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Die Mitglieder der Altenmünsterer Theatertruppe proben für ihr diesjähriges Stück »Dorftheater«. Der Star der Truppe, Bezirksschornsteinfeger Dominik Winter, trinkt auf der Bühne noch einen Schnaps. Am Morgen darauf findet man ihn in den Kulissen - mausetot und mit einem Nagel im Hirn. Sofort nehmen die Kommissare die Schauspieler ins Visier, die allesamt verdächtig erscheinen. Als sich jedoch herausstellt, dass Dominik beruflich Dreck am Stecken hatte, wird klar, dass nicht nur seine Bühnenkollegen ein Motiv haben.
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Seitenzahl: 336
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Wildis Streng
Dorftheater
Kriminalroman
Die Bretter, die den Tod bedeuten Vorweihnachtszeit 2015. Ein Anruf setzt den Weihnachtsbesorgungen des hohenlohisch-westfälischen Ermittlerduos Lisa Luft und Heiko Wüst ein jähes Ende. Dominik Winter, Hauptdarsteller des Theaterstücks des Sängerbundes Altenmünster, wird tot in den Kulissen gefunden. Lisa und Heiko stürzen sich in die Ermittlungen und finden bald heraus, dass das Opfer mit einem Tierberuhigungsmittel betäubt wurde. Die Hoffnung auf eine schnelle Lösung des Falles zerschlägt sich schnell. Ein Motiv hatten viele, und so gestalten sich die Ermittlungen schwierig. Nicht nur die Theaterleute geraten ins Visier, sondern auch Kollegen des Mordopfers. In der Stadt tobt derweil der Klatsch, und die gar nicht so harmonische Vorweihnachtszeit ist wie eh und je ganz schön stressig. Immer tiefer tauchen die beiden Ermittler in Dominiks Leben ein und fördern letztendlich das wahre Motiv zutage, ein Geheimnis, so dunkel wie der Winter in Hohenlohe.
Wildis Streng ist in Crailsheim geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie in Karlsruhe Germanistik und Malerei. Seit 2006 arbeitet sie als Gymnasiallehrerin. Nach längerem Aufenthalt im Badischen lebt sie heute wieder in ihrer Heimat und unterrichtet in Crailsheim Deutsch und Bildende Kunst. In ihrer Freizeit widmet sich die überzeugte Hohenloherin der Malerei, der Fotografie und dem Schreiben. Aus ihrer Feder stammen bereits zehn Kriminalromane rund um das sympathische hohenlohisch-westfälische Ermittlerduo Lisa Luft und Heiko Wüst.
Mehr Informationen zur Autorin unter: www.wildisstreng.de
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © complize / photocase.de
und © Fiedels – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4778-5
Für Mama, Papa und Britta
Dominik Winter lehnte sich ans Fenster. Es war kein richtiges Fenster, sondern ein Kulissenfenster. Er mochte die Bühne, besonders dann, wenn er der Letzte und es ganz still war. Er mochte auch seine Theatertruppe, ganz klar. Aber so eine totenstille Bühne mit einem leeren Zuschauerraum, das hatte schon was. Es war so feierlich. So weihevoll. Still und schön. Zu Hause war nichts mehr still und schön, seit seine Frau das dritte Kind bekommen hatte. Die kleine Ines war noch ein Säugling, der seine Eltern jede Nacht um den Schlaf brachte. Und Dominik war kein Vater, der sich nicht um ein schreiendes Baby gekümmert hätte. Er öffnete zumindest kurz die Augen und nickte seiner Frau ermutigend zu, wenn sie sich zum Stillen erhob, mindestens. Sie machte das schon. Gut. Und sie kümmerte sich auch gut um Philipp und Karina. Aber es war laut, und deswegen tat eben ab und zu diese Stille wohl. Dominik Winter nippte am Obstler, der hinter der Bühne immer bereitstand und der jeden Übungsabend beendete. Der brannte ordentlich und zog gut rein. Still und dunkel, nur das trübe Licht der Straßenlaternen schien von draußen herein. Etwas in den Kulissen knarrte, Holz arbeitete eben. Plötzlich legte sich ein Schatten über Dominik Winters Blickfeld, und er versuchte, ihn mit der Hand wegzuwischen. Aber es gelang ihm nicht. Irritiert zog er die Augenbrauen zusammen, normalerweise vertrug er doch etwas. Er wollte sich zwingen, konzentriert zu bleiben, seine linke Hand wischte über die Augen. Sekunden später dämmerte ihm, dass das nicht normal war, dass das nicht von dem bisschen Saufen kam. Er sank immer tiefer in diesen Schatten, und dann wurde ihm schwindlig. Aus den Augenwinkeln sah er noch, dass sich jemand von der Seite näherte. Das wunderte ihn, er hatte angenommen, der Letzte hier zu sein. »Hallo?«, wollte er sagen, aber seine Stimme schaffte es nicht, er war plötzlich müde, zu müde. Etwas berührte seine Stirn, aber er war nicht mehr in der Lage, es wegzuwischen. Und so konnte er rein gar nichts dagegen tun, dass ihm jemand aus kurzer Entfernung mit der Nagelpistole mitten ins Hirn schoss.
Stefanie Winter wickelte die Kleine. Ihr Baby lag auf dem Wickeltisch und lächelte sie an. Süß war das Kind, sehr süß. Ganz der Papa. Sie war schon seit sieben Jahren mit Dominik verheiratet, und sie war überglücklich mit ihm. Er war ein guter Papa, er sah gut aus. Er verdiente zwar keine Unsummen als Bezirksschornsteinfeger, aber er konnte sie gut versorgen. Und das Haus, in dem sie wohnten, gehörte ihnen bereits. Gut, da hatte der Schwiegervater nachgeholfen, aber was soll’s. Andere Leute bekamen auch Starthilfe von der Verwandtschaft. Ines zappelte, und Stefanie fasste behutsam nach den kleinen Füßchen, um dann die Zehen sanft zu kitzeln. Ein süßes Baby. Und die beiden Größeren waren auch hin und weg von der Kleinen. Nun war ihre Familienplanung aber abgeschlossen. Obwohl. Eines vielleicht noch. Wenn Dominik einverstanden wäre. Sie sah auf die Clownsuhr, die sie im Kinderzimmer aufgehängt hatte, weil sie so schön bunt war. Es war schon nach elf. Komisch, normalerweise war Dominik immer früher von der Probe heimgekommen. Zwar mit einer Fahne, aber immerhin nicht allzu spät. War ihm ja auch zu gönnen, sein Beruf war anstrengend, und die Familie beanspruchte ihn auch. Trotzdem. Seltsam. Sie zog der Kleinen ihren Schlafanzug an und verfrachtete sie in ihr Gitterbettchen. Abwesend und ihren Gedanken nachhängend deckte sie das Kind zu. Sie drückte Ines nachlässig einen Kuss auf den zart beflaumten Kopf. Dann ging sie zum Telefon und wählte Dominiks Handynummer. Es klingelte viermal, dann war die Mailbox dran. Stefanie Winter sah wieder auf die Uhr. Viertel zwölf. Unmöglich, da konnte sie niemanden mehr anrufen. Erneut wählte sie die Handynummer, und wieder war nur die Mailbox dran. Sie legte den Hörer auf, langsam, und überlegte, wo Dominik wohl sein könnte. Dann fasste sie sich ein Herz und gab doch Elses Nummer ein. Nach zehnmaligem Klingeln meldete sich eine müde Stimme. »Häußler?«
»Ja, Grüß Gott, Else, hier Steffi.«
»Steffi. Is alles reechd?«
»Naja, der Dominik ist noch nicht daheim. Und das wundert mich ein bisschen.«
»Der hat mit dem Martin noch was gsoffa, glaab ii«, ließ sich die Stimme am anderen Ende der Leitung vernehmen.
»Ja, aber trotzdem, so spät kommt er normalerweise nie nach Hause«, erwiderte Steffi und sah in diesem Moment den Zeiger der alten Standuhr im Wohnzimmer eine Minute vorrücken.
»Jetzt, wo’s segsch: Ii glaab, der Martin hat noch in da Epfel wella. Bestimmt is dei Dominik do miit. Jetzt meksch dr ko Sorcha, der kummt scho hamm, so sin die Kerl halt«, beruhigte Else. Steffi überlegte kurz und fühlte in sich hinein. Das konnte doch sein, dass er noch in die einzige Disco Crailsheims gegangen war auf einen Absacker. Das tat er zwar selten, aber wer weiß. Durchaus möglich, und im Apfelbaum hatte man selten Netz. Sie verscheuchte die bösen Gedanken. Sie war aber auch zu ängstlich. Was sollte schon passiert sein. »Ich bin halt aweng überängstlich, weisch«, erklärte sie Else und entschuldigte sich für die späte Störung, bevor sie auflegte und endlich ins Bett ging.
Am nächsten Morgen erwachte Stefanie aus einem tiefen Schlaf. Sie schreckte hoch und wusste, dass sie etwas Schlechtes geträumt hatte. Was es war, daran konnte sie sich allerdings partout nicht erinnern. Sie drehte sich auf die rechte Seite, um sich an ihren Mann zu schmiegen. Aber er war nicht da. Schlagartig setzte sie sich auf. Er war nicht da. Ihr Blick wanderte zum Leuchtwecker, es war schon halb sieben. Sie fasste neben sich und angelte ihr Handy, fahrig rief sie ihren Mann an. Mailbox, nur die Mailbox. Panik erfasste sie, jetzt wusste sie, dass etwas nicht stimmte, nicht stimmen konnte. Hätte sie doch gestern schon auf ihre innere Stimme gehört! Noch einmal versuchte sie es bei Else, hatte aber nur den Mann dran. »Herr Häußler«, hörte sie sich atemlos ins Telefon sagen, und ihr Herz raste wie wild, »der Dominik ist nicht heimgekommen.«
»Mach dr ko Soorcha, Maadle, der is bestimmt beim Saufa eigschloofa«, beruhigte sie ihr Gesprächspartner mit freundlicher Stimme. »Waasch was, ii geh gschwind ind Halle und gugg noch, und no weck ii den und bring en dr hamm. Okay? Ii muss eh aufschließa, weil die ja heit widder proba wella.«
Stefanie schluckte. Angst, latente, nagende Angst. Etwas in ihrem Inneren wusste, dass da was faul war. Obwohl das eine logische Erklärung war. Er war in der Halle beim Saufen eingeschlafen. Es würde schon nichts passiert sein. Bestimmt war alles in Ordnung. In diesem Moment begann die Kleine zu schreien. Sie brauchte ihr Frühstück.
»Den da!«, meinte Lisa und zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf eine enorme Nordmanntanne. Heiko seufzte. Der OBI machte schon um halb acht auf, und Lisa hatte darauf bestanden, dass sie vor der Arbeit den Baum kauften, weil sie es nach Feierabend ja doch nicht machen würden. Seit er mit Lisa zusammengezogen war, hatte seine Freundin und Kollegin immer neue Ideen, wie sie ihr gemeinsames Zuhause dekorieren könnten. Dekorieren! So ein Quatsch. Das brauchte kein Mensch. Zeug zum Rumstellen und so, das widerstrebte der männlichen Hohenloher Natur. Und Heiko war ein überzeugter Hohenloher. Im Gegensatz zu Lisa, seiner Freundin, die aus dem westfälischen Wesel stammte und nun seit gut zwei Jahren in Crailsheim zusammen mit ihm auf dem Polizeirevier arbeitete. Sie beide waren Kommissare und hatten, seit Lisa vor zwei Jahren gekommen war, schon drei Mordfälle erfolgreich aufgeklärt. Und Morde waren in Hohenlohe natürlich selten, denn die Hohenloher waren eigentlich gute Menschen, auch, wenn sie etwas verschroben waren. Auch Lisa hatte die Hohenloher inzwischen kennen- und liebengelernt, speziell ihn, und seit drei Monaten wohnten sie jetzt zusammen in einem kleinen Einfamilienhaus in der alten Siedlung in Tiefenbach.
»Ich finde, wir brauchen überhaupt keinen Baum«, brummte Heiko, aber Lisa zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. »Du würdest am liebsten in einer Höhle im Wald wohnen, mein Bärchen. Ich hab es eben gern ein bisschen schön zu Hause.« Heiko verzog das Gesicht und blickte sich suchend um, wie immer bei der öffentlichen Verwendung seines Kosenamens. »Wir sind doch an Weihnachten sowieso bei meinen Eltern. Wozu brauchen wir dann einen Baum?«, versuchte er es dann noch einmal.
»Wir brauchen einen, und zwar den da«, wiederholte Lisa unerbittlich und deutete erneut auf den ausgewählten Baum, sodass Heiko gar nichts anderes übrig blieb, als ihn in den schubkarrenartigen Einkaufswagen zu bugsieren. Und wie Heiko kurz darauf feststellte, brauchten sie nicht nur einen Baum, sondern auch eine Spitze, eine riesenhafte Plastikbox mit Glaskugeln, eine Girlande, nostalgische Glasvögel mit echten Marabufedern und Lametta, dazu noch zwei Packungen chinesische Strohsterne. Und abgesehen von den Strohsternen war alles lila, vielmehr fliederfarben, wie Lisa behauptete, weil sie in einer Zeitschrift gelesen hatte, dass Lila in diesem Jahr Trendfarbe war, vielmehr Flieder. Die beiden standen gerade mit der Schubkarre an der Kasse, als Heikos Handy klingelte.
Die Crailsheimer Kommissare betraten die Turnhalle Altenmünster. Jemand hatte die Deckenlampen eingeschaltet, die die Szenerie irgendwie passend beleuchteten. Alles wirkte wie aus einem schlechten amerikanischen Horrorfilm. Auf der Bühne war eine der üblichen Kulissen aufgebaut. Denn im Dezember gab es überall Theaterstücke, die von den Vereinen, meistens von den Chören, aufgeführt wurden. Die Mitglieder des Vereins probten lange für die gut besuchten Veranstaltungen. An der Seitenwand der Halle hing ein schlichtes gelbes Plakat mit der Überschrift ›Dorftheater‹. Und auf der Bühne war ein menschliches Bündel in sich zusammengesunken, schon eifrig umrundet von Uwe, dem Spurensicherer der Crailsheimer Polizei. Auch einige Leute von der Haller Spurensicherung schwirrten in den typischen weißen Anzügen herum. Bei Mordfällen wurde Uwe immer von den Hallern verstärkt. Heiko und Lisa liefen zur Bühne, was die für solche Turnhallen üblichen dumpfen Geräusche auf dem Gummiboden verursachte.
»Moorcha«, grüßte Uwe, als er die beiden bemerkte. »Net erschrecken, schaut bös aus«, warnte er sofort, und wenige Augenblicke später wussten die beiden, was er gemeint hatte. Die Ermittler näherten sich der Leiche von vorne und blickten zuerst auf die Bühne hinauf. Der Tote war zusammengesunken, den Kopf vornübergebeugt. Er saß nur deshalb noch, weil er mit dem Rücken an eine gelb bemalte Hauswand aus Holz gelehnt war. Er trug ein schwarzes T-Shirt und helle Jeans. Heiko registrierte mit einem kurzen Blick auf das Gesicht erleichtert, dass er den Toten nicht von früher kannte, aber dann bemerkte er auch, was die Todesursache war. Denn im Gesicht des Mannes war etwas, was dort nicht hingehörte: Auf seiner Stirn prangte ein silbern glänzender Punkt, es war der Kopf eines Nagels, der im Hirn steckte und ganz offensichtlich die Todesursache war. Unterhalb des Nagels war ein dünnes Rinnsal Blut heruntergelaufen, das beinahe spärlich wirkte. »Der war sofort tot«, wusste Uwe und tippte sich an die Stelle am Kopf, wo beim Opfer der Nagel steckte. »Da ist gleich Ende Gelände. Wie beim Bolzenschussgerät.«
Heiko schauderte. Sie hatten ja schon viel gesehen in letzter Zeit, den mit einer Axt erschlagenen Kleintierzüchter Rudolf Weidner, die erstochene Majorette Jessica Waldmüller, den erdrosselten Angler Walter Siegler. Alles keine schönen Anblicke, aber das hier war deshalb so schlimm, weil eben der Nagel direkt im Hirn steckte und wie ein silbern glänzender Pickel aussah, der dort definitiv nicht hingehörte. »Die Tatwaffe?«
»Liegt da drüben«, meinte Uwe und wies auf eine Ecke der Bühne.
»Äh, wie bitte?«, wunderte sich Lisa.
»Ja, eine Nagelpistole. Und ich wette, es sind Fingerabdrücke drauf.«
»Mord im Affekt?«, vermutete Heiko.
Uwe zuckte mit den Schultern. »Wer weiß …«
»Und wer hat den Toten gefunden?«, fragte Lisa.
»Der Hausmeister. Ein Herr Häußler. Steht da hinten.« Uwe ruckte mit dem Kopf in Richtung des Zuschauerraums.
»Der Mörder muss unter den Theaterleuten sein«, mutmaßte Lisa.
Uwe widersprach. »Nicht unbedingt. Seht ihr den Notausgang da hinten links?« Lisa und Heiko benutzten die seitliche Tür, um endlich auf die Bühne zu gelangen. Zwei Treppen führten hoch zu den Brettern, die angeblich die Welt bedeuteten. Von hinten sahen die Kulissen gänzlich unspektakulär aus, Dachlatten mit Pressspanplatten, notdürftig zusammengenagelt. Ging man hinter den Platten entlang, so sah man den Notausgang, den Uwe gemeint hatte. »Der ist von außen zu öffnen mit einem Schlüssel. Von innen geht er immer auf«, wusste der Spurensicherer.
»Kuckst du nach Fingerabdrücken?«, bat Lisa, und Uwe nickte gönnerhaft. »Wird aber wahrscheinlich nicht viel helfen.«
»Warum nicht?«
»Wenn wir es nicht mit einem strunzdummen Mörder zu tun haben, werden da keine Fingerabdrücke sein. Schließlich kann man auch den Schlüssel reinstecken und dann die Tür einfach mit dem Schlüssel aufziehen. Man braucht sie nicht zu berühren. Oder es war, und das wäre die einfachste Lösung, jemand von den Theaterleuten. Und eben Mord im Affekt …«
»Kann sein«, meinte Heiko. »Oder doch jemand von außen.«
»Ich schau mir die Tür genau an«, versprach Uwe.
»Und der Todeszeitpunkt?«
Uwe wiegte den Kopf. »So zwischen neun und elf, würde ich sagen …«
Wenig später standen Lisa und Heiko vor einem kleinen, rundlichen Mann, der es fertigbrachte, gleichermaßen verstört und interessiert zu wirken. Er hatte sich als Helmut Häußler vorgestellt, sein Händedruck war eher schlaff gewesen. »Ich bin heut Morgen hier reingekommen, wissen Sie, ich bin hier ehrenamtlich Hausmeister, ich bin ja schon in Rente. Und dann hab ich den Dominik da sitzen gesehen.«
»Wie heißt der weiter?«, forschte Heiko.
»Winter.«
»Hm.«
»Ja. Und dann bin ich da hin, ich hab gedacht, der ist besoffen und eingepennt, und dann war der tot! Da hab ich dann gleich bei euch angerufen. Schlimm, das Ganze, sehr schlimm.«
Heiko dachte an den Ehering, den er am Finger der Leiche entdeckt hatte. »Er war verheiratet?«
»Ja, mit der Steffi. Der muss man es sagen, ich wollte ihn ihr eigentlich vorbeibringen, ich war ganz überzeugt, dass der hier eingeschlafen ist … die beiden haben drei kleine Kinder. Was mach ich denn jetzt?«
»Machen Sie sich keine Gedanken, Herr Häußler, wir übernehmen das«, beruhigte Lisa, fürchtete sich aber schon. »Und was hat der Herr Winter hier gemacht?«, fragte sie dann weiter.
»Der hatte doch die Hauptrolle im Dorftheater.«
»Ah, um was geht es denn in dem Theaterstück?«
Das kleine, runde Männchen kratzte sich am Kopf, der von spärlichen grauen Haarsträhnen bekrönt wurde. »Och, das Übliche. Ein dörflicher Schwank eben. Fragen Sie meine Frau, die leitet die Theatertruppe und kann so was besser erklären.«
»Wieso haben Sie gedacht, der wär besoffen?«, wollte Heiko wissen.
»Hinter der Bühne steht immer eine Flasche Obstler, und die Männer trinken oft mal noch was nach der Probe. Und manchmal bleibt einer hocken und trinkt ein bisschen mehr, vor allem, wenn er zu Hause drei kleine Kinder hat und die ganze Zeit das Geschrei ertragen muss.«
»Herr Winter hat drei Kinder?«, wunderte sich Lisa. »Ja«, bestätigte Häußler.
Ein Gedanke formte sich in Lisas Kopf. Überforderung, Verzweiflung, Perspektivlosigkeit. So was gab es öfters.
»Hatte Herr Winter noch mehr Probleme?«, fragte Heiko.
»Sie meinen, ob der sich umgebracht hat? Im Leben net. Dazu fand der sich viel zu toll.«
Lisa dachte bei sich, dass Selbstmord hier trotzdem nicht auszuschließen war. Oft wusste man nicht, was wirklich hinter einer coolen Fassade vorging.
»Wie meinen Sie das?«, forschte Heiko weiter.
»Also, bevor der geheiratet hat, waren alle Weiber aus dem Dorf hinter ihm her. Und nachdem er geheiratet hat, auch, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Ich verstehe«, bestätigte Lisa. »Und ist er denn auch mal darauf eingegangen?«
Das Männchen zuckte mit den Schultern. »Da müssen Sie meine Frau fragen, die weiß so was.«
»Könnte Ihre Frau vielleicht die Theaterleute hierher einbestellen? Sagen wir um zwölf?«
Häußler nickte eifrig. »Das lässt sich sicher einrichten«, versprach er beflissen.
Nachdem sich die Kommissare versichert hatten, dass sie am Tatort nicht mehr gebraucht wurden, machten sie sich auf den Weg zur Frau des Opfers, der sie ja die traurige Nachricht überbringen mussten, dass sie jetzt Witwe war. Es war für Lisa schwierig, sich vorzustellen, wie man sich dann fühlen würde. Wenn jemand von der Polizei eines Tages bei ihr klingeln würde und ihr die Nachricht überbrächte, dass Heiko tot sei … sie wüsste nicht, was sie tun würde. Noch dazu war es tragisch, dass die Frau drei Kinder hatte. Obwohl, dachte sich Lisa, sicher war das auch von Vorteil, denn immerhin war es ein Grund, weiterzuleben.
Die winterliche Szenerie passte zu Lisas trüben Gedanken. Ein grauverhangener, wolkendurchzogener Himmel hob sich kaum von der fahlweißen Landschaft ab. Hier in Hohenlohe lag im Winter noch Schnee, und zwar nicht in so mikroskopischen Mengen wie anderswo in Deutschland. Sondern richtig, knietief, manchmal meterhoch, wenn man Glück hatte, strahlend weiß und glitzernd, wenn man Pech hatte, matschig grau und schmutzig. Durchbrochen wurde das Grau vom Orangerot der Schneezäune, die die Straßen vor Verwehungen schützten. Wobei es auch Tage gab, an denen man auf den Landstraßen durch zehn Zentimeter hohen Schnee schlitterte, weil einfach die Schneepflüge nicht schnell genug mit der Räumung nachkamen.
»Hier ist es«, sagte Heiko und wies auf ein weiß getünchtes Haus im alten Ortsteil von Altenmünster mit einem enormen Rentierschlitten aus Metall im Vorgarten. Offenbar legte Frau Winter Wert auf eine schöne Dekoration ihres Anwesens, wie Lisa feststellte. Sie parkten den Wagen in der Einfahrt und gingen zur Haustür. Ihre Schritte knirschten auf dem Schnee. Frau Winter war anscheinend noch nicht dazu gekommen, die Auffahrt zu räumen. Vielleicht war das aber auch Aufgabe ihres Mannes gewesen. Lisa klingelte, und ein wohltönender moderner Gong erklang. Es dauerte nicht lange, bis eine Frau zur Tür kam und öffnete. Sie war weder schlank noch mollig, sondern eher mittel. Ihr hellbraunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Alles in allem eine recht gewöhnliche Erscheinung, wäre da nicht ein gewisser Stolz im Blick gewesen, eine Achtung vor sich selbst, die die Frau auf den zweiten Blick über das Normalmaß hinaus attraktiv erscheinen ließ. Dann fielen auch ihre hellgrauen Augen auf, die aus dem makellosen ovalen Gesicht herausleuchteten und selbst den Schlabberpulli und die alten Jeans, die die Frau trug, irgendwie cool wirken ließen. Nur ihr Gesichtsausdruck passte nicht zu dieser Erscheinung, denn auf ihren Zügen zeichnete sich tiefe Besorgnis ab, beinah so, als wüsste sie bereits, was passiert war.
»Frau Winter?«, fragte Heiko und hörte im Hintergrund Kinderlachen.
»Ja?«
»Wüst und Luft. Wir kommen von der Kriminalpolizei. Dürfen wir kurz hereinkommen?«
Die relativ buschigen Brauen über den grauen Augen zogen sich zusammen. »Mein Mann?«, fragte sie und führte die Hand zum Mund. Ihre Lippen zitterten, und ihre Augen wurden wässrig. Die Kommissare wechselten einen Blick. »Dürfen wir hereinkommen?« Frau Winter sandte ihnen einen schwer deutbaren Blick und führte die Kommissare in ein schönes Wohnzimmer, das zwar einerseits einen modernen Esstisch und eine eher cleane hellgraue Couch beherbergte, andererseits jedoch auch eine enorme Spielecke, in der drei Kinder, ein etwa Sechsjähriger, eine Vierjährige und ein kaum einjähriges Baby, am Boden hockten und sich mit Spielzeugen beschäftigten. Frau Winters Blick blieb an ihren Kindern hängen. Mit leisen, aber bestimmten Worten schickte sie die beiden älteren Kinder auf ihr Zimmer. Als wüsste sie bereits, was sie ihr mitzuteilen hatten, dachte Heiko. Dann nahm sie das Baby vom Boden auf, setzte sich und bat die Kommissare, ebenfalls auf der Couch Platz zu nehmen. »Frau Winter«, begann Heiko und schluckte, als er den Blick aus den grauen Augen auffing. »Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihren Mann tot aufgefunden haben.«
Zuerst veränderte sich gar nichts im Ausdruck der Frau. Dann legte sie das Kind neben sich ab, langsam, ganz langsam. Und dann schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte, wie Lisa noch nie jemanden hatte weinen sehen und hören. Es war ein tiefer, kehliger Laut, verzweifelt, tierisch. Ihre Hände suchten nach Halt, tasteten an ihrem Körper entlang, fanden aber letztlich keinen Halt, und so setzte sich Lisa spontan neben die Frau und umarmte sie. Frau Winter krallte sich so fest in Lisas Rücken, dass es schmerzte, und weinte hemmungslos schluchzend an ihrer Schulter. Das Kind neben ihr begann ebenfalls zu wimmern und leise vor sich hin zu brabbeln. Heiko wusste nicht, wie er reagieren sollte, er fühlte sich von all der Emotion schlichtweg überfordert, aber er fand, dass Lisa das ganz gut machte. Nach einigen Minuten hatte die Frau sich so weit beruhigt, dass sie ansprechbar war, sie hatte rot verquollene Augen und ein tränennasses Gesicht, aber es ging. Sie löste sich von Lisa und fragte dann mit belegter Stimme: »Wie ist es denn passiert?«
»Im Theater«, informierte Heiko so sachlich wie möglich.
»Ein Unfall?«, mutmaßte Frau Winter.
»Nein«, meinte Heiko und suchte nach den passenden Worten. »Er wurde …«, ja, wie hieß das denn, wenn jemand mit einem Nagel ins Hirn getötet wurde? »Erstochen«, fand Heiko. »Er wurde erstochen.«
»Kann ich ihn sehen?«, fragte Frau Winter.
Heiko und Lisa warfen sich einen Blick zu. »Er ist gerade auf dem Weg in die Autopsie. Danach können Sie ihn jederzeit sehen«, meinte Lisa und hoffte, dass der Kollege es schaffen würde, das Loch in der Stirn gnädig aussehen zu lassen.
»Was soll ich denn jetzt machen?«, murmelte die junge Witwe, mehr zu sich selbst. »Was soll ich jetzt machen?« Lisa und Heiko konnten ihr keine Antwort darauf geben und schwiegen hilflos. »Wissen Sie schon, wer es war?«, fragte Frau Winter und nahm nun endlich wieder das Kind neben sich wahr. Sie nahm es auf und streichelte es, um es zu beruhigen.
»Leider nein«, meinte Heiko. »Wir hatten gehofft, dass Sie uns vielleicht helfen können?« Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Wie soll ich Ihnen helfen können?« Heiko beugte sich verbindlich vor, während Lisa ein Lächeln andeutete, das aufmunternd wirken sollte.
»Wir müssen wissen, wer vielleicht mit Ihrem Mann ein Problem hatte. Ob er bei jemandem Schulden hatte. Ob er mit jemandem zerstritten war, solche Sachen«, erklärte Heiko dann.
Die junge Frau schüttelte langsam den Kopf, so lange, dass sie beinahe schon abwesend wirkte. »Keine Ahnung.«
»Was hat Ihr Mann denn gearbeitet? Hatte er Probleme mit Kollegen?«
»Mein Mann ist Schornsteinfeger und selbstständig«, erzählte Frau Winter und verwendete dabei das Präsens. Es war noch ungewohnt, von ihm in der Vergangenheit zu reden. Weder Heiko noch Lisa korrigierten sie jedoch. Frau Winter schluckte, offenbar hatte sie ihren Fehler bereits selbst bemerkt. »Nach Feierabend hatte er in letzter Zeit am meisten mit den Theaterleuten zu tun. Mit den Sängerbündlern und so. Die Aufführung sollte ja nächstes Wochenende stattfinden.«
»Was hat es denn damit eigentlich auf sich?«, wollte Lisa wissen.
Heiko antwortete anstelle der jungen Witwe. »In den meisten Dörfern gibt es einen Liederkranz, einen Gesangsverein oder so was. Um Weihnachten herum machen diese Vereine dann immer einen Abend mit Liedern und auch einem Theaterstück, meistens eher einem Bauernschwank, was Lustiges. Das ist bei den Dörflern ganz beliebt, diese Veranstaltungen sind immer proppenvoll. Und die Altenmünsterer Chöre bilden zusammen mit denen aus Ingersheim den Sängerbund.«
Frau Winter nickte. »Genau. Und mein Mann hat … hatte immer die Hauptrolle, weil er ein wunderbarer Schauspieler war, ein großartiges Talent, gut aussehend und begabt und …« Wieder barg sie ihr Gesicht in den Händen, um sich aber kurz darauf wieder zu fassen und schniefend aufzublicken. »Ja. So ist das.«
»Und diese Aufführung … die hätte … wann sein sollen?«, fragte Lisa.
»Am Samstag«, informierte Frau Winter und setzte das sich windende Kleinkind neben sich aufs Sofa. »Heut Abend treffen sie sich wieder. Obwohl ich überzeugt bin, dass alle schon Bescheid wissen. Sie wissen ja, wie so was läuft.«
Lisa hatte darauf bestanden, noch abzuwarten, bis die beste Freundin der Frau erschienen war, eine blonde, zierliche junge Frau, und die beiden Damen dann allein gelassen. »Schon schlimm«, meinte Heiko, als sie eine kurze Verschnaufpause im Kaffee Kett machten. Das Kaffee Kett war das Crailsheimer Traditionscafé mit einer festen, etwas schrägen Stammkundschaft, zu der auch Lisa und Heiko zählten. Und es war mitten in Crailsheim gelegen, unweit des Polizeireviers, und eignete sich daher wunderbar zum Verschnaufen, denn auf dem Revier selbst gab es lediglich Automatenkaffee. Lisa rührte in ihrem Latte macchiato, und Heiko trank einen schnöden Kaffee mit viel Milch und Zucker. »Ein so junger Familienvater, stell dir mal vor, was soll die Frau denn jetzt machen, allein mit drei Kindern?« Lisa löffelte Milchschaum und meinte dann: »Tragisch, ja. Aber eine solche Tat kommt nicht von ungefähr. Das war ja eine regelrechte Hinrichtung.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, also ein Messer hätte genügt. Eine Pistole, irgendwas in der Art. Aber eine Nagelpistole? Das ist schon …«
»… brachial«, vollendete Heiko mit einem typisch hohenlohischen Begriff, der aber wie so oft wunderbar passte.
»Brachial«, wiederholte Lisa, bedächtig nickend.
»Ich frage mich, wieso der sich überhaupt nicht gewehrt hat. Ob der so besoffen war?«, sinnierte Heiko und dachte an die Obstlerflasche, die sie in der Nähe der Leiche gefunden hatten.
»Na, selbst wenn man besoffen ist, wenn dir jemand eine Nagelpistole an den Kopf hält, dann wehrst du dich doch trotzdem«, hielt Lisa dagegen.
Heiko stimmte innerlich zu. »Das werden die Ulmer herausfinden müssen«, meinte er. Die für Crailsheim zuständige Pathologie befand sich nämlich in Ulm. Kleinere Sachen, wie etwa die Gegenstände, die an einem Tatort gefunden wurden, konnte auch Uwe untersuchen. Aber ganze Leichen wurden eben nach Ulm geschickt.
Um Punkt zwölf befanden sich die beiden Kommissare wieder im Vorraum der Turnhalle Altenmünster. Und tatsächlich trafen sie auf die nahezu vollständig erschienene Theatertruppe. Jetzt stand das Ensemble sehr betreten dreinblickend im Vorraum, da Uwe kurzerhand die ganze Halle zum Tatort erklärt und somit gesperrt hatte. »Moorcha«, grüßte Heiko. Lisa war lange genug in Hohenlohe, um die Übersetzung zu kennen. »Guten Morgen.« Murmelnd wurde zurückgegrüßt. »Luft und Wüst, Kripo Crailsheim«, stellte Heiko Lisa und sich knapp vor. Er entdeckte in dem Kreis einen Nachbarsjungen von früher, Martin Seiler, den er aber nie besonders hatte leiden können. Die Chefin der Theatertruppe kannte er aus der Zeitung, den Mann, der die Leiche gefunden hatte und der ihn jetzt stumm grüßte, von vorhin. Der Rest war ihm unbekannt. »Sie alle wissen ja sicherlich schon, dass der Herr Winter leider ermordet wurde«, begann Heiko. »Und jetzt müssen wir herausfinden, wer ihn umgebracht hat.« Die Umstehenden blickten betreten drein, gerade so, als hätte jeder von ihnen ein schlechtes Gewissen.
»Aber zunächst einmal wüssten wir gern, wer Sie alle sind«, meinte Lisa. Sie nickte der Frau zu, die ganz offensichtlich von allen anderen als eine Art Führerin anerkannt wurde. »Ii bin die Else Häußler. Vorsitzende der Theatertruppe des Sängerbundes Altenmünster.« Lisa musterte die kleine, aber durchaus resolut, ja hoheitsvoll wirkende Frau, die eine zwar locker, aber mit großem Bedacht gelegte dunkelbraune Dauerwellenfrisur trug. Sie war wohl Mitte 60 und passte somit altersmäßig gut zu ihrem Mann, den sie ja früher am Tag bereits kennengelernt hatten.
»Und mich kennst du ja, Heiko«, stellte sich ein schmächtiger Mann Ende 20 vor. »Martin Seiler, Schauspielstudent«, wandte er sich an Lisa.
»Schauspielstudent? Dann sind Sie ja hier genau richtig, nicht wahr?« Lisa hatte es eigentlich nicht ironisch gemeint, aber der Mann verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln und sagte nichts weiter. Offenbar war seine bisherige Karriere nicht so erfolgreich, dass er sich für Auftritte in einem Dorftheater zu schade war.
»Und ich heiße Sybille Klein«, stellte sich nun eine ausnehmend hübsche Person vor. »Ich bin Einzelhandelskauffrau und … ach, es ist alles ganz furchtbar!« Sie barg ihr Gesicht im Ärmel ihres roten Chiffonshirts, das ihre perfekten Kurven wunderbar umschmeichelte. Ihre scheinbar zufällige Hochsteckfrisur, die lässig wirken sollte, war mit großer Finesse gemacht, jede Strähne, die frei sein sollte, sorgsam herausgezupft, nichts dem Zufall überlassen, ebenso wenig ihr dezentes, aber vorhandenes Make-up. Diese Frau wusste, wie sie wirkte, und tat alles, um das zu unterstreichen. Natürlich so subtil, dass Männer diese Bemühungen niemals bemerkten und diese Kategorie Frau als ›natürliche Schönheit‹ einstuften. »Standen Sie Herrn Winter nahe?«, fragte Heiko. »Ob ich … nein, keinesfalls, aber das Ganze ist doch einfach schrecklich.« Heiko unterstrich in Gedanken ihren Namen. Da war mehr dahinter, da war er sich fast sicher.
Einen krassen Gegensatz zu Sybille bildete die junge Dame neben ihr, die allerdings weniger wie eine junge Dame, sondern vielmehr wie ein krampfhaft bemühtes und auch deshalb reizloses Geschöpf wirkte. Auch ihr Äußeres war wenig ansprechend, sie war deutlich zu üppig und versuchte ganz offenbar, diesen Makel durch eine kreative Optik wieder wettzumachen. Sie trug das knallrot gefärbte Haar kurz und hatte eine Frisur, die man in den 90er Jahren als ›flippig‹ bezeichnet hätte. Außerdem eine grüne Brille und einen ebenso grünen Pulli, der ihre Speckröllchen umschlackerte. »Ich bin Verena Polanski. Ich bin Referendarin am Crailsheimer Gymnasium und bin da mit der Theater-AG betraut. Da hab ich mir gedacht, das wär doch was, bei so einem Theaterstück mitzumachen. Da kannst du was lernen, wie man das organisiert und so. Aber dass dann so was passiert …« Sie schüttelte betreten den Kopf, und es wirkte ehrlich. Heiko nahm einen sächsischen Einschlag in ihrer Intonation wahr, den sie aber zu verbergen suchte.
Als Letztes wandte sich Heiko einer großen, schlanken Endvierzigerin zu, die aus ernsten grauen Augen bisher schweigend in die Runde geblickt hatte. »Ich bin Marianne Zeitler«, meinte die Frau, und ihre Stimme war leise. »Und Sie spielen auch im Theaterstück mit?«, ermunterte Lisa zum Weiterreden.
»Ja, ich spiele die Zweite Landfrau. Berta. Und ich kann das mit dem Dominik gar nicht fassen, ich … ich …« Sie barg das Gesicht in den dünnen, irgendwie zu alt für ihr Alter aussehenden Händen. »Er war so ein lieber Junge«, kam zwischen den Fingern hervor. Else Häußler streichelte ihr den Rücken. »Wir sind alle schockiert, Marianne«, tröstete sie.
»Und ich mach übrigens den Souffleur«, informierte Helmut Häußler.
Heiko machte »So« und wartete danach kurz, ob noch einer der Anwesenden sich genötigt sähe, etwas zu sagen. Endlich fragte er: »Seid ihr jetzt komplett?« Else Häußler schüttelte den Kopf. »Der Vater vom Dominik fehlt. Den habe ich vorhin angerufen und gesagt, dass wir die Theaterprobe auf morgen verschieben. Der kann doch nicht hierherkommen und … an den Ort kommen, wo vor so kurzer Zeit … nun ja.« Heiko stimmte der Frau mit leichtem Murmeln zu, das war wahrscheinlich eine weise Entscheidung gewesen.
Dann resümierte er: »Also, dann wären wir ja jetzt durch«, und fuhr dann fort: »Ist jemandem von euch bei der Theaterprobe gestern was Ungewöhnliches aufgefallen?« Die Leute sahen sich unsicher an. Schließlich war es Else Häußler, die für alle sprach: »Eigentlich war alles wie immer.«
»Wie war es denn immer?«, hakte Heiko nach.
»Wir haben geprobt, und dann bleiben meistens noch ein paar Männer da und trinken noch schnell einen Schnaps. Probenschnaps, sozusagen.«
»Und wer ist gestern dageblieben?« Niemand hob die Hand, aber alle schwiegen so betreten, dass Heiko sofort wusste, dass jemand dageblieben war. »Ich«, sagte schließlich jemand, und es war Martin. »Aber nur kurz. Ich hab wirklich nur ganz kurz noch dagesessen mit dem Dominik.«
»Und?«
»Ich trinke ja kaum Alkohol, aber der Dominik hat da ab und zu ordentlich hingelangt.«
»Jetzt sooch doch sou ebbes net«, tadelte Else zischend. »Der Dominik hat net gsoffa.«
»So hab ich das auch nicht gemeint«, beharrte Martin und schickte der Frau einen giftigen Blick.
»Party hat er halt ab und zu gemacht, im Apfelbaum«, schaltete sich Sybille ein.
»So? Als junger Familienvater?«, fragte Lisa.
Nun schnalzte die junge Referendarin tadelnd mit der Zunge. »Also der war schon in Ordnung. Der hat sich rührend um seine Familie gekümmert.«
»Und woher wissen Sie das?«
»Ich hab die Winters mal im Handelshof getroffen, beim Einkaufen. Die waren ein Herz und eine Seele. Ein richtig lieber Papa.«
»So was kann man auch spielen«, widersprach Lisa.
Verena Polanski schüttelte heftig den Kopf. »Auf keinen Fall, das war nicht gespielt.«
»Haben Sie ihn mal im Epfel getroffen?«, fragte Heiko nochmals Sybille. Der Begriff ›Epfel‹ war allen Crailsheimern geläufig, es handelte sich um die hohenlohische Bezeichnung für die einzige wirklich als solche zu bezeichnende Disco der Stadt, den Apfelbaum. Gut, eigentlich hieß der Apfelbaum ›Club Factory‹ und bestand aus drei Teilen: dem Apfelbaum, dem P1 (noch kürzer »P« genannt) und dem Loco. Trotzdem war Epfel diejenige Bezeichnung, die sich durchgesetzt hatte. »Und was hat er dann immer so gemacht, im Epfel?«, fragte Heiko weiter. Denn man konnte im Epfel mit den Jungs einen saufen, eine Frau aufreißen, eine Frau fürs Leben finden oder einfach nur wild tanzen.
»Gesoffen«, kategorisierte Sybille. »Und ab und zu Weiber angegraben. Aber nie eine abgeschleppt«, fügte sie schnell hinzu.
»Der war treu wie Gold«, fand Verena, und Lisa fragte sich unwillkürlich, woher sie das so genau wusste. Auf jeden Fall schien Verena von Dominik Winter sehr eingenommen gewesen zu sein. »Sie, Herr Seiler, sind noch dageblieben und haben dem Herrn Winter beim Schnapstrinken Gesellschaft geleistet«, stellte Lisa fest.
»Ja. Aber nicht lang. Und getrunken hat nur er. Wir haben noch so zehn Minuten geredet, dann bin ich gegangen.«
»Wohin sind Sie denn gegangen?«, wollte Heiko wissen.
»Wieso, bin ich jetzt schon verdächtig oder was?«
Lisa machte eine beschwichtigende Geste mit der Hand. »Sie waren eben der Letzte, der mit dem Mordopfer zusammen war. So was macht einen automatisch verdächtig.« Martin schluckte, und sein gewaltiger Adamsapfel im dürren Hals hüpfte dabei merklich. »Eigentlich wollte ich noch in den Apfelbaum. Aber dann hatte ich doch keinen Bock mehr und bin einfach heim. In meine Wohnung.«
»Allein?«
»Mit meiner Freundin habe ich noch telefoniert.«
»Wir brauchen von allen, die am Theaterstück beteiligt sind, die Fingerabdrücke. Wegen der Tatwaffe«, informierte Heiko.
»Und wie geht des?«, wollte Else wissen und wirkte sofort wie eine Glucke, die ihre Küken verteidigt.
»Ihr kommt morgen alle auf dem Revier vorbei. Im Lauf des Tages. Und da soll jeder seine Fingerabdrücke abgeben.«
Da im Moment nicht mehr mit weiteren Ergebnissen zu rechnen war, beschlossen Lisa und Heiko, die Ermittlungen für heute abzubrechen und heimzugehen. Die Tiere mussten versorgt werden, mittlerweile hatten sie drei, und die waren ein bisschen wie kleine Kinder. Sita war ein resoluter Rauhaardackel, den Heiko einst aus dem Tierheim geholt hatte. Garfield war Lisas rot getigerte Katze. Aus unerfindlichen Gründen vertrugen sich Sita und Garfield wider ersten Befürchtungen sehr gut miteinander, anders als Garfield und Alfred. Alfred war der Deutsche Riesenschecke, den die Kommissare bei ihrem ersten gemeinsamen Mordfall geschenkt bekommen hatten. Das schwarz-weiße Kaninchen mit den schönen samtbraunen Augen wurde mit der energischen Katze so gar nicht warm, aber auch Garfield war der Hase irgendwie suspekt. Sie ließen sich aber in Ruhe, wohl aus gegenseitigem Respekt, während Sita abwechselnd mit beiden hingebungsvoll kuschelte.
Zu Heikos Entsetzen hatte Lisa darauf bestanden, den Baum sofort aufzustellen und zu schmücken, aus dekorativen Gründen und weil Weihnachten ja mit Riesenschritten näher rücke. Als sie die Wohnung betraten, war Lisa mit mehreren Tüten Weihnachtsdeko für den Baum bepackt, und Heiko trug den Baum, sah also nur Grün, als er die Wohnung betrat, hörte den Hund neben sich hecheln und spürte den Katzenschwanz, der ihm ab und zu einen Schlag versetzte, weil Garfield grundsätzlich nur um Lisas Beine strich. Kaum war die Tür zu und die Tiere versorgt (Alfred hockte mit vorwurfsvollen Blicken im Käfig und erhielt bald seine Möhre – in Hohenlohe Gelbe Rübe genannt –, Garfield bekam eine Dose Thunfisch und Sita, die sich aufführte, als sei sie seit Jahren nicht gefüttert worden, ihr Hundefutter), bestimmte Lisa, wo der Weihnachtsbaum aufgestellt werden sollte. Nämlich mitten im Wohnzimmer, direkt neben dem Esstisch. Sorgsam platzierte Lisa den hohen Hocker, den sie als Unterbau für den Baum erwählt hatte, und riss ungestüm die Packung für den Christbaumständer auf. Heiko stellte den Baum mit Bedacht ab und dachte bei sich, dass seine Mutter solche Kartons immer vorsichtiger aufmachte, während sein Vater auch beim einfachsten Gerät darauf bestand, zuerst die Beschreibung zu lesen. Lisa las weder die Beschreibung noch behandelte sie den Karton sorgfältig, vielmehr war sie bereits dabei, mit einigem handwerklichen Geschick den Ständer zusammenzunesteln. »Da ist ein Bolzen, da muss man den Baum reinklemmen«, erklärte sie, und Heiko hob brav den Baum hoch und wartete, bis Lisa den Bolzen festgeschraubt hatte. Währenddessen betrachtete er den Metallstift. »Schon krass, dieser Nagel«, meinte er plötzlich.
»Hm?« Lisa sah kurz auf.
»Na, der Nagel im Hirn. Das ist schon richtig böse.« Lisa war fertig, und Heiko ließ den Baum probeweise los. Er hielt bombenfest, obwohl sie den billigsten Ständer gekauft hatten.
»Das war bestimmt was sehr Persönliches«, meinte Lisa.
»Was mich allerdings wundert: Wie geht denn so was? Ich meine, wie erschießt man jemanden mit einer Nagelpistole? Die haben ja eine Sicherung, nicht wie die in den Zeichentrickserien, wo man damit wild durch die Gegend ballern kann.«
»Sicherung?«, hakte Lisa nach und riss eine Packung Glaskugeln auf, etwas weniger unsanft als die Ständerpackung.
»Dass sie nur losgehen, wenn sie auf etwas Hartes aufgesetzt werden. Wie zum Beispiel Holz.«
»Oder eine Stirn«, vermutete Lisa.
»Genau.«
»Und hat unsere Mordwaffe eine solche Sicherung?«
»Ja, hat sie. Das haben alle neueren Geräte,« vermutete Heiko.
Lisa begann, die lilafarbenen großen Kugeln gleichmäßig über den Baum zu verteilen, wobei sie Heiko die Packung in die Hand drückte und mit Künstlerblick entschied, wo eine Kugel hinzukommen hatte und wo eben nicht.
»Das bedeutet, dass das Mordopfer sich nicht gewehrt hat, denn wer lässt sich schon so ein Ding auf den Kopf drücken?«, führte Heiko weiter aus.
»Oder, dass er sich nicht wehren konnte«, ergänzte Lisa. »Aber warum?«
»Vielleicht war er besoffen?«
Lisa war mit den größten Kugeln fertig und widmete sich nun den Glasvögeln. »So besoffen kann man doch nicht sein. Zumindest dauert das. Vielleicht hat jemand nachgeholfen?« Nachdem sie die Vögel ausgiebig bewundert und Heiko auf die feinen echten Marabufedern an den Schwänzen aufmerksam gemacht hatte, verteilte sie die Dinger nach Kriterien, die sich Heiko nicht erschlossen. »Auf jeden Fall wirkt das wie etwas Emotionales. Eine Beziehungstat. Neid. Eifersucht. Irgendwas Böses.« Lisa seufzte. Bei ihren vorherigen Mordfällen hatten sie bisher auch diverse Motive gehabt, am meisten bei ihrem letzten Mordfall, wo der Crailsheimer Fischerkönig mit seiner Königskette erdrosselt worden war. Nach und nach hatte sich herausgestellt, dass der Mann so dermaßen unbeliebt war und jegliche Art von Dreck am Stecken hatte, dass unzählige Leute ein Motiv hatten. Lisa nahm eine Schere und die Lamettapackung und schnitt büschelweise Glitzerfäden ab. »Hilf doch auch mal«, wies sie Heiko an, und der nahm zögerlich drei Fädchen und hängte sie über den nächstbesten Ast.
»Und wie fandest du die Frau?«, wollte Heiko wissen.
»Angemessen schockiert, würde ich sagen.«
»Hm…«
»Außerdem, die wird wohl kaum ihren Mann umbringen, den Vater ihrer drei Kinder.«
»Wer weiß«, gab Heiko zu bedenken. Man konnte nie wissen.
Eine geschlagene halbe Stunde später stand der Baum fertig da mit Kugeln, Glasvögeln, lilafarbenem Lametta, chinesischen Strohsternen, einer glänzenden Spitze und einer Lichterkette, die Lisa noch aus irgendeiner Schublade gekramt hatte. Heiko fand das Ding unglaublich kitschig. Lisa auch, aber, wie sie betonte, kultig-kitschig.