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Crailsheimer Volksfest - fünfte Jahreszeit. Die meisten Hohenloher feiern den gelungenen Festauftakt. Nur für die attraktive Majorette Jessica Waldmüller endet er tödlich: Auf dem Heimweg wird die hübsche Frau erstochen, ihre Leiche in die Jagst geworfen. Die Crailsheimer Kommissare Lisa Luft und Heiko Wüst nehmen die Ermittlungen auf und stochern tief in einem scheinbar undurchdringlichen Sumpf aus weiblicher Konkurrenz, Intrigen, Eifersucht und Affären …
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Seitenzahl: 345
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Wildis Streng
Trauerweiden
Kriminalroman
Volksfestopfer Die Majorette Jessica Waldmüller ist jung, hübsch und begehrt. Während des Fränkischen Volksfests, das für den aufrechten Hohenloher der Höhepunkt des Jahres ist, steht die Tanztruppe im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Nach dem ersten Auftritt am Volksfestfreitag wird die junge Frau auf dem Heimweg erstochen, ihr Körper treibt am nächsten Morgen leblos in der Jagst. Ein schwieriger Fall für die Kommissare Lisa Luft und Heiko Wüst, die nicht nur Arbeitskollegen, sondern auch ein ungleiches, aber glückliches Liebespaar sind. Im Laufe ihrer Ermittlungen stoßen die beiden auf immer mehr prekäre Details aus Jessicas Leben. Anscheinend hatte das Mordopfer eine Menge Feinde. Der gebürtige Hohenloher Heiko und die aus Nordrhein-Westfalen zugezogene Lisa stochern tief in einem Sumpf aus Intrigen, Liebschaften und unerfüllten Hoffnungen.
Wildis Streng ist in Crailsheim geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie in Karlsruhe Germanistik und Malerei. Seit 2006 arbeitet sie als Gymnasiallehrerin. Nach längerem Aufenthalt im Badischen lebt sie heute wieder in ihrer Heimat und unterrichtet in Crailsheim Deutsch und Bildende Kunst. In ihrer Freizeit widmet sich die überzeugte Hohenloherin der Malerei, der Fotografie und dem Schreiben. Aus ihrer Feder stammen bereits zehn Kriminalromane rund um das sympathische hohenlohisch-westfälische Ermittlerduo Lisa Luft und Heiko Wüst. Mehr Informationen zur Autorin unter: www.wildisstreng.de
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Mella / photocase.com
ISBN 978-3-8392-4098-4
Für meine Großeltern, Martha Kirchherr und Frieda Koch
Schwarzblau glänzte das Wasser der Jagst. Der silberne Vollmond tauchte die nächtliche Szenerie in ein kaltes, aber relativ helles Licht. Jessica Waldmüller blieb stehen und betrachtete den stetig plätschernden Fluss unter ihr. Sie hörte das Quaken einzelner Enten und das verhaltene Blöken der Schafe von der kleinen Insel, die von den beiden Armen der Jagst umspült wurde. Hinter ihr rauschte das Wehr, ein ständiges Geräusch, das man kaum mehr wahrnahm, wenn man jeden Tag hier vorbeikam. In der Dunkelheit hatte das unterschwellige Rauschen jedoch etwas Apokalyptisches. Ein wohliges Gruseln stellte sich bei Jessica ein. Sie liebte solche Nächte. Sie liebte die Leuchtstabauftritte. Und sie liebte das Volksfest. Sie war gern eine Majorette. Und sie war auch gern eine Frau. Das Kinnband ihrer Kappe drückte ein wenig. Ein leiser Lufthauch zauste den kurzen, gelben Faltenrock. Ein Geräusch? Etwas, das nicht zum Tosen des Wehrs und zur nächtlichen Jagst gehörte? Jessica Waldmüller wandte sich um. Das Messer stach so schnell in ihr Herz, dass ihr nicht einmal mehr Zeit zum Schreien blieb.
Florian Ehrmann beobachtete den Mann auf dem Stuhl. Er sah gar nicht so unglücklich aus, wie die anderen behaupteten. Obwohl ihm seine exponierte Sitzposition sichtlich etwas peinlich war. Den ganzen Abend lang hatten sie ihn bedauert, ihm versichert, dass es nun ganz aus sei, dass sein Leben gelaufen wäre. Florian wusste, dass das eben so üblich war. Sie hatten sich alle T-Shirts mit der Aufschrift »Zu spät« besorgt. Und jetzt saßen sie hier, seit vier Stunden, tranken Bier und sinnierten über den Sinn des Lebens. »So, Steffen«, brüllte nun Mario, einer der Kumpanen, den Mann auf dem Stuhl an. »Wie du ja weisch, is es jetz aus. Du hasch nix mehr zum lacha. Awwer scheint’s hasch’s ja net andersch gwellt.« Steffen Senglein grinste verhalten. Mario Schuster fuhr fort: »Awwer weil mir dei Freind sin, hewwa mir do ebbes für di organisiert.« Unter dem dröhnenden Applaus der Männer schob nun Bernhard Hofmeister einen Hubwagen mit einem riesigen Paket herein. Es war in rosafarbenes Geschenkpapier gehüllt, und eine goldene Schleife prangte darauf. Wenn er, Florian, in dieser Situation wäre, er wäre der glücklichste Mann der Welt. Und das nicht wegen des Hubwagens. Und auch Steffen sah ganz und gar nicht so unglücklich aus, wie seine Freunde taten, und Florian hatte bei ihm ebenfalls nicht den Eindruck, dass das nur an dem Hubwagen lag. Steffen Senglein heiratete gern. Er war rundum zufrieden mit seiner Freundin und hatte sie endlich gefragt. Sie war tatsächlich nicht schlecht, die Freundin vom Senglein. Nicht schlecht. Aber gegen seine Jessi war sie gar nichts. Die Jessi war Florians absolute Traumfrau, und er war glücklich mit ihr. Und während zu den Klängen von Joe Cockers »You can leave your hat on« und unter dem johlenden Beifall der Jungs die Stripperin aus dem Paket sprang, reifte in Florian Ehrmann der Entschluss, seine Jessi endlich zu fragen, ob sie ihn heiraten wollte.
»Die Krüge --- hoch! Die Krüge --- hoch! Die Krüge --- hoch!«, dröhnte es im Engelzelt. Lisa Luft hob unbeholfen die Hand mit dem Maßkrug. Das Ganze war ihr etwas peinlich. Peinlich und definitiv ungewohnt. Nicht, dass es in ihrer nordrhein-westfälischen Heimat keine Feste gegeben hätte. Das Weinfest gab es. Und das Schützenfest. Durchaus, durchaus. Aber etwas von diesem Ausmaß in einer so kleinen Stadt wie Crailsheim – das hätte sie nicht für möglich gehalten. »Ein Prrrrroooooohsit, ein Prooooooohsit, der Gemüüüüht---liiihhhch---keeiiit --- ein Prooooohhhsit, ein Prohoohosit der Gemüüüüüht-liiiiich-keeeeeit«, jubilierte nun die überaus hübsche und sehr blonde Sängerin, begleitet von ihrer Band, die für diesen denkwürdigen Augenblick von Pop und Schlager auf Volksmusik umgeschwenkt hatte. Heiko neben ihr trank brav aus seinem Maßkrug, wie die Band es verlangte. Sie beide waren Kollegen, seit letztem Januar. Kollegen, aber auch ein Paar. Und das letzte halbe Jahr mit Heiko war sehr schön gewesen. Lisa, die doch eigentlich ein Stadtkind war, hatte das Landleben im Hohenlohischen durchaus schätzen gelernt. Crailsheim war schön. Und es war alles da, was man brauchte. Nun gut, zum Überleben eben. Eine Oper gab es hier nicht, geschweige denn ein Theater. Aber das machte den Hohenlohern nichts aus. Sie hatten ja das Volksfest. Das Fränkische Volksfest, das einmal im Jahr, nämlich im September, stattfand, war offenbar das Nationalheiligtum der Crailsheimer. Alle waren dort, wirklich alle. Die Jugendlichen benutzten den großen Vergnügungsplatz, um mit Gleichaltrigen anzubandeln. Und alle Welt war nachts im Bierzelt. »Ganz Craalsa«, pflegte ihr Partner zu sagen. »So, Freunde der Nacht«, brüllte der Gitarrist nun ins Mikrofon. Begeisterung brandete auf, Maßkrüge reckten sich durch die Dunstschwaden empor. Etwas Bier schwappte aus dem Krug ihres Nachbarn auf Lisas Top. Igitt. »Kennt ihr das Rote Pferd?« Jubel. Schon erklangen die ersten, unverkennbaren Töne des Gassenhauers. Die Crailsheimer stellten ihre Maßkrüge ab und bestiegen die Bierbänke, wenn sie nicht schon dort standen und tanzten, johlten und klatschten. Lisa schüttelte den Kopf. Und das in der Provinz. »Ist das hier immer so, bei eurem … Volksfest?«, schrie sie zu Heiko hinüber.
Sie musste brüllen, obwohl er direkt neben ihr saß. Ihr Freund grinste.
»Volksfest halt«, meinte er. »Denk nicht so viel drüber nach. Mach einfach mit.«
Morgens vor dem Volksfestumzug saßen die Crailsheimer Kriminalkommissare Heiko Wüst und Lisa Luft im McDonald’s und frühstückten. Lisa trank wie immer einen Latte Macchiato und aß nichts. Heiko hingegen hatte sich einen Frühstücksburger bestellt, den er nun genüsslich verzehrte. Dazu trank er einen Kaffee mit Milch und viel Zucker. Sie hatten sich nach draußen gesetzt. Inzwischen war die Sonne durchgebrochen und spendete zwischen Wolkenfetzen hindurch letzte Wärme. Freche Spatzen hopsten um ihren Tisch herum und suchten nach Krümeln.
»Dieses Jahr sind die Bauern dran, das ist immer am schönsten«, informierte Heiko und biss wieder ab. Ein besonders mutiger Spatz flog auf den Nachbarstuhl und beäugte gierig den Burger. Heiko warf ihm einen Krümel hin. Der Vogel schnappte sich seine Beute sofort und floh damit auf einen nahe gelegenen Strauch.
»Süß«, kommentierte Lisa und meinte damit den Vogel.
»Jedenfalls wechselt das. In einem Jahr gestalten die Schulen den Festzug, in einem die Gewerbetreibenden und dann schließlich die Bauern.«
»Ah ja.«
»Und dann gibt es noch die Gruppen, die bei jedem Festzug dabei sind, wie zum Beispiel die Bürgerwache, die Fränkische Familie, die Majoretten …«
»Majowie?«
»Majoretten!«
»Was ist das denn?«
»Soweit ich weiß, wurden die Crailsheimer Majoretten in den Siebziger Jahren vom damaligen Bürgermeister Zundel ins Leben gerufen. Ursprünglich waren die Majoretten so eine Art Militär-Cheerleader, aber heutzutage geht es hauptsächlich um den Tanz und die Formation.«
»So«, meinte Lisa. Sie war ja schon wirklich gespannt auf diesen Festzug – im leicht ironischen Sinne. Denn den Lokalpatriotismus, den die Crailsheimer in jeder Minute des Volksfestes an den Tag legten, konnte sie nicht vorbehaltlos teilen. Schon Wochen vorher hingen überall Plakate, man tröstete sich über das nahe Ende des Sommers einzig mit der Tatsache, dass bald Volksfest war. Hatte das Fränkische Volksfest dann mit der Bierprobe am Freitag offiziell begonnen – (der Politische Abend am Donnerstag war für die meisten Crailsheimer nur Beiwerk, auch, wenn es zu so interessanten Konstellationen wie ›Teufel spricht im Engel-Zelt‹ kam) – so liefen die meisten Crailsheimer mit beinah religiös erleuchteten Mienen über den Festplatz. Blieb abzuwarten, wie sich dieser Nationalstolz, der jedes Normalmaß zu übersteigen schien, auf den Festzug auswirkte.
Als der Morgen des Volksfestsamstags anbrach, lag Jessicas toter Körper schon eine ganze Weile im trüben Wasser der Jagst. Die träge Strömung hatte sie mitgenommen und sie durch die ganze Stadt getragen, ohne dass jemand Notiz von ihr genommen hätte. Das Wasser war kalt und hatte den kleinen Blutrückstand, der auf ihrer Brust entstanden war, längst ausgewaschen. Makellos gelb strahlte die Uniform im Schmutziggrün des Flusswassers. Die Kappe saß fest, das straffe Kinnband hielt sie an Ort und Stelle, aber die leichte, doch beständige Strömung mit kleinen Wirbeln hatte ihren Dutt gelöst und nestelte nun zärtlich einzelne dunkle Haarsträhnen unter der Kopfbedeckung hervor. Von unten stupste ein Fischlein gegen einen ihrer Finger, wohl irritiert wegen des großen Fremdkörpers, der da im Wasser trieb. Eine Fadenalge wickelte sich kurz um ihre andere Hand, als wolle sie sie festhalten, um sich gleich darauf wieder zu lösen und sich einen anderen Weg zu bahnen. Dann erfasste eine stärkere Strömung die Leiche, wirbelte sie einmal herum und führte sie unter der Eisenbahnbrücke durch, auf der gerade unter ohrenbetäubendem Dröhnen ein Zug rauschte.
Sie standen nun schon seit einer dreiviertel Stunde beim Schnelldruckladen in der Menge. Heiko hatte seiner Freundin erklärt, dass sie hier einen sehr guten Blick auf das Geschehen hätten.
»Und wann fängt das jetzt an?«, fragte Lisa.
»Hat doch schon angefangen«, meinte Heiko. »Hörst du nicht?«
Die Kommissarin lauschte. Außer dem Geschnatter der jungen Mütter mit Kinderwagen, die um sie herum standen, und dem Husten einer Alten, die genau vor ihnen mit ihrem enormem Hinterteil auf einem beängstigend fragil wirkenden Klappstuhl saß, hörte sie nun wirklich rhythmisches Trommeln. Da war sie ja gespannt.
»Glei kummas«, sagte die Alte zu ihrem Mann, der neben ihr stand. Der Klappstuhl knarzte vernehmlich.
»Wird bestimmt a schääner Feschtzuuch des Johr«, meinte die eine Mutter zur anderen. Heiko zog Lisa näher zu sich heran und küsste ihren Nacken. Lisa schloss für einen Moment glücklich die Augen und genoss die liebevolle Geste. Sie war froh, dass sie mit ihm zusammen war. Ein bisschen fürchtete sie sich vor ihrem Geburtstag, wo Heiko ein weiteres Mal auf ihre Mutter treffen würde. Das letzte Mal war sehr anstrengend für alle Beteiligten gewesen – was aber eher an Lisas Mutter als an Heiko gelegen hatte. Jedenfalls war ihre Mutter entsetzt gewesen über den rohen, schwäbischen Barbaren. Lisa hatte es bis heute nicht geschafft, ihr zu vermitteln, dass Hohenloher und Schwaben nicht dasselbe waren. Zuerst hatte sie das ja auch geglaubt. Dachte man an Baden-Württemberg, so dachte man an die Schwaben. An Stuttgart. An Daimler-Benz. An die Kehrwoche und ähnliches Zeug. Aber nicht an die Hohenloher. Dabei waren die Hohenloher durchaus ein eigenständiger Volksstamm. Ehrlich und gerade heraus, aber auch schwer zu gewinnen. Vor allem wenn man wie Lisa ein Fischkopf war – das heißt, von nördlich des Saarlandes stammte – und nahezu Hochdeutsch sprach. Trotzdem hatte sie in ihren Kollegen sehr loyale Freunde und in Heiko einen lieben Partner gefunden. Die Musik schwoll nun an, kam immer näher.
»Sie kommen«, bemerkte Heiko überflüssigerweise. Dann marschierte die erste Gruppe um die Kurve. Ältere Herren in schwarz-grünen Uniformen mit enormen roten Federbüschen auf den Köpfen.
»Die Bürgerwache«, erläuterte Heiko. Lisa betrachtete die Männer eingehend. Stolz marschierten sie zu einer Polka, die der Musikzug hinter ihnen spielte. Es gab ein enormes Glockenspiel, das auf einem Ständer vor den Musikern her getragen wurde und das von einem Mittfünfziger mit großer Hingabe gespielt wurde.
»Und die bewachen die Bürger?«, fragte Lisa. Heiko winkte ab. »Ist ursprünglich was Historisches. Die wurde im 15. Jahrhundert gegründet, um Crailsheim zu verteidigen.«
»Soso«, murmelte Lisa, während sie die Herren mit einer Art wissenschaftlichem Interesse musterte.
»Pass auf, gleich wird’s interessant. Da kommen die Majoretten.«
Nun hatte die Strömung die Leiche weiter mitgenommen, die Haller Straße entlang, aber tief unten, in der Jagst, für die keiner der Crailsheimer um diese Zeit einen Blick übrig hatte. Der Fluss gabelte sich hier und führte seine beiden Arme um eine kleine Insel herum, auf der ein Wirtschaftsgebäude einer Firma stand. Niemand befand sich in dem Gebäude. Und so fiel es auch niemandem auf, dass der Fluss eine Weile zu überlegen schien, auf welchem seiner Arme er Jessica weiterschicken sollte. Schließlich entstand durch das kleine Wehr, das den rechten Arm etwas beschleunigte, ein Sog, der ausreichte, die Leiche von Jessica Waldmüller weiterzutragen. Kurz tauchte der Körper unter, als er das Wehr hinuntergerutscht war, um aber gleich darauf wieder an die Oberfläche zu kommen. Inzwischen hatten sich noch mehr Haarsträhnen gelöst und umgaben das Gesicht der jungen Frau wie ein gnädiger Vorhang, der das Entsetzen in ihrem Blick etwas verschleierte.
Lisa brummte unwillig, als sie die Majoretten in der Ferne herannahen sah. Toll. Eine ganze Horde Frauen in kurzen, gelb-schwarzen Uniformen, die an Heiko vorbeidefilieren würde. Sie sah die Männer auf der anderen Straßenseite sich erwartungsvoll nach vorne beugen. Mehrere rüstige Rentner brachten ihre Digitalkameras in Position.
»Das sind also eure Cheerleader«, stellte Lisa trocken fest.
Heiko grinste. »Sozusagen. So oder so sind die Majoretten ein Aushängeschild und ein wichtiger Bestandteil des Volksfestes.«
»Ich nehme an, vor allem wegen ihrer kurzen Uniformen, oder?«, vermutete Lisa spitz.
»Eifersüchtig?«
Lisa winkte ab. »Bestimmt nicht.«
»Hindert dich ja niemand, selber mal so ein Röckchen anzuziehen. Also ich hätte da nichts dagegen.«
»Also, also, Heiko«, schimpfte Lisa und tat entrüstet.
Zuerst kamen einige Mädchen, die um die sechs Jahre alt waren. Sie schleppten ein Schild mit der Aufschrift »Majoretten Crailsheim«, das so groß war, dass sie es kaum tragen konnten. Die Kinder ernteten anerkennendes Murmeln von den jungen Müttern, und die Alte applaudierte. Bald darauf erschien die erste Reihe. Hübsche, schlanke junge Frauen mit knappen, schwarz-gelben Uniformen. Sie marschierten zur Trommel- und Trompetenmusik, die von dem Block hinter ihnen kam. In ihren Händen hielten sie silberglänzende Stäbe, die sie mit unglaublichem Tempo rhythmisch herum wirbelten. Dazu führten sie entsprechende Bewegungen aus. Lisa musste zugeben, dass das schon toll aussah. Beeindruckend. Mittlerweile war der ganze Zug auf Höhe des Schnelldruckladens. Den zweiten Block bildete der Musikzug der Majoretten. Besonders auffällig war hier eine ziemlich aus der Form geratene, wenig attraktive junge Dame, die eine immense Trommel schlug. Beim vorderen Pulk gab es offenbar eine Art Obermajorette. Diese, eine hübsche junge Frau mit rötlichem Haar, wandte sich jetzt zu ihrer Truppe um, um irgendwelche Befehle zu erteilen. Daraufhin bildeten die Majoretten Formationen und ließen ihre Stäbe noch schneller wirbeln, warfen sie sogar in die Luft, um sie dann wieder geschickt aufzufangen. Und bei all dem flogen die kurzen Röckchen, und die Digitalkameras der Rentner auf der anderen Seite blitzten.
Es folgten mehrere Wagen von Bauern, teils politisch, teils das Landleben mehr oder weniger gekonnt auf die Schippe nehmend. Schließlich kam ein Wagen in Form eines Truthahns, über und über mit gelben und roten Tagetes besetzt. Die Umstehenden murmelten anerkennend »Worttingtoohn«.
Lisa spitzte die Ohren. »Was sagen die da?«
»Ach so, Worttingtoohn – äh – Worthington – ist unsere Partnerstadt. Und der Truthahn ist das Symbol von Worthington. Die andere Partnerstadt ist Paaaahmiirs.«
»Und wo ist Paaaahmiirs?«
»In Frankreich.«
»Dann heißt es aber Pamjeee.«
»Ist doch egal. Sagt kein Mensch.«
Lisa verdrehte die Augen.
»Die Franzosen sagen Kräschlämm.«
»Wie bitte?«
»Kräschlämm. Statt Crailsheim.«
Lisa dachte bei sich, wie unglaublich kompliziert das doch alles sei.
»Und dann gibt es ja noch die Partnerstädte Bilgoohrai und noch irgendwas Spanisches und was Litauisches, glaub’ ich, seit Neuestem. Aber die Klassiker sind halt Worttingtoohn und Paaaahmiirs. Es gibt ja in Crailsheim sogar die Worttingtoohnstrooß und den Paaaahmiirsring.«
Lisa vermutete, dass es sich um Straßennamen handelte und unterdrückte ein Grinsen. Tatsächlich zog in diesem Moment eine litauische Volkstanzgruppe aus – wie ein blumengeschmücktes Schild verriet – Jurbarkas in blau-roten Trachten vorbei, und die Hohenloher spendeten höflich Applaus.
Der Fluss folgte nun dem Steinbruchweg, und hier hätte niemand eine Chance gehabt, die Leiche zufällig zu entdecken, außer, er wäre direkt zum Flussufer gelaufen. Denn hier war der Baumbestand so dicht, dass der Blick auf das Gewässer dem unaufmerksamen Betrachter verwehrt blieb. Inzwischen war Jessica aber nicht mehr allein: Ein Entenpaar hatte sich zu ihr gesellt und paddelte unschlüssig um den treibenden Körper herum. Schließlich, als das seltsame Objekt von den Stromschnellen beim Schlachthof mitgerissen wurde, wendeten die Tiere und schwammen zurück in ruhigere Abschnitte der Jagst. Jessicas Körper passierte inzwischen eine kleine Steininsel und trieb träge weiter.
»Gibt es eigentlich auch eine Hohenloher Tracht?«, fragte Lisa interessiert.
Heiko nickte. »Fränkisch. Da kommt die Fränkische Familie. Das ist ein Verein, der sich um die Pflege der Fränkischen Tracht kümmert.«
»Manche heiraten sogar in Tracht«, mischte sich die junge Frau neben ihnen nun ein. Sie trug einen seit mehreren Minuten beständig greinenden Säugling auf dem Arm.
»Soso«, meinte Lisa und grinste Heiko an. Dieser zündete sich eine Zigarette an. Vom Heiraten wollte er nichts wissen. Heiraten war ungut. Alle, die er kannte, trugen nach ihrer Hochzeit nur noch Jogginganzüge, wurden fett und stritten sich andauernd. Das war nichts für ihn. Für ihn und Lisa. Lisa besah sich inzwischen die Trachten. Die Frauen trugen weiße Blusen, darüber eine Weste und dazu einen langen, schwarzen Rock. Außerdem gehörte ganz offensichtlich ein Hut oder eine Haube dazu. Die Männer hingegen hatten schwarze Hosen und Fräcke an, dazu ein weißes Hemd mit rotem Tuch und auf dem Kopf einen Dreispitz. Schick sah das aus, fand Lisa, durchaus schick.
»Doudi«, rief nun die Alte plötzlich, und auch mehrere Umstehende griffen den Ruf auf. »Doudi.«
»Doudi.«
Lisa fragte sich, was denn jetzt wieder los war, und sah sich um. Es war immer noch die Fränkische Familie da. Die Rufe galten offenbar einer resolut aussehenden älteren Dame mit Brille und grauem Dutt in Tracht, die in einem herrschaftlich aussehenden schwarzen Wagen saß und den Leuten hoheitsvoll zuwinkte.
»Und wer ist das jetzt?«
»Das ist Ulrike Wurmspecht-Deyler. Eine Lokalgröße, die sich um die Bewahrung der Hohenloher Kultur verdient gemacht hat.«
»Des ist halt unser Doudi«, mischte sich die Alte ein.
»Wie bitte?«
»Doudi von Drääschbi«, informierte Heiko.
Lisa guckte immer noch genauso verständnislos.
Heiko blies Rauch aus und grinste. »Die Patentante aus Triensbach.«
Lisa blinzelte. Sie hatte ja schon gelernt, dass sie nicht in Onolzheim wohnte, sondern in Oonza. Aber was die Crailsheimer aus »Triensbach« machten, war ja wohl gänzlich unaussprechlich.
»Und warum … Daudiiiih?«
»Doudi«, verbesserte Heiko. »Ist eine liebevolle Bezeichnung für eine ältere Dame.« In Lisa verfestigte sich allmählich der Eindruck, dass ein Nachschlagewerk für die Hohenloher Eigenheiten gar nicht schlecht wäre. Bei den Wägen der Landjugend wurde reichlich Obstler ausgeschenkt. Dann kam der Wagen des Engel-Bräu. Sechs riesige schwarze Pferde zogen den Wagen, und oben saß ein Mann mit Lederhose, Hemd und gewaltiger Wampe.
»Der Bierkönig«, erklärte Heiko. Schon hatten sich einige Männer hinter dem Wagen versammelt, um Becher mit mikroskopischen Mengen Bier zu ergattern. Lisa schüttelte wieder den Kopf. Komisches Volk, die Hohenloher.
Schließlich war es ruhiger geworden für Jessica Waldmüller. Ihre Uniform war inzwischen ganz mit Jagstwasser vollgesogen. Die Haare der jungen Frau waren nun zu einem Großteil unter der Kappe hervorgeschwemmt worden und umgaben sie wie ein Schleier, bedeckten gnädig ihr Gesicht. Schließlich näherte sich der Körper einer der großen Trauerweiden, die kurz vor der Heldenmühle ihre Zweige in die Jagst streckten. Die dunkelgrünen Blätter der Trauerweiden schienen wie Hände zu sein, die nach Jessica griffen, auch, wenn sie sie nicht mehr retten konnten. Endlich verfing sich eine lange Haarsträhne in den biegsamen Zweigen, und die Trauerweide ließ ihren Fang nicht mehr los.
»Und das ist jetzt der Eilooder bei Tag«, erklärte Heiko. Schon gestern hatte Lisa die bemalte Sperrholzfigur ausgiebig bewundern müssen, die den Crailsheimern offenbar eine Art Volksfestgötze war. Das Symbol des Volksfestes. Die Figur thronte auf riesigen Torbögen, die mit Tannenreisig geschmückt und von Fahnen in den Crailsheimer Stadtfarben flankiert waren. Auch der Eilooder trug fränkische Tracht, aber bunter als die Trachtenträger vom Festzug: Er hatte grüne Pumphosen und einen grünen Frack an, außerdem eine rote Weste zum Hemd. Das braungebrannte, freundliche Gesicht krönte ein Dreispitz. Der Eilooder stand breitbeinig über dem Tor. In der rechten Hand hielt er einen Regenschirm, den er flanierend abstützte. Mit der linken machte er einladende Gesten. Daher hatte er freilich auch seinen Namen. Sie hatten diese Torbögen bereits am Vorabend einmal passiert, doch jetzt am Tag hatte der Platz eine gänzlich andere Atmosphäre. Unter einem strahlend blauen Himmel thronte das Riesenrad an der Stirnseite des Platzes. Die Luft war klar, aber die Kühle des Herbstes war bereits deutlich zu spüren. Links beim Eingang stand immer das »schlimmste« Fahrgeschäft, so hatte Heiko erzählt. Dieses Jahr war es ein Freefall-Tower namens »Superdiver«, vor dem die coolen Jungs mit todernster Miene Schlange standen. Denn konnte man am Dienstag in der Schule nicht erzählen, dass man mit dem wildesten Fahrgeschäft gefahren sei, so wurde man für den Rest des Schuljahres als Memme eingestuft. Sie lenkten ihre Schritte relativ zielstrebig zum Engelzelt, vor dem nun das enorme Pferdegespann vom Festzug stand. »Boah, sind die riesig«, meinte Lisa ehrfürchtig. Der Kutscher, der eine eigentlich bayrische Lederhose trug, trat zu ihnen. »Deffsch ruhich amol noulanga, Maadle«, ermunterte er Lisa. Hilflos sah Lisa zu Heiko, der dem Leitpferd zärtlich über die Nase strich. Der gewaltige Hengst schnaubte anerkennend und sah tatsächlich sehr lieb aus. »Das sind Kaltblüter«, erklärte Heiko. »Ackergäule.«
»Schöne Tiere«, lobte Lisa und erntete ein anerkennendes Lächeln vom Pferdekutscher. »Gehen wir doch zuerst auf die Ausstellung«, schlug Heiko vor, nachdem er Lisa endlich von den Gäulen hatte loseisen können.
»Ausstellung?«, wollte Lisa wissen. »Was für eine Ausstellung?«
Heiko grinste. »Haja, da wird halt … Zeug ausgestellt, so verschiedenes halt.«
»Und was?«
Lisa hoffte auf Bilder und Kunsthandwerk, glaubte aber nicht wirklich daran. Sicherlich gab es auch hier wieder eine Überraschung.
»Superkleber, Bulldogs, Putzmittel, Baustoffe und Hasen.«
»Hasen?«
»Ja, Hasen.«
»So wie bei unserem letzten Mordfall?«
»Ja, und ein Flugzeug ist auch immer dabei.«
Er führte seine Freundin über den Volksfestplatz. Es roch nach gebrannten Mandeln und Magenbrot. Lisa entdeckte Lebkuchenherzen in allen Varianten. Von überall her dröhnten die Stimmen der Anpreiser. »Jedes Los ein Gewinn, meine Damen und Herrn, bei uns gibt es keine Nieten. Holen Sie sich einen Sponge Bob, einen Manfred oder eine Schlange. Jedes Los gewinnt.« Bei der »Petersburger Schlittenfahrt« spielten sie »Country Roads«. Die Kommissare bogen vor dem Riesenrad links ab und betraten damit das Areal der Ausstellung. Heiko hatte nicht übertrieben, wie Lisa nun feststellte. Hier gab es tatsächlich alles. Sie passierten einen Stand mit Neuwagen, ließen die Traktoren und Häcksler links liegen, registrierten kurz die beiden Hallen im Hintergrund mit den Ausstellungen des Sportfliegervereins und des Kleintierzuchtvereins und steuerten dann auf einen riesigen Horaff aus Stein zu, an dem ein junger Mann mit einem großen Schlägel und einem filigran aussehenden Meißel eifrig herumklopfte. Lisa mochte Horaffen, seit sie während einer ihrer Debattierpausen im Kaffee Kett entdeckt hatte, dass diese ganz außerordentlich schmackhaft waren. Horaffen waren das Crailsheimer Nationalgebäck und dem Hinterteil der korpulenten Bürgermeisterin nachempfunden, die vor rund 650 Jahren mit ihrer Leibesfülle die Belagerer der Stadt von der Aussichtslosigkeit ihres Vorhabens überzeugt und Crailsheim damit gerettet hatte.
Nachdem sie das Kunstwerk ausgiebig bewundert hatten, beschloss Heiko: »Jetzt gehen wir erst mal zu den Kleintierzüchtern. Kaffee trinken«. Lisa nickte. Gute Idee. Heiko steuerte auf die rechte der beiden Hallen zu, die eher wie eine riesige Scheune aussah. Ein Plakat mit verschiedenen Kleintieren wies auf die Kleintierausstellung des Kleintierzuchtvereins Crailsheim hin. Heiko und Lisa betraten den Raum und sahen zuerst ein riesiges Glücksrad. »Wenn man gewinnt, kriegt man entweder einen Regenschirm, eine Taschenlampe, einen Hasen oder ein Meerschweinchen«, erläuterte Heiko. Tatsächlich hockten an der Wand mehrere Tiere in Käfigen und äugten augenscheinlich misstrauisch zum Glücksrad hinüber, ganz so, als wüssten sie, was Sache war. Vor dem Glücksrad stand Silke Weidner, die Tochter des letzten Crailsheimer Mordopfers. »Oh, die Kommissare«, sagte sie und grinste. »Na, wollt ihr mal drehen?«
»Danke, mir hen scho an Hoos«, meinte Heiko und winkte lachend ab. Von Silkes Bruder hatten sie nach erfolgreicher Aufklärung des Mordes aus lauter Dankbarkeit den Abkömmling des Preisrammlers Alfred geschenkt bekommen. Der Einfachheit halber hatten sie den Hasen ebenfalls Alfred getauft. Inzwischen hatten sich Heikos Rauhaardackel Sita und der Deutsche Riesenschecke angefreundet und waren ein unzertrennliches Paar geworden. »Und, wie läuft die Hasenzucht?«, fragte Lisa. Silke nickte. »Alles bestens, die Mutter hat dieses Jahr den Gesamtsieger geholt.«
»Ah, dann schau mer uns die Ausstellung nachher mal an.«
Kurze Zeit danach saßen sie bei Kaffee und Kuchen an den Biertischen des Kleintierzuchtvereins.
Heiko stach ein Stück von seinem Käsekuchen und steckte es in den Mund. Es schmeckte hervorragend. Die Landfrauen beherrschten eben ihr Handwerk.
Lisa aß ein Stück Erdbeerbiskuitrolle und leckte sich genießerisch die schönen Lippen. Heiko küsste sie flüchtig auf den Mund. Bei so leckerem Kuchen brauchte man sich auch nicht groß zu unterhalten.
Eine Viertelstunde später standen die beiden an der Kasse, die auf einem Biertisch errichtet war. Fritz Maler, ebenfalls ein Bekannter aus dem letzten Fall, thronte auf der Bierbank, flankiert von seiner sehr rosigen und sehr blonden Frau Hedwig und seinem Kumpanen Herbert Winterbach. Mit großer Hingabe und wichtiger Miene riss Herbert zwei Eintrittskarten ab, Fritz kassierte die vier Euro und wünschte den Kommissaren viel Spaß. Sie durchwanderten die Reihen mit den Käfigen. Kaninchen in allen Farbschattierungen gab es, enorme Hähne, die andauernd krähten, quiekende Meerschweinchen, und Tauben mit Federn auf den Füßen. »Und hier kann man die Produkte kaufen«, erläuterte Heiko und wies auf die terrassenartig aufgebaute Tribüne, wo tatsächlich mehrere Patchwork-Kissen und Damenjacken aus Hasenfell sowie gehäkelte Klorollenpuppen und Ähnliches dekorativ arrangiert waren. »Also, nein, das ist ja geschmacklos«, fand Lisa und meinte damit die Fellprodukte. »Ach, die sterben bestimmt alle eines natürlichen Todes«, grinste Heiko. Die Kommissarin schüttelte den Kopf, stieß aber kurz darauf einen spitzen Schrei aus, als sie ein, wie sie erklärte, »absolut kultiges« gehäkeltes Schwein im grünen Rüschenkleidchen erblickte. Sie kaufte das hässliche Ding sofort und konnte kaum fassen, dass es nur fünf Euro kostete.
Annette Adler hatte nicht viel für das Volksfest übrig. Und die Hunde mussten sowieso raus. Ihr Liebling war der Sultan, ein schöner, großer Mischling mit goldenen Augen, einer langen Schnauze und Hängeohren. Sie hätte ihn gerne mitgenommen, zu sich nach Hause. Aber sie konnte in der kleinen Wohnung keinen Hund halten. Außerdem war ihr Mann dagegen. Da half sie eben im Tierheim aus, waren sowieso arme Viecher. Es war herzzerreißend, zu sehen, wie sich die Hunde freuten, wenn sie ihre Unterkunft verlassen durften. Und der Sultan war deshalb ihr besonderer Liebling, weil er nicht wie die anderen auffordernd kläffte, sondern sie nur traurig aus seinen goldenen Augen ansah. Wenn sie allerdings die Leine holte, klopfte sein langer, gebogener Schwanz in schneller werdendem Rhythmus auf den Boden und der Hund sprang endlich glücklich winselnd auf. Jetzt durchstreiften sie das Jagstufer, und Sultan schnupperte zufrieden im Blutweiderich, der das Ufer mit purpurfarbenen Tupfen sprenkelte. Das Gras raschelte, wenn die Hundeschnauze es hin und her schob. Schließlich strebte der Hund auf eine große Trauerweide zu, die ihre Äste ins Wasser tauchte. Annette Adler bückte sich und betrat den kathedralenartigen Innenraum, der durch die herabhängenden Zweige entstand. Schlagartig war sie in fahlgrünes Licht getaucht. Sie sah, wie der Hund das graugrüne Wasser der Jagst trank. Dann sah sie ihn innehalten. Seine Nase vibrierte aufgeregt, während er einem Geruch nachspürte.
Kurz darauf klingelte Heikos Handy und beendete den sorglosen Bummel über den Volksfestplatz abrupt. Sie wurden zur Jagst bei der Heldenmühle beordert, wo die Leiche einer jungen Frau gefunden worden war.
Heiko konnte die Feuchte des Flusses durch seine Schuhe spüren. Flüchtig berührte er Lisa an der Schulter und lächelte aufmunternd. Leichen waren etwas Furchtbares. Schlimm, schon. Bisher hatte es im beschaulichen Hohenlohe ja nicht allzu viele Morde gegeben – Gott sei Dank. Aber jeder einzelne war einer zu viel. Uwe Walter, der Crailsheimer Spurensicherer, kam auf die beiden zu. Wie immer am Tatort, steckte er in einem weißen Plastikanzug. »Sie wurde erstochen«, informierte er und wies auf das gelbschwarze Bündel, das sich am Flussufer zwischen den herabhängenden Ästen einer Trauerweide verfangen hatte. Eigentlich eine schöne Gegend, die Jagst an der Heldenmühle. Weit draußen, noch hinter dem Tierheim. Das Ufer von Trauerweiden gesäumt, die ihre Äste tief ins Wasser streckten. Mischwälder im Hintergrund. Die aufragenden Gebäude der Heldenmühle wirkten inmitten dieser Landschaft geradezu poetisch. Und ausgerechnet an diesem romantischen Ort hatte man die Leiche der jungen Frau entdeckt. Noch war sie nicht identifiziert, aber das dürfte nicht schwer werden. Denn immerhin trug sie eine Majorettenuniform.
»Sie muss eine Majorette sein«, stellte Heiko überflüssigerweise fest.
Uwe grinste trotz der Situation. Heiko nahm an, dass das seine Art war, mit solchen Dingen fertig zu werden. »Dein Verstand ist wirklich messerscharf, Herr Wüst.«
Der Spurensicherer strich sich über die rasierte Glatze und winkte die Kollegen heran. Heiko betrachtete das Opfer. Die Frau war völlig durchweicht. Ihre Haut war blass, aufgeschwemmt und bläulich. Der Gesichtsausdruck der Toten war schmerzverzerrt, trotzdem konnte man noch die Überraschung in ihren Zügen und den angstgeweiteten Augen sehen. Zumindest von der Figur her war die Frau durchaus als attraktiv einzustufen. Inwieweit das auch für ihr Gesicht gegolten hatte, war nun nicht mehr auszumachen. Die hohe Mütze war verrutscht, darunter quollen dunkle Haarsträhnen hervor, die sich schlangengleich über die Schultern der jungen Frau ringelten. Ihr Make-up war bis zur Unkenntlichkeit verlaufen. Die knappe gelbe Uniform war hochgerutscht und entblößte wohlgeformte Oberschenkel, die in einer hautfarbenen Strumpfhose steckten. Lisa wandte sich ab, zwang sich aber kurze Zeit später wieder, hinzuschauen. Der Einstich wirkte beinah unauffällig, auf jeden Fall unspektakulär. Und trotzdem war er präzise ausgeführt und äußerst wirkungsvoll gewesen. Eine Ente quakte auf dem Fluss, äugte neugierig herüber.
»Wie furchtbar«, fand Lisa.
»Kein schöner Anblick«, stimmte Uwe zu.
»Kann man schon was sagen?«
Der Spurensicherer seufzte. »Der Einstich ist sehr tief. Und wahrscheinlich war es ein Messer. Alles Weitere muss die Pathologie rausfinden.«
Heiko zog wieder an der Kippe. Der Geruch des Zigarettenqualms überdeckte den leichten Verwesungsgeruch, der bereits von der Leiche aufstieg.
»Sie hatte wohl keine Zeit, sich zu wehren. Das muss unheimlich schnell gegangen sein. Die Chance, da DNA zu finden, ist auch gering«, fuhr Uwe fort.
»Warum?«, wollte Lisa wissen.
»Der Täter musste das Opfer nicht einmal berühren. Der Stich war sozusagen eine saubere Sache. Und dann das Wasser. Vielleicht finden die Ulmer ja trotzdem was, wer weiß. Aber ich denke eher nicht.«
Die für Crailsheim zuständige Pathologie befand sich in Ulm. Heikos Zigarette glühte rot auf. »Und der Todeszeitpunkt?«, fuhr Lisa fort.
Uwe strich sich über die Glatze. »Das ist bei Wasserleichen unglaublich schwer. Wir haben die Temperatur der Jagst gemessen. So um die elf Grad. Da kann man den Todeszeitpunkt aber nur schätzen.«
»Schätz mal?«
»So zwischen zehn und zwölf, würde ich sagen«, mutmaßte der Spurensicherer.
Lisa nickte. »Ist sie hier umgebracht worden?«, fragte sie dann weiter.
Heiko war in solchen Situationen immer merkwürdig still.
Uwe zuckte die Achseln. »Das wissen wir nicht. Es kann überall passiert sein. Fest steht nur, dass sie in die Jagst geschmissen wurde.«
»Eine Tasche oder so was gibt es nicht? Handy?«
Uwe verneinte.
»Sicher ist es nach dem Leuchtstabauftritt passiert«, ließ sich nun doch Heiko vernehmen.
»Leuchtstabauftritt?«, wiederholte Lisa verständnislos.
»Ja, die Majoretten treten immer auf dem Marktplatz auf. Nachts. Mit leuchtenden Stäben und so. Schaut toll aus«, gab Uwe Auskunft.
»Machst du mir ein Foto?«, bat Heiko.
Der Spurensicherer nickte.
»Den Stab habt ihr aber nirgends gefunden?«
»Nein. Der kann überall sein. Ach ja, das ist Frau Adler, die hat die Tote entdeckt«, informierte Uwe weiter.
Er wies auf eine kleine, runde Frau, die etwas verloren abseits stand und eine Hundeleine umklammert hielt, an der ein großer, brauner Hund mit gelben Augen angeleint war. Das Tier hatte sich niedergelassen und hechelte gelangweilt, die Frau selbst jedoch wirkte einigermaßen verstört.
»Sie sind Frau Adler?«
Die Frau lächelte nervös und strich sich eine Strähne ihres aufgelösten Zopfes aus dem Gesicht. »Ja«, sagte sie mit einer sehr hohen Stimme, die aber ganz hervorragend zu ihr passte.
»Und?«, fragte Heiko, wenig einfühlsam.
Lisa warf ihrem Freund einen Blick zu. »Sie haben die Tote gefunden?«, präzisierte sie.
Frau Adler nickte. »Do hanna is se gleecha.«
Lisa lächelte. Sie verstand Hohenlohisch immer noch schlecht. Die Frau bemerkte ihr Unverständnis offenbar und bemühte sich fortan um leidliches Hochdeutsch.
»Ich bin eine Aushilfe vom Tierheim. Wir laufen hier immer mit den Hunden. Ehrenamtlich. Mit dem Volksfest hab ich’s ja eh net so, wissen Sie? Heut Mittag bin ich wie immer mit dem Sultan raus. Ein schöner Hund, gell, könnten Sie keinen gebrauchen?«
Lisa schüttelte den Kopf. Sie hatte eine Katze, Heiko einen Dackel, und seit ihrem letzten Mordfall waren sie zudem noch stolze Besitzer des Preisrammlers Alfred, der einen Platz auf Heikos Balkon gefunden hatte. Den beleidigenden Papagei Hansi waren sie zum Glück wieder los. Auf jeden Fall hatten sie genug Tiere.
»Ein schöner Hund«, bestätigte Lisa. Heiko zündete sich die zweite Zigarette an.
»Der Sultan ist dann gleich zum Ufer gerannt. Ich bin hinterher und dann hab ich sie da liegen gesehen. Da hab ich gleich mit dem Handy die Polizei gerufen. Wissen Sie, meine Tochter hat mir so ein Ding zu Weihnachten geschenkt. Schon praktisch, so ein Handy.«
Die Kommissarin nickte zustimmend und lächelte freundlich.
Es war nicht schwierig, herauszufinden, wo sich die Majoretten um diese Zeit aufhielten. Sie zu befragen, war die einfachste und schnellste Art, die Identität des Opfers herauszufinden. Die Kommissare benutzten Heikos M3.
Lisa war lange sehr schweigsam, dann endlich sagte sie: »Ich hasse Trauerweiden«.
»Wie bitte?«
»Diese Bäume. Der Name ist absolut passend. Die sind für mich der Inbegriff der Depression.«
»Wieso das denn?« »Dieses komische, verblasste Grün. Diese Äste, die schlaff nach unten hängen. Und diese schwere Form … welch passende Szenerie für einen Mord.«
Heiko machte »Hm«.
Lisa wusste, dass »Hm« ein sehr hohenlohisches »Wort« war. Denn »Hm« konnte, je nach Intonation, alles heißen. Alles von »Ich stimme dir voll und ganz zu« bis hin zu »Was redest du denn da für einen Stuss?«
Im Moment tippte Lisa eher auf Letzteres. »Und was hast du gesagt, wo finden wir diese Damen?«
»Im Festzelt«, meinte Heiko
»Ach so. Und? Was denkst du?«
Heiko zuckte die Achseln. »Ich zumindest kenne die Frau nicht. Noch nie gesehen.«
»Und das will was heißen, in eurem kaffigen Crailsheim, meinst du?«
»Beziehungstat vielleicht«, schlug Heiko vor »Oder ein Raubmord. Sie hatte keine Handtasche dabei!«
»Na, welche Wasserleiche klammert sich schon an ihre Handtasche«, gab Lisa zu bedenken.
Heiko brummte. »Auch wieder wahr. Na ja. Wir werden sehen.«
Als sie das Zelt betraten, waberten ihnen sofort Rauchschwaden und Bierdunst entgegen. Zudem noch Bratengerüche und der Duft von Grillhähnchen. Ein seltsamer Gerüchecocktail, und Lisa wusste nicht, ob sie ihn angenehm oder furchtbar finden sollte.
Sie mussten nicht lange suchen. Die Majoretten hatten sich direkt vor der Bühne niedergelassen und waren wegen ihrer Uniformen natürlich weithin sichtbar. »Wird verpennt haben, die bleed Kuah«, sagte die eine gerade zur anderen, als Heiko und Lisa hinter die Gruppe traten. Heiko räusperte sich. Alle Gesichter wandten sich ihm zu.
»Entschuldigt, wer ist denn bei euch … die Anführerin?«
Einige Damen grinsten verhalten. »Tanja, dein Typ wird verlangt«, rief eine, und sofort erhob sich eine etwas dickliche Majorette, der ihr Kostüm definitiv zu eng war. Heiko erkannte in ihr die Trommelspielerin vom Musikzug.
»Ja?«
»Polizei. Kommen Sie bitte mal mit?«, bat Heiko, und die drei setzten sich abseits auf eine Bierbank, die sich in einer der Buchten befand. Das Gesicht der nicht mehr ganz jungen Frau, die wohl Anfang 30 war, war reizlos zu nennen, und Lisa verspürte einen Anflug von Mitleid. Obwohl sie schon weit über die Pubertät hinaus war, plagte sie noch eine Akne, die ihre Wangen verunstaltete. Der rotbraun bemalte und sehr volle Mund war der einzige Hingucker in ihrem Gesicht. Heiko räusperte sich und stellte sich murmelnd vor. Die Frau sagte, sie hieße Tanja Feldmann. Und sie wurde langsam ungeduldig, das konnte Heiko sehen. Aber in sowas war er nicht gut, gar nicht gut. »Erschrecken Sie jetzt, bitte, nicht. Wir werden Ihnen das Bild einer Toten zeigen, die Sie wahrscheinlich kennen.« Die Majorette sog scharf die Luft ein, was ein pfeifendes Geräusch verursachte, nickte dann aber. Heiko zog das Polaroid, das Uwe gemacht hatte, aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Die Frau betrachtete es lange und sinnend, schließlich nahm sie es auf, um es dann wieder auf den Biertisch zu legen. »So, Freunde, und jetzt spielen wir für euch die ›Regenbogen-Polka‹«, brüllte der Dirigent der Musikkapelle ins Mikrofon. Triumphierend setzte gleich darauf die Musik ein.
»Das ist Jessica«, sagte Tanja Feldmann nun, »Jessica Waldmüller. Wir haben uns schon gewundert, warum sie heute nicht gekommen ist. Ich hab auch ein paarmal versucht, sie anzurufen. Sie ist aber nicht drangegangen. Jetzt weiß ich auch, warum.«
»Und wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«, fragte Lisa weiter.
»Gestern, beim Leuchtstabauftritt. Sie ist dann gleich nach Hause, sie wollte schnell ins Bett. Sie war da sehr gewissenhaft. Deshalb habe ich mich auch ziemlich gewundert, als sie heute Morgen nicht aufgetaucht ist, wie gesagt.«
»Ist Ihnen gestern irgendetwas aufgefallen?«, wollte Heiko wissen.
Die Dicke zuckte die Achseln. »Nein, nichts.«
»Hatte sie einen Mann?«
»Sie war liiert. Mit dem Florian. Florian Ehrmann. Die wohnen in Ingersheim.«
»Haben Sie da eine Adresse?«
»Kann ich Ihnen geben.«
»Sie sind so was wie die … Leiterin der Majoretten?«, fuhr Lisa fort.
»Ja, aber ich bin im Musikzug. Ich spiele die Landsknechttrommel.«
»Und gibt es unter Ihren Kameradinnen … nun, Sie wissen schon … Eifersüchteleien, Intrigen oder Ähnliches?«
Die Band spielte ein »Prosit der Gemütlichkeit« und das ganze Zelt sang mit.
»Sie sind doch auch eine Frau, und da wissen Sie ja, wie so was läuft, ich meine, wenn so viele Weiber auf einem Haufen sind. Aber ich denke nicht, dass es eine von uns war.«
Heiko entging nicht, dass unter den Majoretten offenbar ein großer Zusammenhalt herrschte, sonst hätte die Frau sich anders ausgedrückt. Eine von uns. Soso.
»Das war’s fürs Erste, vielen Dank«, meinte er.
»Ach ja, wenn Sie Florian benachrichtigen wollen oder so, der ist auf der Ausstellung, beim Reiss. Er ist Steinmetz von Beruf und ist, glaub ich, für heute eingeteilt.«
Die beiden Kommissare begaben sich zurück zur Ausstellung, die sie vorhin so sorglos schlendernd besucht hatten. Nun war die Stimmung getrübt, denn ihnen stand ein sehr unangenehmer Gang bevor. Nach einigen Minuten standen sie wieder beim steinernen Horaff und fixierten den jungen Mann, der immer noch an dem Stein herumklopfte.
»Florian Ehrmann?«, fragte Heiko.
Der Mann, der schwarzhaarig, sehr blass und untersetzt war, drehte sich statt einer Antwort nach hinten um und rief: »Flori! Do is ebber für dii!«
Sofort trat ein anderer Mann hinter der Hütte, die die Vertretung der Firma Reiss auf dem Volksfest darstellte, hervor.
»Ja?« Florian Ehrmann hatte hellblond, fast weiß gefärbtes Haar, das er mit Gel zu einer Bürstenfrisur hochgestellt hatte. Er war mittelgroß, von schlanker Statur und trug einen Blaumann und darunter ein weißes T-Shirt. Seine Hand umklammerte ein Handy, und er wirkte sehr nervös. »Ja?«, sagte er noch einmal. Heiko räusperte sich wieder. »Können wir uns kurz unterhalten?« Er wies auf die bequem aussehende Sitzgruppe, die für interessierte Kunden aufgestellt worden war. Florian hatte sehr blaue Augen, die die beiden Kommissare nun durchdringend anstarrten. »Sie kennen … ich meine … Ihre Freundin … ist die Jessica Waldmüller?« Man konnte regelrecht sehen, wie der Puls des jungen Mannes emporschnellte. »Ja?«
»Nun, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Frau Waldmüller tot aufgefunden wurde.« Ehrmanns Gesicht schien bei dem Ausdruck, den es gerade hatte, stehen zu bleiben. Schließlich stützte er den Kopf in die Hände. »Sind Sie sicher, dass es Jessica ist?«
»Leider ja.«
»Ich hab es gewusst«, murmelte er.
»Wie bitte?«
»Ich hätte sie gestern abholen sollen, vom Leuchtstabauftritt. Aber ein Kumpel hatte Junggesellenabschied, und da waren wir bis morgens bei ihm. Und ich hab erst gemerkt, dass sie nicht da ist, als ich heute Morgen heim gekommen bin. Seither versuche ich, sie zu erreichen.« Er blickte traurig auf das Handy in seiner Hand, schüttelte den Kopf und legte das Gerät schließlich auf den Tisch. »Und wie … ich meine … was …?«, stammelte er. Heiko senkte den Blick. »Bisher wissen wir nur, dass sie anscheinend erstochen und dann in die Jagst geworfen wurde«, informierte Lisa so sachlich wie möglich. Ehrmann stütze nun verzweifelt den Kopf in die Hände. Von unten herauf fragte er weiter: »Und … wer?«
»Das wollen wir ja herausfinden«, meinte Heiko.
»Wir haben Sie an der – wie heißt das noch? – Heldenmühle – gefunden«, fuhr Lisa fort.