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Onolzheim ist im Hammeltanz-Fieber, und zunächst verläuft alles friedlich und harmonisch. Doch dann brennt ein Umzugswagen, und nach der Hammeltanz-Zeremonie wird der Büttel ermordet aufgefunden. Das hohenlohisch-westfälische Ermittlerduo Lisa Luft und Heiko Wüst merkt schnell, dass das Mordopfer einigen Dreck am Stecken hatte. Die Ermittlungen gestalten sich schwierig, denn am Hammeltanz ist kaum jemand das, was er zu sein vorgibt.
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Seitenzahl: 330
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Wildis Streng
Hammeltanz
KRIMINALROMAN
Der Büttel ist tot! Onolzheim ist im Hammeltanz-Fieber, und zunächst verläuft alles friedlich und harmonisch. Das ganze Dorf bereitet sich auf den anstehenden Umzug mit dem Thema „In der Wildnis“ vor. Doch dann brennt ein Umzugswagen, und jeder beschuldigt jeden. Die Stimmung ist getrübt. Nach der Hammeltanz-Zeremonie, bei der es auch nicht ganz mit rechten Dingen zugeht, wird der Büttel ermordet aufgefunden. Das hohenlohisch-westfälische Ermittlerduo Lisa Luft und Heiko Wüst findet schnell heraus, dass unter der idyllischen Onolzheimer Oberfläche so manche zwischenmenschliche Konflikte brodeln, in die auch das Mordopfer tief verstrickt war. Die Ermittlungen gestalten sich schwierig, denn am Hammeltanz sind die Leute niemals das, was sie zu sein vorgeben.
Wildis Streng ist in Crailsheim geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie in Karlsruhe Germanistik und Malerei. Seit 2006 arbeitet sie als Gymnasiallehrerin. Nach längerem Aufenthalt im Badischen lebt sie heute wieder in ihrer Heimat und unterrichtet in Crailsheim Deutsch und Bildende Kunst. In ihrer Freizeit widmet sich die überzeugte Hohenloherin der Malerei, der Fotografie und dem Schreiben. Aus ihrer Feder stammen bereits zehn Kriminalromane rund um das sympathische hohenlohisch-westfälische Ermittlerduo Lisa Luft und Heiko Wüst. Mehr Informationen zur Autorin unter: www.wildisstreng.de.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Sichelhenket
Bürgerwache
Die letzte Kurve
Hammeltanz
Muswiese
Todesgleis
Dorftheater
Fischerkönig
Trauerweiden
Ohrenzeugen
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © MMchen/photocase.de
ISBN 978-3-8392-5798-2
Für Juliane und Regina
Dass in Hohenlohe im Nordosten Baden-Württembergs seltsame Dinge passieren, ist ja bekannt. Die Menschen hier sind speziell, haben eine ganz besondere Mentalität. Und sie tun seltsame Dinge, manchmal. Und so kam es, dass an diesem Freitagabend im Oktober, als die Luft kalt war und sich der Atem vor den Mündern staute, eine Gestalt mit Uniform auf einem Fahrrad durch das vorabendliche Onolzheim, einem Stadtteil von Crailsheim, fuhr. Der Mann trug die Uniform mit Stolz, sie war schwarz mit roten Biesen und goldenen Knöpfen. Er schnaufte etwas auf dem Fahrrad vor Anstrengung, denn er war nicht einfach so unterwegs, und einen Teil seines Auftrags hatte er schon ausgeführt. Was er tat, war deshalb so anstrengend, weil er laut sein musste, richtig schreien eigentlich. Die Handglocke mit dem hölzernen Stiel, die er dabei schwenkte, tat ihm gute Dienste, sicherte ihm die Aufmerksamkeit derjenigen, für die er das alles hier machte, und es war eine ehrenvolle Aufgabe. Die goldene Pickelhaube auf seinem Kopf war schwer, er musste den Nacken bewusst aufrichten, um sie in einer würdigen Haltung zu tragen. Er war noch nicht sehr geübt darin, erst dieses Jahr hatte er das Amt von seinem Vorgänger übernommen, er war quasi ein Neuling, aber er war gewillt, den Posten gut auszufüllen, nach bestem Wissen und Gewissen, denn er wollte das schon immer machen, schon als Jugendlicher, lang, lang her. Einhändig lenkend wäre er in einer Kurve beinah vom Fahrrad gefallen, es war wohl doch ein Schnaps zu viel gewesen beim Vorglühen, aber der Alkohol hielt ihn gleichzeitig warm. Er bog in die Uhlandstraße ein und schwenkte wieder die Glocke, die ein volltönendes Klingeln von sich gab. »Achtung, Achtung, hiermit sei allen Bürgerinnen und Bürgern kund, dass ab heut die traditionelle Oonzamer Kärwe stattfindet. Unsere Gastronomie wartet mim Beschda von Küche und Keller auf. Am Sunndich und am Määndich jeweils und 13.30 Uhr ziacht dr Feschdzuach unter dem Motto »In der Wildnis« durch die Oonzamer Strooßa. Und am Määndi nach m Umzuach is dr traditionelle Hammeldanz drowwa auf m Feschdplatz. Und die Feschdhalle is an beiden Tagen geöffnet. Ihr seid alle recht herzlich eiglooda.« Dann läutete er wieder die Handglocke, mehrfach, ihr Klang war voll und wohltönend. Die Vorhänge vor den leuchtenden Fenstern schoben sich zur Seite, die Leute sahen heraus, öffneten die Fenster und winkten ihm zu, und er, er winkte zurück, und er wusste, das würde der beste Hammeltanz seines Lebens werden.
An diesem Samstagvormittag geschah ebenfalls Seltsames in Onolzheim, das von den Hohenlohern eigentlich nur »Oonza« genannt wurde. Kein Mensch sagte »Onolzheim«, denn da war ja der Tag rum, und so viel Zeit hatte hier niemand, denn hier hatte man zu tun, hier wurde geschafft. Und was es heute zu tun gab, wunderte wohl vor allem einen der Beteiligten, nämlich den Hammel. Er war von seiner Herde getrennt worden, von der Weide in Westgartshausen auf einen Anhänger verladen und nach Onolzheim gefahren worden. So weit war das ja nicht ungewöhnlich für ein Schafsleben, womöglich lief es genauso ab, wenn die Tiere zum Schlachthof gefahren und zu schmackhaften Koteletts verarbeitet wurden. Was hier in Onolzheim in der Waschküche eines Privathauses aber mit ihm geschah, war wohl sonst auf der ganzen Welt selten einem Schaf passiert. Der Hammel stand nämlich etwas bedröppelt in einer metallenen Zinkwanne, einer von der Art, wie sie zu Anfang des vorletzten Jahrhunderts benutzt worden waren. Um ihn herum hantierten drei Leute, zwei Männer und eine Frau. Und bis zu den Knien stand das Tier im angenehm temperierten Wasser, Seifenblasen stoben umher, wenn es sich bewegte. Einer der Männer hielt den Hammel mit sanftem, aber bestimmtem Griff fest, während der andere mit einer Handbrause nachgerade zärtlich und liebevoll warmes Wasser über den Rücken des Tieres laufen ließ. Die Frau quetschte eine gute Portion Babyshampoo der Marke »Caribbean Sunset« aus einer Plastikflasche auf die Schafwolle und massierte sie zärtlich in das ohnehin schon weiche, beigefarbene Fell ein. Das Schaf blökte leise und verzückt, noch nie in seinem Leben war es ihm so gut ergangen wie in der Onolzheimer Zinkwanne im warmen Wasser. Es genoss die Prozedur sichtlich, ließ sich hingebungsvoll hinter den Ohren kraulen, wölbte den Rücken dem erneuten warmen Wasserstrahl entgegen, ließ sich auch hinterher geduldig das nasse Fell bürsten, mit einer Wildschweinborstenbürste. Und der Hammel glaubte wohl, er sei das glücklichste Schaf auf Erden. Er hatte ja keine Ahnung, was ihm bevorstand.
Allerdings war der Hammel in der Badewanne nicht das einzige Tier in Onolzheim, das sich an diesem Tag über das, was um es herum geschah, sehr, sehr wunderte. Auch die 13 Kälber, in Hohenlohe »Moggele« genannt, die sich auf einem der Aussiedlerhöfe Richtung Jagstheim in einem Außenstall befanden, hatten so etwas wie heute noch nie gesehen. Senkten sich sonst ihre Mäuler stoisch in den Futtertrog, um sich gierig das angebotene Heu oder Silofutter zu schnappen, so war das Fressen heute eher nebensächlich. Direkt vor ihnen, wie auf einer Bühne, wurde soeben der Flamingowagen präpariert. Die Gruppe, die für den Wagen verantwortlich war, war die vom »Räumle«, einem alten Jugendraum auf eben diesem Aussiedlerhof. Die Mitglieder waren zwar dem Jugendalter schon entwachsen – viele hatten bereits eigene Kinder – aber das »Räumle« gab es immer noch. Soeben spritzte Ritchie, ein bulliger Kerl mit Vollbart und Latzhose, den Staub aus dem mit Teichfolie ausgelegten Becken auf dem Wagen. Über dem Becken befand sich eine Felslandschaft aus bemaltem Bauschaum, in der ein Gartenschlauch so installiert war, dass sich anschließend rosafarbenes Wasser über die Schaumfelsen ergießen würde. Aber nicht alle arbeiteten, es gab auch einige, die eben Pause machten, mit einem Bier in der Hand auf den extra aufgestellten Bierbänken vor der Scheune in der Herbstsonne saßen, Männer, Frauen und Kinder. Auch zwei Kinderwägen mit Säuglingen, die ab und zu brüllten, standen herum. Stefan, eines der Gründungsmitglieder der Gruppe, betrachtete sinnend und ähnlich interessiert wie die Kälber das Treiben. »Awwer Ritchie, oons muss mr soocha«, meinte er dann zu dem Mann, der sich gerade um das Flamingobecken kümmerte. Er wurde vom Lärm des herannahenden, pieksauber geputzten Bulldogs unterbrochen. Die 13 Kälber wandten kollektiv und immer noch kauend ihre Köpfe nach rechts und beobachteten, wie der Fahrer des Bulldogs, ihr Bauer nämlich, die enorme Ladeschaufel des Gefährts herabsenkte und letztlich seine Ladung, eine große Menge Schilf, neben dem Wagen abkippte. Stefan nahm einen Schluck Bier, erhob sich endlich und trat wie einige andere zum Wagen, um das Schilf rund um den künstlichen Teich anzubringen. »Awwer Ritchie, was ii soocha welld«, setzte er wieder an. »Unser Woocha wird dess Johr garantiert dr schänschd, doa kenna alli andera eipacka!«
Heiko hustete. Und das ärgerte ihn. Er hasste es, krank zu sein, und zwar unendlich. »Mein armes Bärchen«, gurrte Lisa, seine Freundin und Kollegin, mit der er jetzt seit fast einem Jahr in Tiefenbach in einem schmucken Einfamilienhäuschen zur Miete wohnte. Er sandte ihr einen Blick aus seinen braunen, fast schwarzen Augen und fuhr sich mit seiner großen Hand durch das dunkle Haar, das seit einigen Monaten auch ein paar graue Strähnen durchzogen – immerhin gingen sie beide auf die 40 zu. »Du sollst mich nicht immer so bemuttern«, beschwerte er sich. »Das nervt.« Lisa lächelte und widersprach: »Aber das gefällt dir doch!« Heiko wollte wieder etwas einwenden, wurde aber von einem erneuten Hustenanfall unterbrochen. »Siehst du, das kommt davon«, tadelte Lisa sanft und reichte ihm die Tasse mit dem Fenchel-Anis-Kümmel-Tee, den sie in der Woche zuvor auf der Muswiese, dem ältesten und wichtigsten Jahrmarkt Hohenlohes, erstanden hatte. Heiko nippte nun doch gehorsam an dem widerlichen Kräutergebräu, naja, wenn’s hilft. Der Muswiesenbesuch letzte Woche war wirklich exzessiv gewesen, zumal sie einen Mörder jagen mussten. Heiko hatte es daraufhin voll erwischt – eigentlich nicht ungewöhnlich nach der Muswiese, wo man sich schließlich viel im Freien in der bitteren Hohenloher Herbstkälte und im Matsch aufhielt. Die Erkältung war trotzdem lästig. Garfield, Lisas rot getigerter Kater, witterte offenbar ein Aufmerksamkeitsdefizit, weil sich Lisa um Heiko kümmerte, und sprang mit einem eleganten Satz auf ihren Schoß. Das blöde Vieh. »Ist er nicht niedlich«, machte Lisa entzückt und kraulte das Tier, das Heiko vernichtend und, wie ihm schien, hasserfüllt taxierte, hinter den Ohren. »Hm«, äußerte sich Heiko unbestimmt, Sita war ihm da lieber, sein Rauhaardackel, der aktuell auf dem Sofa neben ihm vor sich hin döste, und auch Alfred, das große Kaninchen, das sie bei ihrem ersten gemeinsamen Fall geschenkt bekommen und das im Wohnzimmer inzwischen ein luxuriöses, selbstgebautes Gehege bezogen hatte. »Am Sonntag ist Hammeltanz«, wechselte Heiko das Thema. »Ach ja, richtig. Da müssen wir unbedingt hin«, beschloss Lisa. Sie hatte immerhin zwei Jahre in Onolzheim gewohnt und Gefallen an dem seltsamen Treiben gefunden. »Den Umzug schauen wir am Sonntag an«, bestimmte Heiko und räusperte sich. Lisa stand auf, holte ein Honigglas und rührte etwas Honig in seinen Tee. »Hier, mein Bärchen, etwas Honig für dich. Das beruhigt die Stimme.« Heiko brummte nun tatsächlich bärenartig. Sein Kosename war schon treffend gewählt. »Wirst du durchhalten?«, zweifelte Lisa. Heiko richtete sich etwas auf und meinte: »Aber natürlich. Feiern können die Hohenloher immer.«
Michel Schmidt stieß mit den anderen vom Stammtisch an. Meistens saßen sie weiter vorne in der »Rose«, um genau zu sein rechts vom Eingang um den Stammtisch herum. Aber heute war einer von zwei Hauptabenden des Hammeltanzes, also war die Onolzheimer Traditionsgaststätte nicht nur um den zu diesem Anlass mit einem Zelt überdachten Balkon erweitert, sondern auch noch um das sonst verschlossene Reiterstüble, in das man nur gelangte, wenn man die Bar umrundete und sich rechterhand durch eine relativ schmale Tür zwängte. Hier hingen allerlei Devotionalien von Reitern an den Wänden, Pferdebilder in Öl, Peitschen, Zaumzeuge. Allerdings war auch eine gewisse Affinität zu den USA und zur Cowboy-Kultur zu erkennen, dies äußerte sich in amerikanischen Autoschildern und entsprechenden gerahmten Fotografien. Der Ofen spendete behagliche Wärme, und auf den Bänken um die Tische, die man in die Stube gestopft hatte, drängten sich die Stammtischler. »Mensch Michel, des kou eichendlich net sei, des is sou schood«, meinte nun einer von ihnen. Michel, der heute das offizielle Hammeltanz-Shirt trug, das jedes Jahr neu designt wurde und das es nur mittels einer internen Liste zu bestellen gab, trank einen Schluck Bier und machte dann: »Hm?« Der andere seufzte, schüttelte dann den Kopf und führte weiter aus: »Du wärsch doch a besserer Büttel gwesa wie der Sichlers Andi. Dir is doch die Rolle quasi uff da Leib gschriewa.« Michel grinste und tätschelte sein Bäuchlein. »Und mit deinem Organ«, schaltete sich ein dritter Stammtischbruder ein. »Du hättesch den Hammeltanz mit einer echten Hingabe ausgschellt.« Michel trank wieder einen Schluck Bier und meinte dann: »Och, der Andi mecht des doch aa reechd.« Nun hob der zweite den Finger und meinte: »Oons sooch ii dr: Der mecht des net lang. Nächschd Johr bisch du dr Büttel.«
Die junge Frau rang mit sich. Es war womöglich nicht recht, was sie vorhatte. Die Regeln besagten, dass sie zuerst versuchen sollte, ihm zu vergeben. Und sie hatte es versucht, wirklich versucht, aber es ging nicht. Er war kein guter Mensch, er hatte Strafe verdient. Sie strich sich eine Strähne ihres roten Haares aus dem Gesicht und klemmte sie hinters Ohr. Sie war sich klar, dass das, was sie jetzt tat, auf sie zurückfallen könnte, aber sie war bereit dafür, bereit, notfalls zu büßen, wenn es denn sein musste, auch dreifach. Ihre Finger umklammerten das Amulett, das sie um den Hals trug, und leise murmelte sie einen Schutzzauber, der hoffentlich ausreichen würde. Sich ein Foto von ihm zu beschaffen, war nicht schwierig gewesen, immerhin prangte er vorne drauf auf allen Hammeltanz-Prospekten; von seinem schmierigen Grinsen wurde ihr übel. Sie schraubte die Kappe von ihrem Füller, den sie mit roter Tinte befüllt hatte, denn rote Tinte hatte Stil, und der Füller sowieso. Sorgfältig schrieb sie seinen Namen auf die Rückseite des Fotos, das sie akkurat aus dem Prospekt ausgeschnitten hatte. Andreas Sichler. Sie hatte sich sorgfältig überlegt, was genau sie erreichen wollte. Mit langsamen Bewegungen steckte sie das Foto in das sauber gespülte Gurkenglas, von dem sie vorher akribisch das Etikett gekratzt hatte. Sie wollte, dass es ihm schlecht erging. Dass er Schaden erlitt. Dafür waren giftige Pflanzen am besten geeignet. Auf einer Wiese hatte sie etwas Schierling gepflückt, mit Handschuhen, darauf bedacht, die Pflanze nicht unnötig zu berühren. Sie konzentrierte sich auf den alten Sichler, auf das, was er getan hatte, darauf, was für ein schlechter Mensch er war. Mit einer Pinzette platzierte sie die Schierlingsdolde auf dem Foto. Die rote Kerze, die sie zuvor schon entzündet und die nun ausreichend flüssiges Wachs produziert hatte, verwendete sie, um das Glas zu versiegeln, nachdem sie den Deckel aufgeschraubt hatte. Dann packte sie das Glas mit beiden Händen, konzentrierte sich wieder auf den Büttel, schüttelte kräftig und sandte dem Sichlers Andi all ihre negative Energie, bevor sie das Fluchglas in der hintersten Ecke ihres Kleiderschranks deponierte.
Ebenerdig vor dem altehrwürdigen Gebäude befand sich das Zelt, in dem die jüngere Generation den Hammeltanz feierte. Die berühmt-berüchtigte »Rose Ranch Party« war in vollem Gange. Wie sich das gehörte, war das Zelt proppenvoll, und Nils Mauser dachte bei sich, dass er als Feuerwehrler das eigentlich nicht gutheißen konnte, dieses Gedränge. Wenn da ein Feuer ausbräche … nicht auszudenken. Andererseits – wo sollte dieses Feuer schon herkommen, zum Rauchen gingen die Leute nach draußen, und die elektrische Anlage der Band war gut geprüft. Also würde auch nichts passieren, nicht am Hammeltanz. Wenn man vorwärtskommen wollte, musste man die Schultern benutzen, um sich einen Weg zu bahnen. Also hatten es die meisten Leute aufgegeben und waren einfach an ihrem Platz in der Menschenmenge stehen geblieben. Sein Platz war an der Bar. Nils nahm einen kräftigen Schluck von seinem Asbach Cola. Die Band ließ die ersten Beats von »We will rock you« erklingen, und das Zelt bebte unter den Bässen. So war ihm das recht, das gefiel ihm besser als dieses Schlagergedöns, das sie droben im Vereinsheim spielten. Und hier war auch sie, in Begleitung ihrer Freundin, und er beobachtete sie schon eine Weile. Sie gefiel ihm, und das wollte etwas heißen. Nicht, dass er sich etwas einbildete, im Gegenteil, er galt gemeinhin als Einzelgänger, als verschlossener Sonderling. Obwohl er nicht eben hässlich war, er hatte einfach auf die meisten Leute keinen Bock. Wieder ein Schluck Asbach Cola, soeben fuhr sie sich mit der Hand durch das dunkelblonde Haar. Sie war nicht klassisch schön, aber er fand sie interessant. Und für ihr Alter war sie ungemein weiblich, sich ihres Frauseins bewusst. Er war sich nicht sicher, ob man das über eine 16-Jährige sagen konnte. Aber doch, irgendwie schon. Sina Sichler war wunderbar. Nur ihr Vater, der ging gar nicht.
Es war tiefste Nacht, und die Scheune des Bauern, die sich etwas außerhalb befand, wurde von einem silbernen Mond beschienen, vor den sich ab und zu nachtblaue Wolken schoben. Kalt ergoss sich sein Licht über die Landschaft in Richtung Jagstheim, in der Nähe des kleinen Wäldchens, in dem es vor wilden Tieren nur so wimmelte. Es war mitten in der Nacht, und ein einzelnes Fahrzeug war die gut versteckte Landstraße zwischen Onolzheim und Jagstheim entlanggekrochen und endlich auf einem kleinen Feldweg zum Stehen gekommen. Die Scheune war nicht weit entfernt. Eine Person entstieg dem Auto, es war schon ein älteres Modell, mit einem Kanister in der Hand. Die Schritte knirschten im reifbedeckten Gras. Und trotzdem hörte das niemand, denn hier draußen war ja sonst kein Mensch. Ein Feldhase huschte vorbei, aufgeschreckt von der ungewohnten Gesellschaft, ein weiterer folgte, gemeinsam verschwanden die Tiere in Richtung des kleinen Wäldchens, in Hohenlohe »Härdtle« genannt. Die Person war nun fast an ihrem Ziel angekommen, atmete tief durch, ging die paar restlichen Schritte, ließ endlich den Kanister vor der Scheune ins Gras fallen, um wieder durchzuatmen. Kurz kamen Zweifel auf, die aber bereits in der nächsten Sekunde verworfen waren, das war schon gut so, es geschah ihnen recht. Sie verdienten es nicht anders. Die Gestalt nahm den Kanister wieder auf, umrundete die Scheune, rief ein paarmal halblaut »Hallo?«, um sich zu vergewissern, dass auch niemand darin war, denn der Teufel war ein Eichhörnchen, und das musste ja nun wirklich nicht sein. Als sie davon überzeugt war, dass sich kein menschliches Wesen in der Scheune aufhielt, lief sie zurück zur dem Dorf abgewandten Seite. Mit einer energischen Bewegung schraubte sie den Deckel vom Kanister ab. Ein beißender Gestank entstieg dem Behältnis. Dann schüttete sie das Benzin über einige Latten, die an der Scheunentür lehnten. Sekunden später klickte ein Feuerzeug, und Flammen leckten an dem Stapel empor, züngelten, als wären sie wildgewordene Schlangen auf der Suche nach Beute. Die Feuerschlangen wuchsen, erfassten schließlich die Rückwand der Scheune und der Brandstifter sah zu, fasziniert, beinah entrückt, triumphierend. Langsam und ohne den Blick von der sich stetig ausbreitenden Feuersbrunst zu wenden, schraubte die Gestalt wieder den Deckel auf den Kanister, sie durfte ihn ja nicht vergessen, und verschwand innerhalb von Minuten auf demselben Weg, den sie gekommen war.
Das kleine, anthrazitfarbene Kästchen auf Tobias Meisters Nachttisch schrillte los. Man konnte beim besten Willen nicht behaupten, es würde »piepen«, obwohl es ja ein Pieper war. Er trug es immer bei sich, und vor dem Zubettgehen legte er es auf den Nachttisch. Neben ihm stöhnte Yvette genervt auf und vergrub ihren Kopf unter der Bettdecke. »Mach das Ding aus, Tobi«, maulte sie, aber da war er schon aus dem Bett.
Minuten später war er unterwegs zum Magazin der Freiwilligen Feuerwehr Onolzheim. Schon von Weitem sah er das geschäftige Treiben, das er so sehr liebte. Hier trafen sich richtige Männer zur Bekämpfung eines mächtigen Feindes, einer Urgewalt, des Feuers. Und er war einer von ihnen, gute Kameraden, echte Kerle. Er betrat das Gebäude, grüßte die anderen ernst und schlüpfte rasch in seine Stiefel, die unter der Hose fertig zum Reinsteigen vor seinem Spind lagen. Sie mussten schnell sein, und das waren sie auch, sie waren gut in dem, was sie taten, ein eingespieltes Team. Keine zwei Minuten später waren sie unterwegs mit dem großen Tankwagen in Richtung Jagstheim, mit Blaulicht und Sirene und einer gewissen Ernsthaftigkeit im Blick. Die brennende Scheune stach wie eine Fackel in den Himmel, das trockene Holz brannte wie Zunder. Sie parkten den Wagen auf der Landstraße, stiegen aus, rissen den Schlauch aus der Halterung, obwohl sie wussten, dass es müßig war, die Scheune war nicht mehr zu retten, aber versuchen musste man es ja wenigstens. Der Tanklastwagen fasste nur 2.000 Liter, nach eineinhalb Minuten Draufhalten würde das Wasser versiegen, aber gleich hinter ihnen fuhr das kleinere Fahrzeug mit dem 9.000-Liter-Tank. Zu viert zerrten sie den Schlauch das Feld entlang, die Uniformen waren schwer, und sie schnauften und schwitzten auch ohne die Hitze des Feuers. Sie alle trugen Helme mit goldenen Visieren, die sie ein bisschen wie Aliens aus einem schlechten Science-Fiction-Film aus den 70ern wirken ließen, von außen betrachtet musste die Szene etwas Surreales haben. Je näher sie dem brennenden Gebäude kamen, desto stärker spürten sie auch die Hitze, den Qualm, rochen den Gestank. Widerlich war der Gestank, der irgendwie chemisch war und definitiv ungesund wirkte. »Was hat der denn da drin aufbewahrt?«, fragte Tobias Marco und meinte damit den Bauern, dem die Scheune gehörte. »Waasch du des net?«, wunderte sich Marco. »Des is dr Woocha von deinera Fraa.« Tobias’ Augen weiteten sich. »Ou, Scheiße«, meinte er. »Doa werra die Weiwwer deiba«, stimmte Marco zu.
Yvette hatte tatsächlich getobt. Getobt, aufgestampft, geheult. Tobias hatte sich ein bisschen an Rumpelstilzchen erinnert gefühlt, ein klein bisschen. Und hatte sich auf die Zunge beißen müssen, um nicht loszuprusten. Andererseits konnte er sie ja schon verstehen. Die »Oonzamer Mädlz« hatten so viel Zeit und Mühe in ihren Festwagen investiert. Tragisch, dass er jetzt abgebrannt war, wirklich ärgerlich. »Ihr habt doch noch eure tollen Kostüme«, versuchte er zu trösten und wies auf ihr Elefantenkostüm, das sorgsam auf einem Bügel drapiert am Kleiderschrank hing. »Die sind schön geworden dieses Jahr«, lobte er. »Der Savannenwagen war sooooo toll, der hat perfekt zum Thema gepasst. Es war der beste von allen«, heulte Yvette. Sie griff nach ihrem Smartphone und rief die Galerie auf, hielt die Bilder von dem nun verbrannten Festwagen ihrem Freund unter die Nase. »Schade«, stimmte der zu. »Aber die Kostüme sind auch toll«, wiederholte er. Yvette schniefte noch einmal und wischte sich mit dem Ärmel ihres Morgenmantels übers Gesicht.
»Sag mal, aber eine Scheuer geht doch nicht einfach so in Flammen auf. Das war doch Brandstiftung«, behauptete sie dann, und ihre Stimme verriet Erregung.
Tobias druckste etwas herum. »Na, ich weiß nicht«, meinte er unbestimmt.
»Verarsch mich nicht«, forderte Yvette und funkelte ihn wütend an. »Du kannst es mir ruhig sagen.«
Der Feuerwehrmann seufzte. »Der Marco meint, ja. Dass das gar nicht anders gewesen sein kann. Weil da ist ja nichts Elektrisches da draußen, also scheidet ein Kurzschluss aus. Aber das muss die Kriminalpolizei herausfinden.«
»Das war die Sichler«, beschloss Yvette, und ihre Stimme klang so hasserfüllt, dass es dem jungen Feuerwehrmann angst und bange wurde. Dann wurden Yvettes grüne Augen zu schmalen Schlitzen, als sie hinzufügte: »Das wird sie mir büßen.« Die letzten Worte hatte sie geflüstert, und deshalb gingen sie beinah unter in den Klängen der Tagwache der Blaskapelle Onolzheim, die an diesem Morgen durch die Straßen des Dorfes zog, um die Bewohner für den Hammeltanz zu wecken.
Während sich Yvette trotzig in ihr graues, samtenes, selbst genähtes Elefantenkostüm mit den Pappmascheestoßzähnen, dem grau bemalten Drainageschlauchrüssel und dem Vorhangkordel-Bommelschwanz zwängte und sich auf den Weg zum Treffpunkt mit ihren Mädels machte, klingelte Heikos Handy. Der Kommissar fluchte, als er die Nummer von Georg »Schorsch« Ullrich, seinem Chef, erkannte. Das bedeutete Arbeit, und nicht etwa einen ruhigen Sonntag mit kurzem Hammeltanz-Intermezzo, wie er es nach dieser Muswiese so dringend nötig gehabt hätte. Er nahm das Gespräch näselnd an – die Erkältung plagte ihn immer noch. »Wüst?«, meldete er sich und hustete gleich darauf verhalten. »Du, Heiko, ihr wolltet doch heut eh zum Hammeltanz, stimmt’s?« »Hmmmh«, meinte Heiko unbestimmt und schob dann hinterher: »Wieso?«
»Da ist zwischen Oonza und Joogsa eine Scheuer abgebrannt. Die Feuerwehr meint, es sei Brandstiftung gewesen. Könnt ihr da mal kurz hinschauen?«
Heiko atmete auf, es hätte schlimmer kommen können, er hatte schon eine Leiche befürchtet. »Klar, kömmer machen«, beschloss er also, und Lisa trank ihre Kaffeetasse in einem Zug leer.
Während der BMW M3, den die beiden Kommissare allen Bedenken von Schorsch zum Trotz als Dienstwagen nutzten, sich von Jagstheim her, in Hohenlohe »Joogsa« genannt, Richtung Onolzheim schlängelte, formierte sich bereits der Festzug in der Weinbergstraße bis zur Mörikestraße. Der nunmehr pieksaubere, wohlriechende und geschmückte Hammel hatte bereits sein blutrotes Samtmäntelchen umgelegt bekommen, auf dem mit gelber Wolle »Hammeltanz 2018« gestickt stand und wartete etwas konsterniert blökend in seinem mit Buchsbaumgirlanden geschmückten Leiterwagen auf den Festzug. Dessen Teilnehmer, die sich nach und nach hinter dem Hauptdarsteller formierten, waren aufgeregt, voller Vorfreude, tuschelnd wurde aber auch festgestellt, dass der Savannenwagen der »Oonzamer Mädlz« fehlte, dass der gestern Nacht abgebrannt sei, womöglich von irgendwem angezündet. Es herrschte reges Treiben, alle anderen Wägen wurden nach und nach herangefahren, jeder hatte zu tun, und so fiel es auch gar nicht weiter auf, dass eine dunkel gekleidete Person sich wegduckte, unter einen der Wagen kroch, blitzschnell eine Zange aus der Hosentasche zog und die Bremsleitungen an dem Gefährt durchzwickte, bevor sie genauso schnell, wie sie gekommen war, wieder in einer Seitenstraße verschwand.
Der Feuerwehrhauptmann erwartete die beiden Kommissare vor der Scheune, die kaum mehr als solche zu erkennen war. Vollkommen pechschwarz verkohlt standen die letzten rauchenden Balken mitten auf dem Feld, dazwischen Aschehaufen, verbranntes Gras ringsum, das trotz der herbstlichen Feuchte im Umkreis von drei, vier Metern abgesengt war. Die Feuerwehr hatte ihr Bestes gegeben, war aber reichlich spät alarmiert worden, da das Feuer in dem abgelegenen Gebäude nur durch Zufall entdeckt worden war, von einem Discoheimkehrer, der auf der wenig frequentierten Landstraße nach Hause gefahren war. Es roch verbrannt und chemisch, und am auffälligsten war das nackte Metallgestell des ehemaligen Anhängers, des Festzugwagens, das aber von einem unförmig zusammengeschmolzenen, klebrigen und ungesund riechenden Kunststoffklumpen bedeckt war, wohl ehemals Styropor.
»Das war der Savannenwagen der ›Oonzamer Mädlz‹«, erklärte der Feuerwehrhauptmann, ein Willi Ulmer, der die Kommissare herumführte.
»Und die ›Oonzamer Mädlz‹ sind …?«, erkundigte sich Lisa.
»Na, ein paar Damen so in Ihrem Alter ungefähr. Die haben den Savannenwagen gemacht, dieses Jahr. Hat echt toll ausgesehen, das Ding, mit ganz viel bemaltem Styropor – das ist das, was dann so stinkt.«
»Savannenwagen?«, wunderte sich Heiko.
»Das Thema ist ›In der Wildnis‹«, erklärte Ulmer.
»Ah ja«, machte Lisa und erinnerte sich, dass jeder Hammeltanzumzug ja ein Thema hatte, zu dem sich die Teilnehmer dann fantasievolle Kostüme schneiderten und Wägen gestalteten.
»Und Sie meinen also, das sei Brandstiftung gewesen«, erkundigte sich der Kommissar.
Ulmer streckte den Finger aus und deutete auf einen Haufen verkohlter Brocken. »Hier standen ein paar alte Latten. Die Art und Weise, wie sie angekokelt sind, weist auf einen Brandbeschleuniger hin.«
»Benzin?«, riet Heiko.
»Möglich. Blitzschlag kann ich jedenfalls ausschließen, gestern Nacht war es sternenklar, und elektrisch ist hier draußen ja auch nichts.«
»Hm«, machte Heiko, es war seine Universaläußerung, mit der er je nach Intonation einfach alles ausdrücken konnte.
»Und der Wagen war also von den ›Ohntsahmer Mädlz‹«, erinnerte sich Lisa und war einigermaßen stolz darauf, wie authentisch sie ihrer Meinung nach schon »Oonza« aussprechen konnte, auch wenn Heiko immer behauptete, es würde sich eher wie »Ohntsah« anhören. »Wer gehört denn da alles dazu?«
Der Feuerwehrchef fuhr sich durch das spärliche Haupthaar. »Puh, ihr fragt Sach, also auf jeden Fall die Yvette, das ist die Freundin vom Tobi, einem von unseren Kameraden. Aber die sind leicht zu erkennen. Die sind alle als Elefanten verkleidet. Passend zum Savannenwagen. Also haltet ihr euch am besten an die Elefanten.«
»Sie haben keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«, forschte Heiko weiter. »Gibt es da Eifersüchteleien? Rivalitäten, sagen wir, um den schönsten Wagen?«
Nun lachte der Mann. »Aber natürlich. Es geht immer darum, wer den schönsten Wagen und die tollsten Kostüme hat. Und gewonnen hat der, der am nächsten Morgen im Hohenloher Tagblatt das Titelbild kriegt. Nur, dass das bisher immer ohne Brandstiftung abgegangen ist. Vielleicht waren es ja auch nur zündelnde Jugendliche, die sich nichts groß dabei gedacht haben?«
Sie beschlossen, gar nicht erst den Versuch zu unternehmen, den Wagen im Ort zu parken – das war am Hammeltanzsonntag ein absolut aussichtsloses Unterfangen. Also fuhren die beiden Ermittler so weit es ging an Onolzheim heran und stellten den BMW schließlich direkt an die Absperrung. Heiko legte seinen Polizei-Parkausweis hinter die Scheibe seines M3, der über stolze 321 PS verfügte. Die Kommissare entstiegen dem Wagen und waren sofort von einigem Trubel umgeben. Verkleidete waren allerdings nirgends zu sehen, sicherlich hatten die sich alle schon für den Festzug formiert. Dafür hörte man Partymusik, die aus Richtung der Siedlung herüberdrang. Lisa zog ihr gefüttertes Jeansjäckchen enger um sich. Der Himmel war bedeckt, es war recht kühl, aber immerhin hell, ein Regenschauer war wohl nicht zu befürchten, und insgesamt war es heute vergleichsweise warm. »Bin ja gespannt, was sie sich diesmal so alles ausgedacht haben«, meinte Lisa. Sie folgten der Aalener Straße und passierten die evangelische Kirche, die ehemalige Volksbank und den alten Dorfladen, »Rita’s Lädle«, der bis vor wenigen Jahren noch geöffnet gewesen war und die Bewohner von Onolzheim mit dem Nötigsten versorgt hatte. Schade eigentlich, dass diese Läden nach und nach ausstarben. »Da hinten können wir uns hinstellen«, schlug Heiko vor und deutete auf eine Lücke in der Nähe des »Country Corner«, einer Western-Kneipe, die die Kommissare bisher ausschließlich am Hammeltanz besucht hatten, die bei den Onolzheimern selbst aber ausnehmend beliebt war. Überhaupt war die Gasthaus-Szene in dem 2.000-Seelen-Dorf recht groß, es gab neben dem »Country Corner« das »Fränkische Rigi«, die »Bierkutsche« sowie die »Rose«, ein jahrhundertealtes Traditionsrestaurant, das jetzt dem Onolzheimer Unternehmer und Pferdewirt Jürgen Rindle gehörte und von einem stolzen Italiener namens Raffaele bekocht wurde. Heiko sah auf die Uhr – es war fast eins, also Zeit, sich zu positionieren. Sie stellten sich in die zweite Reihe – denn einen Platz weiter vorne zu ergattern, war schlichtweg unmöglich. Schon jetzt bekamen sie von zwei älteren Damen vor sich bissige Blicke zugeworfen, damit sie nur ja nicht auf die Idee kämen, ihnen die Plätze streitig machen zu wollen. Heiko verschränkte die Arme und schaute solange zurück, bis die Frauen sich wieder umdrehten und ihre Aufmerksamkeit dem nun herannahenden Festzug zuwandten. »In der Wildnis«, sinnierte Lisa. »Da bin ich ja mal gespannt, was sie sich ausgedacht haben.«
»Mei Dochder is beim Wilda-Woocha dabei«, erklärte nun die rundliche, untersetzte Dame mit der blond gefärbten Kurzhaarfrisur, die vor ihnen stand und bis eben noch so bissig geschaut hatte, nun deutlich freundlicher. »Schää hewwa se’s gmacht«, lobte sie. »Ii zeich’s Ihna noa.«
Lisa lächelte und nickte dankbar.
»Awwer denn oona Woocha hewwas scheint’s ouzindt«, erklärte nun die andere, eine hagere, große Frau, deren dünnes Haar in grauen Wellen um den Kopf drapiert war. Ihre Nase erinnerte an einen Schnabel, so spitz war sie. Lisa warf Heiko einen Blick zu, und die beiden wunderten sich nicht im Geringsten, dass alle schon Bescheid wussten. Allerdings wäre es wohl clever, sich dumm zu stellen, um eventuell Informationen abzugreifen.
»Wirklich!«, machte Lisa also und sog theatralisch die Luft ein.
Die Hagere drehte sich zu ihr um, allerdings nur mit dem Kopf, was einen arg grotesken Anblick abgab und ein klein bisschen an den Film »Der Exorzist« erinnerte. »Mei Neffe is bei dr Feierwehr, und der hat gsocht, doa sei bloß noch a zsammgschnorzelder Bolla iwwerich.«
Zur Unkenntlichkeit verbrannt also.
»Sou schood, weil sich die Maadla solchi Miah geewa hewwa«, fuhr die Hagere fort, mit der Zunge schnalzend.
»Welche Mädchen?«, stellte sich Lisa weiter dumm.
»Die ›Oonzamer Mädlz‹, des sooch ii eich, die bringa was zsamm. Und denna ihr Woocha is meischdens aa dr schänschde.«
»Des findsch halt du«, hielt die Blonde dagegen.
»Ha, die näha aa immer ihr Koschdüme selwer, manchi bschellas ja aa im Internet, des gilt ja net«, bekräftigte die Spitznasige.
»Also der Woocha von meinera Dochder is des Johr gwiiß dr schänschd, die hewwa sogoor an Marterpfahl.«
»Sou«, machte die Hagere, was, genau wie »Hm«, eigentlich alles bedeuten konnte.
Der Versuch, das Gespräch weiterzuführen, wurde jäh unterbunden, weil sich die Aufmerksamkeit aller nun dem deutlich näher gekommenen Festzug zuwandte. Vorneweg marschierte, hinter einigen kleinen Mädchen, die das blumengeschmückte Hammeltanz-Schild trugen, die Blaskapelle Onolzheim, die einen machtvollen Marsch anstimmte. Danach kam die Hauptperson, oder eigentlich musste man sagen das Haupttier, vielmehr der Hauptdarsteller des Hammeltanzes – der Hammel. Das Tier stand etwas schockiert dreinblickend und verhalten blökend in einem mit Buchsbaum geschmückten Leiterwagen, der von Mitgliedern der Trachtengruppe gezogen wurde. »Der Arme!«, machte Lisa sofort, und »Der ist ja sooooo süß.« Heiko erkannte da bloß einen Hammel, und der war ja schließlich zum Essen da, das war seine Bestimmung, verkniff sich aber eine Bemerkung, nicht, dass Lisa noch zur Vegetarierin mutierte. »Wie er schön geschmückt ist und stolz schaut«, bedauerte Lisa und wies Heiko auf das seidig-weiche wollige Fell, das hübsche, blutrote Samtdeckchen auf dem Hammelrücken mit dem in Gelb gestickten Schriftzug »Onolzheimer Hammeltanz« und die niedlichen Schafsäugelchen hin. Ja, Schaf halt, dachte sich Heiko. Schmeckt gut. Hinter dem Hammel schritt der Büttel, aber es war nicht der würdige, ältere Herr mit Schnauzbart, den Lisa und Heiko von den früheren Veranstaltungen kannten, sondern vielmehr ein deutlich jüngerer, blonder Mann etwa Mitte 40. »Haben die einen neuen Büttel?«, erkundigte sich Heiko also bei den beiden gut informierten Damen. »Seit demm Johr«, erklärte die Spitznasige. »Ii waaß awwer aa net, warum des der alte nimmi hat macha wella.« Lisa betrachtete den blonden, mittelgroßen und stämmigen Mann, der seine dunkle Uniform mit roten und goldenen Paspelierungen und den goldenen Knöpfen sowie die Pickelhaube mit großem Stolz trug. In seiner Hand hielt er die Verkündigungsglocke, mit der er freitags immer den Hammeltanz ausrief, woraufhin die Oonzamer in die Kneipen strömten und den ersten Hammeltanzabend feierten. Hinter dem Büttel liefen die Hammeltänzer, es handelte sich dieses Jahr um 13 Paare, die Herren in Anzügen und die Damen in Kleidern. Die meisten davon waren jung, allerdings fiel Lisa ein älterer Mann auf, der sehr stolz die Hand einer eher jungen Dame hielt.
»Die Männer müssen unverheiratet und aus Onolzheim sein, nicht wahr? Und wo die Frauen her sind, ist egal«, erinnerte sich Lisa.
Heiko stimmte zu. »So ist das, ja. Frisches Blut fürs Dorf.«
»Dann durftest du ja nie beim Hammeltanz mitmachen, mein Bärchen«, bedauerte Lisa ihren Freund.
Heiko grinste. »Oh, ja, das hat mich immer sehr belastet.« Er hasste tanzen jeder Art, zu Lisas Leidwesen, die gerne einen Tanzkurs nach dem anderen in der hiesigen Tanzschule Hiller mit ihm absolviert hätte. Zu einem Salsakurs hatte sie ihn mal einfach angemeldet, und als bestes Paar hatten sie dann auch noch den Aufbaukurs geschenkt bekommen. Danach hatte Heiko allerdings vollkommen gestreikt.
»Und ein Paar von denen gewinnt den Hammeltanz«, sinnierte Lisa. »Also mir hätte das gefallen.«
»Doa kenna Sie ja aa miidmacha. Sie braucha bloß an Kerl von Oonza, der noch nouni verheiert is«, mischte sich die untersetzte Blonde wieder ein.
Lisa zwinkerte Heiko zu und meinte: »Na dann, vielleicht mach ich das ja mal.«
Heiko zuckte die Achseln. »Mach doch.«
War ja eh bloß Spaß. Lisa würde doch nicht ohne ihn bei sowas mitmachen.
»Schau, da kommt die Barbara von Zipplingen«, stellte die Kommissarin fest – weil sie früher in Onolzheim gewohnt hatte, identifizierte sie die ersten Festzugsteilnehmer mühelos.
Heiko grinste und zupfte seine Freundin und Partnerin am blonden Pferdeschwanz. »Was du alles weißt«, frotzelte er.
»Ich bin ja auch schon lange hier«, gab Lisa zu bedenken.
Die Gräfin Barbara ritt in einem samtenen, bordeauxfarbenen Kostüm im Damensitz auf einem schönen braunen Pferd vorüber und winkte den Leuten huldvoll zu.
»Die hat des Feschd gschdifdet«, erklärte die Hagere, sich wieder umdrehend.
Dann begann die lange Prozession der Themenwägen.
Während der vordere Teil des Festzugs bereits losgezogen war, standen die hinteren Wägen noch und warteten zusammen mit den aufgeregten Festzugsteilnehmern auf ihren Einsatz. Friedhelm Pfann vom Crailsheimer TÜV hatte heute Dienst und schaute routinemäßig unter die Wägen, kontrollierte kurz vor dem Festzug noch einmal, ob alles in Ordnung war. Und in all den Jahren, in denen er dieser Arbeit nun nachging, war immer alles in Ordnung gewesen. Aber das war es ja gerade, Ordnung war wichtig, musste schon sein, hielt den Laden am Laufen, und deshalb ging er seiner Arbeit stets gewissenhaft nach. Soeben kletterte er vom Wilden-Wagen herunter, auf dem ein kunstvoll aus Pappmaschee gepappter Marterpfahl stand, winkte ihn durch und erklomm den Stachelschweinwagen der Turner-Damengruppe »No Limits«. Er winkte dem Fahrer zu, der bereitwillig seinen Platz räumte, er kannte die Prozedur ja schon. Ein riesiges Stachelschwein hatte es sich auf dem Anhänger bequem gemacht, wohl ebenfalls aus Pappmaschee. Allerdings schenkte Friedhelm dem Tier kaum Beachtung, sondern bewegte routinemäßig die Hebel für Blinker und Licht. Alles okay. Dann drückte er den Bremshebel und stutzte. Er drückte noch einmal, merkte, dass es überhaupt keinen Widerstand gab, so gar keinen, der Hebel ließ sich so leicht drücken wie eine ausgeleierte Kinderschere. Er warf dem Fahrer einen Blick zu, runzelte die Stirn und hob die Hand. Der Wagenlenker blickte irritiert drein – damit hatte er nun nicht gerechnet. Endlich bemerkten auch die als Stachelschweine verkleideten Damen hinter dem Wagen, dass etwas nicht stimmte. Zwei Stachelschweine lösten sich aus der Gruppe und kamen auf den Prüfer zu, welcher inzwischen vom Bulldog geklettert und unter dem Anhänger verschwunden war. »Ist was, Friedhelm?«, fragte das eine Stachelschwein die Füße des TÜV-Prüfers, denn mehr war von ihm momentan nicht zu sehen. Dann endlich erschien der Kopf des Mannes. »Ja, Regina. Jemand hat euch die Bremsleitungen durchgeschnitten.«
»Und was heißt das jetzt?«, fragte die Angesprochene nach einem kleinen, spitzen Schrei, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Der Mann richtete sich auf und schüttelte dann bedauernd den Kopf. »Also, so kann der Wagen nicht mitfahren.«
»Das war ein Anschlag«, ereiferte sich Regina und spürte, wie die Tränen in ihr hochstiegen. All die Mühe, alles sollte jetzt umsonst gewesen sein? »Das … das kann doch nicht sein.« Manuela, das andere Stachelschwein, legte ihr tröstend eine Pfote auf die stachelige Schulter. Regina wischte sich endlich zornig, aber vorsichtig, die Tränen ab, um ihr dunkles Make-up nicht noch vollständig zu ruinieren. »Ich weiß, wer das war«, grollte sie und stapfte zurück zu den anderen Stachelschweinen.
Lisa und Heiko bewunderten inzwischen den Umzug. Und die Festzugsteilnehmer hatten sich wirklich Mühe gegeben. Die Kommissare sahen die einzelnen Gruppen, die immer wieder von Musikgruppen wie den Guggamusikern aus Schopfloch und Neuler und der Blaskapelle aus Kirchberg unterbrochen wurden, defilieren. Die Kindergartenkinder waren als Tiger verkleidet und geschminkt, die Maibaumfreunde waren Kamele, die Feierfreunde Mistkäfer, dann kamen die Ochsenfrösche, welche von den Ballmädchen dargestellt wurden. »Was sind das denn für welche?«, wunderte sich Lisa und wies auf zwei Personen, die zwar als Mann und Frau einigermaßen historisch gekleidet waren, allerdings irgendwie verstörend wirkten, da sie schwarze Masken aus Feinstrumpfhosen trugen und somit kein erkennbares Gesicht hatten. Ferner schwenkten sie Schweinsblasen an einem Stecken in Richtung des Publikums.
»Des sin die Bajassen«, erklärte die Spitznasige. »Die laufen den ganzen Festzug über hin und her und passen auf, dass niemand unter die Räder gerät.«
»Indem sie den Leuten dieses Ballondings ins Gesicht halten?«, wunderte sich Lisa.
»Das ist schon eine richtige Schweinsblase«, lachte Heiko.
»Was ist das denn?«
»Na, eine Schweinsblase eben. Die Blase vom Schwein.«