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Ein universeller Roman über Genuss, Lebenskunst und die Geschichte einer weiblichen Befreiung.
Rika, eine junge Journalistin in Tokio, recherchiert über die Serienmöderin Manako Kajii, die Männer mit ihren Kochkünsten verführt und anschließend umgebracht haben soll. Manako behauptet, sie verabscheut nichts mehr als „Margarine und Feministinnen“ und hat eine ausgeprägte Leidenschaft für hemmungslosen Genuss und insbesondere Butter. Jetzt, wo sie im Gefängnis sitzt, empfängt sie Rika, unter der Bedingung, nur über ihre Kochkünste zu reden. Für Rika werden die Begegnungen mit Manako zu einer Meisterklasse der Lebenskunst.
Ein Roman, der Genuss, Essen und Trinken feiert, vor allem aber die unmöglichen Erwartungen thematisiert, die an Frauen in patriarchalen Gesellschaften heute gestellt werden.
Für alle LeserInnen von Han Kangs »Vegetarierin«, Sayaka Muratas »Ladenhüterin« und Mieko Kawakamis »Brüste und Eier«.
»Ein Buch, das einen sofort in seinen Bann zieht. Mann kann nicht anders, als es zu verschlingen.« Yomiuri Shinbun.
»Ein sinnlicher Roman über Verlangen, Freundschaft und die Geschichte einer Befreiung.« Booklog Japan.
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Seitenzahl: 599
Rika, eine junge Journalistin in Tokio, recherchiert über die Serienmörderin Manako Kajii, die Männer mit ihren Kochkünsten verführt und anschließend umgebracht haben soll. Manako behauptet, sie verabscheue nichts mehr als »Margarine und Feministinnen« und habe eine ausgeprägte Leidenschaft für hemmungslosen Genuss und insbesondere Butter. Jetzt, wo sie im Gefängnis sitzt, empfängt sie Rika unter der Bedingung, nur über ihre Kochkünste zu reden. Für Rika werden die Begegnungen mit Manako zu einer Meisterklasse der Lebenskunst. Ein Roman, der Genuss, Essen und Trinken feiert, vor allem aber die unmöglichen Erwartungen thematisiert, die an Frauen in patriarchalen Gesellschaften heute gestellt werden.
Asako Yuzuki wurde 1981 in Tokio geboren. Sie wurde für ihr Schreiben vielfach ausgezeichnet. Ihr Roman »Butter« ist in Japan ein Bestseller und erscheint in zehn Sprachen.
Ursula Gräfe arbeitet seit 1989 als Literaturübersetzerin aus dem Japanischen und hat neben zahlreichen Werken Haruki Murakamis auch Sayaka Murata und Yukiko Motoya ins Deutsche übertragen.
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Asako Yuzuki
Butter
Roman
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Cover
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
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Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Impressum
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In scheinbar endlosen Reihen zogen sich die kleinen Fertighäuser den Hang hinauf, alle einheitlich in gebrochenem Weiß. Die gepflegten Straßen wirkten so gleichförmig, dass Rika Machida beinahe den Eindruck hatte, im Kreis zu gehen. Ihre Finger waren eiskalt, und ihre eingerissene Nagelhaut brannte.
Sie war zum ersten Mal an einer Station der Den’entoshi-Linie ausgestiegen. Die Straßen des als ideal für junge Familien mit Kindern geltenden Vororts waren breit und verkehrsfreundlich. Rika war der Karte auf ihrem Telefon folgend um den Bahnhof herumgegangen, wo es von Hausfrauen wimmelte, die fürs Abendessen einkauften. Sie konnte nicht fassen, dass Reiko zu guter Letzt doch ein Haus in einer solchen Gegend gekauft hatte. Es passte einfach nicht zu ihr. Die einzigen Geschäfte waren Supermärkte, Kettenrestaurants und der ein oder andere DVD-Verleih. Es gab keine traditionelle Buchhandlung, keine individuellen Läden, nicht den Anflug einer historisch gewachsenen Atmosphäre.
Bis hinter Futako-Tamagawa schrieb sie sich mit Reiko Textnachrichten. Das Angebot ihrer Freundin, sie vom Bahnhof abzuholen, lehnte Rika ab. Stattdessen fragte sie, ob sie nicht irgendwo in der Nähe etwas zu essen kaufen und mitbringen sollte. Sie war heute früher als sonst von der Arbeit gekommen, hatte sich sofort hingelegt und bis zum Nachmittag geschlafen, geduscht und noch einen Text redigiert. Anschließend war sie mit einem Kolumnisten in Shibuya verabredet gewesen, der regelmäßig für ihr Magazin schrieb. Sie hatte die Zeit vergessen, so dass sie überstürzt aufbrechen und zur Bahn rennen musste. Reiko war Rikas beste Freundin, dennoch fand sie es peinlich, beim ersten Besuch im neuen Haus des jungen Paares mit leeren Händen aufzutauchen. Aber Reiko wischte ihre Bedenken beiseite, indem sie ihr ein Kaninchen-Emoji schickte. Sie hatte vor einem Jahr aufgehört zu arbeiten und war verschmitzt wie immer.
»Ich nehme dich beim Wort«, schrieb sie. »Bring bitte ein Stück Butter mit, wenn du eins findest. In diesem Winter ist kaum welche zu kriegen. Aber nicht extra suchen, wenn es keine gibt, egal. Komm lieber schnell her.«
Die Abteilung für Milchprodukte war von einem milden gelblichen Licht erfüllt, aber die fünf unteren Fächer der Kühlregale waren leer. Ein Schild verkündete das Offensichtliche: »Butter ist derzeit Mangelware, der Einkauf ist daher auf ein Stück pro Person begrenzt«.
In drei Supermärkten das Gleiche. Rika blieb nichts anderes übrig, als mit einer der vielen Margarinesorten, die als butterähnlich und besonders reichhaltig gepriesen wurde, zur Kasse zu eilen.
Reikos neues zweistöckiges Haus lag etwa fünf Minuten zu Fuß vom Bahnhof entfernt am Hang. Das Grundstück hatte etwa hundert Quadratmeter und war von den umliegenden nicht zu unterscheiden. Der Parkplatz schien passgenau für einen Toyota berechnet. Töpfe mit Tausendschön und Stiefmütterchen säumten das kurze Stück vom Gartentor zum Eingang, und ein Kranz aus Stechpalmenzweigen zierte die Haustür. Das sah schon mehr nach Reiko aus. Erleichtert aufatmend drückte Rika die Klingel.
Die Tür ging auf und Reiko – in einer Schürze – fiel ihr um den Hals. »Rika! Komm rein, wie schön, dass du da bist.« Rika erwiderte die Umarmung mit Wärme. Sie war 1,66 Meter groß und hatte lange Arme und Beine, so dass die zierliche Reiko beinahe in ihrer Umarmung verschwand. Ihr Haar verströmte den ihr eigenen feinen Veilchenduft. Auf einmal brannten Tränen in Rikas Augen. Offenbar war sie völlig ausgehungert nach menschlicher Zuneigung.
Die herzliche Begrüßung der beiden jungen Frauen war nicht übertrieben. Während ihres Studiums waren sie jeden Tag zusammen gewesen, und nun hatten sie sich schon ein halbes Jahr lang nicht gesehen. Auch wenn Reiko nicht mehr arbeitete, war Rika so eingespannt, dass es schwierig war, sich zu treffen. Eigentlich hatte sie zwei Tage in der Woche frei, nämlich dienstags und mittwochs, aber der Einzige, der an seinen freien Tagen nicht in die Redaktion kam, war ihr jüngerer Kollege Kitamura. Auch am heutigen Mittwoch hatte sie einen Außentermin und eine Besprechung im Verlag gehabt. Und später würde sie noch einmal dort vorbeischauen, um etwas zu recherchieren.
Im Inneren mischte sich ein würziger Duft nach Brühe und geschmolzenem Käse in den typischen Geruch nach frischem Holz neuer Häuser. Nachdem sie in die warmen Hausschuhe geschlüpft war, die Reiko ihr gegeben hatte, glitt sie über die makellosen Dielen im Flur in ein von orangefarbenem Licht erfülltes Wohnzimmer. Der Raum mit dem offenen Küchen- und Essbereich wirkte nicht besonders originell, aber das Sofa und die Vorhänge mit Liberty-Muster, der antike dunkelbraune Geschirrschrank und die altgedienten Regale sowie die Werke unbekannter Künstler an den Wänden verliehen dem Raum eine gemütliche, dachbodenartige Atmosphäre, die sie an Reikos Single-Apartment in Oyamadai erinnerte. Vielleicht war der Veilchenduft etwas stärker geworden.
Der Raum wirkte familiär, aber es gab keine Fotos von der Hochzeit oder den Flitterwochen. Reiko hatte noch nie viel für Fotografien übrig gehabt. Rika ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen, worauf sie sich mit einem der flauschigen Gästehandtücher abtrocknete, die wie in einem Hotel neben dem Waschbecken lagen. Ein zarter Duft nach Weichspüler stieg auf, und obwohl sie normalerweise nicht auf solche Dinge achtete, war sie nahe daran, Reiko nach der Marke zu fragen.
»Tut mir leid, jetzt komme ich nicht nur zu spät, sondern schleppe auch noch dieses Zeug an. Aber es gab nichts anderes.«
Reiko lachte, als sie die »streichzarte Margarine aus 50 Prozent cremiger Butter« aus der Tüte nahm, bedankte sich und legte sie in den Kühlschrank. Rika konnte den Geschmack von Butter und Margarine praktisch nicht unterscheiden.
»Ich hab ein paar Supermärkte abgeklappert, aber alle hatten nur Margarine.«
»Du Arme, du solltest doch nicht rumrennen. Das erinnert mich an Der kleine schwarze Sambo.« Reiko kicherte und hüpfte ins Wohnzimmer, wo sie ein rotes Bilderbuch aus dem Regal zog und es Rika hinhielt. Diese erinnerte sich dunkel, es aus dem Kindergarten zu kennen, wenn auch weniger an den Inhalt als an die lebhaften Farben und klaren Linien.
»Bevor das Baby kommt, möchte ich noch ein paar Bilderbücher kaufen, die mir als Kind gefallen haben. Aber in letzter Zeit sind fast alle alten vergriffen. Der kleine schwarze Sambo ist kaum noch zu finden, weil es darin um Schwarze geht, aber eigentlich ist die Geschichte nicht mal rassistisch.«
Reiko redete, als könnte ihr Baby jede Minute ins Zimmer gekrabbelt kommen. Trotz aller Bemühungen war sie in ihren ersten beiden Ehejahren nicht schwanger geworden, was ihr Gynäkologe auf ihren anstrengenden Job und den damit verbundenen Stress zurückgeführt hatte. Also hatte Reiko ihre Stelle, die ihr nicht einmal Zeit für Arztbesuche ließ, im vergangenen Sommer gekündigt.
Rika musterte ihre Freundin, die vergnügt in dem Bilderbuch blätterte.
Obwohl sie noch immer nicht schwanger war, hatte Reiko bereits die Aura einer jungen Mutter. Seit sie nicht mehr arbeitete, trug sie kein Make-up, ihre Haut strahlte, ihr Haar glänzte, ihre braunen Augen leuchteten und ihre vollen Lippen waren wie Blütenblätter. Sie strahlte Gelassenheit aus. Sie trug einen feingemusterten Rock, ihre schlanken Beine steckten in dunkelblauen Leggings und wollenen Stulpen. Verglichen mit den makellosen Business-Outfits, die sie als PR-Managerin einer großen Filmfirma getragen hatte, war ihre Aufmachung zwar leger, hatte jedoch geradezu pariserischen Charme. Dazu wirkte sie so mädchenhaft, dass niemand sie auf dreiunddreißig geschätzt hätte. Ihren Entschluss zu kündigen, hatte Rika für reine Verschwendung gehalten. Außerdem hatte sie sich so einsam und gekränkt gefühlt, als hätte ihre Freundin sie allein in der Wüste zurückgelassen. Der Gedanke hatte ihr den Schlaf geraubt, und sie hatte sich sogar mehrmals mit Reiko am Telefon gestritten.
Als sie über Reikos schmale Schulter das Bilderbuch betrachtete, musste sie an ihre Studienzeit denken, als sie sich im Hörsaal gemeinsam über Hefte und Bücher gebeugt hatten. Der kleine schwarze Sambo begegnet im Dschungel vier Tigern, die ihm all seine Habseligkeiten rauben. Darauf geraten die Tiger in Streit, wer der Beste von ihnen ist, und sie jagen, gegenseitig in ihre Schwänze verbissen, so lange um einen Baum, bis sie zu gelber Butter verschmelzen, die Sambos Vater zufällig entdeckt. Er nimmt sie mit nach Hause, wo sie zu Pfannkuchen verarbeitet wird – ein überraschendes, wenn auch etwas grausames Ende.
»Sambos Familie ist nicht gerade zimperlich, oder? Die Tiger tun mir irgendwie leid.«
»Wirklich? Sie sind doch die Bösen. Sie wollten Sambo fressen. Noch dazu ihre Eitelkeit und Angeberei. Findest du nicht, dass sie sich das selbst zuzuschreiben haben?«
Während sie sich unterhielten, wurde die Tür aufgeschlossen.
»Rika, du bist schon da! Lang ist es her.«
Reikos Mann Ryosuke arbeitete in der Vertriebsabteilung eines Süßwarenherstellers und kam für Rikas Gefühl unfassbar früh nach Hause. Als Student war er Quarterback beim American Football gewesen. Er hatte eine imposante Statur, ein unbekümmertes Grinsen, schmale Augen und stets kindlich gerötete Wangen, so dass es auf den ersten Blick nicht viele Gemeinsamkeiten zwischen ihm und Reiko zu geben schien.
Die beiden hatten sich bei einer Filmpremiere kennengelernt. Reikos Firma hatte bei Ryosukes Süßwarenhersteller eine Torte mit dem Bild der Hauptdarstellerin in Auftrag gegeben, die ausschließlich in Kinos verkauft werden sollte, weshalb sie sich immer wieder begegnet waren. Es war Reiko, die den ersten Schritt tat. Er oder keiner, hatte sie sofort gewusst. Ryosuke, zunächst verblüfft, dass eine solche Schönheit sich um ihn bemühte, öffnete ihr sein Herz, als er auch ihre introvertierte und zurückhaltende Seite kennenlernte. Ryosuke, der mit drei Brüdern in Saitama aufgewachsen war und dessen Eltern eine harmonische Ehe führten, hatte Reiko mit seiner Großzügigkeit und Toleranz gewonnen. Rikas anfängliche Vorbehalte waren nach und nach verschwunden, obwohl sie beim Anblick ihrer Freundin im Brautkleid das Gefühl hatte, ihr würde ein wichtiger Teil ihrer selbst geraubt.
Zum Abendessen trug Reiko eine Reihe von Speisen auf verschieden gemustertem Geschirr auf. Es gab Bagna cauda mit einer dunklen Sardellensoße und reichlich gedünstetem Wintergemüse, dünne Scheiben gepökeltes Schweinefleisch, Sojamilchgratin mit grünen Zwiebeln, im Tontopf gekochten Reis mit Austern und Misosuppe. Alle Gerichte hatten den Geschmack saisonaler Zutaten und waren mild gewürzt, so dass ihr natürliches Aroma zur Geltung kam. Rika fiel ein, dass Austern im Ruf standen, Schwangerschaften zu begünstigen. Sie nahm einen Bissen von dem nach Meer und Sojasoße duftenden Reis und blickte zu Reiko hinüber. Sie aß mit außergewöhnlichem Appetit, was vielleicht nicht nur daran lag, dass es gut schmeckte, sondern auch an Ryosukes ansteckender Lust am Essen.
»Kann ich noch von diesem saftigen Schweinefleisch haben? Damit könntest du ein Lokal eröffnen, so zart ist das.« Begeistert streckte Ryosuke ihr seinen leeren Teller hin, und Reiko füllte ihn voller Stolz auf. Einmal mehr verstand Rika, warum ihre Freundin sich für ihn entschieden hatte.
Inzwischen schämte sie sich ein bisschen, der neuen Siedlung so überheblich jede Kultur abgesprochen zu haben. Hier konnte sich das junge Paar gewisse Annehmlichkeiten leisten, die woanders eben nicht drin waren. Reiko hatte kaum Kontakt zu ihren Eltern und ganz bestimmt nicht die Absicht, sich finanziell von ihnen unterstützen zu lassen.
»Es klingt vielleicht blöd, wenn ich das sage, aber so eine Ehefrau hätte ich auch gern«, erklärte Rika. »Ryosuke, du bist ein Glückspilz.«
Das war keine Schmeichelei, Rika beneidete den unbekümmert grinsenden Ryosuke. Er schien vor Gesundheit nur so zu strotzen und sah gut aus, kein Wunder, dass er so strahlte.
Die älteren Männer in der Redaktion, die so viel entspannter und lockerer auftraten als sie, hatten bestimmt eine Ehefrau zu Hause. Bisher hatte sie nie richtig darüber nachgedacht, wie viel Kraft diese Frauen ihren Familien gaben. Tag und Nacht waren sie für ihre Partner da und fingen auf, was immer sich in ihnen angestaut hatte. Einsamkeit war gefährlich. Erst vor einem Monat war einer von Rikas allein lebenden Kollegen ganz plötzlich verstorben. Rika dachte an ihre eigene ungeputzte kalte Wohnung, die sich vermutlich kaum von seiner und der, in der ihr Vater nach der Scheidung von ihrer Mutter gelebt hatte, unterschied.
»Nächstes Mal bringst du aber deinen Freund mit, ja? Wir möchten Makoto unbedingt kennenlernen.«
Stimmt, sie hatte ja einen Freund, fast hätte sie es vergessen. Rika musste beinahe lachen. Makoto Fujimura und sie hatten zusammen im Kulturressort des Magazins angefangen, und ihre Beziehung war eher freundschaftlich als romantisch. An Wochentagen begegneten sie sich kurz im Büro, und ungefähr einmal im Monat übernachteten sie gemeinsam in einer der Wohnungen. Makoto machte ihr das Leben leichter, denn sie konnte ihre Nöte mit ihm teilen, aber sie war auch dankbar für die Distanz.
»Rika, isst du denn auch richtig? Es sieht aus, als hättest du wieder abgenommen. Neulich habe ich gelesen, dass Japanerinnen heute weniger Kalorien zu sich nehmen als unmittelbar nach dem Krieg.«
»Kann schon sein. Ich habe einfach nicht die Muße zu kochen. Ich besitze nicht mal einen Reiskocher, weil ich ihn sowieso nicht benutzen würde. Abends muss ich meist eh mit irgendwelchen Amtsträgern oder Journalisten essen gehen.«
»Aber diese Beamten gehen doch bestimmt in Feinschmeckerlokale und bestellen die teuersten Delikatessen.«
Rika dachte an die Stunden, die sie in Gourmet-Restaurants in Ginza verbracht hatte und wie eine Hostess behandelt worden war. Die meisten Beamten und Politiker saßen einem verbreiteten Missverständnis auf. Sie bildeten sich ein, eine Journalistin träfe sich nicht wegen eines Interviews mit ihnen, sondern weil sie Interesse an ihnen als Mann hatte. Der butterzarte Lauch im Gratin schmeckte auf einmal bitter. Rika wechselte das Thema.
»Ich bin wie ein Kind, mir reicht ein simples Bento aus dem Konbini oder ein Curry vom Imbiss.«
Rika hatte sich noch nie sonderlich viel aus Rezepten, Mode und anderen Dingen gemacht, die als typisch weiblich galten. Allerdings fürchtete sie, wegen ihrer Größe grobschlächtig zu wirken, und achtete darauf, nicht über fünfzig Kilo zu wiegen. Vielleicht hatte ihre Mutter mit ihrem ausgeprägten Sinn für Eleganz sie in dieser Hinsicht beeinflusst.
Sie bemühte sich, abends so wenig wie möglich zu essen, und nahm, selbst wenn sie eingeladen war, nur Suppe und Gemüse. Zweimal am Tag holte sie sich etwas aus dem Convenience Store neben dem Verlag, aber nur Gesundes wie Joghurt, Salat und Glasnudeln. Für sportliche Betätigung fehlte ihr die Zeit, und um dies auszugleichen, ging sie viel zu Fuß. Obwohl sie nach landläufiger Vorstellung nicht schön war, bekam sie häufig Komplimente für ihre schlanke Figur. Sie verstand es, Fast Fashion-Teile zu stilvollen Outfits zu kombinieren, war aber keineswegs übermäßig wählerisch bei dem, was sie trug.
»Mit deinem Geschmackssinn ist alles in Ordnung, Rika. Du beschwerst dich immer, dass Misaki keine Zeit hatte, für dich zu kochen, aber als alleinstehende Frau mit Tochter hat sie wirklich ihr Bestes gegeben. Jedenfalls mehr als meine Mutter, das steht fest.«
Reiko nannte Rikas Mutter beim Vornamen, was einmal mehr belegte, wie nah sie sich standen.
Gleich nachdem Rika auf die Mädchenschule gekommen war, die sie bis zur Oberstufe besuchte, hatten ihre Eltern sich scheiden lassen, und ihre Mutter hatte sich in die Boutique einer Freundin eingekauft. Zwischen Rikas Eltern kam es zu keiner Einigung, weshalb ihr Vater sich weigerte, Unterhalt zu zahlen, und ihre Mutter wie verrückt arbeitete, ohne sich je einen Tag frei zu nehmen. Vor der Trennung von Rikas Vater hatte sie sich noch um einen geregelten Speiseplan für die Familie bemüht, auch wenn Kochen nie ihre Stärke gewesen war, aber als sie nur noch zu zweit waren, musste Rika zurückstecken. »Es tut mir leid, aber du musst mir jetzt helfen«, sagte ihre Mutter. Und Rika war mehr als bereit dazu. Sie wusch Wäsche, brachte Sachen in die Reinigung, kochte Reis und Misosuppe. Ihre Mutter kam meist erst weit nach zwanzig Uhr nach Hause und brachte etwas Fertiges von Seijo Ishii oder Peacock mit. Sie aßen immer sehr spät. Für Rika bedeutete es eine Umstellung, ohne die häusliche Küche ihrer Mutter auszukommen, zugleich war es eine Erlösung, von der Anspannung befreit zu sein, die ihr Vater verbreitet hatte. Häufig traf sie sich abends mit ihrer Mutter in einer Restaurantkette. Sie fühlte sich wie in einem nicht endenden Ferienlager.
Das Geschäft ihrer Mutter florierte, weshalb sie häufig ins Ausland reiste, um einzukaufen, und es gab Monate, in denen Rika mehr Zeit bei ihren Großeltern in Okusawa verbrachte als bei ihrer Mutter, dennoch blieb die Beziehung zwischen Mutter und Tochter gut. Rika rebellierte nie und traf alle wichtigen Entscheidungen hinsichtlich ihrer Ausbildung und ihres Berufs allein. Ihre Mutter war zwar inzwischen über sechzig, eröffnete aber ein weiteres Geschäft in Jiyugaoka. Anscheinend hatte sie auch einen Liebhaber, obwohl sie nie darüber sprach.
Als Rika und ihre Mutter in einem Apartment in Hatanodai lebten, kam Reiko häufig vorbei, brachte Lebensmittel mit und kochte für sie. Mutter und Tochter bewunderten ihre Kochkünste. Sie war sehr erfinderisch und verfeinerte selbst einfache Gerichte wie Ochazuke oder Pasta mit etwas Yuzu-Schale oder eingelegter Zitrone. Als Erbin eines traditionsreichen Hotels in Kanazawa besaß Reiko eigene festgefügte ästhetische Vorstellungen und eine Neigung zum Widerspruch, die ihr mädchenhaftes Äußeres nicht vermuten ließ. Schon als sie noch klein war, hatten ihre Eltern sich emotional voneinander entfernt, obwohl sie weiterhin unter einem Dach lebten, ohne jedoch ihre außerehelichen Affären zu verheimlichen. Ihre Tochter machte nur einen kleinen Teil in ihrem Leben aus. Für Reiko, die mit einer Haushälterin aufwuchs, die sich hervorragender Kochkünste rühmen konnte, war häusliche Küche gleichbedeutend mit einem schön gedeckten Tisch voller Platten und Schälchen mundgerecht zugeschnittener, perfekt aufeinander abgestimmter und auf ihre Kalorienzahl berechneter Gerichte. »Gutes Essen ist wichtig für die Gesundheit. Wenn ich irgendwann eine Tochter oder einen Sohn habe, will ich vor allem selbst für sie kochen. Darauf bereite ich mich vor«, sagte sie.
Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Herkunft war die Mädchenzeit der beiden von familiären Spannungen und Schwierigkeiten geprägt, auch wenn es vielleicht von außen nicht so aussah. Vermutlich hatte Rika sich deshalb bei der Aufnahmefeier der Uni gleich zu Reiko hingezogen gefühlt.
Reiko hob den Blick. In ihren Augen blitzte Neugier.
»Erzähl doch ein bisschen von deiner Arbeit. Was ist eigentlich aus dem Interview mit Manako Kajii geworden, das du führen wolltest?«
Manako Kajii wurde verdächtigt, im Großraum Tokio eine Mordserie verübt zu haben, die in den vergangenen Jahren weltweit für Aufsehen gesorgt hatte. Ihr wurde vorgeworfen, mehrere Männer, die sie auf Partnervermittlungsseiten kennengelernt hatte, um Geld betrogen und drei von ihnen umgebracht zu haben. Der Gourmet-Lifestyle-Blog, den sie bis zu ihrer Verhaftung geschrieben hatte, war zum Gegenstand allgemeinen Interesses geworden. Durch ihn war Manako Kajii ins Visier der Ermittler geraten. Sie liebte es, Restaurants und Takeaways auszuprobieren, war aber auch selbst eine ausgezeichnete Köchin. Die Medien hatten sich wie besessen auf sie gestürzt und nicht mehr von ihr abgelassen, zumal das Internet eine so wichtige Rolle in diesem Fall spielte. Gegenwärtig saß sie im Tokioter Gefängnis in Untersuchungshaft.
Rika hatte sich seit ihrer Verhaftung mit dem Fall beschäftigt. Allerdings war sie zu der Zeit einem anderen Rechercheteam zugeteilt gewesen und hatte nicht direkt daran arbeiten können. Aber die Sache ließ sie nicht los, außerdem war sie im gleichen Alter wie Kajii, als diese verhaftet worden war. Mittlerweile hatte sie etwas mehr Zeit für eigene Recherchen.
»Kajimana weiß, was gute Küche ist.« Ryosuke benutzte den Spitznamen, den die Medien Manako Kajii verpasst hatten. »Sieht man ihr ja auch an. Kaum zu glauben, dass dieser Fettkloß so viele Männer umgarnen konnte. Bestimmt kocht sie richtig gut, oder?«
Frostige Stille trat ein. Reiko runzelte fast unmerklich die Stirn. Sie reagierte empfindlicher auf sexistische Bemerkungen als Rika. Nicht, dass Ryosuke besonders unsensibel gewesen wäre. Vermutlich hätten die meisten japanischen Männer sich so geäußert. Ein Grund für die große Aufmerksamkeit, die der Fall erregte, lag darin, dass Kajii, die alle möglichen Männer um sich geschart und Hof gehalten hatte wie eine Königin, weder jung noch hübsch war. Den Fotos nach musste sie mehr als siebzig Kilo wiegen.
»Mir geht es weniger um Manako Kajiis Taten als um die gesellschaftlichen Hintergründe. Die Frauenfeindlichkeit, die dieser Fall zutage fördert, ist unglaublich. Kajimana, ihre Opfer und die Männer, die mit dem Fall zu tun haben, hassen Frauen. Ich weiß nicht, ob ein auf männliche Leser zugeschnittenes Magazin wie unseres überhaupt imstande wäre, diesen Aspekt ausreichend zu berücksichtigen. Leider hat Kajii bisher auf keinen meiner Briefe geantwortet. Ich bin sogar zweimal an der Pforte vom Gefängnis aufgekreuzt, aber anscheinend hat sie absolut keine Lust, sich mit mir zu treffen.«
Rika war aufgefallen, dass die Äußerungen von Manako Kajiis mutmaßlichen Opfern gegenüber Freunden und Verwandten alle einen ähnlichen Tenor hatten:
–Ich war den größten Teil meines Lebens allein. Und wenn sie die hässlichste Frau der Welt ist, Hauptsache, sie kümmert sich im Alter um mich.
–Ich nehme jede, die ich kriegen kann, solange sie eine gute Hausfrau ist und kochen kann.
–Sie ist zwar dick, aber eine echte Prinzessin. Naiv und weltfremd.
Obwohl diese Männer auf Manako Kajii angewiesen waren und sie finanziell mit großen Summen unterstützten, sprachen sie gegenüber Dritten abfällig von ihr. Die Staatsanwaltschaft schob die Beweise und Alibis der Verteidigung beiseite und warf Kajii immer wieder ihren sogenannten »Mangel an Anstand« vor, wich strittigen Punkten aus und zog die Verhandlung in die Länge. Eine Zeugin, sie war Altenpflegerin, wurde einer aggressiven Befragung unterzogen, die an sexuelle Belästigung grenzte. Die Auseinandersetzung um den Fall hatte etwas von einem Geschlechterkampf, und ein Publizist musste sich öffentlich für seine frauenfeindlichen Äußerungen entschuldigen.
»Habt ihr die Geschichte von ihrem letzten Opfer gehört?«, fragte Reiko. »Er war eine Art Nerd, ziemlich bekannt im Netz. Angeblich hat er, kurz bevor er vom Zug überfahren wurde, noch Manako Kajiis Rinderschmortopf gegessen. Das Rezept dafür hatte sie in dieser französischen Kochschule Salon de Miyuko gelernt.«
Anscheinend verfolgte Reiko begeistert die Berichterstattung in der Klatschpresse und im Internet. Sie hatte schon immer ein Faible für neueste Nachrichten und Trends gehabt, nicht aus Sensationsgier, sondern aus Interesse an aktuellem Geschehen.
Der besagte Salon de Miyuko war eine Kochschule für Damen der besseren Gesellschaft, geleitet von Miyuko Sasazuka, Gattin des Küchenchefs und Inhabers des illustren französischen Restaurants Balzac in Nishi-Azabu. Als Geschäftsführerin des Balzac nutzte Madame Sasazuka ihre freien Tage, um Kochkurse abzuhalten. Ihr Renommee gründete sich auf dem freien Zugang zur Restaurantküche, inklusive der professionellen Herde und Utensilien der Chefköche und den Zutaten allerbester Qualität. Die Schule war nicht billig, ein Kurs kostete 15 000 Yen, so dass die Teilnehmerinnen mit drei Kursen im Monat über 500 000 Yen im Jahr bezahlten. Was nicht bedeutete, dass man ein Zertifikat oder Zeugnis erhielt, das einen zum Profi qualifizierte. Es handelte sich eher um ein extravagantes Hobby, das sich nur gutsituierte Hausfrauen oder Damen mit entsprechend hohem Einkommen leisten konnten. Manako Kajii hatte wohl eines ihrer Opfer dazu gebracht, ihr mehrere Kurse zu finanzieren, die sie bis zwei Monate vor ihrer Verhaftung regelmäßig besuchte. Es war nicht schwer, im Netz ein Gruppenfoto von ihr und den anderen Teilnehmerinnen der Kochschule ausfindig zu machen. Im Kreis der Damen, deren elegante Aufmachung von vornehmem Stilempfinden zeugte, war Manako sofort als Außenseiterin zu erkennen. Sie trug ein hautenges Kleid, das ihre üppige Figur betonte, als hätte sie sich für ein Date zurechtgemacht. Nach ihrer Verhaftung hatten die Medien den Salon de Miyuko geradezu gestürmt, so dass er inzwischen auf unabsehbare Zeit geschlossen war.
»Eins der Opfer hat seiner Mutter vor seinem Tod noch eine Mail geschickt. ›Ihr Rinderschmortopf war köstlich‹, stand angeblich darin. Darauf hat Kajiis Anwalt vor Gericht die Frage gestellt, ob es denn wirklich vorstellbar sei, dass eine Frau, die ihrem Liebhaber ein derart schmackhaftes Gericht kocht, ihn vor einen Zug stoßen würde? Ja genau, ich habe eine Idee! Rika, warum fragst du Kajii nicht nach dem Rezept für diesen Rinderschmortopf, den sie damals gekocht hat? Vielleicht springt sie darauf an?«
Rika blinzelte. Daran hatte sie überhaupt noch nicht gedacht. In ihrer Zeit als PR-Managerin hatte Reiko es mit ihrer humorvollen Art und ihren originellen Geschenken geschafft, noch die verwöhntesten Regisseure, Produzenten und Sponsoren für ihre Projekte zu gewinnen.
»Wenn du Frauen, die gern kochen, nach ihren Rezepten fragst, erzählen sie dir ungefragt alles, was du wissen willst. Das ist ein ehernes Gesetz. Bei mir ist das auch so.«
»Stimmt«, sagte Ryosuke. »Neulich war ein Kollege von mir mit seiner Familie bei uns zu Besuch. Sie waren hingerissen von Reikos gedämpften Maultaschen. Und Reiko konnte nicht genug von ihrem Rezept erzählen, bis hin zu dem Dampfgarer, den sie verwenden sollten.«
Er lachte.
»Hör mal, Ryo, irgendwann möchte ich auch einen Kurs im Salon de Miyuko belegen.«
»Keine Chance bei meinem Gehalt.«
Zum Nachtisch gab es hausgemachte kandierte Maronen, Chiffonkuchen aus süßem Sake und Reismehl, anschließend Ingwer-Chai. Als Rika erstaunt den Kuchen lobte, der nicht einfach nur weich und locker war, sondern über eine besonders schmelzende und geschmeidige Textur verfügte, runzelte Reiko die Stirn.
»Jetzt so kurz vor Weihnachten hätte ich gern eine Bûche de Noël mit ordentlich viel Buttercreme gemacht. Übrigens hatte ich Rika gebeten, Butter mitzubringen, aber anscheinend gibt es noch immer keine. Also kann ich in nächster Zeit keinen Poundcake und keine Génoise backen. Es bleibt bei Chiffon-Kuchen, dafür kann ich Rapsöl nehmen.«
»Macht nichts, der ist doch köstlich«, sagte Ryosuke. »Die Lieferengpässe werden wohl noch eine Weile anhalten. Angeblich haben viele Milchkühe Mastitis bekommen, weil der Sommer so extrem heiß war. Es gab sogar Notimporte. Ich frage mich, was mit der Milchwirtschaft passiert. Anscheinend geht die Zahl der Milchbauern ständig zurück. Eines Tages kommt es noch so weit, dass wir von Milchprodukten aus dem Ausland abhängig sind. Das wäre ein Schlag für kleine Firmen wie uns.«
Während sie Ryosuke zuhörte, erinnerte sich Rika plötzlich an Manako Kajiis Leidenschaft für Butter. Sie selbst hatte kein so großes Interesse an Nahrungsmitteln und Kochen, und Kajimanas Blog immer nur überflogen. Aber die fast manischen Schilderungen des Nährwerts von hochwertiger Butter hatten doch Eindruck auf sie gemacht. Außerdem war vor Gericht herausgekommen, dass sie mit der Kreditkarte eines ihrer Opfer größere Mengen sehr kostspieliger Butter gekauft hatte. Kajii war in Niigata geboren, wo es viele Milchbauern gab, daher vielleicht ihre Leidenschaft für Milchprodukte. Im Internet wurde viel darüber gelästert, dass sie »so fett von der ganzen Butter« sei und »Schweinereien« damit treibe.
Reiko und Ryosuke drängten Rika, über Nacht zu bleiben, aber sie lehnte ab und machte sich mit Onigiri und Chiffonkuchen, die Reiko sorgfältig verpackt hatte, auf den Weg in den Verlag.
Ich pflege nur Umgang mit authentischen Menschen, die wissen, was echt ist. Authentische Menschen sind selten – eine Aussage, die Manako Kajii mit Vorliebe auf ihrem Blog verwendet hatte. Wenn das Wort authentisch auf jemanden zutraf, war es definitiv Reiko.
An der Fahrkartensperre drehte Rika sich noch einmal um und warf einen Blick zurück. Beleuchtet wirkten die Häuserreihen am Hang sehr viel anheimelnder als zuvor. Ihre Monatskarte fühlte sich angenehm glatt und etwas ölig an. Ihre eingerissene Nagelhaut tat nicht mehr weh.
»In dieser ganzen Racheporno-Diskussion verlieren wir das Wesentliche aus den Augen: Diese Frau ist ein Opfer. Ob die Nacktfotos nun mit ihrem Einverständnis gemacht wurden oder nicht. Solange wir ständig das Lied von der Eigenverantwortung singen, wird es immer wieder zu solchen Vorfällen kommen«, erklärte ein Gast der Talkrunde, die langen Unterarme lässig auf den Tisch gestützt. Mit seinem braungebrannten hageren Gesicht, dem graumelierten Haar und den vorstehenden Augen mit den dunklen Ringen war er nicht gerade ein schöner Mann. Dennoch konnte Rika den Blick kaum von ihm abwenden, vor allen wenn seine strengen Züge sich kurz entspannten. In der Talkshow ging es um den jüngsten Mord an einer jungen Firmenangestellten aus Hamamatsucho, deren Exfreund Nacktfotos von ihr ins Internet gestellt und sie später erdrosselt hatte.
»Shinoi ist in letzter Zeit öfter in solchen Sendungen zu sehen, oder?«, bemerkte Kitamura, Rikas vier Jahre jüngerer Kollege. »Er sieht aus wie ein Yakuza, aber das steht ihm. Und obwohl er schon Mitte vierzig ist, weiß er, was Frauen denken. Wahrscheinlich ist er der Liebling aller Hausfrauen. Nicht schlecht für sein Alter.«
»Mag sein«, erwiderte Rika möglichst desinteressiert. Sie griff nach der Fernbedienung, die auf dem abgeschabten Sofa lag. Yoshinori Shinoi, durch seine Medienauftritte neuerdings zunehmend bekannt, war prominenter Vertreter einer großen Nachrichtenagentur, dessen Meinung in Rikas Redaktion sehr geschätzt wurde.
Der Aufenthaltsraum mit den kreisförmig angeordneten Sesseln, dem alten Sofa und dem Fernseher war der ideale Ort für eine kurze Pause. Er eignete sich sogar für ein Nickerchen, wenn man sich nicht daran störte, gesehen zu werden. Rika sah auf die von den Ausdünstungen des angrenzenden Raucherzimmers vergilbte Wand und stellte den Fernseher leiser.
Von allen Abteilungen des Verlags besaß nur die Redaktion des wöchentlich erscheinenden Shumei Magazins ein Raucherzimmer, weshalb sämtliche Raucher dort zusammenkamen und ein reges Kommen und Gehen herrschte. Nur morgens, wenn erst wenige Redakteure da waren, hatte man ein wenig Ruhe. Rika war extra früh gekommen, um zu recherchieren, aber kaum saß sie an ihrem Platz, verließ sie die Energie. Sie holte das Onigiri hervor, das sie sich zum Frühstück im Konbini gekauft hatte, und schälte es aus dem Zellophan. Die Verkäuferin hatte es ihr in der Mikrowelle erhitzt, und es war noch lauwarm. Als sie wie jeden Morgen das Onigiri-Regal durchstöbert hatte, musste sie an Reikos Kochkünste denken, weshalb sie ausnahmsweise ein Onigiri der Sorte »herzhaft mit gemischten Zutaten« genommen hatte.
»Apropos Racheporno in Hamamatsucho … Hattest du nicht rausgefunden, dass der Typ auch zwei von seinen früheren Freundinnen gestalkt hat, aber nie angeklagt wurde?«, fragte Kitamura, der sich ungebeten neben ihr niedergelassen hatte, als redete er mit einer Klassenkameradin. Sein gestreiftes, extrem gestärktes Hemd stand von seinem schlanken Oberkörper ab, an dem kein Gramm Fett zu viel war. Das weiche flachsfarbene Haar betonte seine helle Haut. Eigentlich sah er eher aus wie eine wohlerzogene höhere Tochter als ein junger Mann. Kitamura schlief mehr als alle anderen Kollegen, rauchte nicht, trank nicht und kannte immer als Erster die neuesten Filme und Bücher. Er wirkte so entspannt, dass man ihn kaum für einen Journalisten gehalten hätte. Seine Perspektive war stets objektiv, er schien nie müde oder schlecht gelaunt. Krank war er auch nie. Daher wurde er, ungeachtet seiner mangelnden Begeisterung für seinen Beruf, im Verlag sehr geschätzt.
»Ach, das war nur Glück. Mir graut vor der Redaktionskonferenz heute. Diese Woche habe ich einfach nichts Gutes gefunden. Kaum hat man eine Story entdeckt, ist sie schon überall im Internet.«
»Uns lesen doch sowieso nur noch die Alten. Ein paar Artikel zur Erbschaftssteuer und Krebsvorsorge, und die Auflage ist gesichert. So ist das eben. Vielleicht sollten wir es wieder mal mit so was wie ›Zehn Arten, sich mit Sex umzubringen‹ probieren. Was meinst du?«
Es war Donnerstag, der Tag, an dem Ideen und Recherchen in einer Konferenz präsentiert wurden. Am Freitag gab der Chefredakteur dann die Auswahl für die nächste Ausgabe bekannt, woraufhin alle das Wochenende mit dem Schreiben ihrer Texte für die Deadline am Montag verbrachten. Dieser Spurt fand viermal im Monat statt, also achtundvierzig Mal im Jahr. Nach zehn Jahren im Verlag war dieser Rhythmus Rika in Fleisch und Blut übergegangen. Sie hatte das Gefühl, sich Tag und Nacht in einem Wettlauf gegen die Zeit zu befinden. In ihrem Ressort gab es siebzig Mitarbeiter: zehn Fotografen, acht Büroangestellte und elf Redakteure, alle anderen waren Reporter, von denen Rika die einzige fest angestellte Frau war. Von den vier Reporterinnen, die mit ihr angefangen hatten, hatten zwei sich auf eigenen Wunsch in andere Abteilungen versetzen lassen, und zwei hatten aus gesundheitlichen Gründen gekündigt. Rikas ältere Ausbilderinnen waren, kaum dass sie geheiratet hatten, in den Innendienst gewechselt. Beruf und Kinder unter einen Hut zu bringen, grenzte an Hexerei.
»Noch mehr Knaller wie diesen, und du wirst der erste weibliche Chefredakteur beim Shumei Magazin. Das wäre doch genial!«
Bei Shumei war es ausschließlich Aufgabe der Redakteure, Texte zu redigieren und in satzfertige Artikel umzuarbeiten. Rika sehnte den Tag herbei, an dem ein Artikel erscheinen würde, den sie selbst geschrieben hatte.
»Seit wann interessierst du dich für berufliche Fortschritte, Kitamura? Dir ist so was doch egal.«
Kitamura verhielt sich eklatant gleichgültig gegenüber seiner Arbeit, sein einziges Sinnen und Trachten bestand darin, so früh wie möglich nach Hause zu gehen. Sein fehlendes Engagement war unübersehbar. Nie steuerte er von sich aus ein Thema bei. Doch heute schien er ausnahmsweise etwas zu sagen zu haben.
»Du deckst doch alles von der Unterhaltung bis zum Sport ab, total breit gefächert, ja? Ich will dir nicht zu nahetreten, aber als Reporterin hast du es bestimmt nicht leicht. Sich ständig mit der Polizei oder mit Politikern zu treffen, ist eine Sache. Aber sie dazu zu bringen, ihre Meinung zu sagen, ist noch mal was anderes. Bestenfalls behandeln sie dich gönnerhaft und familiär. Wir Reporter und unsere Informanten leben in einer auf Männer fixierten Welt, die schon seit lange vor dem Krieg existiert. Du kannst dich abrackern, wie du willst, trotzdem werden sie die männlichen Reporter dir vorziehen und ihre Story ihnen überlassen.«
Der Reis in dem Onigiri besaß weder Aroma noch Elastizität, kein Vergleich zu den selbst gemachten von Reiko. Sie spülte mit grünem Tee aus der Plastikflasche nach und versuchte, die Reiskörner zwischen ihren Zähnen mit der Zunge zu entfernen.
»Gib’s zu, Rika, du hast einen dicken Fisch an der Angel, auch wenn die Sache vielleicht einen Haken hat. Willst du mir nicht sagen, worum es geht?«
Unmöglich, dass einer wie Kitamura etwas ahnte. Und selbst wenn, hatte er bestimmt kein Interesse. Unverbindlich lächelnd sah Rika ihm ins ausdruckslose Gesicht. In ihrer Branche konnte ein falsches Wort oder die kleinste Vertraulichkeit alles vermasseln. Schon längst hatte sie sich angewöhnt, sich nie etwas anmerken zu lassen, stets genau zu überlegen, was sie tat, und überhaupt äußerst wachsam zu sein.
»Entschuldigen Sie, Frau Machida, aber wann haben Sie vor, diesen Karton wegzuräumen?«, fragte Yu Uchimura, die studentische Aushilfe, in patzigem Ton.
Seit sicher war, dass sie nach ihrem Abschluss im nächsten Jahr übernommen werden würde, nahm sie kein Blatt mehr vor den Mund. Rika ergriff die Gelegenheit, sich von Kitamura abzuwenden.
»Tut mir leid, ich nehme ihn demnächst mit nach Hause.«
Eilig schob sie den Karton, der den Durchgang versperrte, unter ihren Schreibtisch und setzte sich. In dem Karton waren Ausdrucke von Manako Kajiis Blog von drei Jahren. Kajii drückte sich nicht nur weitschweifig aus, sondern hatte ihre Einträge auch mehrmals am Tag aktualisiert, kein Wunder also, dass eine so riesige Menge zusammengekommen war. Im Netz war mittlerweile alles gelöscht, aber dankenswerterweise hatte einer von Rikas Informanten die Texte rechtzeitig gesichert und ausgedruckt. Sie nahm die Einträge von etwa fünf Tagen aus dem Karton und blätterte darin. Kajii hatte ihre Zeit ausschließlich mit Restaurantbesuchen und Shopping verbracht, fernab der realen Welt, fast wie eine Adlige. Die Schilderungen luxuriöser, für ihre Delikatessen und Weine berühmten Restaurants und Geschäfte waren schier endlos. Sie zählte alle klassischen Orte auf: Sembikiya, New York Grill, Robuchon, Nadaman, Maxim de Paris, und L’ecrin … Alle so berühmt, dass selbst Rika sie dem Namen nach kannte. Kajiis Beschreibungen wirkten allerdings abgedroschen und ließen auch bei wiederholtem Lesen keine Bilder entstehen. Einige Abschnitte kamen Rika sogar vor wie aus anderen Blogs zusammenkopiert.
Manako Kajii war 1980 in Fuchu im Westen von Tokio geboren, später war die Familie nach Agano in der Präfektur Niigata umgezogen, in den Heimatort ihres Vaters, wo dieser eine Stelle im Immobilienbüro ihres Großvaters übernahm. Die Mutter war Ikebana-Lehrerin. Manako und ihre sieben Jahre jüngere Schwester wuchsen in verhältnismäßigem Wohlstand auf. Nach der Oberschule ging sie nach Tokio, um zu studieren, brach ihr Studium jedoch nach drei Monaten ab. Seither hatte sie als professionelle Geliebte in Fudomae im Bezirk Shinagawa gelebt. Ohne einer geregelten Arbeit nachzugehen, ließ sie sich von einem Netzwerk wohlhabender älterer Männer aushalten. 2013 wurde sie wegen des Verdachts, über einen Zeitraum von sechs Monaten drei Morde begangen zu haben, verhaftet. Die Opfer waren alleinstehende Männer zwischen vierzig und siebzig aus dem Großraum Tokio, die sie über Dating-Websites und Heiratsbörsen kennengelernt hatte und die ernsthafte Heiratsabsichten hegten. Sie statteten ihre Geliebte mit großzügigen Summen aus, die sie für ihre Kochkurse oder angeblich erkrankte Familienmitglieder brauchte. Einer der Männer war an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben, der zweite in der Badewanne ertrunken und der dritte von einem Zug überrollt worden. Alle drei Tode hätten auch Selbstmorde oder Unfälle gewesen sein können. Zu Kajiis Verhaftung hatte geführt, dass sie sich stets in unmittelbarer Nähe aufgehalten hatte. Überdies wurde sie des Betrugs in fünf Fällen beschuldigt. Da jedoch in allen Fällen konkrete Beweise fehlten, hatte die Staatsanwaltschaft Manako Kajii auf ziemlich abenteuerlichem Weg zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie hatte sofort nach der Urteilsverkündung Berufung eingelegt und saß derzeit in der Tokioter Haftvollzugsanstalt ein, wo sie auf ihre Anhörung im kommenden Frühjahr wartete. Sie war bekannt dafür, keinerlei Interviews zu geben und besonders Journalistinnen abblitzen zu lassen.
Offenbar spielte das Aussehen der Beschuldigten eine große Rolle bei der enormen Aufmerksamkeit, die der Fall erregte. Es ging weniger darum, ob sie hübsch oder nicht hübsch war, sondern vor allem darum, dass sie nicht schlank war. Dieser Umstand versetzte sowohl Frauen als auch Männer derart in Rage, dass ein außergewöhnliches Maß an Hasstiraden auf sie niederging. In einer Gesellschaft, in der Jungfräulichkeit weit höher geschätzt wurde als Reife, war die Vorstellung, dass eine Frau schlank sein musste, um etwas wert zu sein, seit jeher tief verwurzelt. Eine Frau musste schon sehr resolut sein, um sich zu entscheiden, keine Diät zu machen und einfach dick zu sein. Es erforderte Selbstaufgabe und Selbstermächtigung zugleich.
Doch Kajimana nahm sich das einfach heraus. Sie ignorierte alle Erwartungen, da sie sich selbst als weibliches Ideal betrachtete. Es stand ihr zu, respektiert und verehrt, mit Liebe und Geschenken überhäuft zu werden sowie sich profaner Betätigungen wie Arbeit und gesellschaftlichen Verpflichtungen zu entziehen, mit denen sie nichts anfangen konnte. Diesen Lebensstil nahm sie völlig selbstverständlich für sich in Anspruch. Sie hatte sich auf diese Weise äußerst bequem eingerichtet, ein Umstand, der Rika noch viel erstaunlicher erschien als die fast hundert Millionen Yen, die sie verschiedenen Männern abgeknöpft hatte. Natürlich sollte jede Frau sich selbst akzeptieren können, wie sie war, und Wertschätzung verlangen, doch das war wirklich nicht einfach. Je mehr erfolgreiche Frauen Rika bei ihren Interviews kennengelernt hatte, desto klarer war ihr das geworden. Alle diese Frauen hatten Angst vor irgendetwas, hielten still, waren äußerst geduldig, ungewöhnlich bescheiden und verzweifelt um Selbstschutz bemüht. Auch Rika war außerstande, mit sich selbst zufrieden zu sein, auch wenn ihre Arbeit noch so anerkannt wurde. Manchmal wurde sie nachts von Angst überwältigt, dennoch hätte sie in solchen Momenten niemals Makoto angerufen, weil ihr das zu egoistisch erschienen wäre. Sogar die heute so gelassene Reiko war in ihrer Jugend nervös und unsicher gewesen. Ihr Liebesleben war meist eine Katastrophe. Rika fragte sich, ob der Grund für ihrer beider geringes Selbstwertgefühl und ihre Unfähigkeit, etwas von Männern zu verlangen, mit ihren Vätern zu tun hatte.
Manako Kajii hatte übrigens ihrem Vater, der vor einigen Jahren verstorben war, sehr nahe gestanden. Würde sich die Gelegenheit zu einem Interview mit ihr ergeben, könnte Rika vielleicht nicht nur dem Fall auf den Grund gehen, sondern sich auch mit den Schwierigkeiten in ihrem eigenen Leben auseinandersetzen. Allerdings war ihr auch die Einsamkeit und Frustration der betrogenen Männer nicht fremd. Sie hatte nicht die Absicht, Kajiis Partei zu ergreifen und ihre Opfer schlechtzumachen. Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass eine selbstgekochte Mahlzeit und liebevolle Fürsorge, wie sie ihr bei Reiko zu Hause zuteil geworden war, einen müden Körper und eine erschöpfte Seele aufzurichten vermochten. Egal, wer die Person war, die diese Dinge gewährte, oder wie sie aussah. Wahrscheinlich machte es diesen Männern nicht einmal etwas aus, betrogen zu werden, solange sie sich an diesen weichen warmen Frauenkörper lehnen konnten. Als Rika mit ihren Gedanken an diesem Punkt angelangt war, verspürte sie ein Art Wundschmerz, als würde ein fast vergessener Zorn in ihr durch feine Risse in ihrer Haut nach außen dringen. Sie hatte keine Ahnung, wem dieser Zorn galt oder woher er kam.
Auf ihrem Schreibtisch fand sie einen versiegelten Umschlag, den Yu offenbar dorthin geworfen hatte. Er war leicht wie ein Blütenblatt. Bei einem Blick auf den Absender wäre ihr fast ein Ausruf der Überraschung entfahren. Der Brief kam aus der Haftanstalt Tokio, konnte also nur von Manako Kajii sein. Obwohl sie bisher kein einziges Mal geantwortet hatte! Rika sah sich um, während sie den Umschlag mit dem Brieföffner aufschlitzte. Zum Vorschein kam ein zartrosa Briefbogen.
»Ich würde mich freuen, Sie kennenzulernen. Sie sind anders als andere Journalisten. Besuchen Sie mich, wann immer Sie wollen.« Ansonsten war da nur der Stempel der Postüberwachung. Manako Kajiis Zeichen waren so elegant und fließend, dass Rika ganz fasziniert war. Sie hatte tatsächlich die schöne Schrift, von der einige Zeugen berichtet hatten. Rika unterdrückte einen Freudenschrei, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen. Was in aller Welt war geschehen? Sie ließ den Brief, den sie nach so vielen anderen letzte Woche geschrieben hatte, noch einmal Revue passieren. Der einzige Unterschied zu den vorherigen bestand in der Zeile, zu der Reiko ihr geraten hatte: »PS: Ihr Rezept für den Rinderschmortopf, den Sie Herrn Yamamura gekocht haben, würde mich sehr interessieren. Würden Sie es mir verraten?«
Sofort recherchierte sie die Besuchszeiten der Tokioter Justizvollzugsanstalt: Von halb neun bis vier, dazwischen eine Mittagspause von einer Stunde. Wenn sie sofort aufbrach, konnte sie um zehn dort sein. Natürlich gab es keine Garantie, dass man sie vorlassen würde, aber sie musste es versuchen.
»Ich bin auf jeden Fall bis zur Sitzung zurück«, rief sie Yu und Kitamura zu und verließ, einen Arm schon im Trenchcoat, das Büro. Die Arme gegen den kalten Winterwind vor der Brust verschränkt, steuerte sie mit schnellen Schritten auf den Bahnhof Kagurazaka zu. Sollte sie in Ayase oder in Kosuge aussteigen? Nach kurzem Zögern beschloss sie, in Otemachi in die Chiyoda-Linie umzusteigen. Hinter Kita-Senju fuhr die Bahn überirdisch, und Tageslicht flutete den Waggon. Hinter der Brücke über den Arakawa kam der Gefängniskomplex in Sicht. Mit den vier sich vom rechteckigen Hauptgebäude erstreckenden Flügeln und den Aufzügen in der Mitte wirkte es von oben wie eine Fledermaus im Flug. Am Bahnhof Ayase stieg Rika aus und nahm ein Taxi.
Früher galt der Ayase als schmutzigster Fluss Japans, doch nun hatte die Wasserqualität sich offenbar verbessert. Selbst bei geöffneten Fenstern wehte kein Gestank herein. Das Taxi überquerte den Fluss, fuhr zur Hälfte um den Komplex herum und hielt schließlich vor dem Besuchereingang. Die Umgebung war ruhig, aber die Atmosphäre hatte nichts Gefährliches oder Bedrückendes. Die angrenzenden Straßen waren von Einfamilien- und Mietshäusern gesäumt, vor denen Wäsche trocknete. Im angrenzenden Park spielten Eltern mit ihren Kindern. Gegenüber dem Tor erstreckte sich ein breiter Grünstreifen wie aus einem Campusfilm, und jenseits des Arakawa blinkte der Tokioter Skytree. Rika stieg aus dem Wagen und ging durch die bewachte Pforte zum Gebäude hinauf. Da viele Schwerverbrecher hier auf ihren Prozess warteten, waren die Sicherheitssysteme auf dem neuesten Stand. Ungeachtet ihrer robusten Wehrhaftigkeit wirkte die Betonkonstruktion nicht unelegant. An der Anmeldung im Erdgeschoss füllte Rika die nötigen Formulare aus, zog eine Nummer und wartete, bis sie an der Reihe war. Eine halbe Stunde später erschien ihre Nummer auf dem Bildschirm, und ihr Name wurde aufgerufen. Nachdem sie nur mit Stift und Papier ausgestattet von einem Metalldetektor durchleuchtet worden war, lief sie über einen langen Gang in das sonnendurchflutete Foyer mit den Aufzügen. Sie suchte die Zimmernummer, die man ihr genannt hatte, öffnete die Tür und befand sich in einem winzigen, durch eine Acrylglasscheibe in zwei Hälften getrennten Raum. Auf jeder Seite stand ein zusammenklappbarer Rohrstuhl. Als sie sich setzte, wurde ihr bewusst, dass Kajii sie wahrscheinlich schon sehen konnte, und sie erstarrte vor Aufregung.
»Ah, da sind Sie ja schon.« Die rundlichen Hände vor dem Bauch, begrüßte Manako Kajii sie mit einer kleinen Verbeugung. Sie war in Begleitung eines Gefängniswärters. Ihre leise Stimme war so hoch und süß, dass es Rika fast die Lippen zusammenzog. Die elegante anmutige Erscheinung der Angeklagten wirkte fehl am Platz in der nüchternen Zelle – es war, als lugte eine Prinzessin hinter einem Bambusvorhang hervor.
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Rika Machida vom Shumei Magazin. Nachdem ich Ihre Nachricht bekam, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht. Vielen Dank für Ihre Zeit.«
Manako Kajii ließ sich auf dem Stuhl hinter der Acrylglasscheibe nieder. Der Wärter blieb hinter ihr stehen.
»Ganz meinerseits«, sagte sie.
Diese Frau war weder hässlich noch fett. Rika bemühte sich, sie möglichst unauffällig zu mustern, ohne sie anzustarren. Vermutlich verließ sie ihre Zelle selten, nahm aber täglich nur drei nicht allzu kalorienreiche Mahlzeiten zu sich und wurde zu maßvoller Bewegung angehalten, weshalb sie viel besser aussah als bei ihrer Verhaftung. Sie war zwar rundlich, aber von kleiner Statur, so dass sie nicht massig oder einschüchternd wirkte. Sie nahm kaum mehr Raum ein als eine durchschnittliche Japanerin. Insgesamt wirkte sie sehr weiblich, nur die dunklen fast zusammengewachsenen Augenbrauen und die ebenso dunklen großen Augen erzeugten einen Eindruck von Unnachgiebigkeit. Sie trug einen langen Rock aus weichem Stoff und einen lachsrosa Pullover, der ihre Brüste betonte. Ihr Haar war schulterlang und glänzend, die Spitzen hatte sie eingedreht. Make-up war im Gefängnis vermutlich nicht erlaubt, aber ihre helle makellose Haut schien von innen heraus zu strahlen, und ihre vollen Lippen schimmerten rosa. Wahrscheinlich sah sie wesentlich frischer aus als Rika, die ihr Haar unordentlich aufgesteckt hatte und ihre müde Haut höchstens gelegentlich mit BB-Creme einschmierte. Und dennoch wirkte Kajii alt für eine Fünfunddreißigjährige. Sie hatte etwas leicht Altbackenes, das sich aber auch als gemessenes und vornehmes Auftreten beschreiben ließ. Vielleicht hatte die Gefangenschaft ihre Selbstachtung und Erhabenheit noch gesteigert. Rika fühlte sich fast unwürdig, nach ihren vielen Bitten vor allen anderen Journalisten ausgewählt worden zu sein. So musste der Prinz empfunden haben, als Rapunzel endlich ihr Haar herunterließ. Sie war so dankbar, dass sie sich ermahnen musste, als Reporterin neutral zu bleiben. Kajii verschlang sie geradezu mit ihren großen Augen, die rund und dunkel waren wie reife Weintrauben. Dann ergriff sie das Wort.
»Ich werde nicht über den Fall mit Ihnen sprechen … So haben es mir meine Anwälte und alle, die mich unterstützen, geraten. Aber da Sie ohnehin nur über Essen und Rezepte reden wollen, fand ich es eine gute Idee, Sie zu empfangen. Hier gibt es niemanden, mit dem ich mich gepflegt unterhalten kann, und ich sehne mich nach einem Gespräch über das Thema. Wenn Sie dazu bereit sind, habe ich nichts gegen ein Interview, und Sie dürfen wiederkommen.«
Kajiis gravitätischer Tonfall verunsicherte Rika. Ihr war klar, dass sie Zeit brauchen würde, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Aber wie sollte sie das anstellen? Schließlich hatte sie keine Ahnung vom Kochen. Sie konnte ja schlecht über die Onigiri reden, die sie sich am Morgen im Konbini gekauft hatte.
»Als Erstes müssen Sie mir erzählen, was Sie zu Hause im Kühlschrank haben«, befahl Manako Kajii.
Rika war erleichtert über die konkrete Frage. Die Dauer eines Besuchs hing davon ab, wie groß der Andrang am jeweiligen Tag war. Es konnten dreißig, aber auch nur zehn Minuten sein. In jedem Fall durfte sie keine Zeit vergeuden, aber überstürzen wollte sie auch nichts.
»Also, mal sehen, Gemüsesaft, Vitaminsäfte und etwas Margarine vielleicht. Ich bin keine so leidenschaftliche Köchin wie Sie, Frau Kajii. … Also, offen gesagt, bin ich eher ein Workaholic und ziemlich schlecht im Haushalt. Ihr Blog hat mich einfach überwältigt. Unglaublich, mit wie viel Sorgfalt und Liebe zum Detail Sie Ihr Leben gestalten …«
Rika war klar, wie aufgesetzt und unehrlich sie klang, konnte sich diese offenkundigen Schmeicheleien aber nicht verkneifen. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich in Gegenwart dieser Frau wie eine Hofnärrin und hatte das Gefühl, ihr etwas bieten zu müssen.
Eine dicke Augenbraue wanderte in die Höhe.
»Haben Sie da gerade Margarine gesagt?«
»Ja, die hat weniger Kalorien und Cholesterin als Butter … Das ist doch gesünder? Außerdem ist Butter heutzutage so schwer zu bekommen, nicht wahr?«
»Das Problem ist, dass Sie nicht einmal wissen, wie Butter schmeckt, und auch noch überzeugt sind, sie sei ungesund. Dabei ist Margarine viel schlimmer. Das Zeug besteht nur aus Transfettsäuren, kapiert? Milchprodukte sind immerhin …«
Manako Kajiis Stimme zitterte, während sie erklärte, wie giftig Margarine sei. Ihr Blick hatte sich verdüstert, und sie runzelte die Stirn. Rika erkannte jetzt den Stil ihrer Blogeinträge wieder. Sie redete gern und viel von Etikette und der Kultur, eine Dame zu sein, konnte aber nicht verbergen, dass sie geradezu danach gierte, andere herabzusetzen. Ihre Stimme klang geschmeidig und glatt wie Sahne, dennoch schwang etwas Wildes und Gewalttätiges darin mit. Plötzlich verstummte sie, als wäre sie beleidigt. Rika musste etwas sagen, doch in dem Moment, als sie ihren wie ausgedörrten Mund öffnete, fuhr Manako Kajii fort.
»Von meinem verstorbenen Vater habe ich gelernt, dass eine Frau stets duldsam sein sollte. Dennoch gibt es zwei Dinge, die ich nicht ertragen kann: Feministinnen und Margarine.«
Rika lachte verlegen und murmelte eine Entschuldigung.
»Sie müssen sich Butterreis mit Sojasoße machen.«
Einen Moment lang wusste Rika nicht, wovon die Rede war, und ein leise fragendes »Hm?« entschlüpfte ihren Lippen.
»Nehmen Sie frischgekochten Reis und essen Sie ihn mit Butter und Sojasoße. Das kriegen Sie hin, auch wenn Sie nicht kochen können. So bringt man das Wunder echter guter Butter am besten zur Geltung«, sagte Kajii so feierlich, dass Rika jede Spottlust verging.
»Verwenden Sie eine gesalzene Buttersorte namens Echiré. Sie bekommen Sie in einem Spezialgeschäft in Marunouchi. Holen Sie sich welche und schauen Sie sie sich genau an. Die aktuelle Butterknappheit bietet eine gute Gelegenheit, einmal hochwertige importierte Butter zu kosten. Wenn ich gute Butter esse, habe ich das Gefühl zu fallen.«
»Zu fallen? Wie meinen Sie das?«
»Ich werde nicht hinaufgewirbelt oder in die Höhe getragen, sondern ich falle. Sacht, wie man in einem Aufzug eine Etage tiefer sinkt. Mein ganzer Körper fällt, von der Zungenspitze an.«
Rika versuchte, sich an das Gefühl von Schwerkraft zu erinnern, dass sie zuvor im Aufzug gespürt hatte. Sie vergaß, sich Notizen zu machen, so sehr zog Kajiis Schilderung sie in Bann. Augen und Lippen der Frau gegenüber glänzten. Ihr Blick war in weite Ferne gerichtet und so entrückt, dass Rika beinahe erschrak.
»Die Butter sollte frisch aus dem Kühlschrank kommen. Am köstlichsten ist sie, wenn sie noch kalt und fest ist, sodass Sie die Textur spüren und ihr Aroma schmecken können. Der heiße Reis bringt sie rasch zum Schmelzen, sehen Sie also zu, dass Sie sie in den Mund bekommen, bevor sie zergeht. Kalte Butter und heißer Reis bilden einen superben Kontrast. Dann wird beides in Ihrem Mund schmelzen und sich zu einer goldenen Woge verbinden. Man muss sie nicht sehen, um zu wissen, dass sie golden ist. Ein herrliches Aroma wird sich in Ihrem Mund entfalten und Ihnen in die Nase steigen. Sie werden jedes einzelne buttrige Reiskorn schmecken, fette milchige Süße wird Ihren Gaumen und Ihre Zunge umschmeicheln.«
Rika lief das Wasser im Mund zusammen, und sie bemühte sich, ein geräuschvolles Schlucken zu unterdrücken.
Unvermittelt richtete Kajii sich auf und verschränkte die molligen Finger vor der Brust.
»Wenn Sie mich nochmal besuchen wollen, müssen Sie mir versprechen, nie wieder Margarine zu essen. Ich pflege nur Umgang mit Menschen, die das Echte schätzen. Außerdem mache ich keinen Rinderschmortopf, sondern Bœuf Bourguignon. Das ist französische Küche. Ich dachte, ich hätte das vor Gericht hinreichend deutlich gemacht. Hier hat wirklich keiner eine Ahnung. Ich bin bestürzt über Ihre Unkenntnis. Außerdem bin ich völlig erschöpft. Können wir das Gespräch beenden?«
Eilfertig schrieb Rika sich den Namen des Gerichts auf, von dem sie noch nie gehört hatte. In der Regel waren es die Wärter, die das Ende eines Besuchs ankündigten, aber hier gab Kajii den Ton an. Rika wurde bewusst, dass es von Anfang an so gewesen war. Kajii hielt das Heft in der Hand. Genauso, wie sie es vor Gericht getan hatte. Sie war der Star der Show. Alle anderen waren Komparsen. Wie hypnotisiert starrte Rika auf den fleischigen Rücken und das glänzende Haar der Frau, als diese gemächlich den Raum verließ. Auf dem Weg ins Erdgeschoss musste sie an Kajiis eindrucksvolle Schilderung der Beschaffenheit von Butter denken. Sie ging den Gang entlang und verließ das Gebäude. Sie beschloss, an der näher gelegenen Haltestelle Kosuge in die Bahn zu steigen. Sie fühlte sich matt und benommen, als käme sie gerade aus dem Schwimmbad. Am liebsten hätte sie sich hingelegt und geschlafen, aber das ging nicht, und sie raffte sich zusammen. Ihr fiel auf, dass unter der Leitplanke Blumen lagen. Ob jemand das Pech gehabt hatte, gleich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis hier überfahren worden zu sein? Oder war hier einfach ein normaler Passant einem Unfall zum Opfer gefallen? Die weintraubengroßen Kulleraugen und die süße Stimme ließen sie nicht los. Leicht schwankend wie auf Watte gehend stieg Rika in die Bahn.
Vor ihrer Rückkehr ins Büro kaufte sie ein Kilo Reis und den kleinsten, in einem Elektromarkt verfügbaren Reiskocher. Nach der Redaktionssitzung hatte sie einen Recherchetermin in Kasumigaseki, also machte sie in Marunouchi halt, um im Echiré Maison du Beurre, in dem es aussah wie in einem Juwelierladen oder einer Boutique, hundert Gramm Butter für fast tausend Yen zu kaufen. Sie hatte noch nie so viel Geld für eine einzige Zutat ausgegeben. Das Etikett und die blaue Papiertüte vermittelten einen Hauch von Romantik, der nicht zu einem Lebensmittel zu passen schien. So etwas hätte sie Reiko als Gastgeschenk mitbringen sollen. Die Tüte war mit winzigen Kühlakkus ausgestattet, damit die Butter nicht schmolz, bis sie sie im Büro in den Kühlschrank der Teeküche legen konnte. Sie kam sich vor, als hätte sie eine Heldentat begangen.
Am Abend nahm Rika ihren Einkauf mit in ihre nur eine Viertelstunde zu Fuß vom Verlag entfernte Wohnung in Iidabashi. Sie war früher nach Hause gegangen als sonst. Aber am nächsten Tag und am Wochenende hatte sie so viel zu tun, dass ihr keine Zeit bleiben würde. Sie musste die Sache sofort in die Hand nehmen.
Es war ein Fehler gewesen, kein Thema vorzubereiten, mit dem sie Kajii hätte ködern können. Wenigstens hatte sie nicht gesagt, sie wolle Rika nicht mehr sehen. Das bedeutete, es war noch immer möglich, dass die Frau sich ihr öffnete, wenn sie sich auf ihr Spiel einließ. Rika stellte sich an die Spüle, die fast zehn Jahre nach ihrem Einzug quasi wie neu aussah, und wusch 180 ml Reis.
Sie schaltete den eben ausgepackten Reiskocher ein und schaute sich seit Langem wieder einmal in ihrer Wohnung um, in der sie nicht viel Zeit verbrachte. Sie hatte sie vor allem wegen der Nähe zum Verlag genommen. Die Miete betrug 85 000 Yen. Nicht, dass sie ihr besonders gefiel, aber sie sah keinen Grund umzuziehen. Die hellen blaugrauen Vorhänge und die farblich abgestimmte Tagesdecke hatte Reiko bei ihrem Einzug für sie ausgesucht. Aus dem Reiskocher wehte ihr ein süßer Duft entgegen, und sie bekam Lust, die Wohnung sauber zu machen. Also machte sie sich daran, den Boden zu putzen, und ließ die Waschmaschine laufen, während der Reis garte.
Als sie den Deckel öffnete, schimmerte ihr der frisch gekochte weiße Reis durch den Dampf entgegen, und sie bewunderte seinen transparenten Glanz. Sie besaß keine Reisschalen, weshalb sie mit dem zum Kocher gehörigen Spatel etwas davon in eine Milchkaffeeschale gab. Anschließend nahm sie, entsprechend Kajiis Anweisung, die kalte Butter aus dem Kühlschrank, schälte sie aus der Verpackung und betrachtete das glatte goldgelbe Rechteck. Rika kannte den Butterreis, der mitunter zu Frikadellen serviert wurde, aber Reis mit Sojasoße und Butter war Neuland für sie. Eine so exklusive Butter hatte sie natürlich auch noch nie probiert.
Sie legte ein Stück davon auf den Reis und träufelte ein paar Tropfen Sojasoße aus einem Tütchen darauf, welches sie noch von einem Bento aus dem Konbini übrig hatte. Wie von Kajii empfohlen, nahm sie einen Bissen, bevor die Butter mit dem Reis verschmolz.
Ein sonderbarer Hauch entwich ihrer Kehle. Als Erstes berührte die kühle Butter ihren Gaumen. Der Kontrast zu dem frischen heißen Reis bestand in ihrer Struktur und der Temperatur. Rika biss auf die kalte Butter, sie war weich, und sie spürte die Kühle bis in die Zahnwurzeln. Doch schon bald umhüllte, wie von Kajii vorausgesagt, geschmolzene Butter jedes Reiskorn und erzeugte ein Aroma, das nicht anders als golden zu beschreiben war. Eine goldglänzende, würzige, in ihrer Reichhaltigkeit überschäumende Woge aus Duft und Geschmack schlug über Rika zusammen, überschwemmte sie, riss sie mit sich fort.
Es fühlte sich definitiv so an, als würde sie darin versinken. Mit einem langen, nach Milch duftenden Seufzer starrte Rika auf den übrigen Butterreis. Natürlich waren Reikos Gerichte so schmackhaft gewesen, dass sie die Erinnerung daran noch immer in jeder Faser ihres Körpers spürte. Ihre liebevolle Zubereitung und ihr Duft waren wie eine zärtliche Umarmung für die erschöpfte Rika gewesen, und die saisonalen Zutaten hatten ihr Kraft für den nächsten Tag gegeben. Aber das hier war viel mehr, es war ein urwüchsiger und greller Wohlgeschmack, der sie an ihrer Zungenspitze packte und an Orte zog, an denen sie noch nie gewesen war.
Unversehens hatte Rika den ganzen Reis verschlungen. Sie wollte mehr. Es war, als hätte die Butter ihre Geschmacksknospen aufbrechen lassen, und sie lechzten nach mehr.
Manako Kajiis geliebte Butter. Sie war das Symbol, der Inbegriff der Köstlichkeiten, die sie sich mit dem von ihren Opfern erschwindelten Geld beschafft hatte. Der grausame Glanz von Butter. Butter wie die, zu der die Tiger in Der kleine schwarze Sambo verschmolzen waren.
Rika stand auf.
Immerhin hatte Reiko gesagt, sie solle mehr essen. Sie war so schlank, dass ihr niemand einen Vorwurf machen konnte, wenn sie sich hin und wieder etwas gönnte. Außerdem war dies ja Teil ihrer Recherchen für das Interview, somit Arbeit.
Sie würde sich noch eine oder zwei Portionen kochen. War das zu viel? Was übrig blieb, konnte sie notfalls einfrieren. Rika sah auf die Uhr, es war nach Mitternacht.
Die Pasta war gar.
Bei dem Signal, das sie auf ihrem Telefon eingestellt hatte, blickte Rika von ihrem Dokument auf. Sie ging durch die warme, nach Weizen duftende Luft, nahm den Topf an den Griffen und goss ihn mit einem Schwung in das Sieb im Spülbecken. Der Temperaturwechsel entlockte dem rostfreien Stahl ein Geräusch. Weißer Dampf stieg auf und breitete sich in der abendlichen Küche aus. Ihr Gesicht wurde feucht. Sie schüttete die glänzenden Nudeln aus dem Sieb in eine Schüssel und nahm Calpis-Butter, Kabeljaurogen und für die Jahreszeit sehr grüne Shisoblätter aus dem Kühlschrank.
Die Manako Kajii so verhasste Margarine hatte sie schon in der vergangenen Woche dem brennbaren Müll überantwortet.
Seither hatte Rika sie noch einmal im Gefängnis besucht und ihr zwei Briefe geschickt. Ihr geschrieben, dass sie ihr Reis-mit-Butter-und-Sojasoße-Rezept sofort ausprobiert habe, begeistert sei, dass etwas so Köstliches sich innerhalb ihrer Möglichkeiten befand, sie nie wieder auch nur einen Tropfen Transfett zu sich nehmen und sich mehr von Manako Kajiis Wissen über gute Küche aneignen wolle, um in der Lage zu sein, sich gepflegt mit ihr zu unterhalten. Kajii reagierte auf keinen ihrer wortreichen Annäherungsversuche. Aber Rika hatte nicht vor, aufzugeben.