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Lisa und Heiko hatten sich so auf das gemeinsame Wochenende in Eberbach und das kultige Gassenfest gefreut - doch dann durchkreuzt ein skrupelloser Mörder ihre romantischen Pläne. Mitten auf dem Festivalgelände bricht die Eberbacherin Angelika Röder leblos zusammen. Das wundert allerdings keinen - denn die Geli war bekannt dafür, sich mit den Richtigen und auch mit den Falschen anzulegen. Statt die Nächte durchzufeiern, stürzt sich das hohenlohisch-westfälische Ermittlerteam im Dorf in ein Dickicht aus toxischen Liebschaften und Intrigen.
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Seitenzahl: 336
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Wildis Streng
Gassenfest
Kriminalroman
Drei TaIge wach! Lisa und Heiko freuen sich auf ein romantisches Wochenende im lauschigen Eberbach direkt an der Jagst und einen gemeinsamen Besuch des berühmt-berüchtigten Gassenfests. Zunächst können die Kommissare das hohenlohische Kultfestival auch in vollen Zügen genießen, doch dann bricht die Eberbacherin Angelika »Geli« Röder während ihres Diensts am Getränkestand leblos zusammen. Schnell ist klar, dass sie vergiftet wurde – und nicht wenige hatten ein Motiv.
Die Ehe des Opfers war am Ende, und die Neue des frischgebackenen Witwers erscheint sofort verdächtig. Im Ort hatte sich die Geli nicht nur mit einem schießwütigen Rentner angelegt, sondern ist mit ihrer kompromisslosen Art überall angeeckt. Doch wer ging so weit, die Giftspritze zu vergiften? Zufällig taucht im kalten Jagstwasser ein wichtiges Beweisstück auf und scheint Licht ins Dunkel zu bringen. Können Lisa und Heiko das Netz aus Intrigen und Eifersucht im Dorf entwirren?
Wildis Streng ist in Crailsheim geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie in Karlsruhe Germanistik und Malerei. Nach einem längeren Aufenthalt im Badischen lebt sie wieder in ihrer Heimat und unterrichtet heute in Crailsheim Deutsch und Bildende Kunst an einem Gymnasium. In ihrer Freizeit widmet sich die überzeugte Hohenloherin der Malerei, der Fotografie und dem Schreiben. Mit ihrer beliebten Krimiserie rund um das sympathische hohenlohisch-westfälische Ermittlerduo Lisa Luft und Heiko Wüst feiert sie als Autorin große Erfolge. Mehr Informationen unter: www.wildisstreng.de
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Ricarda Dück
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Wildis Streng
ISBN 978-3-7349-3122-2
Du weißt, dass es für dich ist!
Irgendein Nachtvogel rief, was in dieser Gegend nicht ungewöhnlich war. Unglaublich, wie laut die sommerliche Idylle in diesem ruhigen Tal sein konnte. Die Grillen zirpten. Das Wasser der Jagst plätscherte. Insekten summten in der warmen Nachtluft. Dabei lag Eberbach nicht wirklich abseits. Es besaß sogar, anders als andere Dörfer in der Umgebung, eine Durchfahrtsstraße, die von Langenburg nach Mulfingen führte.
Das kleine Dorf im Jagsttal war keine Sackgasse. Aber es hatte Ecken, die so abgelegen waren, dass Menschen, die keine Eberbacher waren, sie nicht wahrnahmen. Und eine solche Stelle war der Badeplatz. Diesen erreichte man nur, wenn man das Dorf über das Hirtengässle verließ und auf der anderen Flussseite ein kurzes Stück in Richtung Unterregenbach entlangwanderte. Dort staute ein Wehr die steinige Jagst und bildete so die Badestelle, die von den Einheimischen gerne genutzt wurde. Aber nicht nur zum Baden, auch abends oder vielmehr nachts kam man gerne hierher.
Thommy reichte der Beatrix eine von zwei Flaschen Franken Bräu, die er zuvor mit dem Feuerzeug geöffnet hatte. Zum Glück schien der fast volle Mond, und so konnte er in der Dunkelheit ihre milchweiße Haut erahnen. Lässig saß sie neben ihm am grasigen Ufer, sodass er die Aussicht auf ihre umwerfende Oberweite genießen konnte, die durch das tiefe Dekoletté perfekt zur Geltung gebracht wurde. Schnell senkte er den Blick, damit sie nicht bemerkte, dass er gestarrt hatte. Obwohl eine Frau wie sie das wohl gewohnt sein dürfte.
»Was für eine schöne Nacht«, meinte sie beiläufig und ließ die nackten Füße ins träge fließende Wasser baumeln.
»Wunderschön«, stimmte er zu und schluckte. »Vor allem, weil du hier bist!«
Ein helles Lachen perlte über ihre Lippen. »Ach, Thommy, du weißt doch, ich bin liiert. Aber wäre ich es nicht …«
»Ich bin doch gar nicht dein Typ«, entgegnete Thommy murrend.
Und das entsprach der Wahrheit, denn er war klein und untersetzt, und sein dünnes rötliches Haar begann zu allem Überfluss, bereits schütter zu werden.
»Ich find dich süß«, erklärte Trixie unbestimmt, allerdings wusste er, dass das nur Gelaber war.
Ein Mann wie er musste froh sein, wenn sich eine Frau wie Trixie aus Mitleid herabließ, ab und zu abends auf freundschaftlicher Basis ein Bier am Fluss mit ihm zu trinken.
Sie ließ sich nach hinten auf die Wiese fallen, dabei rutschte ein Träger ihres weiß-rot gepunkteten Sommerkleides über ihre hellen Schultern, ihr blondes Haar ergoss sich wie Wasserwellen über das Gras. Was gäbe er dafür, sie jetzt zu küssen, sich auf sie zu legen … Wenn er sie lieben dürfte, ach! Sollte er einfach …? Wollte sie …? Nein.
»Der Manne ist schon recht«, plauderte sie weiter und trank noch einen Schluck Bier, wofür sie sich wieder leicht aufsetzte und sich mit den Ellenbogen im Gras abstützte.
»Wenn du das sagst«, versetzte Thommy. »Für mich ist das einfach ein alter Sack.«
»Ein reicher alter Sack«, präzisierte Trixie. »Und soalt ist er jetzt auch wieder nicht. Mitte fünfzig. Und seine Ehe ist sowieso am Arsch.«
Der Nachtvogel rief erneut. Eine Nachtigall war es nicht.
»Ich finde die Angelika nett«, widersprach Thommy. »Und sie ist in seinem Alter.«
»Die Angelika«, gab Trixie zu bedenken, »ist aber nur nett. Sie hat ihn seit Jahren nicht rangelassen. So kann man keine Ehe führen.«
»Und du willst eine richtige Ehe mit ihm führen?«, erkundigte er sich.
»Er hat Geld. Er sieht gut aus. Er ist freundlich. Warum nicht? Allerdings muss jetzt erst mal die Scheidung durch. Ich hoffe, danach ist noch genug übrig.«
»Also bist du nur wegen der Kohle mit ihm zusammen?«, hakte Thommy nach und überlegte, ob man das der Trixie irgendwie verdenken konnte.
Sie war in recht ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, keiner hatte sich jemals darum gekümmert, ob die Kleine ihre Hausaufgaben machte. Und dann war nach der Ausbildung zur Kosmetikerin Schluss gewesen. Eigentlich kein schlechter Job, und die Trixie machte ihn super, das hatte zumindest seine Mutter gesagt, die von ihr einmal eine Gesichtsbehandlung bekommen hatte. Dennoch war ihre Lebensgeschichte mit Ende zwanzig nicht grade die erfolgreichste aller Zeiten. Und da konnte er es irgendwie verstehen, dass sich die Trixie auf dem Gassenfest vor vier Jahren den Manne angelacht hatte, und der schien ja auch wirklich ganz nett zu sein. Thommy kannte ihn nicht gut, wie man halt bekannt war, wenn man im selben Dorf wohnte. Zu den Hüttenfreunden gehörte der Manne jedenfalls nicht.
»Ich liebe den Manne schon«, flötete Trixie, und Thommy spürte, wie diese Aussage seinem Herzen einen Stich versetzte. »Der wirkt … Ich weiß nicht … irgendwie so, als ob er’s draufhätte!«
»Sexuell?«, erkundigte sich Thommy schluckend, obwohl ihm sofort klar wurde, dass die Frage blödsinnig war, weil die Trixie natürlich längst wusste, wie der Manne im Bett war. Sie würde wohl kaum bis zur Hochzeit Jungfrau bleiben.
»Nein. Der nimmt alles in die Hand. Regelt alles. Weißt du, man fühlt sich einfach … sicher bei ihm!«
»Aha«, brummte Thommy und trank einen Schluck Bier.
Er dachte darüber nach, ob diese Sicherheit für eine Beziehung reichte, was er jedoch nicht wissen konnte, denn er hatte noch nie eine richtige geführt. Natürlich hatte er seine Erfahrungen gemacht, durchaus. Aber was Festes hatte sich eben nie ergeben.
»Und das ist für dich genug?«, vergewisserte er sich und starrte in die dunkle Nacht.
Irgendwo erklang ein Platschen, offenbar war ein übermütiges Fischlein durch die Wellen gehüpft.
»Ja«, gelobte Trixie, und es klang ehrlich. »Und du?«, fragte sie nun scheinheilig, als ob sie es nicht besser wüsste. »Bist du in jemanden verliebt?«
In dich, du schöne, sexy, hocherotische, nette Blondine, du …, dachte Thommy, aber er sparte sich eine Antwort und schüttelte einfach den Kopf.
Lisa lag auf dem Bett und telefonierte. Sie fühlte sich wie einer dieser weiblichen Teenager aus amerikanischen Highschool-Komödien, wie sie in ihrem knappen gelben Sommerkleidchen auf der Matratze fläzte und kichernd mit ihrer besten Freundin plapperte.
»Das hat er wirklich gesagt?«, fragte Eva nun schon zum zweiten Mal.
»Natürlich! ›Pack für ein romantisches Wochenende!‹«, wiederholte Lisa die Worte ihres Verlobten, bevor er vor ein paar Stunden in die Stadt verschwunden war, um noch eigene Besorgungen für ihren Trip zu machen, was auch immer er dafür brauchte. Vielleicht einen neuen Anzug …
Gleichzeitig entfuhr es den beiden Freundinnen: »Paris!«, und Eva fügte hinzu: »Hach, Paris, da würde ich auch gerne mal wieder hin!«
Lisa streichelte gedankenverloren das Fell ihres schnurrenden roten Katers Garfield, der sich bogenförmig neben sie aufs Bett gelegt hatte. Sita, der Rauhaardackel des Hauses, hatte sich ins Wohnzimmer verzogen, wo Alfred, der Deutsche Riesenschecke, und Birka, ein kleines Rhönkaninchen, in einem großen Luxusgehege wohnten.
»Ich war erst zweimal da, ist echt wunderschön!«, kam Lisa ins Schwärmen.
»Dass dein stoffeliger Hohenloher doch einigermaßen romantisch ist …«
»Du kennst doch die Hohenloher inzwischen ganz gut, der Uwe ist doch auch ein Lieber!«
»Total! Und als Ehemann macht er sich recht gut. Nach Paris hat er mich allerdings noch nicht mitgenommen.«
»Schlag’s ihm halt vor!«
»Vielleicht kriegst du dort endlich deinen Ring!«, spekulierte Eva unbeirrt weiter. »Ich kenne keinen Kerl, der einen Heiratsantrag ohne Ring gemacht hätte.«
Lisa schnaubte. »Das glaube ich sofort. Für Heikos Verhältnisse war es schon hochromantisch, überhaupt einen Antrag zu machen.«
»Ihr müsst unbedingt in den Louvre und bei Nacht auf den Eiffelturm!«
»Machen wir sicher. Und knutschen auf den Champs-Élysées.«
Wieder Gekicher, diesmal simultan auf beiden Seiten der Leitung.
»Hast du schöne Sachen eingepackt?«
»Ach, er hat ja gesagt, ich soll was Hübsches einpacken, da hab ich das dunkelblaue Abendkleid mit den silbernen Pailletten und passende High Heels mitgenommen, vielleicht gehen wir in die Oper. Sonst casual, trotzdem chic, und reichlich Schminke. Passend zu allem.«
»Super! Ich beneide dich, ehrlich!«
»Danke!«, seufzte Lisa. »Und weißt du …«
»Lisa?«, tönte es durchs Haus, und es war nicht Heikos Stimme, sondern diejenige von Doris, ihrer Schwiegermutter in spe. Gleichzeitig setzte Hundegebell ein, weil Sita offenbar ihre Oma begrüßte.
»Ich muss Schluss machen«, wisperte Lisa ins Telefon.
»Alles klar, melde dich, wenn ihr gut angekommen seid!«
Lisa beendete das Gespräch und erhob sich vom Bett, damit Heikos Mutter sie nicht dabei ertappte, wie sie auf dem Bett herumlungerte, das wäre ihr etwas peinlich gewesen. Sie ging die wenigen Schritte in den Flur, wo hinter Doris soeben Heiko zur Tür hereinkam.
»Ich soll das Haus hüten und nach den Tieren schauen, wenn ihr euren kleinen Ausflug macht!«, verkündete Doris, und Lisa lächelte entspannt.
Heiko hatte tatsächlich an alles gedacht.
»Den Schlüssel hast du, Muadr?«, vergewisserte sich ihr Verlobter.
»Klar, Bua. Fahrt beruhigt los, das habt ihr euch wirklich verdient!«
Heiko wandte sich an Lisa. »Hast du alles?«
Lisa berührte mit der Fußspitze den mittelgroßen roten Lacktrolley, den sie in Windeseile gepackt hatte.
»Hey, es sind nur zwei Tage«, amüsierte sich Heiko und griff nach seiner deutlich kleineren Reisetasche aus Leder.
Lisa zuckte mit den Achseln.
»Frauen brauchen mehr als eine Hose und zwei T-Shirts«, verteidigte Doris die Verlobte ihres Sohnes.
Heiko seufzte und ging nach draußen, um den Wagen zu beladen.
Zehn Minuten später waren sie bereits unterwegs, auf der Landstraße nach Kirchberg, wo sie auf die Autobahn fahren würden, wie Lisa vermutete.
Allerdings lenkte Heiko den BMW M3, nachdem sie Erkenbrechtshausen und Lobenhausen passiert hatten und in Kirchberg angekommen waren, nicht kurz vor der Tankstelle Botsch nach links, um nach zweieinhalb Kilometern auf die Autobahn zu fahren. Vielmehr nahm er die scharfe Linkskurve, um sich Richtung Lendsiedel zu halten. Bereits kurz vor dem Ortsausgang bog er in eine kleine Straße ein, die kaum breiter als ein Feldweg war und an der unmöglich zwei Fahrzeuge nebeneinander vorbei passten.
Lisa runzelte die Stirn. »Hast du dich jetzt nicht verfahren, Bärchen?«
»Nö, wieso?«, tönte es vom Fahrersitz. Heiko wirkte irritiert.
»Na, zur Autobahn wäre es doch da langgegangen«, gab Lisa zu bedenken.
»Wieso Autobahn?«
»Fahren wir etwa nicht nach Paris?«
Heiko gluckste vor Lachen. »Du dachtest, wir fahren nach Paris?«
»Pack für ein romantisches Wochenende!«, wiederholte Lisa und klang schwer frustriert.
»Romantisch wird es schon, allerdings nicht in Paris.«
»Och, Heiko!«
»Tut mir leid, wenn du was anderes erwartet hast. Aber glaub mir, es wird schön.«
Lisa grübelte, während sie soeben ein Dorf namens Eichenau durchfuhren, das wirklich sehr idyllisch aussah. Tatsächlich hatte ihr Verlobter kein Wort von Paris gesagt, und er hatte sich Mühe gegeben, sie zu überraschen. Sie sollte versöhnlich sein. Die Geste war süß, und nur das zählte. Sie schluckte und gab sich Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen.
»Wohin fahren wir denn nun?«
»Nach Eberbach, zum Gassenfest.«
»Zum was?«
Lisa wirkte konsterniert.
»Zum Gassenfest! Ein original hohenlohisches Festival.«
Das Abendkleid und die High Heels hatte sie wohl umsonst eingepackt.
»Und wo ist Eberbach?«
»Bei Mulfingen.«
Damit konnte Lisa nicht wirklich was anfangen. »Aha. Und da hast du ein Zimmer gebucht?«, erkundigte sie sich, darum bemüht, ihre Frustration zu zügeln.
»So ähnlich«, erwiderte Heiko grinsend, »wart’s ab!«
»Auf, Markus, vom bleed Glotza wirsch koa Bierkeenich!«, rief Angelika, und Markus hasste sie im selben Augenblick dafür.
»Wie kommst du jetzt darauf, dass ich Bierkönig werden will? Möge der Beste gewinnen!«, versetzte er.
Angelika grinste und hob zu einer Erwiderung an, wurde jedoch von Dieter, dem altgedienten Hüttenfreund, der schon seit 1983 an der Gassenfest-Organisation beteiligt war, davon abgehalten.
»Ihr härt ezt uff mit demm dumma Gschwätz, des kou mer etz net braucha, etz wird gschafft!«, ging er dazwischen.
Noch eine Stunde, bis die ersten Bands anfangen würden zu spielen, und dann würden sie drei Tage und Nächte durchackern müssen. Anders wäre die Arbeit nicht zu stemmen. Alle engagierten sich ehrenamtlich, doch immerhin wurde der Fleißigste, der, der sich am besten angestellt hatte, etwa vier Wochen nach dem Fest zum Bierkönig gekrönt. Und es ärgerte Markus maßlos, dass Geli mit ihrer Bemerkung voll ins Schwarze getroffen hatte. Er wollte nämlich unbedingt die Auszeichnung erhalten. Aber nicht wegen des goldenen Bademantels, des goldenen Saugglockenzepters und der Franken-Bräu-Krone. Vielmehr hatte er gehört, dass der nächste Bierkönig aufs Franken-Bräu-Etikett durfte, und das wäre schon was, das würde Publicity bringen! Immerhin sah er ganz gut aus, die Jungs hatten ihn schon spöttisch mit einem dieser Surfer-Jungs aus dem Fernsehen verglichen. Gerade deshalb musste er sehr aufpassen, nicht als Schönling verschrien zu werden, denn dann wäre seine Chance auf den Titel weg. Er musste männlich wirken, auch und vor allem bei den Kerlen. Er hatte schon öfters versucht, im Modelbusiness Fuß zu fassen – im letzten Italienurlaub hatte er bei der »Mister-Marina-di-Venezia-Wahl« den zweiten Platz belegt, immerhin, mit einer Woche Gratis-Camping-Urlaub im folgenden Jahr. Und eines Tages würde er es schaffen, er war erst 27, da blieb noch Zeit.
Er beschloss, so hart zu arbeiten, wie es ihm möglich war. Auch hatte er schon hie und da in Gesprächen einfließen lassen, wie viele Kästen Bier er pro Monat verbrauchte – obwohl er das ein oder andere Mal übertrieben hatte. Der Bierkönig musste nicht nur fleißig, sondern darüber hinaus trinkfest sein. Es ärgerte ihn, dass Angelika, wie allgemein bekannt, als Mutter des amtierenden Titelträgers ein Mitspracherecht bei der Auswahl des nächsten Königs hatte. Worauf sich die alte Schachtel seiner Meinung nach gehörig etwas einbildete, und er fürchtete, dass dieser Umstand seine Ambitionen arg verkomplizieren würde. Eigentlich war das nicht okay, Kai sollte als Amtsinhaber frei über seine Nachfolge entscheiden, und zwar nurer, ohne Einflussnahme von außen. Aber die Angelika war eine Resolute und hatte Kai und seinen Bruder Patrick eisern im Griff.
»Ein Pils«, riss eine weibliche Stimme ihn aus seinen Gedanken, und seine Aufmerksamkeit wandte sich der jungen, etwas reizlosen Dame zu, die die Bestellung aufgegeben hatte.
Er würde bei allen weiteren Schichten schaffen wie ein Brunnenputzer – undbeim Abbau. Und wenn alle Stricke reißen sollten, hatte er immer noch diese kleine, feine Geschichte über Patrick in der Hinterhand. Seinem Bruder und dem alten Reff bliebe kaum etwas anderes übrig, als sich für ihn zu entscheiden.
Lisa hatte ungläubig die Wegstrecke verfolgt, die über Dörfer mit solch klangvollen Namen wie Seibotenberg, Liebesdorf und Michelbach an der Heide nach Langenburg führte. Das kannte sie immerhin, denn unterhalb des Städtchens war der bedauernswerte Biker Ritschie Wegener verunglückt – ein Todesfall, der sich als Mord herausgestellt hatte. In Langenburg bog Heiko in Richtung Oberregenbach ab, nahm anschließend im Tal die Abzweigung nach Unterregenbach. Die Straße endete hier plötzlich, ein junger Mann mit orangefarbener Schutzweste deutete nach links.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Lisa, als Heiko auf Höhe der hölzernen Archenbrücke anhielt.
»Weiterfahren«, meinte er nur.
»Halt, du kannst doch nicht …«, schrie Lisa mit vor Angst geweiteten Augen und sah sich samt M3 schon im Fluss versinken. Dann aber bemerkte sie die Hinweisschilder, das Holzbrücklein war wohl tatsächlich für den Verkehr freigegeben.
Heiko grinste. »Das ist eine normale Straße, Lisa.«
»Fast nichts in Hohenlohe ist eine normale Straße«, widersprach sie.
Im Ort, der wirkte, als wäre er in einem jahrhundertelangen Tiefschlaf versunken, folgten sie einem Weg, der am linken Jagstufer entlangführte.
»Du bist sicher, dass wir nicht falsch sind?«, erkundigte sich Lisa noch einmal matt.
»Wir sind goldrichtig«, gelobte Heiko und fügte hinzu: »Und fast da!«
Trixie hatte für heute Abend ein Jeanskleid mit Carmen-Ausschnitt gewählt. Dazu Folklore-Schmuck, den sie auf der letzten Muswiese gekauft hatte. Sie hätte zwar das teure Zeug anziehen können, das der Manne ihr laufend schenkte, allerdings schien ihr das etwas overdressed für heute Abend. Obwohl sie tatsächlich mit dem Gedanken spielte, morgen Abend das geblümte Versace-Kleid anzulegen. Aber heute waren sie und ihre Mädels – also Caro und Feli – zur Jagstbühne gegangen, wo eine Latino-Ska-Punk-Band spielen würde. Es lag auf der Hand, dass da eher die Ökos hingingen, die Alternativen. Auch wenn sie sich selbst als durch und durch gutbürgerlich einstufte – sie mochte die lockere Stimmung, das Chillige.
Für den Anfang hatten sie sich eine Cola in der Gassenbar geholt, die Nacht war noch jung und betrunken wären sie schnell genug. Trixie betrachtete verstohlen ihre Freundinnen, die süße Feli mit der schwarzen Kurzhaarfrisur, die sehr stark geschminkt war, was jedoch durchaus zu ihrem Rockabilly-Kleidchen passte. Mit einer Schleife im Haar wäre sie glatt als Minnie Mouse durchgegangen. Caro hingegen betrachtete Trixie keinesfalls als Konkurrenz, sie hatte unreine Haut und wusste nicht viel aus sich zu machen. Alle Versuche vonseiten ihrer beiden Freundinnen, sie umzustylen, waren von ihr schroff abgewiesen worden. Sie sei ansehnlich genug, und überhaupt komme es auf die inneren Werte an. Auch heute trug sie kein Make-up oder besondere Klamotten, stattdessen den üblichen Schlabberlook, und sie hatte das Haar zu einem unförmigen Knoten gezwirbelt. Nun, Trixie sollte das letztlich recht sein, denn sie musste zugeben, dass sie es genoss, die Schönste zu sein, im Mittelpunkt zu stehen. Den Männern zu gefallen. Manne brauchte das ja nicht zu erfahren, würde er auch nicht, er war beruflich unterwegs, auf einer Messe in München. Und attraktiver als Angelika war sie allemal. Warum die alte Schachtel sich einbildete, sie hätte irgendeine Form von Anspruch auf ihren Ex, mit dem sie nur noch auf dem Papier verheiratet war, konnte sich Trixie absolut nicht erklären.
Heiko manövrierte den Wagen, wie Lisa schon befürchtet hatte, auf eine Wiese, die zum Parkplatz umfunktioniert worden war. Laut und präsent dröhnte das Zirpen der Sommergrillen in ihren Ohren, wie das Surren und Schwirren anderer Insekten. Wenigstens beschien die Abendsonne die kleine Lichtung im Tal und wärmte das Gras angenehm.
»Können wir erst mal kurz aufs Zimmer? Ich würde mich gerne frisch machen«, bat Lisa und schaute sich verwirrt nach einem Gebäude um.
»Öhm, nun ja, Zimmer …« Heiko fuhr sich verlegen durch das schwarzgraue Haar. »Ich hatte doch was von einem romantischen Wochenende erzählt.«
»Mhm …« Lisa blickte ihren Verlobten mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Und am romantischsten ist doch Campen, oder etwa nicht?«
Lisa seufzte. Sie hätte es wissen müssen! Wie um Himmels willen hatte sie denken können, dass Heiko ihre Auffassung von Romantik teilte? Und sie hatte von Paris geträumt! Sie schnaubte, musste fast über sich selbst lachen, dann straffte sie sich und legte die Hände zusammen. »Also. Dann bauen wir dieses Zelt auf, das du hoffentlich gekauft hast.«
»Natürlich habe ich das, Lisa. Und wir müssen es gar nicht aufbauen. Es ist nämlich ein Wurfzelt.«
»Ein was?«
»Ein Wurfzelt. Das schmeißt man einfach hin, und dann stellt es sich von allein auf.«
»Na dann, schmeißen wir mal!«, ermunterte ihn Lisa, gewillt, das Beste aus dem Wochenende zu machen.
»Hi, ihr wollt campen?«, hörte sie plötzlich eine fremde Stimme neben sich.
Sie wandte sich um. Ein Mann um die dreißig hatte sich ihnen genähert, der offensichtlich zum Festival-Team gehörte. Er trug ein schwarzes Shirt, auf dem das offizielle Logo mit dem Schriftzug des Gassenfests abgedruckt war.
»Ja. Wo können wir hin?«, lautete Heikos Gegenfrage.
»Wohin ihr wollt.«
»Gibt es denn sanitäre Einrichtungen?«, wollte Lisa wissen.
»Klar. Wir haben ein paar Dixi-Klos.«
»Und wo kann man duschen?«, erkundigte sich Heiko, während Lisa die Antwort erst mal verdauen musste.
Der junge Mann, der rötlich blondes, etwas schütteres Haar hatte, grinste und zeigte nach links.
»Da sind keine Duschen«, stellte Lisa fest und wappnete sich innerlich. »Oder auf der anderen Flussseite?«
»Im Fluss kousch duscha, Maadle«, erklärte ihr Gegenüber. »Ich heiß übrigens Thommy. Wenn ihr was braucht, könnt ihr euch gern an mich wenden.«
Michael überblickte die Pilsbar in ihrer ganzen Länge. Als Vorsitzender der Hüttenfreunde trug er die gesamte Verantwortung, bei ihm liefen alle Fäden zusammen. Es war sein erstes Jahr auf diesem Posten. Vor Kurzem hatte es einen Generationenwechsel gegeben, die Gründer des Festes zogen sich langsam zurück und übergaben an die Jungen. Natürlich ließen es sich die Altgedienten nicht nehmen, hie und da eine Schicht zu übernehmen und aus den Augenwinkeln zu beobachten, ob auch alles reibungslos lief. Um alles im Blick zu behalten, musste Michael jedenfalls unbedingt nüchtern bleiben, doch das fiel ihm nicht schwer, denn er war nie ein Kandidat für den Bierkönig gewesen. Sein einziges Laster war das Rauchen.
Er strich sich durch den kurzen Bart und straffte sich. Bisher war es viel Arbeit gewesen. Vor vier Wochen hatten sie mit den Vorbereitungen angefangen, die Brücke zwischen dem Parkplatz Inselwiese und der Jagstbühne hatten sie schon vorher errichtet. Die allermeisten hatten sich für den Einsatz freigenommen, auch er hatte zwei Wochen seines Jahresurlaubs um das Gassenfest herumgeplant. Er hatte unglaubliches Glück, dass seine Doro aus Buchenbach stammte und deshalb den ganzen Wahnsinn mitmachte. Sie kümmerte sich während des Festes um die Kinder, hatte ihre Schichten so gelegt, dass sie die Betreuung übernehmen konnte, die meiste Zeit zumindest, ansonsten sprang die Buchenbach-Oma ein.
Michael bewegte sich in Richtung Bühne, sein Blick schweifte nach oben über die bunten Glühlampen, die die Gasse überspannten – alle strahlten in leuchtenden Farben. Die Band Praxis war gerade dabei, aufzubauen. Eigentlich fand ihr Auftritt erst morgen auf der Biergartenbühne statt, aber heute würden sie zur Eröffnung ihre Gassenfest-Hymne und ein paar weitere Lieder performen. Kurt und Jürgen stießen soeben mit einem Franken Bräu an, während Emes und Alex im Hintergrund die Gitarren einstöpselten. Noch eine halbe Stunde, dann würde es losgehen.
Es stellte sich heraus, dass man das Zelt nicht wirklich »nur hinschmeißen« musste, allzu kompliziert gestaltete sich der Aufbau dennoch nicht. Bereits nach wenigen Minuten breitete Heiko die mitgebrachten Isomatten auf dem hellblauen Zeltboden aus und legte zwei Schlafsäcke sowie zwei größere Kissen darauf.
»Das hast du aber schön organisiert, Bärchen!«, meinte Lisa lächelnd und versöhnlich.
Dass sie nicht duschen konnte, war schon eine Hausnummer, glücklicherweise hatte sie vor dem Losfahren geduscht, und morgen würde wohl eine Katzenwäsche mit Flusswasser reichen müssen.
»Gemütlich, oder?«, erkundigte sich Heiko und legte sich probeweise hin.
»Total!«
»Also, dann schauen wir, dass wir loskommen, um achte spielt Praxis in der Gasse.«
»Wer spielt?«
»Praxis.«
»Aha.«
Es war keine Überraschung, dass hier in Eberbach weder Taylor Swift noch Soundgarden auftraten, doch vielleicht würde es trotzdem nett werden.
»Kann ich so gehen?«, fragte Lisa und sah an sich herunter. Sie trug ein blau-orange-gelb geblümtes Sommerkleid und gelbe Sandalen.
»Du hast Kleidung an, also ja«, fand Heiko.
Lisa verdrehte die Augen. »Ob ich hübsch aussehe, möchte ich wissen!«
»Hm!«, machte Heiko, seine hohenlohische Universaläußerung, und diesmal sollte sie Zustimmung ausdrücken.
Lisa stöhnte. Na, für dieses Festival würde es wohl reichen. Sie ging zum Auto zurück, legte ihren Silberschmuck an und trug vor dem Schminkspiegel des Beifahrersitzes etwas Lippenstift auf. Lidschatten und Mascara konnte sie ohne richtige Abschminkmöglichkeit getrost vergessen. Egal, vielleicht war so ein Zurück-zur-Natur-Wochenende ja gar nicht schlecht.
Bevor sie den improvisierten Campingplatz verließen, schrieb sie Eva, dass sie angekommen seien, und zwar nicht in Paris, sondern in Eberbach bei Mulfingen. Dass sie schon ziemlich enttäuscht sei, die High Heels und das Paillettenkleid natürlich vergessen könne, es aber vielleicht ja trotzdem ganz nett werden würde. Sie drückte auf »Senden« und ging mit Heiko los.
Michael verdrehte die Augen, als er sah, wer ihn an der Schulter gepackt hatte. Der Rudi! Vielmehr der Herr Dollinger, wie er von ihm genannt werden wollte.
»Sie, Herr Göckler«, begann Dollinger und zerrte den seufzenden Vorsitzenden der Hüttenfreunde an den Rand der Gasse. »Wenn des Halligalli des Joahr widder asou wird wie scho amol, noa kennt er fai was erleewa, des sooch ii eich! Und wenn aa bloß ooner in mein Garda gätt …«
Michael zwang sich zu einem Lächeln, in dem Bewusstsein, dass viele seiner Clubkameraden dem Mann deutlich resoluter begegnen würden. »Herr Dollinger! Wir haben überall Schilder aufgehängt, dass die Besucher das Privateigentum der Anwohner respektieren sollen. Mehr können wir leider nicht …«
Dollinger schnaubte derart laut, dass Michael aufhörte zu reden. »Wenn aa bloß ooner in meim Garta sei Ding auspackt, noa garantier ii fir nix!«, setzte der Rentner nach.
Michael unterdrückte ein Grinsen. Dollingers selbst gemalte »Urinieren verboten«-Plakate hatten bei den letzten Gassenfesten oft das Gegenteil ihres Appells bewirkt. Und das, obwohl überall Dixi-Klos und Klowägen aufgestellt waren. Viele der überaus geizigen Festivalbesucher sparten sich lieber die fünfzig Cent für das Körbchen der Putzkraft.
»Wenn Sie die Schilder entfernen würden, das würde helfen, das hab ich Ihnen schon gesagt …«, versuchte Michael zu beschwichtigen.
»Nix!«, herrschte Dollinger ihn an und hob drohend den Zeigefinger. »Ii hobb’s eich gsocht!« Dann drehte er sich um und verschwand in Richtung seines Grundstücks, auf dem er sich während des gesamten Gassenfests wohl verschanzen würde, zumindest abends, tagsüber würde man ihn ab und zu im Biergarten bei der Blasmusik sitzen sehen.
Lisa und Heiko folgten einem idyllischen Weglein entlang der Jagst, das durch einen kleinen Laubwald am Hang führte, überquerten den Fluss auf einer Brücke und gelangten schließlich zur Kasse, die aus einer orangefarbenen Bierbank bestand. Mitarbeiter des Festes, erkenntlich an den T-Shirts mit dem Gassenfest-Logo, kassierten das fällige Eintrittsgeld. Dieses hielt sich in Grenzen, selbst für alle drei Tage, da war Lisa von ähnlichen Events anderes gewohnt.
»Denn Uffbäbber missd er sichdbar an dr Klaader droocha«, wies sie ein Mann an und reichte ihnen pinkfarbene runde Aufkleber mit dem Logo.
Lisa war stolz darauf, ihn verstanden zu haben – zumindest hatte sie sich den Sinn aus dem Kontext zusammengereimt –, und befestigte den Sticker auf einem ihrer breiten Kleiderträger, Heiko platzierte seinen mitten auf der Brust.
»Und doa is unser Sedlischd«, fügte der Mann hinzu und reichte ihnen einen Flyer, auf dem stand, welche Künstler wann und wo spielen würden.
Trixie, Caro und Feli legten keinerlei Wert auf die Gassenfest-Hymne. Die mochte zwar nett sein, aber irgendwie retro. Sie gehörten zu einer anderen Generation, und außerdem war die Stimmung vor der Jagstbühne gerade dann, wenn das Konzert noch nicht angefangen hatte, ungemein chillig. Sie saßen deshalb gegen acht auf einer der seitlichen Bierbänke und beobachteten die Mitglieder der mexikanischen Band Las Zapatas rotas, die eifrig auf der Bühne hin und her liefen und offensichtlich einen Soundcheck machten.
»Uuuuh, der Sänger ist ja ein Hottie«, meinte Feli und schlürfte an ihrem Bacardi Kirsch, den sie sich nach der Cola geholt hatte.«
»Ja, der ist der Süßeste«, stimmte Trixie zu und wischte sich eine Strähne ihres langen Haares aus dem hübschen Gesicht.
»Aber der weiß, dass er gut aussieht«, gab Caro zu bedenken und winkte ab. »Solche kann man nicht brauchen, die können net schaffen.«
»Sie müssen ja auch nur kurz über uns arbeiten«, entgegnete Feli kichernd, und Trixie stimmte ins Gelächter mit ein. »Apropos Hottie«, wandte sich Feli an Trixie und nahm einen weiteren Schluck, »dein Kerl hätte nicht mitkommen wollen?«
»Der ist auf einer Messe in München. Und hey – ich nehm doch kein Buch mit in die Bibliothek.« Trixie zwinkerte ihrer Freundin zu.
»So ist’s recht«, lobte die und tätschelte ihr den Arm, während Caro still an ihrer Cola nippte.
»Seid ihr bereit für das Eberbacher Gassenfest?«, schallte es durch die enge Straße, die von einer bunten Lichterkette überspannt und von der Bar gesäumt wurde. Die Band Praxis würde das Gassenfest mit ihrer speziellen Hymne eröffnen Es herrschte bereits jetzt gute Stimmung, die Menschen drängten sich vor der kleinen Bühne in dem Hofweg, der allgemein als »die Gasse« bekannt war.
Heiko brummte »Hm«, und Lisa stieß probeweise einen kurzen Jubelschrei aus. Sie war wild entschlossen, das Beste aus diesem Wochenende zu machen, komme, was wolle.
Gitarrenriffs erklangen, die man in den Achtzigern als »fetzig« und »rockig« bezeichnet hätte, und sofort ging ein Raunen durch die Menge. Der Interpret sang von seiner Verwunderung, dass ja gar nichts los sei im Dorf, um dann festzustellen – während er sich auffordernd die Hand an die Ohrmuschel hielt und Lisa war keine Sekunde überrascht, dass das Publikum sofort unisono einstimmte: »Alle sind beim Eberbacher Gassenfest!« Auch den gemeinsamen Refrain »In Eberbach – 3 Tage wach!« grölten alle textsicher mit, sogar Heiko, was Lisa nun so gar nicht von ihm gewohnt war.
Doch die spezielle Atmosphäre auf dem Festival war von der ersten Sekunde an spürbar, und vor allem zwei Dinge lagen auf der Hand. Erstens war die Veranstaltung wie die meisten in Hohenlohe weit davon entfernt, ernsthaft cool zu sein. Allerdings erhob sie diesen Anspruch auch gar nicht; vielmehr hing wie fast überall in der Gegend ein großes, schlitzohriges Augenzwinkern in der Luft. Zweitens war dennoch offensichtlich, dass dieses Fest, das Eberbacher Gassenfest, etwas ganz Besonderes und absolut heilig war. Und dies hatten alle Hohenloher Feste gemein und machte sie aus, wie das Volksfest und die Muswiese, die Lisa bereits kannte. Sie spürte jetzt schon, dass die Stimmung hier eine feinere, subtilere, schönere war als auf so manchem großen Festival. Und darauf freute sie sich. Auch wenn es nicht Paris war – das konnte man ja nachholen.
Die Band auf der Jagstbühne hatte inzwischen zu spielen angefangen, der Sänger, der sich als Javier vorgestellt hatte, erklärte in brüchigem Deutsch, sie würden »politischen Punk« machen, da in ihrer Heimat viele Menschenrechtsverletzungen stattfänden. Der Bandname Las Zapatas rotas nehme auf Emiliano Zapata Bezug, einen mexikanischen Revolutionär.
»Hach, ist der süß!«, meinte Feli, während Caro auf ihrem Handy herumtippte, um das Video zu bearbeiten, das sie soeben gemacht hatte.
Sie würde es nachher sicher auf ihrem linkslastigen Facebook-Account posten, vermutete Trixie.
»Komm, wir gehen ganz nach vorne!«, forderte Trixie ihre Freundinnen auf, im vollen Bewusstsein, dass der süße Javier sie auf jeden Fall wahrnehmen würde, wenn sie sich ganz vorne hinstellten.
Sie taxierte die gebräunte Haut des nicht allzu großen Sängers, die engen Lederbändchen, die er um die bulligen Handgelenke geschlungen hatte, das lässig-coole hellgraue Tanktop, das zu seiner abgeschnittenen, verwaschenen Jeans passte und sowohl seine Muskeln als auch einige Tattoos auf seiner breiten Brust offenbarte, dazu das Stirnband in den Landesfarben Mexikos, das das längere nachtschwarze Haar gerade so weit bändigte, dass ihm die Locken nicht ständig in die ebenso dunklen Augen fielen. Ein schöner Mann. Kurz musterte sie die anderen Bandmitglieder. Der Hotteste war er, stellte sie fest. Der würde ihr gehören, die Feli konnte den Gitarristen haben.
Trixie jubelte auf, während die ersten Akkorde ertönten und der schnucklige Javier in nachlässigem Latino-Spanisch seine Melodien sang, die es schafften, punkig und doch irgendwie soft zu klingen.
Stefanie vom Erste-Hilfe-Zelt beobachtete die Gassenfest-Besucher. Noch waren alle fit, aber sie wusste, dass sich das schnell ändern konnte. Später am Abend würden sie es mit einigen Alkoholvergiftungen zu tun bekommen, dazu mit Übelkeit und Erbrechen. Hoffentlich nicht wieder mit Herzinfarkt wie im vorletzten Jahr, der war allerdings Gott sei Dank noch gut ausgegangen.
Sie und ihr Mann Sebastian arbeiteten schon ewig für das Rote Kreuz und konnten zum Glück auf zahlreiche Erfahrungen zurückgreifen. Dennoch waren ihr die Vorfälle, die nicht lebensbedrohlich waren, deutlich lieber – wie der Teenager von vorhin, der sich einen Spreißel an einem alten Brett geholt hatte und nicht wieder gehen wollte, bevor sie das etwa drei Millimeter lange Holzstück nicht entfernt, ein Wundspray aufgesprüht und ein Pflaster über die Wunde geklebt hatte. Er habe im Internet gelesen, dass man von so was Wundstarrkrampf bekommen konnte.
Die Band hatte ihren Auftritt beendet, und der Vorsitzende der Hüttenfreunde, ein großer, recht schmaler Mann, allerdings mit breiten Schultern, ergriff das Mikrofon und hieß die Gäste willkommen.
»Und vor Jahren hatten wir ja noch des Briidlesaufa«, erklärte er, und Jubel erklang im Publikum.
»Des was?«, wisperte Lisa.
»Briidlesaufa«, wiederholte Heiko und übersetzte: »Brettersaufen.«
»Die saufen … ein Brett?«, wunderte sich Lisa.
»Und weil wir das nicht mehr so machen«, fuhr der Mann am Mikrofon fort, »haben wir gedacht: wenigstens zur Erinnerung, am Anfang, ein Mal, und nur die Hüttenfreunde.«
Erneut brandete Applaus auf, und ein graubraunes Brett wurde auf die Bühne gehoben, knapp vier Meter lang und vielleicht zwanzig Zentimeter breit, mit sechs Aussparungen, in die nun sechs junge Männer, die das Brett entgegengenommen hatten, Biergläser stellten.
»Und jetzt kommt da das gute Franken Bräu rein«, erklärte der Vorsitzende, »und in den Maßkrug auch.«
Die Zuschauer johlten, während ein Maßkrug befüllt wurde, mit einem Liter Bier plus sechs langen Strohhalmen.
»Auf die Plätze – fertig – los!«, rief der Vorsitzende und drückte auf eine Stoppuhr, die er in der Hand hielt.
In derselben Millisekunde beugten die sechs Kerle das Brett in ihre Richtung, um simultan unter den Anfeuerungsrufen die Biergläser leer zu trinken – es gelang nicht allen gleichermaßen, bei der Hälfte rann etwas von dem köstlichen Nass herunter.
»Egal, weiter!«, rief der Hüttenfreunde-Chef, und die Männer setzten das Brett ab und gruppierten sich rasch im Halbkreis um den Maßkrug, der ihnen gereicht wurde, und begannen, erneut an den Strohhalmen zu saugen. Beim letzten Schluck drückte der Vorsitzende auf die Stoppuhr und verkündete: »23,7 Sekunden! Nicht schlecht!«
Erneuter Jubel.
»Des miss mer no mol macha, mir hewwa ja des guade Franka Brei verschittet«, gab einer der sechs zu bedenken, was mit Gelächter aus dem Publikum beantwortet wurde.
Dieter, Heinz und Fritz saßen auf der Bank vor Prümmers und beobachteten das Treiben an der Pilsbar gegenüber. Sie hatten nach dem letzten Gassenfest an »die Jungen« übergeben. Das hieß nicht, dass sie nichts mehr schafften am Gassenfest – aber halt nicht mehr so viel wie früher.
»Die macha des net schlecht«, befand Dieter und stieß seine Bierflasche an die von Fritz, was einem Prost gleichkam.
»Ha ja, mer kou nix soocha«, lobte der ebenfalls, und Heinz stimmte murmelnd zu. »Mir kenna stolz sei uff unser Eberbächer«, und diesmal tranken alle drei gleichzeitig.
Lisa studierte den Flyer, den sie am Eingang bekommen hatten. »Eine Latino-Band auf der Jagstbühne«, las sie laut vor. »Das ist doch interessant! Oder wo willst du hin? Es ist ja ganz schön viel los.«
Heiko schlang von hinten seine Arme um sie und sah ihr über die Schulter. »Die Bergbühne ist schon auch cool«, erklärte er, »und vor allem ist dort der Wildschweinstand. Also was zum Essen.«
Lisa seufzte. Natürlich ging es auf einem Hohenloher Festival nicht hauptsächlich, aber doch zu einem Gutteil ums Essen. Allerdings verspürte sie selbst etwas Hunger, das musste sie zugeben. Sie hätte nun darauf hinweisen können, dass es hier, in der sogenannten »Gasse«, ebenfalls lauter Essensstände gab, jedoch wusste sie, dass Heiko jetzt Lust auf Wildschwein hatte, und in diesem Fall könnte sie zwar theoretisch was anderes essen, er jedoch hätte schon gern sein Wildschwein, was auch immer daraus gezaubert wurde. Seufzend nickte sie ihm zu.
Javier stimmte nun etwas ruhigere Töne an, »suavecito«, wie er es nannte. So hieß auch die Ballade, die er mit fast vollständig geschlossenen Augen sang. Inzwischen hatte sich das Publikum eingetanzt, war vom zurückhaltenden Wippen mit dem Fuß dazu übergegangen, den Körper im Rhythmus zu wiegen, zumindest verhalten. Wildes Zucken nach einer halben Stunde Konzert war nicht die hohenlohische Art, das war eine Lektion, die alle in der Region auftretenden Künstler schnell lernten. Dennoch sparte die Menge nicht an Applaus.
Und was für Javier und seine vier Mitstreiter ja auch schön war: Die hübsche Blondine und ihre beiden putzigen Freundinnen tanzten höchst erotisch direkt vor ihrer Nase in der ersten Reihe. Jetzt, da die Lichter auf der Bühne ins Bläuliche wechselten und Javier von »amor« und »corazon« sang, tauchten seine nachtschwarzen Augen immer wieder unter den Lidern auf, um kurz und verhalten mit der jungen Frau zu flirten, die sich soeben verschämt lächelnd eine Haarsträhne hinters Ohr strich.
»Sie, Herr Göckler«, schallte es hinter Michael, und er schloss kurz die Augen, um tief durchzuatmen. Dann angelte er nach seinem Zigarettenpäckchen und zündete sich einen Glimmstängel an.
»Herr Göck-ler!«, erklang es wieder hinter ihm.
Noch ein Zug. Dann ein Lächeln aufsetzen. Umdrehen. »Ja, Herr Dollinger?«
»Vorhin hat widder ooner an meinn Zaun gseicht. Ii sooch’s eich, wenn des noch amol bassiert, noa zeich ii eich, wua dr Bartl da Mouschd holld!« Er strich sich über seine zu einer den Kopf bedeckenden Frisur angeordneten grauen Haarsträhnen. »Zabbaduschder wird’s noa!«
Michael inhalierte erneut und richtete dann seine grünen Augen starr auf den alten Mann.
»Verstanden?«, blaffte der.
»Also, Herr Dollinger, jetzt mal im Ernst, wie soll ich das bitte verhindern?«, gab der Vorsitzende der Hüttenfreunde zu bedenken.
»Stellt halt oan nou, ihr seid ja gnuach!«
»Um Gärten zu bewachen, haben wir leider keine Personalkapazität«, versetzte Michael achselzuckend. »Tut mir leid.«
»Wie gsocht … ihr wisst Bescheid.«
Damit drehte sich der Rentner um und verschwand in Richtung seines Grundstücks.
Stefanie vom Sanitätsdienst sah zwei junge Damen auf sich zukommen, die beide sehr stylish gekleidet und offensichtlich in ein Schminkfass gestolpert waren. Sie verbiss sich ein Grinsen und nickte freundlich mit hochgezogenen Augenbrauen, andeutend, dass sie zur Verfügung stand.
»Meine Freundin hat einen beginnenden blauen Fleck«, sagte die eine, und die andere nickte.
Stefanie glaubte, sich verhört zu haben. »Einen was?«
»Ich bin vorhin aus Versehen gegen das Geländer gelaufen, als ich aufm Handy den Weg checken wollte.«
»Hier gibt es kein Netz«, erklärte Steffi verwirrt.
»Das wissen wir jetzt auch. Aber jetzt hab ich Angst, dass ich voll den hässlichen blauen Fleck kriege. Habt ihr denn einen Kühlakku oder so was da?«
Steffi schürzte die Lippen und sah die Mädels prüfend an. Die schienen es ernst zu meinen. »Wisst ihr, was man da früher gemacht hätte?«, fragte sie daraufhin.
»Noch mal draufgehauen?«, vermutete die eine.
Steffi grinste. »Nein. Nix. Aber ich habe ein Kühlspray, ist das okay für dich?«
Das Mädchen nickte. »Ist ja nicht schlimm, so ein blauer Fleck, schaut halt scheiße aus …«
Steffi lächelte professionell. »Schon in Ordnung.«
Es wäre ihr sehr recht, wenn während ihres Dienstes nichts Schlimmeres passieren würde als Holzspreißel und beginnende blaue Flecke.
Thommy seufzte. Er war nicht begeistert, den Campingplatzdienst zu machen. Doch immerhin würde er ein paar der Bands betreuen, die sich dazu entschlossen hatten, ebenfalls an der Jagst zu übernachten, weil sie die Stimmung auf dem Gassenfest so toll fanden. Wo sonst befand sich die Garderobe in einem alten Schweinestall, der adrett hergerichtet worden war? Wo sonst wurde man als Künstler von allen verköstigt und von der Els versorgt …?
Die Els! Sie hieß eigentlich Else, war weder mit ihm verwandt noch verschwägert, und dennoch wusste er, dass er immer zu ihr kommen konnte, mit allem, wie zu einer Oma. Fast rund um die Uhr war sie im Prümmer-Haus anzutreffen, im dortigen Laden. Mit ihren inzwischen ergrauten, dauergewellten Locken und immer im Kittelschurz. Und wenn es einem nicht gut ging, wenn einen irgendein Problem plagte, konnte man bei ihr einkaufen und noch ein Stündchen mit ihr reden. Neulich erst war er bei der Els gewesen und hatte ihr ein bisschen von Trixie erzählt. Von ihmund Trixie. Die Els hatte abgewunken und gemeint, dass die zwar »a netts Maadle« sei, aber auch »arch durchdriewa«. Er hatte tapfer genickt und die BiFi gekaut, die er gekauft hatte. »Suach dr a reechds Maadle, bisch a reechder Bua«, hatte die Els ihm geraten.