wie ein Kleinkind zu wiegen. Das Mädchen wimmerte nun, aber es war klar, dass sie nicht weinte, weil sie hingefallen war. So weinte ein Kind nur, wenn Schlimmeres passiert war. Alle starrten gebannt auf die seltsame Szene, und jetzt flüsterte die Kleine ihrer Mutter etwas ins Ohr. Die erbleichte und barg das Mädchen an ihrem Hals, um dann schnurstracks auf die Bühne zuzukommen und Waller die Schreckensnachricht umgehend mitzuteilen.

Minuten später standen Lisa, Heiko, der alte Herr Wüst und der Vorsitzende des ASV vor der Leiche. Der Tote lag in dem kleinen Waldstück, das sich dem Parkplatz gegenüber befand, und war nur unzureichend hinter einem Baumstamm versteckt. Nun war auch das Rätsel der fehlenden Fischerkette gelöst, denn die Trophäe war ganz eindeutig die Mordwaffe. Tief hatten sich die einzelnen Elemente der Kette in den seltsam dünn wirkenden Hals des Opfers eingegraben und dort rote und blaue Stellen hinterlassen. Die Augen waren hervorgequollen, und der Tote streckte auf skurrile Art die Zunge heraus. Als wolle er dem Tod mit einem grausigen Lachen entgegentreten. Waller war sichtlich erbleicht, während Heikos Vater die Leiche mit einer Art von wissenschaftlichem Interesse studierte und Heiko sein Handy zückte, um die Kollegen von der Spurensicherung zu rufen.

Uwe strich sich über die rasierte Glatze. »Also, Erdrosseln schaut echt böse aus«, meinte er und schüttelte mitleidsvoll den Kopf. Er machte einige Fotos, es würde dauern, bis die Haller Spurensicherung hier wäre, denn nach Asbach war es doch noch eine Ecke weiter als nur nach Crailsheim. Zu größeren Sachen, und da gehörte Mord ganz eindeutig dazu, kam nämlich immer die Haller Spurensicherung. »Weiß man schon, wer der Kerl ist?«, fragte Uwe. Heiko sah Hilfe suchend zu seinem Vater. »Wie heißt er noch mal?«

»Siegler. Walter Siegler. Der Fischerkönig.«

Uwe runzelte die Stirn und fragte sich wohl, um welche Art von Titel es sich dabei handelte. »Scheiße, der Mann ist verheiratet und hat eine kleine Tochter«, ließ sich Waller vernehmen, der wirklich sehr blass um die Nase war und bisher ansonsten noch gar nichts gesagt hatte. »Dann müssen wir die Frau informieren«, stellte Heiko fest. »Das wird nicht nötig sein«, ließ sich der Vereinsvorstand wieder vernehmen. »Sie ist schon auf dem Weg hierher. Sie hat vorhin meine Frau angerufen und gefragt, ob der Walter hier sei, und Gerda hat dann gesagt, der käme bestimmt bald und sie solle halt hier vorbeischauen.«

»Aha. Na dann. Kann man schon was sagen, Herr Spurensicherer?« Uwe Walter schürzte die Lippen. »Der Kerl wurde erdrosselt. Es muss gestern Abend gewesen sein, so zwischen acht und zehn, würde ich sagen. Wahrscheinlich wurde er überrascht, es sieht nicht so aus, als hätte er groß Zeit gehabt, sich zu wehren.«

»War das was Spontanes?«, wollte Lisa wissen.

»Schwer zu sagen. Woher hat der Mörder gewusst, dass der Mann die Kette umhaben würde? Und wieso hat er die Leiche nur so unzureichend versteckt?«

»Das spricht doch eher für einen Mord im Affekt, oder nicht?«

»Kann sein. Andererseits: Wenn der Mörder das mit der Kette gewusst hat, dann könnte es sich ja immerhin auch um eine geplante Tat handeln. Und wenn es Mord im Affekt war, dann muss die Kette voller DNA und Fingerabdrücke sein.«

Von der Straße her näherten sich Schritte, brachen aber in einiger Entfernung zum Waldrand ab. »Heiko?« Es war Doris. Heiko ging zu ihr, um ihr den Anblick der Leiche zu ersparen. »Die Frau ist da. Mit dem Kind.« Der Kommissar brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, welche Frau mit welchem Kind.

Eine Viertelstunde später saßen die beiden Kommissare einer hübschen blonden Frau im grünen Kleid gegenüber. Sie war keinesfalls älter als 25 und ausnehmend geschmackvoll geschminkt. Das Kind auf ihrem Arm war vielleicht zwei, drei Jahre alt. Lisa hatte Irina Siegler eine Cola gebracht, und nun klammerte sich die Frau mit ihrer feingliedrigen und perfekt manikürten Hand am Glas fest, während sie mit der Linken das Kind an sich presste. »Kann ich ihn sehen?«, fragte sie sehr leise und mit einer für eine so junge Frau recht tiefen Stimme. Ein kaum merklicher Akzent, den sie aber geschickt zu verbergen suchte, verriet, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache war. Lisa schüttelte den Kopf. »Ersparen Sie sich das, es ist kein schöner Anblick!« Die Frau protestierte nicht und fügte sich sichtlich erleichtert.

»Wann haben Sie denn bemerkt, dass Ihr Mann nicht da ist?«

»Er ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Und er ist auch nicht an sein Handy gegangen.« Heiko registrierte sehr große und sehr grüne Augen, die ihn durchdringend und sehr ernst musterten. »Und haben Sie sich da nicht gewundert?« Die Frau, die ohne Probleme Model hätte werden können, wirkte nun etwas verlegen. »Wissen Sie, das war nicht das erste Mal. Er geht ab und zu in die Mauerklause. Und da ist er öfter schon mal so spät nach Hause gekommen. Oder gar nicht.« Heiko nickte wissend, während Lisa beschloss, ihren Freund später zu fragen, was denn die Mauerklause war, auch wenn sie es sich bereits denken konnte.

»Und ist das sein Kind?« Lisa wies auf die kleine blonde Gestalt.

Irina Siegler nickte. »Das ist Viktoria.«

»Ein hübsches Mädchen.«

»Ja, nicht?« Ein Lächeln, das gleich wieder erstarb, huschte über die vollen Lippen.

»Sie wissen also gar nicht, wo Ihr Mann sich gestern Nacht aufgehalten hat?«

»Nein.«

»Woher kommen Sie denn ursprünglich, wenn ich fragen darf?«, fragte Lisa nun vorsichtig. »Aus Russland«, gab die Frau Auskunft. »Wir haben uns im Internet kennengelernt.« Lisa beschloss, dieses Thema momentan nicht weiter zu vertiefen. »Hatte Ihr Mann denn Feinde?«, fragte sie weiter. Irina dachte angestrengt nach, aber selbst dann zeichnete sich kaum eine Linie auf ihrer schönen, glatten Stirn ab. »Nicht, dass ich wüsste. Diese Fischerkönigsache war immer recht anstrengend. Aber dass da jemand einen Mord begehen würde …, nein, das glaube ich nicht!« Heiko brummte. »Sonst noch was?«, bohrte er weiter. Irina zuckte nach einer Weile die schmalen Achseln. »Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmern kann?«, fragte Lisa. Die Frau nickte und bestätigte mit einem tonlosen »Ja«.

Das Sommernachtsfest war schnell beendet gewesen. Otto Waller war zum Mikrofon getreten und hatte mit knappen Worten verkündet, was geschehen war. Seine Stimme hatte gebebt und er hatte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel gewischt. Dann hatte er an das Verständnis der Leute appelliert, dass man unter diesen Umständen nicht hier sitzen könnte und feiern und den neuen König krönen, und alle nach Hause geschickt. Mit betretenen Blicken hatten die Leute ihre Gläser geleert und waren still heim gegangen.

Heiko und Lisa hatten im Fischerheim ein provisorisches Verhörzimmer eingerichtet, um die ersten Befragungen vorzunehmen. Lisa hatte den neuen Fischerkönig und Waller gebeten, noch dazubleiben und einige Fragen zu beantworten. Das Fischerheim war ein Ort, dessen Staffage überaus grotesk wirkte. Ganz im Stil einer Jagdhütte waren auch hier Trophäenköpfe an der holzgetäfelten Wand angebracht. Nur, dass es sich dabei nicht um Hirsche und Wildschweine handelte, wie man das so kannte. Nein, an der Wand, auf kleinen, schmucken Holzbrettchen montiert, hingen Fischköpfe. Große, kleine, manche mit Zähnen, aber alle mit starrem Blick. Ihre harte Oberfläche glänzte speckig, und sie alle waren dem Betrachter direkt zugewandt. Fische in Angriffsposition sozusagen. Das beeindruckendste Exemplar war zweifellos ein zwei Meter langer Fisch mit riesigem säbelartigem Maul, als einer von wenigen seitlich aufpräpariert.

»Wie kommt ihr denn an den? Ich dachte immer, Schwertfische seien Salzwasserfische«, begann Lisa, als sie Otto Waller, den Vorsitzenden des ASV, befragten.

»Das ist kein Schwertfisch«, dozierte Waller, »das ist ein Segelfisch. Aus der Gattung der Fächerfische. Und ja, das ist ein Salzwasserfisch.«

»Und wie kommt er dann in Hohenloher Gefilde?«, wollte die Kommissarin wissen.

»Eines unserer Mitglieder, der Mann ist bereits verstorben, hat den Fisch 1978 gefangen. In Acapulco. Mexiko.«

»Unglaublich«, meinte Lisa. »Und dann?«

»Der Mann hat den Fisch präparieren lassen, vor Ort. In Mexiko. Alles andere wäre ja auch der reinste Frevel gewesen.« Lisa murmelte zustimmend. »1981 kam der Fisch dann nach Hohenlohe und hängt seither hier im Fischerheim in Asbach.«

»Ein wahrhaft kapitales Exemplar«, lobte die Westfälin.

Heiko, der die Geschichte bereits gekannt hatte, war der Meinung, dass sie nun genug Small Talk praktiziert hatten und dass es nun an der Zeit war, sich endlich dem brandheißen Mordfall zu widmen. »So, Herr Waller«, begann er. »Können Sie sich denken, was das Mordopfer gestern Abend hier wollte?« Waller schürzte die Lippen. Seine gesamte Mimik verriet Nervosität. Seine Hände lagen ineinander verkrampft auf dem Tisch, die Fingerknöchel traten schneeweiß hervor. »Ich, äh, keine Ahnung.«

»Wirklich nicht? Denken Sie nach.«

Auf Wallers Stirn bildete sich eine Steilfalte. Dann blitzte eine Erkenntnis in seinen braunen Augen auf. »Ich könnte mir vorstellen, dass er den Kassenbericht noch mal prüfen wollte. Der sollte heute vorgestellt werden.«

»Und wo hätte er das gemacht?«

Waller erhob sich umständlich, trat dann hinter die Theke, zog eine Schublade auf und fand das Kassenheft. »Hier!«, meinte er und brachte das Heft an den Tisch. Behutsam, als wäre es ein unvorstellbarer Schatz, legte er das Heft vor den Kommissaren ab. Heiko benutzte die Spitze eines Kugelschreibers, um das Heft vorsichtig zu öffnen. Ohne die Ecken zu berühren, blätterte er zum letzten Eintrag. Und tatsächlich, die letzte Eintragung war datiert auf den 9. August 2014. Sie lautete lediglich ›Geprüft‹ und war unterschrieben mit einer jener Signaturen, die Männer ab einem gewissen Alter fabrizieren, um Gelassenheit und Lebenserfahrung zu suggerieren, die aber gerade deshalb umso bemühter wirkten. Heiko drehte die seltsamen Schnörkel ins Licht. »Heißt das Siegler?«, wollte er wissen. Waller musterte den Eintrag und stimmte dann zu. »Hat es denn in der Kasse jemals Unregelmäßigkeiten gegeben?«, wollte Lisa nun wissen. Waller schüttelte vehement den Kopf. »Nein. Wissen Sie, da sind eh keine Millionen drin. Wir gehen von dem Geld auf Ausflüge oder pachten einen neuen Weiher. Aber große Sprünge kann man nicht damit machen. Und bisher war immer alles okay, der Walter hat das sehr gewissenhaft gemacht …« In diesem Moment schien dem Vorsitzenden die Lage wieder so recht bewusst zu werden, sein Blick verdüsterte sich, und eine Träne schimmerte in seinem Augenwinkel.

»Hatte der Herr Siegler denn Feinde?«, fuhr Heiko fort. Waller fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, wohl, um die Träne unauffällig fortzuwischen. »Na ja, also sagen wir mal, er hat polarisiert. Aber er war im Grunde ein ganz netter Kerl, ein wirklich netter!«

»Wer konnte ihn denn nicht leiden?« Hinter Wallers Stirn arbeitete es. Er schien abzuwägen, ob es nicht unanständig sei, auf diese Frage zu antworten. »Sie helfen damit, den Mörder ausfindig zu machen.« Jetzt schüttelte der Mann den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von uns …«

»Das kann man sich niemals vorstellen, Herr Waller. Also?«

»Wie wäre es denn beispielsweise mit dem neuen Fischerkönig?«, schlug Lisa vor. Der Mann wartete draußen vor der Tür und rauchte eine Zigarette nach der anderen, wie die Rauchschwaden, die an einem der beiden Fenster vorbeiwaberten, verrieten. »Wie war noch sein Name … Hintermann, Heinz. Also, wie wäre es mit dem Herrn Hintermann?« Der Vorsitzende blickte zum Segelfisch auf, als wäre der ein Gott, der ihm die Antwort ersparen könnte. Als nichts geschah, sagte er: »Das Königsfischen ist ein Sport. Ein Sport, bei dem es einen Gewinner gibt.«

»Einen Gewinner und ansonsten lauter Verlierer«, präzisierte Heiko.

»Da haben Sie schon recht«, gab Waller zu. »Aber der Wettkampf ist nur die eine Seite. Im Grunde verstehen wir uns alle sehr gut. Die meisten sehen das sportlich.«

»Die meisten?«, hakte Lisa nach. Waller zierte sich und fuhr schließlich fort: »Naja, also gerade der Walter hatte da ein etwas seltsames Verhältnis zum Titel … und vor allem zu der Kette.«

»Inwiefern?«

Waller schluckte. »Nun, wissen Sie, die Königskette wird üblicherweise zu besonderen Gelegenheiten getragen. Wenn es darum geht, den ASV zu repräsentieren. Es steht dem Fischerkönig natürlich frei, die Kette auch sonst zu tragen …« Er machte eine Pause, aber Heiko forderte ihn mit einer Geste zum Weiterreden auf. »Jedenfalls hat meine Frau ihn mal im Handelshof getroffen, und selbst da hatte er die Kette um.« Lisa unterdrückte ein Grinsen, während Heiko fragend die Augenbrauen hochzog. »Verstehen Sie, was ich meine, ich meine, man kann durchaus stolz sein auf diese Kette, durchaus, aber …«

»Sie meinen also, bei Herrn Siegler hätte dieser Stolz tendenziell krankhafte Züge angenommen?« Waller schnalzte mit der Zunge. »Krankhaft würde ich nicht sagen. Aber vielleicht lag er – hm, über dem Normalmaß.«

»Und hätte es da nicht sein können, dass er mit dem neuen Fischerkönig ein Problem hatte?«, schlug Lisa vor. Der Mann beugte sich vor, sodass Lisa jedes einzelne Haar in seinem Schnurrbart sehen konnte. Alle Haare waren akkurat ausgerichtet. »Jeder hat ein Problem damit, die Kette abzugeben, ganz klar. Aber wäre es dann nicht sinnvoller gewesen, wenn der Siegler den Hintermann … und nicht umgekehrt … ihr versteht.«

»Wir verstehen genau, was Sie meinen«, bestätigte Heiko. »Uns interessiert allerdings noch eine andere Sache. Die Frau Siegler …«

»Sie meinen, weil sie so jung ist?«

Heiko lächelte verlegen. Waller atmete tief durch und fixierte kurz den riesenhaften Segelfisch, der hinter der Kommissarin hing, bevor er antwortete: »Es heißt, er hätte sie vom Internet!« Lisa und Heiko wechselten einen vielsagenden Blick, den Waller bemerkte. Schnell setzte er hinzu: »Aus einem Chatforum, hat er mal erzählt!« Lisa räusperte sich. »Also, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber, nun ja, die Frau Siegler ist eine bildhübsche junge Frau, bedeutend jünger als ihr Mann.« Waller zuckte die Achseln. »Geld macht attraktiv«, vermutete er.

»War der Herr Siegler so reich?«

Wallers Schnurrbart vibrierte kurz. »Seine Familie hat ein bisschen Land. Und er hatte halt das, was man sich in einem ganzen Leben so abknausern kann, also nicht wenig. Und ob die Irina aus dem Katalog ist, das kann ich Ihnen nicht sagen, da müssen Sie Sieglers Schwester fragen.«

Heinz Hintermann wirkte, als säße er auf glühenden Kohlen. Gleich zu Beginn des Verhörs hatte er gefragt, ob er rauchen dürfe, und klammerte sich seither wie ein Ertrinkender an den Glimmstängel. Quasi aus Solidarität hatte sich Heiko auch eine angezündet, was bei Lisa zu einem vorwurfsvollen Wedeln mit der Hand führte. »Soso, und Sie sind also der neue Fischerkönig«, begann Heiko. Hintermann nickte. Er trug das Haar etwas länger, als Männer in seinem Alter es üblicherweise taten. Jeanstyp, stellte Lisa fest. Nicht unattraktiv. »Tja, so ist nun mal das Leben. Mal gewinnt man, mal verliert man«, meinte Hintermann, und Lisa fragte sich, ob er sich der Doppeldeutigkeit seiner Aussage bewusst war. »Anscheinend hatte Herr Siegler ein Problem damit, die Königskette abzugeben?«, half die Kommissarin. Hintermann schnaubte. »Wissen Sie, also ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, die Kette sei mir egal. Ich freue mich über den Titel. Aber beim Walter … also, das war schon nicht mehr normal, wenn Sie mich fragen.«

»Inwiefern?«

»Der hatte die Kette immer um. Immer. Die Irina hat meiner Frau mal erzählt, manchmal sei er sogar damit ins Bett gekommen. Das ist doch krank, ich bitte Sie.« Lisa stimmte dem Mann aus vollem Herzen zu und stellte sich unwillkürlich vor, Heiko käme in solcher Montur zu ihr ins Bett. Wahrscheinlich würde sie in einem derartigen Moment ernsthaft an ihrer Beziehung zweifeln. Was sie sonst eigentlich nie tat. Seit anderthalb Jahren waren sie und ihr Kollege bereits ein Paar, und sie waren sehr glücklich miteinander. Gut, es gab durchaus Dinge, die man an Heiko noch ändern konnte. Was das Rauchen betraf, so weigerte er sich hartnäckig, dieses Laster aufzugeben. Und mit Komplimenten ging er, typisch Hohenloher, recht sparsam um. Denn Hohenloher lebten nach der Devise ›Nix gsocht ist gloubt gnuach‹ – ›Nichts gesagt ist ausreichend gelobt‹. Aber abgesehen von diesen kleinen Mankos war Heiko nahezu der perfekte Partner – lieb, ohne zu soft zu sein, männlich, ohne zu sehr den Macho raushängen zu lassen. Wohl ganz anders als das Mordopfer, ein Mann, der seine sicherlich nicht unbeträchtliche Selbstachtung aus dem Triumph bei einem jährlich stattfindenden Wettkampf bezog und dann zweifellos noch aus der Tatsache, dass er sich als alter Knacker eine so junge und bildschöne Frau geangelt hatte – wie auch immer er das angestellt hatte. Lisa konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Walter Siegler ein Charmebolzen gewesen war. »Ist das Ihr erster Königstitel?«, fragte Heiko. Hintermann blies Rauch aus und verschränkte dann die Arme vor der Brust, ohne die Zigarette aus der Hand zu legen. »Hört mal, also ich bringe doch wegen so einem Scheiß nicht den Walter um!«

»Sie missverstehen uns, Herr Hintermann!«, beruhigte Lisa. »Wir verdächtigen Sie nicht. Wir sammeln Informationen!« Es passierte oft, dass Leute, von denen sie lediglich etwas erfahren wollten, sich automatisch verdächtigt fühlten.

»Sie brauchen mich auch gar nicht zu verdächtigen. Ich war’s nämlich nicht.«

»Können Sie sich denn vorstellen, wer es war?« Der ungekrönte Fischerkönig entknotete umständlich die Arme, rauchte nachdenklich und sagte dann: »Nein. Keine Ahnung. Der Walter war, wenn ihr mich fragt, ein ziemlicher Depp.«

»Inwiefern?«, wollte Lisa wissen.

»Ein Möchtegern. Einer, der sich über Statussymbole definiert hat. Die Irina. Sein Mercedes. Sein Job.«

»Was hat der Herr Siegler denn gearbeitet?«, fragte Heiko.

»Versicherungsfritze«, informierte Hintermann und wechselte einen Blick mit dem gewaltigen Hechtkopf an der gegenüberliegenden Wand. »Nicht wenig erfolgreich. Das ist ein Job, in dem diese spezielle Mischung aus Glaubwürdigkeit, Geschleime und Spießertum gut ankommt. Und das hatte er drauf, der Herr Siegler.« Lisa blickte nachdenklich zu einem monströsen Karpfenkopf, der genau über Hintermann hing. Sein Maul war so überdimensional groß, dass es beinah grotesk wirkte. »Besonders leiden konnten Sie sich wohl nicht?«, stellte sie dann fest. Hintermann verzog den Mund zu einem freudlosen Grinsen. »Wer konnte den schon leiden.«

»Wieso?«

»Ach. War halt insgesamt ein Arschloch.«

Heiko schwieg eisern und forderte lediglich mit einer Handbewegung zum Weiterreden auf. Der Typ ließ sich ja alles aus der Nase ziehen. »Na ja, also dass er die Irina gekauft hat, liegt ja wohl auf der Hand.«

»Wissen Sie das?«, hakte Lisa nach. Hintermann drückte nun endlich die Zigarette aus und lehnte sich dann in den ältlichen Stuhl zurück, der bedenklich knarzte. »Wie kann man das wissen. Glauben Sie etwa, er hätte das zugegeben? Trotzdem: Das kann gar nicht anders sein.« Lisa stimmte dem Mann innerlich zu, während Heiko »Hm« machte.

Lilli legte den Hörer auf. Sie tat es sanft, nicht laut und schnarrend, wie es in einer solchen Situation angebracht gewesen wäre. Requiescat in pace, mein Geliebter. Agnes hatte es ihr gesagt. Sie telefonierten viel miteinander, obwohl sie fast direkt nebeneinander wohnten. Zuerst hatte sie nicht viel gesagt. ›Der Walter ist tot.‹ Und dann: ›Es tut mir leid.‹

Sie, Lilli, hatte eine Schrecksekunde gebraucht, um zu verstehen. Dann war es aus ihr herausgebrochen. Wie? Wann? Warum? Agnes wusste nur, dass er erwürgt worden war. Gestern Abend. Schlagartig überlegte sich Lilli, was sie gestern Abend getan hatte. Wo sie gewesen war. Zu Hause, würde die Antwort lauten, wenn jemand fragen würde. Allein. Natürlich allein. So allein, wie sie seit 30 Jahren war, seit Walter sie verlassen hatte. Trennung auf Probe, hatte er damals vorgeschlagen. Probeweise. Nur so. Obwohl sie schon verlobt gewesen waren und laut übers Heiraten nachdachten. Und sie war sich sicher gewesen, er würde zurückkommen. Er würde sich austoben müssen, sich die Hörner abstoßen. Ein bisschen rumhuren. Und dann, dann käme er zurück zu ihr, zu seiner Lilli, die ihn doch liebte und er sie auch. Hatte sie zumindest gedacht. Aber dann hatte er sich vor vier Jahren diese Russenschlampe geholt. Lilli wusste überhaupt nicht, was er mit der wollte. Die konnte locker seine Tochter sein. Sie selbst hatte keine Kinder. Nicht, dass sie keine gewollt hätte. Es hatte sich einfach nicht ergeben. Denn der Mann, den sie als Vater ihrer Kinder ausgesucht hatte, hatte sie nicht gewollt. Sie wäre sein Bestes gewesen, aber das hatte er nicht erkannt, nicht erkennen wollen. Nicht, dass ihm das alles ganz recht geschehen wäre. Bestimmt nicht. Langsam stand Lilli auf. Es war so still. Sie ging in die Küche und setzte sich auf den Stuhl, auf einen von zweien. Lange, lange blieb sie so sitzen.

Die Spurensicherung hatte den Wald zum Sperrgebiet erklärt. Kaum war der VW-Bus der Haller Einheit angekommen, hatten die weiß gekleideten Männchen den Wald besetzt. Heiko fühlte sich wie in einem dieser schlechten Science-Fiction-Filme aus den 70er-Jahren. Irgendwie surreal. Es war ein heißer Tag. Die Luft war drückend schwül, Mückenschwärme umsurrten die Gegend um den Asbacher Weiher. Grillen zirpten, und im Wald knackten immer dann, wenn jemand eine unbedachte Bewegung machte, die trockenen Äste. Gleichzeitig stieg aber eine gewisse Kühle vom Waldboden auf. Der Waldduft wäre betörend gewesen, hätte sich da nicht ein erster Verwesungsgeruch breitgemacht.

»Todeszeitpunkt?«, fragte Heiko Uwe, der sich soeben mit einem Kollegen der Haller beriet.

»Die Kollegen sagen das Gleiche wie ich. Abends.«