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Kurz bevor der älteste Jahrmarkt Hohenlohes im beschaulichen Musdorf seine Pforten öffnet, wird an einem kalten Morgen im Oktober die Muswiesen-Wirtin Erika Böckler tot im Seebach aufgefunden. Schnell stellt sich heraus, dass das Opfer unmittelbar vor seinem Tod versucht hat, die Konkurrenz zu sabotieren. Auch in ihrem privaten Umfeld hat sich die Gastronomin viele Feinde gemacht. Für das Ermittlerteam Lisa Luft und Heiko Wüst beginnt zwischen Kittelschürzen, heiratswütigen Jungbauern und Schlachtplatten die fieberhafte Suche nach dem Mörder.
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Seitenzahl: 337
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Wildis Streng
Muswiese
Kriminalroman
Versumpft Während ganz Hohenlohe dem traditionsreichsten Jahrmarkt der Region entgegenfiebert, versetzt ein grausames Verbrechen das beschauliche Musdorf in Aufruhr: Die Muswiesenwirtin Erika Böckler wurde in der Quelle des Seebachs qualvoll ertränkt. Die Kriminalkommissare Lisa Luft und Heiko Wüst merken schnell, dass sich das Opfer unter den Musdorfern Wirten sowie im privaten Umfeld viele Feinde gemacht hat. Die Gastronomin versuchte nicht nur kurz vor ihrem Tod, die Muswiesenkonkurrenz zu sabotieren, sondern regierte Haus, Hof und Familie mit eiserner Hand. Inmitten von Kittelschürzen, heiratswütigen Jungbauern, Mundartsängern und Metzgerstänzern beginnt für das hohenlohisch-westfälische Ermittlerteam die fieberhafte Suche nach dem wahren Motiv. Indes dreht sich das Karussell der Verdächtigen immer rasanter …
Wildis Streng ist in Crailsheim geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie in Karlsruhe Germanistik und Malerei. Seit 2006 arbeitet sie als Gymnasiallehrerin. Nach längerem Aufenthalt im Badischen lebt sie heute wieder in ihrer Heimat und unterrichtet in Crailsheim Deutsch und Bildende Kunst. In ihrer Freizeit widmet sich die überzeugte Hohenloherin der Malerei, der Fotografie und dem Schreiben. Aus ihrer Feder stammen bereits zehn Kriminalromane rund um das sympathische hohenlohisch-westfälische Ermittlerduo Lisa Luft und Heiko Wüst. Mehr Informationen zur Autorin unter: www.wildisstreng.de
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Ricarda Dück
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Wildis Streng
ISBN 978-3-8392-5554-4
Für Elfi, Marina und Kurt Zur Erinnerung an eine phänomenale Muswiesenparty
Die Nacht war kalt, nicht ungewöhnlich für eine Oktobernacht. Seit ein paar Tagen war aber noch dieser schneidende Frost hinzugekommen, der an Winter denken ließ. Erika Böckler zog ihre Wolljacke enger um ihren Körper und blickte sich um. Sie sah in der Ferne den Nebel von den weißen Äckern aufsteigen, silbern glitzernd im Licht des zunehmenden Mondes. Bald würde die Muswiese beginnen, das wichtigste Fest im Jahr für den kleinen Ort Musdorf. Und alle Wirte würden wieder ein ordentliches Geschäft machen, nur der Windisch nicht. Ein zufriedenes Grinsen huschte über Erikas dünne Lippen, hämisch, voller Vorfreude.
Es war tief in der Nacht, halb vier. Und alle Bewohner Musdorfs schliefen den Schlaf der – mehr oder weniger – Gerechten. Erika tastete in ihrem Baumwollbeutel nach den beiden Kartons. Ein leises Quieken war zu hören, fast empört, zudem das Kratzen und Schaben der Beinchen auf dem Boden der Pappschachtel. »Gleich, meine Kleinen«, schnurrte Erika.
Sie hielt sich im Schatten der Hauswände, denn obwohl die Straßenbeleuchtung in Musdorf um elf ausgeschaltet wurde, war der Teufel ein Eichhörnchen, und sie durfte unter keinen Umständen gesehen werden. Eine Wolke schob sich vor den Mond, als Erika die Straße überquerte. Endlich war sie an ihrem Ziel angekommen. Sie ging in die Hocke und befühlte das Lüftungsrohr. Dann entnahm sie ihrem Beutel den Stechbeitel und entfernte die runde Abdeckung mit einer energischen Bewegung. Sie legte sich flach auf den Boden und streckte den Arm tief in die Öffnung, den Beitel fest umklammert, um im Inneren das Netz samt Abdeckgitter ebenfalls zu lösen. Zufrieden zog sie den Arm zurück und blieb beinah stecken, weil sich ein Krampf anbahnte. Sie geriet in Panik. Das fehlte noch, dass sie hier festsaß und am Morgen entdeckt werden würde! Sie zählte bis zehn, um sich zu beruhigen, streckte den Arm durch, und tatsächlich, der Krampf verschwand.
Als sie wieder frei war, blieb sie einen Moment liegen und lauschte in die Nacht. Nichts. Niemand war da, nur die Stille der kalten Oktobernacht. Erika setzte sich auf, ließ den Beitel in die Tasche gleiten und förderte die zwei Pappschachteln zutage. Das Scharren wurde lauter, verzweifelter. Sie zog ihre Arbeitshandschuhe an, sie hatte keine Lust auf einen Biss, der hinterher Fragen aufwerfen würde. Vorsichtig öffnete sie den einen Karton einen Spaltbreit und griff mit einer schnellen Bewegung hinein. Sie hatte das erste Tier im Genick zu fassen bekommen. Es quiekte laut und versuchte, sich zu winden, sich zu wehren, sie in die Hand zu beißen, aber ihr Griff war eisenhart. Energisch stopfte sie die Ratte in das Rohr und ließ die anderen vier Tiere folgen. Sie schlugen dumpf auf dem Boden des Kellers auf, und Erika hörte, wie sie augenblicklich forthuschten, wohl, um sich zu verstecken. Perfekt. Der Inhalt der zweiten Box würde sich weit weniger sträuben. In aller Ruhe nahm sie den Deckel von dem eierschachtelartigen Behältnis und schickte die 100 Kakerlaken den Ratten hinterher.
Brigitte Windisch rieb sich die Augen. Sie war niemand, der lange im Bett blieb, schon aus Prinzip nicht. Ihr ganzes Leben war sie früh aufgestanden, jeden Tag. Doch heute hatte sie keinen Wecker gestellt, so kurz vor der Muswiese hatte sie eigentlich vorgehabt, noch einmal Energie zu tanken. Denn das Fest war schön, aber auch ungemein kräftezehrend.
Sie fragte sich, weshalb sie eigentlich so abrupt aufgewacht war, als sie die Türglocke läuten hörte. Brigitte sah zur Uhr, es war viertel neun, dann tastete sie nach Franz, der neben ihr lag und wie ein Stein schlief. Konnte es der Paketbote sein? Wieder das Klingeln, diesmal erschien es ihr schriller, fordernder. Sie schlüpfte in ihren blau karierten Flanellmorgenmantel und in die Hausschuhe, die vor dem Bett bereitstanden, und hastete zur Tür.
Die zierliche junge Frau mit den korrekt gescheitelten, kinnlangen braunen Haaren und den schmächtigen mittelalten Herrn mit dem eher spärlichen Haupthaar, die vor ihr standen, hatte sie noch nie gesehen. Der Mann trug ein Sakko und hielt ein Klemmbrett vor der Brust, die Frau hatte Jeans und einen rosafarbenen Pullover an von der Sorte, die in den 80er-Jahren in der Perwoll-Werbung vorgekommen war. Brigitte Windisch überlegte unwillkürlich, ob Zeugen Jehovas ihre Bettruhe gestört hatten. Allerdings kamen die eigentlich nicht zu solch unchristlichen Zeiten.
Brigitte hielt die Tür vor sich, sodass ihr blaukarierter Morgenmantel verdeckt war, immerhin war sie nicht richtig angezogen. »Ja?« Sie musste sich räuspern.
»Frau Windisch?«, entgegnete die Frau nicht unfreundlich.
Brigitte nickte. »Und Sie sind …?«
»Wächter von der Lebensmittelüberwachungsbehörde. Mein Kollege Kaminski und ich würden uns gern einmal Ihren Vorratsraum ansehen.«
Brigitte zog die Augenbrauen zusammen und bemerkte, dass ihr Gatte hinter sie getreten war. Sie spürte seine Hand auf ihrer Schulter und drehte sich um. »Franz?«, meinte sie Hilfe suchend.
»Der WKD?«, fragte ihr Mann.
Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Den gibt es ja nicht mehr. Wir sind von der Lebensmittelüberwachungsbehörde.«
»Und wie kommen Sie darauf, dass Sie unseren Vorratsraum anschauen müssen?«, erkundigte sich Franz Windisch verständnislos.
»Es gab einen Hinweis«, lautete die unbestimmte Antwort Kaminskis.
»Was für einen Hinweis?«, empörte sich Franz und riss die Tür so weit auf, dass sowohl Brigittes als auch sein Flanellmorgenmantel zu sehen waren, seiner war allerdings rot kariert.
Frau Wächter, sichtlich eingeschüchtert, zuckte leicht zusammen, fasste sich dann jedoch und piepste: »Anonym.«
»Soso, anonym«, ereiferte sich Franz Windisch. »Aber bitte, meine Herrschaften. Bitte, kommen Sie rein, wir haben nichts zu verbergen, bei uns ist alles in Ordnung, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«
Kaum eine Minute später standen die vier vor dem Kellerraum, der den Windischs als Vorratsraum für die Muswiese diente. Jedes Jahr schlachteten sie einen Großteil ihrer Schweine und produzierten für das Fest Schnitzel und Würste aller Art.
»I glaab, ii schbinn«, murmelte Windisch wütend und drehte den Schlüssel im Schloss um. »Als hätta mir dohanna Uuziefer. Mei Lebdooch hobb ii do noch ko Viech gseecha, außer arra dooda Sau.« Die Tür schwang auf, und Windisch tastete nach dem Lichtschalter.
Die Leuchtstoffröhren flackerten, und als sie letztlich angingen, stieß Brigitte einen spitzen Schrei aus, und die beiden Herrschaften von der Behörde sogen scharf Luft ein. Im großen Keller befanden sich nicht nur zahlreiche Kühlschränke, Gefriertruhen, Regale und zwei Sauerkrautfässer. Viel auffälliger waren zwei große Ratten, die sich mitten im Raum um eine geräucherte Bratwurst zankten. Der Boden war mit Tierkot übersät. Zerrissene, offensichtlich angenagte Fleischpackungen lagen verstreut auf den grauen Kacheln. Dazwischen krochen einzelne Küchenschaben umher.
»Blata orientalis«, stellte Kaminski fest.
»Wohl eher germanica«, verbesserte Wächter ihren Kollegen und fügte hinzu: »Und Rattus rattus. Und wer weiß, was noch alles.«
»Wie bitte?«, ließ Brigitte mit zittriger Stimme vernehmen.
»Kakerlaken. Und Ratten«, erläuterte Kaminski in einem belehrenden Ton, als spräche er mit einem Grundschulkind.
»Ich hab keine Ahnung, wie die hier reinkommen«, murmelte Franz, dem sämtliche Gesichtszüge entgleist waren und der vollkommen perplex war. »Sie müssen mir glauben, ich … das war bei uns noch nie. Wir sind ein reinlicher Betrieb. Das kann doch nicht …«
»Sie glauben gar nicht, wie oft wir das hören«, stöhnte Kaminski und notierte mit abgehackten Bewegungen etwas auf seinem Klemmbrett.
»Wir räumen das auf und putzen alles«, beteuerte Brigitte. »Versprochen!«
Die Wächter schüttelte den Kopf. »Damit ist es leider nicht getan. Die Lebensmittel in diesem Raum sind nicht mehr zum Verzehr geeignet.«
»Wie, nicht mehr zum Verzehr geeignet?«, wiederholte Franz und war mit zwei schnellen Schritten bei einem Kühlschrank, den er blitzschnell aufriss. »Sie denken ja wohl nicht, dass die Ratten in den Schränken waren? Ich hab noch nie eine Ratz gesehen, die einen Kühlschrank aufmacht!«
»Alles in diesem Raum ist kontaminiert«, dozierte Kaminski mit hochgezogenen Augenbrauen. »Zumindest bis auf Weiteres. Die Geräte müssen gründlichst desinfiziert werden. Und die Lebensmittel sind nicht mehr zum Verzehr geeignet, leider.«
»Aber das geht nicht. Am Wochenende ist Muswiese.«
»Sie glauben doch nicht, dass Sie Ihre Schanklizenz behalten können, bei diesen Zuständen?«, schnaubte Kaminski, und seine Worte klangen schnippisch und ein bisschen böse, gefolgt von einem kleinen, feinen Lächeln, das die dünnen Lippen umspielte.
»Wie, keine Schanklizenz? Das ist unmöglich, wir haben eine Wirtschaft, und da drin sind drei Viertel unserer Schweine.« Brigitte wies auf die Kühlschränke. »Sie müssen uns glauben, wir haben keine Ahnung, wie die Tiere da reingekommen sind.«
Nun schien zumindest die Wächter zum ersten Mal so etwas wie Mitleid zu fühlen und legte Brigitte Windisch die Hand auf den Arm. »Es tut mir leid. Aber es geht nicht anders. Haben Sie denn keine Versicherung?«
»Gegen Ungeziefer? Nein!«
»Wenn Sie dermaßen ahnungslos sind, wie die Tiere in Ihren Keller gelangt sind, dann wenden Sie sich doch an die Polizei«, schlug Kaminski vor, und anders als bei seiner Kollegin klang es spöttisch.
Brigitte merkte, wie sich ihr Mann hinter ihr anspannte. »Sou, etz reicht’s«, brüllte er und ballte die Fäuste. »Etz schausch awwer ganz schnell, dass d Land gwinnsch«, fuhr er Kaminski an. »Sunsch zeich ii dr, wua dr Bartl da Mouschd hollt.«
Der Mann von der Behörde zog süffisant eine Augenbraue hoch. »Sie drohen mir?«
Als Antwort landete eine Faust in seinem Gesicht, es knirschte hässlich, und augenblicklich tropfte Blut aus seiner Nase auf das zuvor blütenweiße Formular auf dem Klemmbrett. Wie die Bluttropfen der Königin im Schnee in Schneewittchen.
»Franz!«, rief Brigitte entgeistert und fiel ihrem tobenden, wüste Beschimpfungen ausstoßenden Mann, der erneut ausgeholt hatte, in den Arm.
Kaminski nutzte den Moment und ergriff die Flucht, stolperte panisch die Kellertreppe hinauf, gefolgt von seiner Kollegin, wütend rief er noch: »Das wird ein Nachspiel haben!«
»Beruhige dich, Franz«, beschwor Brigitte und packte ihren Mann fester. »Musstest du ihm eine reinhauen?«
»So ein Aas«, ereiferte sich Franz. »Diese Überheblichkeit – ich konnte einfach nicht anders.«
»Der zeigt uns womöglich noch an«, fürchtete Brigitte.
»Soll er doch …«
»Was mich doch sehr wundert: Wo kommt das Viechzeugs überhaupt her? Wir hatten noch nie Ungeziefer, noch gar nie!«
Franz schnaubte und wischte sich mit der flachen Hand über die Stirn. Dann ließ er ratlos seine Arme an die Seite klatschen. »Keine Ahnung.«
Brigitte starrte unentschlossen auf den Boden. Eine Ratte huschte hinter einer Wurstpackung hervor. »Seltsam«, meinte sie. »Die ist nicht grau.«
»Wie, nicht grau?«
»Die ist gefleckt irgendwie. Wilde Ratten haben doch keine Flecken.«
Brigitte holte den Besen, der vor der Tür stand, und trat auf den Kühlschrank zu, hinter dem sich das Tier verkrochen hatte. Sie benutzte den Stiel, um den ungebetenen Gast nach vorne zu scheuchen. Die Ratte quiekte empört und verzog sich quer durch den Raum hinter ein Regal, in dem die geräucherten Würste lagerten. Sie war weiß mit schwarzen Klecksen.
»Die ist aus der Tierhandlung!«, vermutete Brigitte.
»Was? Wie? Wieso?«
»Na, ich hab noch nie eine Hausratte mit Kuhfell gesehen. Außer gezüchtete im Laden.«
Franz schien sich zu beruhigen und nachzudenken. »Und die Kakerlaken?«, fragte er, als er drei Schaben steifbeinig über den Boden wuseln sah.
»Reptilienfutter«, erwiderte Brigitte. »Gibt’s ebenfalls in der Tierhandlung. Oder im Internet.«
»Aber wie soll das gehen? Der Raum ist dicht.«
Brigitte ließ ihren Blick über die Wände schweifen. »Nicht ganz«, entgegnete sie und deutete auf das Lüftungsrohr.
Mit schnellen Schritten erreichte das Ehepaar die Öffnung. Tatsächlich fehlte der Deckel. Franz sah sich suchend um, blickte hinter die Möbel und entdeckte das runde braune Plastikteil hinter einem Regal. Es musste dort hingerollt sein. Ungläubig und fluchend rückte er das Vorratsregal zur Seite, sodass ein quietschendes Geräusch entstand. Dann bückte er sich und hob die Abdeckung auf.
»Das war ein Anschlag!«, empörte sich Brigitte, nach Luft schnappend. »Jemand will uns ausbooten!«
»Meinst du wirklich?«
»Klar, hast du schon mal eine Ratte gesehen, die ein Abdeckgitter säuberlich abmontiert?«
»Aber wer … wer sollte …«
»Mir fällt da schon jemand ein«, murmelte Brigitte grimmig.
Mittags aßen alle Händler und viele Musdorfer beim Pressler, weil der seine Wirtschaft schon am Mittwoch vor der Muswiese öffnete. Brigitte und Franz Windisch wussten also, wo sie die verdächtige Person zu suchen hatten. Mit Schwung stieß Franz die hölzerne Eingangstür auf. Der Geruch von Sauerkraut, Bratwürsten und Kesselfleisch waberte durch den Raum und ließ Franz, ungeachtet seines Ärgers, das Wasser im Mund zusammenlaufen.
In lockerer Runde saßen die Gäste um die Tische aus hellem Holz. Die Bierbänke im rechten Raum waren nur spärlich besetzt. Man kannte sich, denn obwohl die Leute nur einmal im Jahr zusammenkamen, taten sie dies meist ihr Leben lang. Hatte man einmal einen der begehrten Standplätze auf der Muswiese ergattert, dann behielt man ihn auch. Die wenigen Plätze, die in jedem Jahr neu verteilt wurden, waren hart umkämpft, und man musste schon sehr ungewöhnliche Waren anbieten, um eine Chance zu haben. Ein Grund, warum es kaum fremde Gesichter gab.
Einige Leute aus der Umgebung hatten sich schon eingefunden, um zu essen, diejenigen, die gerade nicht arbeiten mussten und es nicht mehr erwarten konnten, bis endlich Muswiese war. Die Anwesenden nickten dem bekannten Wirtsehepaar Windisch kurz zu und senkten wieder die Köpfe, in Gespräche vertieft. Brigitte hielt sich hinter ihrem Mann, beide blickten sich suchend um. Schnell hatten sie die Person, die sie suchten, entdeckt, sie thronte am Stammtisch mit einigen anderen Wirtsleuten. Franz fasste Brigitte bei der Hand und zog sie zum Tisch, wo Erika Böckler soeben ein Stück von einer Bratwurst abschnitt, in den Mund steckte und genüsslich kaute.
Franz wollte etwas sagen, doch seine Frau war schneller. »Du warst das«, zischte sie.
Die Angesprochene kaute weiter, schluckte schließlich den Bissen hinunter, legte die Gabel beiseite und meinte: »Hallo, ihr zwei. Ich war was?«
»Ich weiß, dass du es warst«, fuhr Brigitte unbeirrt fort. »Dir hat die Konkurrenz noch nie gepasst. Wir waren dir schon immer ein Dorn im Auge, weil unsere Würste besser sind als deine. Aber dass du so niederträchtig …«
»Jetzt mach mal halblang«, empörte sich Erika, schnitt allerdings seelenruhig noch ein Stück Wurst ab. »Was ist denn überhaupt los?«
»Was los ist?«, entgegnete Brigitte. Und dann mit erhobener Stimme: »In unserer Vorratskammer sind Ratten und Kakerlaken, und irgendwer hat den WKD vorbeigeschickt, und die machen uns jetzt die Bude dicht.« Sie war laut geworden, so laut, dass alle Anwesenden um sie herum verstummt waren und gespannt lauschten. Die Gespräche wurden zu einem heiseren Flüstern.
»Ja, so ist das. Ratten und Kakerlaken sind bei uns im Keller«, wiederholte Brigitte bestimmt.
Erika lachte auf, es klang hysterisch. »Aber Brigitte, meine Liebe, du weißt doch, wie wichtig Hygiene ist. Außerdem heißt es nicht mehr WKD, sondern Lebensmittelüberwachungsbehörde. Und ich habe gar nichts gemacht und gar niemanden geschickt.«
»Du hast die Viecher bei uns reingetan«, beharrte Brigitte.
Erika verfiel in bösartiges Gelächter und deutete mit der Hand vor dem Gesicht eine Scheibenwischerbewegung an. »Du hast ja nicht mehr alle Tassen im Schrank. Wahrscheinlich hattet ihr schon immer Viechzeugs, all die Jahre, und die Leute haben das Zeug gegessen, bah.«
»Eine von den Ratten ist gefleckt«, fuhr Brigitte in voller Lautstärke fort, sodass es erneut alle mitbekamen. Inzwischen war es allerdings so leise, dass dies gar nicht mehr nötig gewesen wäre; sämtliche Anwesenden verfolgten den Streit zwischen den beiden Frauen, man hätte eine Stecknadel fallen hören können, nur das gelegentliche Klappern und Scharren der Gabeln und Messer auf den Tellern unterbrach die Stille.
»Habt ihr schon mal eine gefleckte Hausratte gesehen?«, wandte sich Brigitte an alle und blickte sich Zustimmung heischend um. Aber die Leute zuckten nur mit den Achseln, schüttelten teilweise die Köpfe.
»Du kousch awwer net soocha, dass des die Erika wor«, tadelte Grete, die mit der Verdächtigten am Tisch saß. »Des kousch gor net wissa.«
Brigitte schob trotzig die Unterlippe nach vorne. »Doch, das weiß ich.« Und dann sagte sie, zu Erika gewandt: »Und das wirst du mir büßen, wart’s ab.«
Lisa versuchte, das Messer ruhig zu halten, ganz ruhig, und rammte es schließlich tief hinein. Gelbe Flüssigkeit troff aus dem Schnitt hervor und lief links und rechts herunter. Sie benutzte den Zeigefinger ihrer linken Hand, um sie wegzuwischen. Es wurde Herbst in Hohenlohe, und da sie und Heiko jetzt in einem schönen Einfamilienhäuschen mit Garten in Tiefenbach wohnten, wollte sie ein bisschen saisonal dekorieren. Seit fast vier Jahren waren die beiden Kommissare, die auch beruflich ein Team bildeten, nun zusammen. Und Lisa hatte erst lernen müssen, mit den Hohenloher Eigenheiten klarzukommen, ursprünglich stammte sie aus Wesel in Nordrhein-Westfalen. Vor über einem Jahr waren sie nach Tiefenbach in die Siedlung nahe Crailsheim gezogen, wo Heiko und Lisa auf dem Polizeirevier arbeiteten. Und hier lebten die beiden mit Heikos Rauhaardackel Sita, Lisas rot getigertem Kater Garfield und dem Deutschen Riesenschecken Alfred, einem riesigen Stallkaninchen, das das Paar bei seinem ersten gemeinsamen Fall vom Sohn des Mordopfers geschenkt bekommen hatte.
Lisa drehte das Messer herum. Dadurch ließ es sich jedoch schwerer kontrollieren, und prompt blockierte das Messer, und Lisa schnitt sich leicht in den Zeigefinger der linken Hand. »Au«, beschwerte sie sich, betrachtete das dünne Blutrinnsal und steckte den Finger in den Mund.
Heiko kam herbeigeeilt. »Was ist?«, fragte er und sah so besorgt aus, dass Lisa lachen musste.
»Nichts, mein Bärchen, ich hab mich nur in den Finger geschnitten.«
Heiko nahm ein Stück Küchenrolle und wickelte es um die mehr oder weniger blutende Stelle. »Was machst du denn da?«, erkundigte er sich.
»Herbstdeko«, erklärte Lisa nicht ohne Stolz.
»Ich dachte Suppe«, meinte Heiko.
»Nein. Das wird eine Kürbislaterne.«
»Und warum machst du das?«
»Für die Haustür. Da kann man eine Kerze reinstellen und …«
»Ist das dein Ernst?«, vergewisserte sich Heiko.
»Aber natürlich«, gab Lisa ein bisschen beleidigt zurück.
»Also, wenn wir so was überhaupt brauchen, Gemüse mit Kerzen drin,« – was an sich schon Schwachsinn ist, fügte er in Gedanken hinzu – »dann nimmt man einen Ransch für einen Ranschagaaschd.«
»Einen was?«, wunderte sich Lisa.
»Ein Ranschagaaschd. Ein Futterrübengeist. Ein Ransch ist eine Futterrübe. Und den muss man stehlen.«
»Wir sind bei der Polizei«, protestierte Lisa.
»Oder mr fräächt ganz nett d’Nachbara danoch. Jemand, wo Hosa hat.« Heiko verfiel in den Dialekt.
»Aha«, entgegnete Lisa etwas gekränkt, immerhin hatte sie sich mit ihrem Kürbisgeist viel Mühe gegeben. Und sie würde ihn auch aufstellen, Ransch oder wie das hieß hin oder her.
Während Lisa trotzig den Kürbisgeist vor der Haustür positionierte, eine Kerze hineinsetzte, ihn super dekorativ fand und Heiko ein Kompliment abrang – er ließ sich schließlich zu einem »Hm« herab –, hatte sich in Musdorf der Nebel über die Felder gesenkt. Die Nacht war hereingebrochen, die Kühle der Luft kroch durch die Kleidung und brachte die Menschen zum Schlottern. Was heißt ›die Menschen‹, eigentlich war wieder nur eine Person unterwegs, Erika Böckler trat in die Pedale ihres schon etwas älteren, ächzenden Damenrades. Sie freute sich unbändig, dass ihr kleiner Streich geglückt war, den Windischs geschah es recht, die Biggy ging ihr schon lange auf die Nerven mit ihrem überheblichen Getue.
Wer immer konnte, blieb an diesem kühlen Herbstabend kurz vor der Muswiese zu Hause. Aber Erika Böckler hatte zu tun. Sie verließ den Ort, passierte die Reithalle und bog nach rechts in den Feldweg ein, der nach Schainbach führte. Sie war aufgeregt, die Sache war wichtig, sehr wichtig, und sie würde ein weiteres ihrer Probleme lösen, und zwar endgültig. Rechts von ihr blökten ein paar Ziegen in einem Freilauf, links war ein Stall, und dann nichts mehr, nur noch die Weite der Felder. Der Abendstern war schon aufgegangen, besiegelte das Ende des Tages, hieß die Nacht willkommen. Doch Erika schaltete ihren Dynamo nicht ein, es brauchte niemand zu sehen, wohin sie fuhr, und sie hatte es ohnehin nicht weit. Der Weg führte sie vorbei an Rübenäckern, Leguminosen und an einem letzten Maisfeld für Biogas, dessen vertrocknete Pflanzen wie Messer in den Nachthimmel stachen. Hinten links drehten sich lautlos die beiden Windräder, die auf freiem Feld Richtung Schainbach standen, in der kalten Nachtluft, sie wirkten wie Riesen aus einer anderen Welt.
Schließlich kam ihr Ziel in Sichtweite, ein paar Hainbuchen standen dort, und sie näherte sich stetig, vorbei an einigen Hecken und brachliegenden Äckern. Endlich erreichte sie die kleine Kurve und stellte das Fahrrad an dem ehemals weißen rostigen Geländer ab. Unter ihr plätscherte der Seebach in Richtung Rot am See, auf der anderen Seite der Brücke, über die der Feldweg führte, lag seine Quelle. Sie drehte sich um und blickte auf das Becken in der Größe eines Gartenteiches, an dessen rechten oberen Rand Wasser aus der Erde sprudelte. Schon immer hatte die Quelle sie fasziniert, sie hatte etwas Mystisches, Unheimliches, Geheimnisvolles.
Erika betrat die Wiese neben dem Feldweg, umrundete das Gewässer und ging an der Tafel mit der Wanderkarte vorbei. Soeben wandte sie sich dem Brunnen zu, um den Umschlag dort abzulegen, bevor die Person eintraf, mit der sie verabredet war, als sie einen Stich im Nacken spürte, der solche Schmerzen verursachte, wie sie sie noch niemals in ihrem Leben gespürt hatte. Sie wollte die Arme heben, um die brennende Stelle zu ertasten, merkte jedoch irritiert, dass sie sich nicht bewegen konnte, dass sie gelähmt war. Ungläubig registrierte sie, dass sie gepackt und unsanft an den Schultern durchs Gras geschleift wurde. Ihre Augen wanderten umher, suchten die Person, die sie mit festem Griff über den Boden zerrte. Aber sie konnte sie nicht entdecken, konnte den Kopf nicht drehen. Ebenso wenig konnte sie sprechen, schreien, um Hilfe rufen. Entsetzt stellte Erika Böckler fest, dass sie ausgeliefert war, sie war nicht in der Lage, sich zu wehren.
Ihre Bewegungsfähigkeit setzte erst wieder ein, als ihr Angreifer sie mit dem Kopf voran in das eiskalte Quellwasser tauchte, sie schlug wild mit den Armen um sich, ihre Hände krallten sich in den Schlamm bei dem verzweifelten Versuch, sich hochzustemmen, aber unerbittlich drückte ihr Mörder so lange zu, bis das letzte bisschen Atemluft aus ihren japsenden Lungen entwichen war.
Ludwig Böckler erwachte und bemerkte sofort, dass etwas anders war. Ungewohnt. Er war allein. Das war er seit 28 Jahren nicht mehr gewesen, morgens, beim Aufwachen. Jeden Tag hatte sie neben ihm gelegen, seine Erika. Aber heute nicht. Ob sie schon aufgestanden war?
Er schlüpfte in seine Schuhe, die stets vor dem Bett bereitstanden, und erhob sich umständlich. »Erika?«, rief er, und seine Stimme verhallte seltsam hohl im Raum. Ein unbestimmtes Gefühl bemächtigte sich seiner, doch er wischte es mit einem Kopfschütteln beiseite. Sicher werkelte sie bereits irgendwo auf dem Hof.
Er sah zuerst in der Küche nach, anschließend im Bad und in allen weiteren Zimmern, im Hof und zuletzt sogar im Schweinestall. Seine Frau blieb verschwunden. Endlich versuchte er es mit klopfendem Herzen auf ihrem Handy. »Grüß Gott, hier ist die Erika. Bitte sprich nach dem Signalton«, hörte er, und dann: »Piep.« Das Mobiltelefon war aus. Er versuchte es ein zweites, ein drittes, ein viertes und fünftes Mal, immer mit demselben Ergebnis. Aus.
Schließlich ging er zurück ins Haus zum Festnetztelefon und rief alle Leute im Ort an, ob sie wüssten, wo die Erika sei. Niemand hatte sie gesehen. Langsam beschlich ihn der Gedanke, dass sie ihm abgehauen sein könnte, einfach auf und davon. Er stürzte ins Schlafzimmer und riss ihren Kleiderschrank auf, mittlerweile panisch, aber nein, alles lag an seinem Platz, auch ihr einziger Trolley war noch da, lag an seinem Platz oben auf dem Schrank. Nein, das würde sie niemals tun, nicht nach 28 Jahren Ehe, nicht jetzt, nicht vor der Muswiese, sie liebte ihn doch. Er schüttelte den Kopf. Ludwig Böckler zog sich an, setzte sich in seine Mercedes-S-Klasse und fuhr los.
Heiko und Lisa saßen beim Frühstück. Sita, Heikos Rauhaardackel, den er vor langer Zeit aus dem Tierheim geholt hatte, bellte aufmunternd, weil sie ein Stück Gsälzbrot haben wollte. Heiko blätterte im »Hohenloher Tagblatt« – er studierte den Regionalteil, während Lisa sich das Feuilleton geschnappt hatte. Daran war er sowieso mäßig bis gar nicht interessiert, für den echten Hohenloher waren die Nachrichten aus der Region das Wichtigste in der Zeitung.
»Muswiese beginnt am Samstag«, las Heiko und betrachtete das Bild eines Händlers, der euphorisch einen Gürtel in die Kamera des Zeitungsfotografen hielt.
»Tatsächlich«, erwiderte Lisa. »Da sollten wir irgendwann hin.«
Heiko schnaubte. »Wie, irgendwann? Du willst doch nicht nur einmal hin, oder?«
Lisa ließ die Zeitung sinken. Gerade erst hatten sie das Fränkische Volksfest gefeiert, schon stand also das nächste Großereignis vor der Tür. Für Nichthohenloher wie Lisa war die Muswiese ein etwas seltsam sortierter Krämermarkt, auf dem es zwar schönen Silberschmuck und ausgefallene Handtaschen gab, jedoch ebenso unsagbar hässliche Kittelschürzen, Unmengen Landmaschinen und Stallanlagen aller Art. Außerdem verzehrten die rund 250.000 Gäste der Muswiese tonnenweise Fleisch, fuhren mit dem kleinen Riesenrad und deckten sich mit Stallbedarf ein. Lisa hegte den Verdacht, dass einige Jungbauern die Muswiese auch heute noch allen Ernstes als Heiratsmarkt ansahen. Immerhin, shoppen konnte man gut, zwischen all den Kuriositäten und Männersachen wurden viele schöne Dinge angeboten, vor allem Dekoartikel.
»Das ist doch das mit den vielen Ständen? Wo man so gut einkaufen kann, nicht? Bei Rot am See«, vergewisserte sich Lisa.
Heiko seufzte. Das hatte sie sich natürlich gemerkt. Dabei war die Muswiese viel mehr. Gut essen, gut und viel trinken, Leute treffen, auch solche, die man nur auf der Muswiese sieht. Vielleicht könnte man die Ausstellung anschauen. Und Maroni essen, aus dem Kanonenofen. Heiko dachte soeben an den leckeren Geschmack der Esskastanien, als sein Handy klingelte.
Es war ein typischer Herbstmorgen, einer, bei dem die schon harte, fast gefrorene Erde unter den Füßen von einer leicht schmierigen Matschschicht bedeckt war, tückisch genug, dass man darauf ausrutschen konnte. Die Luft war kalt, und der Atem bildete kleine Wölkchen vor dem Mund. Lisa und Heiko waren nach Musdorf bestellt worden, das heißt, nicht nach Musdorf direkt. Vielmehr an den Feldweg, der die Dörfer Musdorf und Schainbach miteinander verband. Ein idyllischer Ort, ein paar Bäume säumten den Seebach, der hier entsprang. Die Kommissare standen mitten auf einer Wiese vor der Quelle. Es hätte romantischer nicht sein können, hätte nicht neben dem kleinen Teich, der den Wassersprudel aus der Erde umgab, eine nicht allzu große, durchnässte Frau im feuchten Gras gelegen. Die unbedeckten Stellen der Haut waren fahlweiß und aufgedunsen.
Heiko vermied es, der Leiche genauer ins Gesicht zu sehen, er hatte bereits beim ersten Blick das Entsetzen in ihren erstarrten Zügen entdeckt. Um die Kommissare herum wuselten die Männer von der Spurensicherung, die bei Tötungsdelikten extra aus Schwäbisch Hall anreisten. Natürlich hatte sich die Crailsheimer Spurensicherung auch am Tatort eingefunden – Uwe. Uwes Glatze war unter der Haube des weißen Plastikanzugs verschwunden, und er starrte wild entschlossen auf das Opfer.
»Und, weiß man schon was?«, fragte Heiko.
Unwillig löste Uwe seinen analytischen Blick von der Toten. »Erika Böckler. Sie ist ertrunken.«
»Na, das ist ja mal eine Überraschung«, ließ Lisa verlauten und zwinkerte ihrem Kollegen von der Spurensicherung zu. Sie hatte die Arme um den Körper geschlungen, denn ihr Mantel war definitiv zu dünn. Sie würde sich einen neuen kaufen müssen. Einen, der zwar noch nicht für den Winter geeignet war, durchaus aber für den Herbst – für den Hohenloher Herbst, um genau zu sein. Oder eine schicke Jacke. Sie würde sich auf der Muswiese umsehen.
»Und wie ist sie in der Quelle gelandet?«, wollte Heiko wissen.
»Vielleicht ist sie ausgerutscht, auf einen Stein geknallt, bewusstlos geworden und ertrunken«, schlug Lisa vor.
Uwe zuckte mit den Achseln. »Das wird die Obduktion letztlich klären müssen. Allerdings wäre ihre Körperposition in diesem Fall eher eine andere.«
»Wie meinst du das?«
»Sie lag mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Stellen wir uns vor, sie rutscht aus, fällt mit dem Kopf auf einen Stein und verliert das Bewusstsein. Dann müsste sie auf dem Rücken liegen bleiben.«
»Sehr scharfsinnig, Columbo!«, witzelte Lisa.
»Also kein Unfall«, stellte Heiko fest.
»Wohl nicht.«
»Hat sie sich gewehrt?«, forschte der Kommissar weiter.
Sein Kollege nickte. »Unter den Fingernägeln befindet sich Dreck, und sie sind aufgerissen. Wenn wir Glück haben, ist die DNA des Täters unter den Nägeln.«
»Und wer hat die Frau gefunden?«, erkundigte sich Lisa.
»Ihr Mann, Ludwig Böckler. Das ist natürlich suboptimal«, meinte Uwe und wies auf den Krankenwagen, der etwas abseits geparkt hatte. »Der ist ziemlich durch den Wind, es ist fraglich, ob ihr den jetzt schon ausquetschen könnt.«
»Weißt du schon den Todeszeitpunkt?«
»Zwischen elf und eins gestern Abend, würde ich sagen. Näheres muss die Obduktion klären.«
»Irgendwelche Spuren?«, wollte Lisa wissen und präzisierte gleich: »Ich meine Fußspuren.«
Uwe kratzte sich am Kopf. »Ja, das ist das Komische. Eigentlich müssen in diesem Matsch Spuren gut zu sehen sein. Und es gibt sie auch tatsächlich – allerdings nur vom Opfer.«
»Ach was«, wunderte sich Heiko. »Der Täter ist also geflogen?«
»Es gibt durchaus noch andere, aber die sind sehr diffus.« Uwe schürzte die Lippen, es wirkte tadelnd.
»Wie, diffus?«, hakte Heiko nach.
Ohne ein Wort zu erwidern, führte der Kollege die beiden Kommissare zu einem Abdruck, an dem eine Nummerntafel postiert war und der soeben von einem der Haller Spurensicherer fotografiert wurde.
»Das sieht irgendwie … verwischt aus«, stellte Heiko irritiert fest.
»Als wäre der Täter strümpfig hier rumgerannt. Und wer weiß, ob die Spuren überhaupt vom Täter stammen«, gab Uwe zu bedenken.
»Kann man an der Tiefe des Abdrucks irgendwas über das Gewicht der Person aussagen? Oder über die Schuhgröße?«, insistierte Lisa.
Uwe schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Der Matsch ist so fein, wenn da keine Bilderbuchprofilsohle reintritt, sprotzt das nach allen Seiten unkontrolliert weg.«
»Hm …« Heiko blickte nachdenklich auf die Leiche. Das würde schwierig werden, sehr, sehr schwierig.
Heiko zündete sich eine Zigarette an. Sein Blick wanderte zu dem Häuflein Elend, das im Krankenwagen saß. Der Mann weinte hemmungslos, seine Schultern hüpften unkontrolliert auf und ab. Heiko atmete den Rauch tief ein. Eine Leiche zu finden, war immer hart. Lisa legte ihm eine Hand auf den Rücken und schimpfte diesmal nicht wegen der Zigarette. Gemeinsam sahen sie zu, wie die Frau mit einem Tuch bedeckt wurde.
Ein Bulldog näherte sich donnernd, verlangsamte das Tempo, bis er fast zum Stehen kam, beschleunigte endlich und brauste scheppernd vorbei. Heiko hatte registriert, wie der Fahrer neugierig den Tatort taxiert hatte. Der Fall würde sich schnell herumsprechen, und dann wäre hier der Teufel los, die Leute würden einen Vorwand finden, warum sie ausgerechnet heute nach Schainbach mussten, auf gerade diesem Feldweg. Heiko seufzte.
Er winkte einen der Sanitäter heran, die sich um den Ehemann des Opfers kümmerten.
Der schlanke Rothaarige mit auffälligem Ziegenbart und stechend blauen Augen kam auf ihn zu und hob fragend die Augenbrauen. »Kou ii eich helfa?«
Heiko nahm einen letzten Zug, bevor er die Zigarette unter seinem Schuh zertrat, was auf dem feuchten Boden ein schmatzend-zischendes Geräusch verursachte. »Wüst und Luft, Kriminalpolizei«, stellte er Lisa und sich vor.
»Neumaier, ougneehm.«
»Der Mann ist ziemlich durch den Wind, was?«, begann Lisa.
Der Sanitäter nickte. »Des kou mr sou soocha. Is ja ko Wunder, is ja sei Fraa.«
Lisa musste sich immer noch konzentrieren, um Hohenlohisch zu verstehen, aber mittlerweile hatte sie Übung darin.
»Hat er schon was gesagt?«, fuhr Heiko fort.
Neumaier hob die Schultern und schwenkte auf Hochdeutsch um, wohl weil er Lisas angestrengten Gesichtsausdruck bemerkt hatte. »Nur, dass sie nicht da war, als er heute Morgen aufgewacht ist. Und dass er sie dann suchen gegangen ist.«
»Hm«, machte Heiko und dachte nach. »Und wieso hat er hier angefangen?«
»Zuerst hat er im Dorf gefragt und bei den Händlern. Danach ist er mit dem Auto rumgefahren und hat ihr Fahrrad entdeckt.« Der Sanitäter zeigte auf das Gefährt, das an dem rostigen Geländer der Brücke lehnte, die über den Seebach führte.
»Aha«, entfuhr es Lisa, dankbar, dass der Mann zu Hochdeutsch gewechselt hatte. »Bei welchen Händlern hat er sich erkundigt?«
»Die bauen doch schon die Muswies auf«, half Heiko. »Waasch du des net, des is ja a Schand.«
»Ach, die sind schon da?«, wunderte sich Lisa.
»Aber klar doch!«
»Wir haben seine Kinder angerufen, damit die sich um ihn kümmern«, warf Neumaier ein.
»Kommen die her?«, wollte Heiko wissen.
Sein Gegenüber nickte. »Zwei, einen Sohn hat der Mann nicht erreicht. Aber die beiden anderen Kinder müssten jeden Augenblick auftauchen. Metzgereifachverkäuferin, und der zweite Sohn macht den Hof. Die wohnen alle bei ihren Alten auf dem Hof, sind aber grad in Crailsheim und Blaufelden.«
Zehn Minuten später erschien der Bestatter mit einer großen, unförmigen Kombi-Limousine. Unterdessen passierten trotz des unwirtlichen Wetters und der eigentlich belanglosen Strecke immer mehr Mopeds und Fahrräder den Feldweg, einige Leute fielen vor lauter Starren fast von ihrem Gefährt. Die Autos bremsten deutlich ab und ihre Besitzer stierten mindestens ebenso angestrengt. Heiko zweifelte nicht im Geringsten daran, dass keiner der Schaulustigen wirklich in Schainbach zu tun hatte, sondern dass sie alle unmittelbar im Anschluss den kurzen Schlenker über Rot am See zurück nach Musdorf fahren würden. Man musste schließlich Bescheid wissen. Niemand hielt allerdings an und fragte direkt, denn das wäre ja nun wirklich unhöflich gewesen.
Schließlich tauchten zwei Wagen auf, ein lilafarbener Twingo und ein älterer 3er-BMW, die beide am Wegrand parkten. Ihnen entstiegen eine Frau und ein Mann, die sofort zum Krankenwagen eilten und den Mann des Opfers umarmten. Das mussten zwei der Kinder von Erika Böckler sein.
Lisa und Heiko gesellten sich zu den Hinterbliebenen. »Wüst und Luft, Kriminalpolizei«, stellte Heiko vor und schüttelte den jungen Leuten die Hand.
Beide schienen um die 30 Jahre alt zu sein. Die Frau war dunkelblond und trug die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Ihre grünbrauen Augen wirkten sanft, sie war recht schlank und trug einen Wollmantel über den Jeans. Ihr Bruder hatte lichtes Haar, dunkler, und die typische Birnenfigur schmaler Männer, die gerne ab und zu ein Bier tranken. Er steckte in einem Blaumann und trug darüber einen Anorak. Gemeinsam traten sie auf die Kommissare zu und machten mit den Händen ein Zeichen, sich von Ludwig Böckler ein paar Meter zu entfernen.
Die Frau sprach als Erste. »Ich bin die Fabienne Böckler. Mein Vater braucht noch etwas Ruhe.«
»Und ich heiße Jörg Böckler«, ergänzte der Mann.
Lisa warf einen Blick auf den Vater, der zwar zu weinen aufgehört hatte, jetzt allerdings etwas abseits saß und vollkommen apathisch wirkte. »Meine aufrichtige Anteilnahme«, sagte Lisa, und Heiko murmelte: »Herzliches Beileid.«
Die Kinder wirkten seltsam gefasst. Womöglich jedoch nur, weil sie die Leiche ihrer Mutter noch nicht gesehen hatten und ihren Tod noch gar nicht realisierten. Die Trauer würde sich schon noch einstellen, später.
»Ihre Mutter wurde hier aufgefunden«, bemühte sich Heiko um einen sachlichen Ton. »Und nun … müssen wir wissen, ob sie vielleicht Feinde hatte?«
»Sie denken, sie wurde ermordet?«, wunderte sich Fabienne Böckler.
»Ich dachte, sie sei gestürzt und ertrunken?«, hakte ihr Bruder nach.
»Woher haben Sie das denn gehört?«, erkundigte sich Heiko.
»Na, vom Vatter.«
Lisa schaute erstaunt zu dem frischgebackenen Witwer.
»Er hat uns angerufen. Erst den Notarzt und dann uns«, erläuterte Jörg Böckler.
»Wir sind uns nicht sicher«, erklärte Lisa. »Es ist noch zu früh, um etwas Definitives zu sagen. Aber es könnte durchaus ein unnatürlicher Tod gewesen sein.«
»Sie meinen wirklich, sie wurde umgebracht?«, entsetzte sich der Sohn.
»Möglich«, bestätigte Heiko. »Also, kennen Sie jemanden, der ein Problem mit Ihrer Mutter hatte?«
Der junge Mann fasste sich an die schütteren Haare und stieß scharf die Luft aus. »Puh, ich weiß nicht. Eigentlich nicht.«
»Na, da gab es doch diese Geschichte, beim Pressler, erst gestern«, warf die Tochter ein. »Das hat sie mir noch erzählt.«
»Was für eine Geschichte?«, fragte Heiko.
»Wo?«, schob Lisa hinterher.
»Der Pressler ist einer der Muswiesenwirte«, erklärte Heiko. »Und der macht seine Wirtschaft schon ein paar Tage vor der Muswiese auf und verköstigt die Händler und all diejenigen, die es nicht mehr abwarten können.«
»Die Brigitte ist gestern beim Pressler jedenfalls wie eine Furie auf meine Mutter los und hat behauptet, sie hätte ihr und ihrem Mann Ratten und Kakerlaken in den Vorratsraum gekippt«, fuhr Fabienne Böckler fort.
»Ja, und?«, forderte Heiko die Tochter auf weiterzuerzählen.
»Na, und dann den WKD angerufen. Und die haben den Windischs für die kommende Muswiese die Schanklizenz entzogen.«
»Das ist … bitter, oder?«, vermutete Lisa.
»Schon. Und meine Mutter hatte wirklich ihre Mucken. Aber so was macht die nicht. So ein Schwachsinn.« Sie tippte sich energisch an die Stirn.
»Wenn allerdings das Ehepaar Windisch dieser Überzeugung war, dann …«
Lisa unterbrach Heiko: »… sollten wir uns die Leute mal näher anschauen.«
»Denken Sie, wir können Ihren Vater befragen?«
Fabienne Böckler musterte ihn und wiegte den Kopf. »Ist es okay, wenn ihr nachher bei uns vorbeikommt? Ich denke, dass er gerade nicht wirklich dazu in der Lage ist.«
Lisa nickte, sie sah das genauso.
»Also, dann gehen wir jetzt zuerst zu den Windischs und statten euch später einen Besuch ab«, legte Heiko fest. Sie ließen sich die Adresse der Böcklers geben, gingen zurück zum Wagen und machten sich auf den Weg.
Sie klingelten an der Tür eines Wohnhauses auf einem Bauernhof, wie es sie in Musdorf so viele gab. Der kleine Ort hatte viele Höfe, und fast alle von ihnen bewirteten an der Muswiese, dem ältesten und traditionsreichsten Jahrmarkt Hohenlohes.
Die Kommissare hörten schnelle, beschwingte Schritte, und endlich öffnete eine zierliche Frau um die 50, die Jeans und einen etwas ausgeleierten lilafarbenen Pullover trug. Das dunkle Haar war kurz geschnitten, allerdings nicht besonders gestylt.
»Ja?«, fragte sie und hielt die Tür fest, offenbar bereit, sie gleich wieder ins Schloss zu ziehen, falls sie ungebetene Gäste wären.
»Wüst und Luft von der Kriminalpolizei …«, begann Heiko.
»Ach, Sie kommen wegen der Sache mit der Nase. Mein Mann hat da ein bisschen überreagiert …«, warf die Frau ein und rief sofort nach hinten: »Franz?«
Heiko schüttelte den Kopf. »Nein, es geht wohl um etwas anderes. Dürfen wir hereinkommen?«
»Aber bitte«, murmelte die Frau und trat verdutzt beiseite.
Die kleine Wohnküche befand sich im ersten Stock des Gebäudes, und bald saßen das Ehepaar Windisch und die Kommissare am hellen, massiven Holztisch auf einer Eckbank. Die eigentliche Küche war abgeteilt und wirkte antiquiert. Etwas zu trinken hatten Heiko und Lisa dankend abgelehnt.
»Also, Herr und Frau Windisch«, setzte Heiko an. »Es ist nämlich so: Die Frau Böckler wurde heute Morgen tot aufgefunden.«
Brigitte Windisch entfuhr ein Laut des Entsetzens, und sie hielt die Hände vor den geöffneten Mund. »Tot?«, stammelte sie.
Die Miene ihres Mannes blieb hingegen undeutbar, er verschränkte die Arme fest vor der Brust, als wolle er diese Haltung nie wieder aufgeben.
»Sie wurde vermutlich ermordet«, erläuterte Lisa.
»Aber das ist ja furchtbar!«, flüsterte die Frau und schüttelte den Kopf.
Lisa nickte.
»Uns ist natürlich zu Ohren gekommen, dass Sie mit der Frau Böckler gestern einen Streit hatten«, fuhr Heiko fort.
»Na, Streit ist gut«, schaltete sich Franz Windisch ein. »Die hat uns die diesjährige Muswies versaut.«
»Wie meinen Sie das?«
Der Mann löste sich nun doch aus seiner krampfartigen Erstarrung und legte die Arme auf den Tisch, faltete die von harter Arbeit schwieligen Hände wie zum Gebet. »Die Erika war schon lange neidisch, weil unsere Muswiesenwirtschaft besser gelaufen ist als ihre. Und da hat sie sich wohl gedacht, dass sie uns dieses Jahr lieber ausschaltet.«
»Inwiefern?«, hakte Lisa nach.
»Sie hat sich nachts von außen an unseren Vorratskeller rangeschlichen und durch das Rohr Ratten und Kakerlaken reingekippt. Und dann den WKD angerufen.«
»Sie meinen die Lebensmittelüberwachungsbehörde«, korrigierte Lisa.
»Jedenfalls diese Korinthenkacker. Und die sind prompt auf der Matte gestanden und haben uns den Laden dichtgemacht.«