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Eines der größten Gedankenexperimente des 20. Jahrhunderts – zum ersten Mal gesammelt in einem E-Book! Zu Lebzeiten galt Paul Valéry als größter französischer Lyriker seiner Zeit. Sein eigentliches Hauptwerk sind aber die postum veröffentlichten ›Cahiers‹. Fast täglich und über ein halbes Jahrhundert lang begann er jeden Morgen damit, dass er sich in seine »Denkhefte« Notizen, Beobachtungen und Einfälle notierte. Sie sind ein einzigartiges Denklaboratorium des modernen Menschen und nicht nur ein Paradebeispiel lebensphilosophischer Selbsttherapie, sondern eine Antwort auf die große Frage: »Was kann ein Mensch?« In der E-Book-Edition liegt die gefeierte deutsche Edition der ›Cahiers‹ wieder geschlossen vor, zum ersten Mal mit Volltextsuche!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 4550
Paul Valéry
Cahiers/Hefte
Die vollständige Pléiade-Edition
Übersetzt von Bernhard Böschenstein, Reinhard Huschke, Markus Jakob, Hartmut Köhler, Max Looser, Christine Mäder-Viragh, Jürgen Schmidt-Radefeld, Corona Schmiele, Erika Tophoven-Schöningh und Karin Wais
FISCHER E-Books
Die Herausgeber möchten an dieser Stelle allen Übersetzern, die an den Übertragungen der Gedanken Valérys ins Deutsche mitgearbeitet haben, für die große Mühe danken, der Klarheit der französischen Vorlage gerecht zu werden.
Für mannigfache Unterstützung, Ermutigung und Beratung gilt unser besonderer Dank den Angehörigen Valérys: Frau Agathe Rouart-Valéry, Herrn Claude Valéry und seiner Frau Judith Robinson-Valéry sowie Herrn François Valéry. Die Erben des Autors haben uns in liebenswürdiger Weise die Wiedergabe von Illustrationen und Handschriften gestattet.
Die Initiative zu dieser Ausgabe der Hefte (Cahiers) von Paul Valéry in deutscher Sprache ging von Herrn Günther Busch, Wissenschaftslektor im S. Fischer Verlag, aus. Ihm sei hier für die gute Zusammenarbeit gedankt.
Verlag und Herausgeber danken dem Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg und der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart für die freundliche Unterstützung des Projekts.
»Diese Arbeiten präsentiere ich als einen Versuch und diesen Versuch als das Zeichen der Verwunderung, die mich überkam, als ich feststellte, daß man ihn niemals zuvor unternommen hatte.«
Paul Valéry, 1898
»Was Valéry gemacht hat, mußte einmal versucht werden.«
Henri Bergson, 1935
»Und es wird dies sein eine Sammlung ohne Ordnung, zusammengeholt aus vielen Blättern, welche ich hier abgeschrieben habe, hoffend, sie später jedes an seinen Platz zu bringen gemäß der Materie, von der sie handeln; aber ich glaube, daß ich vorher eine selbige Sache noch mehrmals werde zu wiederholen haben, wofür du, Leser, mich nicht tadeln mögest, denn der Sachen sind viele, und das Gedächtnis kann sie nicht alle behalten und sagen: das will ich nicht mehr schreiben, weil ich es früher schon geschrieben habe.«
Leonardo da Vinci,Traktat über Malerei
Das Unternehmen der Cahiers entzieht sich schnellem Zugriff. Weder das Ziel noch die Methoden, weder der Stil noch die Gattung sind eindeutig. Nur soviel schält sich bald schon heraus: die Methoden sind wichtiger als das Ergebnis, Stil und Gattung bilden sich im Prozeß des Schreibens, allmählich, Zug um Zug.
Das Ganze hat den Charakter einer weit ausholenden Geste, eines langen Umwegs, auf dem man das Ziel immer vor Augen hat, es aber mit sich trägt – und eben deswegen niemals erreicht. Ein moderner Weltentwurf, bei dem das Instrument der Erkenntnis zugleich das vornehmste Objekt der Erkenntnis ist. »Meint ihr denn, ich sei mein Leben lang vor Tau und Tag aufgestanden, nur um zu denken wie alle anderen …?« In diesem Satz eines alten Gelehrten, den Valéry belustigt notiert, erscheint in ironischer Verkürzung etwas von den eigenen Energien, die das Projekt der Cahiers vorangetrieben haben: die ebenso unersättliche wie skrupulöse Neugier des Denkens auf sich selbst, die allmorgendliche Experimentierlust mit Ideen und Worten, das lebensnotwendige Ausspielen des Möglichen gegen das Wirkliche.
Was Valéry beschäftigt, ist die Ergründung des Denkens. Damit nimmt er teil an dem durchaus unabgeschlossenen Abenteuer des absoluten Bewußtseins, das von Descartes (den er verehrte) begonnen und von den Denkern des Deutschen Idealismus (die er ignorierte) fortgesetzt worden war. Daß er den Anstoß dazu nicht aus den Schriften des Cartesius, sondern aus einem Satz Edgar Allan Poes empfing, ist akzidentell, ist lächelnd vermerkte Anekdote. Valéry macht vorsätzlich und hartnäckig die res cogitans zur res extensa. Was ihn interessiert, was ihn im zweiten und dritten Drittel seines Lebens täglich für einige Morgenstunden an den Schreibtisch treibt, er nennt es »fonctionnement de l’esprit«, die Funktionstätigkeit des Geistes. Die Art und Weise, wie er sich den Grundfragen: »Was tue ich, wenn ich denke?« und: »Was kann ich überhaupt?« nähert, hat zwei biographische Komponenten. Er handelt einerseits als ›Kind seiner Zeit‹, der Epoche nämlich, in der die neuen Wissenschaften und ihr Aufschwung die Menschen faszinieren. Eigentlich ist er darin der Erbe eines früheren, von ihm geliebten Zeitalters: des 18. Jahrhunderts. Als Deuter und Praktiker des Denkens ist Valéry Szientist, genauer: ein extrem skeptischer Wissenschaftsverehrer. Andererseits liegt über seiner Analyse des Geistes ein traumatischer Erlebnisschatten, der Schmerz einer Lebenskrise, die den Zwanzigjährigen nach einer Liebesbeziehung, welche »verunglückt« gar nicht genannt werden kann, weil sie nie wirklich begonnen hatte, während einer Gewitternacht in Genua in einen derartigen Wirbelsturm der Gefühle hineinriß, daß er alsbald zu einer verheerenden »Idolzertrümmerung« schritt: er stieß für sich die Literatur vom Sockel, und fortan war er lebenslang damit befaßt, sein Wesen »neu zu errichten«. Was er später – zögernd, weil verfänglich – sein »System« nennen wird, ist in seinem eigenen Bewußtsein und erklärtermaßen immer ein »System ’92« (die hier weit geöffneten Türen zum Unbewußten sind seither mehrfach durchschritten worden; zurückgebracht wurde wenig mehr, als auch in den Heften steht).
So könnte denn diese Revolte, diese Umwertung der Werte, als der Ausdruck einer Adoleszenzkrise erscheinen, hätte sie sich nicht zu einer unvergleichlichen geistigen Anstrengung verdichtet, die allerhöchstes Interesse beanspruchen darf, und zwar sowohl wissenschaftliches als auch – nach einem langen Transformationsprozeß – wiederum literarisches Interesse. In der Verbindung von beidem liegt Valérys wirkliche, in ihren ganzen Dimensionen erst heute allmählich aufdämmernde Einzigartigkeit, die über die traditionellen Abgrenzungen zwischen den Einzelwissenschaften beharrlich hinausweist und den einen Menschen in allen Lebens- und Denkbezügen zum Gegenstand einer einheitlichen wissenschaftlichen Erkundung zu machen strebt. Damit wird auch eine Neubewertung des Gesamtwerkes dieses Autors erforderlich – das Bild von Valéry als einem Traditionalisten, Rationalisten und Formalisten läßt sich nicht länger aufrechterhalten.
Valéry hat das absolute Bewußtsein instrumentalisiert. Er war zeitlebens von der Idee des Instrumentellen fasziniert, und was er betreibt, hat durchaus mit einer Kritik der instrumentellen Vernunft zu tun. Man kann die These wagen, daß sein Gladiator, die Allegorie der Selbst-Beherrschung, den Übermenschen aus seiner spekulativen Wolkenhaftigkeit herabholen und ihm die Mittel an die Hand geben will, sich zu verwirklichen. Valéry ist der Denker der Mittel: »moyen« ist eines der häufigsten Wörter in den Cahiers. Damit ist eine – geringe – Nähe zu Nietzsche und eine – große – Nähe zur technisch-industriellen Moderne markiert. So wie jedes Denken ist auch das seine dabei zugleich Beweger und Bewegtes, er hätte wohl gesagt: Erreger und Erregtes, jedenfalls defensiv und offensiv zugleich. Der Gedanke von der Beherrschung des Menschen durch sich selbst ist ursprünglich eine Defensivmaßnahme. Valéry hat dies erkannt und nie vergessen. Zugleich aber weist er nach vorne.
Das technical improvement, das Valéry so fesselte, daß er es zu einem Grundsatz sogar seiner literarischen Arbeit erhob, birgt in seiner Dynamik die Idee der Überlistung des Lebens mit dessen eigenen Mitteln, also die Gentechnologie, die wir heute fürchten, ebenso wie die Immunologie, nach der wir rufen. Das sichert Valérys recherche wohl noch für lange Zeit ein hohes Maß an Aktualität.
Doch gilt es sich zu vergewissern – und sich daran zu erfreuen –, daß Valéry das Instrumentelle stets auch als Dichter gestaltet. Zwei »Instrumenten« gilt seine besondere Liebe: dem Vogel mit seiner den Geist entzückenden Leichtigkeit und der Hand in ihrer universalen Adaptiertheit. Dazu finden sich in den Heften – verstreut über die Rubriken – einige der schönsten Passagen dieses poetischen Werkzeugmachers, dieses Demiurgen und Chirurgen zugleich.
Diese unbeirrbare Haltung, die Phänomenologie des Denkens dezidiert auf die eigene gelebte Existenz auszurichten, stellt im Zeitalter der Experimentalpsychologie eine Herausforderung dar, die Verweigerung der Arbeitsteilung. Valéry ist sein eigener Proband, und sein Erkenntnisgegenstand ist von Anfang an unverschleiert, ja schier entwaffnend offenkundig: es geht um mich selber, um mein Leben, um mein Denken, mein Fühlen, mein Hoffen. Diese Aufzeichnungen geben »die Theorie von einem selbst«. Das grenzt sie ab von dem in manchen Komponenten parallelen Unternehmen der Phänomenologie Husserls, macht ihre Verwundbarkeit und zugleich ihre Lebendigkeit aus.
Von den zahlreichen Reflexen, die die Wissenschaftsdiskussion zu Lebzeiten Valérys in den Heften hinterlassen hat, sei an dieser Stelle nur auf die Thesen von Ernst Mach hingewiesen. Es wurde jüngst die Vermutung geäußert, dessen Arbeit Erkenntnis und Irrtum (1905) habe für Valéry eine Rolle gespielt. Welche? Nun, sie löste »eine der härtesten, rein intellektuellen Vierundzwanzig-Stunden-Krisen« aus, schien ihm doch da jemand mit einem Gedanken zuvorgekommen zu sein.
Angesichts dessen ist es kaum verwunderlich, daß man auf die Frage nach der Gattungszugehörigkeit der Hefte in Verlegenheit gerät und mit Hapax oder Novum oder sui generis antworten möchte.
Ein »Tagebuch«, ein Journal intime sind sie jedenfalls nicht; ihr Autor war davon überzeugt, das in den Heften Aufgezeichnete sei das eigentlich Wichtige an seinem Werk. Die Wiedergabe der Ereignisse vom Tage, die Selbstoffenbarung gar fehlen zwar nicht ganz (Valéry notierte derlei unter dem Titel Ephemeriden, und wir wissen nur, daß davon vieles noch unveröffentlicht ist), aber erscheinen beiläufig, am Rande. Bezeichnend wohl, daß die Eintragungen morgens und nicht abends erfolgten: sie waren der Zukunft zugewandt. Sie haben kaum etwas gemein mit den Tagebüchern eines Camus, eines Pavese, eines Léautaud oder Julien Green, eines Kafka, Döblin oder Thomas Mann, auch nicht mit dem Tagebuch André Gides, das Valéry selbst in seinen späten Jahren mehrfach zum Vergleich heranzieht, freilich nur, um mit Verwunderung die Unvergleichbarkeit zu vermerken. Allenfalls zu Musils Ingenieursmentalität und ihrem Reflexionsgestus gibt es eine Art Nachbarschaft. Eine andere Konstante differenziert noch stärker: Valéry lamentiert kaum einmal über Schriftstellerkollegen. Das hat mit der besonderen Auffassung von Stolz zu tun, die Valéry entwickelt, mit seinem Autonomiestreben – und mit seiner Einsamkeit, einer erschreckenden, grandiosen Einsamkeit, die – wahrhaft erstaunlich – die Voraussetzung gewesen zu sein scheint für seine ungewöhnliche Geselligkeit. Eitelkeit, Geltungsbedürfnis und Scheelsucht scheinen ihn nicht bestimmt zu haben. Er war einsam und soziabel zugleich – darüber hat er sich selbst immer von neuem gewundert. Ist in den meisten modernen Schriftstellerkladden schließlich das wichtigste Anliegen ein Grübeln über den Tod, so ist dieses Thema in den Heften nur eines unter anderen.
Aus älteren Epochen mag man zum Vergleich auf Lichtenbergs Sudelbücher verweisen. Darin hätte Valéry wohl manches finden können, was ihn verwandt angemutet haben würde, doch er kannte sie nicht. Und Lichtenbergs Schreibweise steht in der Tradition der humanistischen Aphorismen und Adagia, der Maximen und Reflexionen, der Apophthegmata und Sentenzen der Moralistik, mit denen Valéry zwar manches Stilistische verbindet, aber nicht mehr die Intention. Montaigne scheidet gänzlich aus, Valéry hat ihn mit fast befremdlicher Verachtung belegt. Der große Gedankensteinbruch Leopardis, der Zibaldone, mag in Erwägung kommen, doch nimmt man einen zentralen Satz heraus wie diesen: »Die Vernunft ist die Feindin der Natur; dieser exzessive Gebrauch der Vernunft, der nur dem Menschen eigen ist, und zwar dem verdorbenen Menschen«, so erkennt man sofort, wie unvereinbar dies mit Valérys Auffassungen ist. Bleiben als einziges wirkliches und auch anerkanntes Vorbild die Notizbücher Leonardos: kein Wunder, wenn Valéry 1896 und auch später in immer neuen Ansätzen sich mit dem bewunderten Konstrukteur identifiziert, vielmehr diesen mit sich. Bleibt, was Umfang und Universalität eines nachgelassenen Werkes angeht, unter den Zeitgenossen dasjenige von Charles Sanders Peirce, das jetzt allmählich ans Licht kommt.
Verfolgt man aus einigem Abstand die anhaltende Befriedigung eines tief rätselhaften Bedürfnisses nach Autopsie, wie sie sich in den Heften abbildet, ein Geschehen, das gelegentlich Züge der Selbstkasteiung annimmt, so festigt sich der Eindruck, man wohne einem Prozeß der Selbstreinigung und Selbstaufklärung bei. Durch zähe Arbeit an sich selbst gewinnt hier jemand – wider alle Wahrscheinlichkeit – eine außerordentliche innere Freiheit, in manchen Momenten fast so etwas wie irdisches Glück, was gewiß durch Einsamkeit teuer erkauft wurde, aber um so unanfechtbarer ist, als es auf keines anderen Kosten ging.
Dieser Gesundungsprozeß, so hypothetisch er sein mag, ist eine Konstante der Hefte, und er ist untrennbar verknüpft, ja vielleicht identisch mit der Wiedergewinnung der dichterischen Dimension. Nichts falscher als die These von den Cahiers sans poésie, aus denen die Einbildungskraft verbannt wäre. Valéry war nicht das, was Leonardo – reichlich unglaubhaft – zu sein behauptete: ein uomo senza lettere. Der Leser sei eingeladen, seine Aufmerksamkeit gerade für die Textstellen zu schärfen, an denen es Valéry gelingt, seine Begriffe und Analysen »zum Singen« zu bringen. In jedem beliebigen Zusammenhang kann es geschehen, daß der Ton sich plötzlich verändert, hebt, Rhythmus und Melodie annimmt und uns teilhaben läßt an jenem état chantant, der Valéry so viel bedeutet. Wo dieser Gestaltwandel von strenger Analyse zu poésie brute – meist unvermutet – stattfindet, haben wir es mit den schönsten und eigentümlichsten Elementen dieser Notizen zu tun, mit der »Vollkommenheit des Unvollkommenen«, dem charakteristischen Glück des »endgültig Vorläufigen«, des »Könnens-ohne-zu-müssen«, des Potentiellen.
Und nichts sollte den Leser hindern, sich von dieser Erfahrung aus den großen Dichtungen Valérys zu nähern, sich aufgefordert zu wissen zu einer neuen Lektüre der Jungen Parze oder des Friedhof am Meer, der Dialoge oder des Faust-Zyklus, sie zu lesen als »Abscheidungen« aus der Funktionstätigkeit des Geistes, als je besondere Phasen der allgemeinen Poiesis.
Valérys geistige Existenzweise war nicht seßhaft, sondern sprunghaft. Dieser ewige »Zureiter seiner selbst« hält es nie lange in einem Sattel aus. Der zartgebaute Mann, dem die Anwendung physischer Kraft ein Greuel war, der als körperliche Betätigungen nur Gehen, Schwimmen und Radfahren akzeptierte, begeisterte sich in Gedanken für Athletik, Gymnastik und Dressur: »Von Ich zu Ich springen – Hopp!« heißt es am Schluß der Rubrik GLADIATOR. Deshalb ist eine Lektüre der Hefte nach Rubriken, wie die Ausgabe von Judith Robinson und damit die unsere sie dem Leser anbietet, streng genommen eine contradictio in adiecto, denn sie läßt uns jedesmal ein halbes Jahrhundert lang beim gleichen Thema verweilen, das in zäher Beharrlichkeit gleichsam durch den Leib des Geistes wandert. Die Rechtfertigung für die Einordnung der vielen Notizen in Rubriken des dictionnaire raisonné ist freilich Valérys eigener Wille, ein Wille zur Klassifizierung, der fast so alt war wie die Hefte selber und ihr Wachstum stetig begleitete, ihre Spontaneität von der Seite her attackierte.
Was die Rubrizierung angeht, so folgt unsere Ausgabe der von Judith Robinson getroffenen Anordnung, mit Ausnahme der Rubriken THETA(Göttliches), GESCHICHTE-POLITIK und UNTERRICHT, für deren Umstellung jedoch rein technische Gründe maßgeblich waren.
Die Bezeichnung der Rubriken geht fast ausnahmslos auf Valéry selbst zurück, der mehrfach unterschiedliche Klassifikationsversuche unternommen hat. Ein erster, erst kürzlich aufgefundener Versuch datiert von 1898. Eine ausführlichere Durchsicht nimmt Valéry 1908 vor. Dabei werden die Texte teilweise abgeschrieben (mit Hilfe einer neuerworbenen Schreibmaschine), überarbeitet und gruppiert. Es stellt sich jedoch rasch heraus, daß viele Zuordnungen nicht eindeutig zu treffen sind, sich überschneiden, wodurch die Gesamtklassifikation wieder in Frage gestellt wird – alle fachdisziplinären Gliederungskonzepte bleiben Notbehelfe, denn was sie nachträglich gliedern sollen, hat seine gemeinsame Wurzel in einem Kopf, in einem verarbeitenden Hirn. In einem Brief vom Juni 1908 an seinen Freund, den Historiker André Lebey, schreibt Valéry, er
»ordne sie [die Notizen] ein in etwa zehn rote oder gelbe Aktendeckel, Garibaldiner und Pontifexe, deren einer die Bleistiftaufschrift < Mémoire > hat, ein anderer < Attention >, ein dritter < Rêves > etc. Eine sehr alberne Einteilung, aber fürs erste bequem. Was mir bei alledem Spaß macht, ist, daß ich Aktendeckel habe … Ich bilde mir ein, ich schriebe ein Buch (und dabei ist es nicht einmal ein Inhaltsverzeichnis). Ich gaukele mir vor, ich hätte Ordnung …« (Briefe, S. 70)
Wenngleich die Hefte erst posthum eine Buchform gefunden haben, hat Valéry selbst immer wieder an einer thematischen Ordnung seiner Gedanken gearbeitet. Der erste Versuch von 1908 lief auf eine mathematisch-formal geprägte Synthese der mentalen Funktionsweisen hinaus, auf Rubriken wie Begriff der Operation, Invarianz von Elementen, Gruppen, Phasen, die Bereiche der Affektivität, der Empfindung oder der Wirklichkeit des menschlichen Körpers waren noch nicht markiert, jedenfalls noch nicht ausdrücklich.
Von der Analyse des sich selbst denkenden Denkens gelangt das Ego zu einer grundlegenden Kritik seiner Instrumente, seiner Denk-, Glaubens- und Wissensgrundlagen. Hauptfeld dieser Kritik ist die Reflexion der Zusammenhänge zwischen Denken und Sprache. Erkenntnis und Erkenntnisspeicherung, Bezeichnung, Bedeutung und Bewertung, Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung, Bewußtseinszustände wie Aufmerksamkeit und Traum, bestimmte Phänomene von Raum und Zeit sind die Fragen, denen es sich alsbald zuwendet. Die Naturwissenschaften, Biologie und Physik (insbesondere Thermodynamik), vor allem jedoch die Mathematik gewinnen für die Klärung der Bewußtseinsprozesse ungeahnte Bedeutung. Dabei wird auch der soziale Handlungsraum in Vergangenheit und Zukunft im Blickfeld des individuellen Bewußtseins neu interpretiert. Eine Handlungsmöglichkeit schließlich bietet die Produktion bzw. Reproduktion im Bereich der Ästhetik, der Literatur und Lyrik. Die letzte Frage bleibt: Was kann der Mensch?
Diese thematische Ordnung versucht sich nun auszurichten auf ein System, eine Begriffsbewegung, die allerdings stets (selbst)kritisch gefaßt wird. Schon in einem Brief an André Gide vom 22. Februar 1897 heißt es, »das System« solle fertiggestellt, ja sogar veröffentlicht werden, da es sich als konsolidiert erwiesen habe. Valéry muß jedoch einräumen:
»Allerdings habe ich die genaue Abfolge der einzelnen Thesen noch nicht gefunden. Zumal ganze Gebäude zu errichten sind, für die der Plan besteht, aber – Arbeit und Geduld? Wenn ich wüßte, daß eine derartige Veröffentlichung das Ziel streifen würde, das heißt, Diskussionen entfachte, würde ich sie schreiben. Aber es ist unwahrscheinlich.«
Und es wurde für ihn auch in den folgenden Jahren nicht wahrscheinlicher.
Bereits die erste gedruckte Ausgabe der Cahiers in der Bibliothèque de la Pléiade machte deutlich, wieviel von der originalen Handschrift (Phänomene des Schreibprozesses, Anordnung der einzelnen Seite, Skizzen, Entwürfe, Aquarelle, die Ästhetik der Schriftzüge) verloren gegangen war, wenn man auf die Faksimile-Ausgabe des Centre National de la Recherche Scientifique (C.N.R.S.) zurückblickte. Das stimulierend Fragmentarische der Gedankenblöcke, die Chronologie des Gedachten, die direkte Formulierung im Soge des Denkens lassen sich im Druckbild nicht bewahren. Valérys Vorgehen hat ja darin bestanden, das »wahre Denken« so authentisch wie irgend möglich schriftlich zu protokollieren (darin teilt er das Bemühen anderer Zeitgenossen). Ist das gesprochene Wort ein Transportvehikel, mittels dessen der Gedanke aus einem Kopf in einen anderen gelangen kann, so ist die Schrift, die diesen Transport auch für eine spätere Zeit garantieren soll (sagte Valéry nicht, er arbeite für jemanden, der später kommen werde?), gleichzeitig mit dieser Garantie eine zweite Reduzierung, Verarmung.
Die Handschrift freilich läßt den aufregenden Verschriftungsprozeß erkennen. Wie im Gebrauch der Sprache gibt es auch beim Schreiben ein Aufbegehren gegen die »von anderen« gesetzten Regeln und Zwänge. Vor allem durch eigenwillige Interpunktion – den typischen eiligen, daher gestreckten Gedankenstrich –, durch Ellipsen, Inzisen, Abstände, Ergänzungen usw. versucht die Handschrift sich zusätzliche Ausdrucksmittel zu verschaffen, die Graphie zum Graphischen hin zu überschreiten, Platz für das Ungedachte zu reservieren, den Leser nach- und vordenken zu lassen. Die Typographie kann da kaum mithalten. Ihre Bemühung, qualitative Garantie in quantitative zu verwandeln, geht unweigerlich mit weiterer Verarmung einher. Dies war ja der Grund, weshalb der C.N.R.S. seinerzeit die Cahiers in Faksimile ediert hatte. Auch die große kritische Ausgabe (einstweilen der ersten zwanzig Jahre), die ab 1987, herausgegeben von Judith Robinson und Nicole Celeyrette-Pietri in Zusammenarbeit mit einer internationalen Forschergruppe, am C.N.R.S. in dreizehn Bänden erschienen sind (Cahiers 1894–1914, Paris, Gallimard 1987–2015)[1], kann die unmittelbare Anschauung der Handschrift nicht ersetzen.
Diesem zunehmend Fragmentarischen, dieser Entropie (die ja schon in den älteren auszugsweisen Veröffentlichungen zu spüren war: Cahier B 1910, Schlimme Gedanken und andere, Windstriche u.a.) steht indessen die Zusammenfassung in thematischen Rubriken mildernd gegenüber. Jede einzelne Rubrik durchläuft die volle Periode der Hefte von 1894 bis 1945, markiert also neben der thematischen Ordnung jedesmal eine geschlossene Chronologie. Es sind so nicht weniger als einunddreißig längsschnittartige, spezialisierte Denk- und Lebensläufe, denen der Leser nachgehen kann, und er wird schon nach dem dritten oder vierten sich in die Lage versetzt sehen, Querverbindungen zu ziehen, zu den Ketten das Schußgarn zu liefern, die »Phasen« und ihre Ablösung zu erkennen, Phasen der Anspannung und der Lockerung, der Geselligkeit und der Isolierung, der Weltverfluchung und der Weltzuwendung, der »Reinheit« und der »Mischung«, der Einsamkeit und der Hinwendung zum Eros, ja sogar zur Liebe, der Einsamkeit in der Liebe und der Liebe in der Einsamkeit. Und wenn er den Stoff, die Textur gewoben hat, wird er sie wohl bald als bloßen Kanevas empfinden und auch die Zwischenräume füllen wollen, wird das Vorgedachte und das Nachgedachte zu erraten, zu ergänzen trachten und dabei, ohne es zu wollen und zu merken, seine eigenen Fäden verwenden …
Diese Ausgabe erscheint als online-Edition völlig überarbeitet durch eine Gruppe internationaler Fachwissenschaftler unter Leitung von Michel Jarrety (Sorbonne) mit einem neuen Anmerkungsapparat.
»Jede Übersetzung, die ihre Aufgabe ernst nimmt, ist klarer und flacher als das Original.« Ob wir dieses Diktum Hans Georg Gadamers für uns in beiden Teilen in Anspruch nehmen dürfen, ist nicht sicher. Flacher gewiß: das wäre – nach Sprache, französischer Sprache, Schrift und Typographie – ja nur der unvermeidliche weitere Abstieg auf die fünfte Stufe der Entropie. Ob auch klarer? Valéry ist – das muß zu unserer Entlastung zunächst gesagt werden – auch im scheinbar ekstatischsten Moment der Niederschrift so gut wie nie unklar. Hier war nichts zu klären. Allerdings stellt sich die Klarheit durchaus nicht immer sofort ein. Valéry – dieser Virtuose, Gladiator – läßt häufig mit spürbarem Behagen die wohltrainierten Muskeln seines Geistes spielen. Und der Leser, der das gesamte syntagmatische, paradigmatische, assoziative Geflecht des Diskurses mit einem Blick erfassen sollte, der müßte eigentlich, wenigstens asymptotisch, der Autor sein. Das kann man nicht verlangen. Und man sollte es daher füglich beim Lesen der Übersetzung auch nicht erwarten. Valéry ist kompliziert, oft sehr kompliziert. Man braucht bei etlichen Passagen zwei oder auch drei, vier Anläufe. Im übrigen gilt es, niemals aus dem Auge zu verlieren, daß diese Eintragungen gar nicht für Leser geschrieben worden sind (oder allenfalls zu einem sehr geringen Teil) und insofern eine ganz besondere Textsorte darstellen.
Unnötig zu betonen, daß das Bruchstückhafte, das Steno- oder Telegraphische einiger Passagen, die Haltung des »Je me comprends« (»Ich weiß ja, was ich sagen wollte«) uns Übersetzer in die Vertracktheiten des verstehenden Rekonstruierens gezogen hat. Man kann den Übersetzer hierbei vielleicht mit dem Interpreten einer älteren Partitur vergleichen, in der bezifferte Bässe, Stimmen, Instrumentation etc. nicht ausgeschrieben sind.
Nicht, daß wir etwa alle Kürzel in Langschrift umgeschrieben hätten. Nur materiell abgekürzte Wörter sind ausgeschrieben worden, wie auch schon in der Pléiade-Ausgabe, und wir haben dazu noch die eckigen Klammern in allen eindeutigen Fällen weggelassen (z.B. phil[osophie]). Solange es das Deutsche erlaubte, sind wir streng nach dem Grundsatz größtmöglicher Textnähe – gerade im Syntaktischen – verfahren. Wenn dennoch die eine oder andere Stelle – und sei es aus Gründen der eigenen Verständigung – »ausgeschrieben« sein sollte, dann, so meinen wir, ausschließlich mit Notenmaterial, das wir an anderer Stelle gefunden haben. Sollte das Ergebnis bisweilen »klarer« ausgefallen sein, als es das Original ist, so muß darin kein Verdienst gesehen werden, wenn man sich die Struktur der Hefte wie oben vorgestellt vergegenwärtigt.
Die übersetzerischen Schwierigkeiten sind nicht zuletzt durch die erstaunliche gedankliche Konsistenz und Persistenz einer Denk-Sprache, die einen hohen Grad an Homogenität der Begrifflichkeit und Terminologie aufweist, gemildert worden. Daß wir dem gerecht zu werden uns nach Kräften bemüht haben, verstand sich von selbst, hat es uns doch oft entscheidend die Orientierung erleichtert. Deshalb steht nicht nur ein Namens-, sondern auch ein Begriffsregister am Schluß jedes Bandes. Starrheit wäre allerdings auch hier vom Übel gewesen – einen Begriff unbedingt immer mit demselben Äquivalent zu übersetzen wäre gegen den Geist der Sache. Valéry selbst hat dazu den Hinweis gegeben: Ein Wort ist, was es ist, nur in seinem Satz. Sonst wird es eine Chimäre, und oft genug eine gefährliche.
Über die Prinzipien der Drucklegung der Cahiers nach den Originalmanuskripten hat Judith Robinson im Vorwort zu ihrer Ausgabe in der Bibliothèque de la Pléiade ausführlich Rechenschaft abgelegt. Diese Prinzipien haben wir für die deutsche Ausgabe übernommen, aber in Zweifelsfällen die Faksimile-Ausgabe herangezogen. Da wir hier jedoch keine kritische, sondern eine Lese-Ausgabe vorlegen wollten, haben wir den Beschreibungsapparat vereinfacht, beispielsweise die Hinweise auf Hervorhebungen durch Randstriche von der Hand Valérys sowie auf die besonderen Arten von Randbemerkungen weggelassen. Mit anderen Worten: jede mit A, B … bezeichnete Fußnote entspricht einer Randbemerkung. Wörter, die in der Handschrift durch großen Anfangsbuchstaben hervorgehoben sind, erscheinen entweder in Kapitälchen oder mit Initialen.
Unser Anmerkungsteil baut dankbar auf den Anmerkungen von Judith Robinson auf, geht jedoch erheblich darüber hinaus; er verzichtet allerdings in der Regel auf die Wiedergabe von Textvarianten. Die Verweise auf veröffentlichte Werke Valérys (wir glaubten, sie dem Leser nicht schuldig bleiben zu dürfen) beziehen sich überwiegend auf die von Jean Hytier besorgte zweibändige Ausgabe der Œuvres (Bibliothèque de la Pléiade) sowie auf die Werke in deutscher Übersetzung, die bereits vorliegen oder in Kürze als »Frankfurter Ausgabe« erscheinen werden.
Hartmut Köhler
Jürgen Schmidt-Radefeldt
Der vorliegende Band enthält die fünf Rubriken HEFTE, EGO, EGO SCRIPTOR, GLADIATOR und SPRACHE. Ihr inhaltlicher Zusammenhang soll kurz charakterisiert werden.
DIE HEFTE. – Diese ist die einzige der einunddreißig Rubriken, die nicht schon von Valéry selbst erwogen war. Die Einträge wurden von Judith Robinson als eine Art Eingangsreflexion über Sinn und Schicksal der Cahiers zusammengestellt und überwiegend den Rubriken EGO und EGO SCRIPTOR entnommen. So zeigt eine archäologische Ausstellung eingangs Bilder von den Ausgrabungen, ein Cineast seine Arbeitsphotos, ein Theatermacher das Bühnenbauen. Das Durchbrechen oder Überspielen fester Illusionsrahmen, dieses Einblickgewähren, diese Geste des »Seht her – so mache ich es«, gehört zu unserem Jahrhundert.
Man weiß freilich, wie geschickt die Kunst gerade beim Aufzeigen der Illusion neue Illusionen schuf; man weiß auch, wieviel sich mancher auf das Aufzeigen zugute tat. Valéry tut sich nichts zugute: er spricht ja nur zu sich selbst. Der erste Satz der Rubrik, in dem es heißt, auf diesen Seiten wolle er niemandem etwas vormachen, ist auch schon das Programm der geplanten Desillusionierung. Und sich selbst? Kann man denn ein halbes Jahrhundert lang für sich selbst schreiben, ohne sich selbst etwas vorzumachen? Die Frage stellen – so können wir einen berühmten, mit Eleganz ausweichenden Satz von Herrn Teste abwandeln – heißt, sich ein wenig schon in Valéry verwandeln …
EGO. – Was den Leser hier erwartet, ist eine Reise durch das innerste Bewußtsein, das ein Mensch, ein reflexives Wesen, von sich selbst hat. Und der Leser wird sich im Verlauf dieser Katabasis fragen: steht hier die Leidenschaft eigentlich im Dienste der Hellsicht oder umgekehrt? Er wird keine eindeutige Antwort bekommen, wird aber doch wohl zunehmend gewahr werden, daß Ratio stets um so triumphierender auftritt, je dringender Passio nach ihr verlangt, nach Steuerung, Bändigung, Befriedung.
Das, wonach gesucht, gerufen wird, ist im Grunde immer dasselbe: Ideen, »Mittel«, Fähigkeiten. Wozu? Auch das ist einfach zu sagen: zur Befreiung von den »Erpressungen« der Sensibilität. Das ich kann soll an die Stelle des ich bin treten, das Potentielle, das Vermögen an die Stelle des Aktuellen, des Seienden und, vor allem, des Gewesenen. Dies ist Valérys grand design, sein dauerhafter, dauerhaft unmöglicher Daseinsentwurf. Ein asymptotisches Streben: ständig unterwegs zu einer äußersten Grenze. Eine einzigartige Form des Extremismus. Unvermeidlich begleitet von vibrierender Unruhe, die sich in dramatischen Ausbrüchen von Selbsthaß entlädt und durch ganz seltene Augenblicke nicht minder extremen Glücks belohnt, nein: kompensiert wird. Hegels Satz »Die Ungeduld verlangt das Unmögliche, nämlich das Ziel ohne die Mittel« hätte Valéry – nach Weglassen des moralisierenden Teils – sehr wohl für sich meditieren können. Der Kampf gegen die »Erpressungen« der Sensibilität wurde geführt unter der Devise Allem entgehen durch Ideen und verfolgte die Herausbildung einer besonderen »intellektuellen Sensibilität«, die freilich auch eine besondere Art der Kälte und Illusionslosigkeit unter der Gegendevise Tun ohne daran zu glauben hervorrief. Der enormen Anstrengung blieb auf die Dauer der Erfolg in Form einer gewissen Stabilisierung und Verstetigung nicht versagt. Immer noch delikat und fragil genug. Die Abstoßung von der »Person«, vom Jemand, die Aufgabe aller Eigenschaften – keine Rasse, kein Metier, keine Vergangenheit – war der Preis. Oder besser gesagt: die Überführung alles dessen in den Status von Möglichkeiten. Doch diese Möglichkeiten hatten ein Zentrum, einen Sammelpunkt, den Valéry das reine Ich nannte. Und das war für ihn unleugbar eine lebenswichtige Entdeckung, durch welche das bisweilen äußerst bedrohliche Gefühl der Fremdheit gegenüber dem Dasein gebannt werden konnte. Aus der Erkenntnis »Man hat Angst nur vor sich selbst« gelangte das Bewußtsein nach und nach zu einem ungeahnten Grad von Autonomie. Gewiß auch von Autismus. Indessen war der Satz »Meine Methode bin ich« denn doch so etwas wie ein Triumph, oder zumindest das Empfinden, aus einer zerstörerischen in eine aufbauende Phase übergegangen zu sein.
Die zahlreichen methodischen Hilfsmittel bei dieser Ars Magna in Gestalt von Anleihen, analogischen Übertragungen aus Naturwissenschaft und Mathematik – Phase, Reizschema, Invariante etc. – werden später auch zu eigenen Erkenntniszielen. Die Isolierung der Ich-Analyse in einer Rubrik hat die darstellerische Berechtigung einer Allegorie – nicht mehr und nicht weniger. Allerdings ist es die Hauptallegorie, die alle anderen umkreisen.
EGO SCRIPTOR war ursprünglich eine Unterrubrik zu EGO. Der erste Eintrag mit dem Klassifizierungszusatz Ego Scriptor ist von 1930, also erstaunlich spät. Der eigentliche Anlaß zur Verselbständigung der Rubrik dürfte darin gelegen haben, daß das Scriptor-Ich inzwischen wenigstens drei Funktionen zu erfüllen hatte, und zwar sehr verschiedene, die miteinander in Konflikt lagen: das Schreiben der Denk- und Ich-Analysen, das Schreiben von Dichtung und das Schreiben von »Literatur«. Das aber mußte verteidigt, gerechtfertigt werden, denn es kam einem Abstieg durch ebenso viele Weltenalter gleich: die goldene Zweckfreiheit, die silberne Bindung an die Form, die eiserne Fron der Auftragsprosa. Reinheit, Kompromiß, Kompromittierung … Genus sublime, medium, humile … Und im letzten Eintrag der Rubrik, April 1945, wird es eingestanden: alle drei Genera haben dennoch in engstem Austausch miteinander gestanden.
Das Geheimnis der Dreifaltigkeit des Schreibens – für sich, für ideale und für andere Leser – ist in seinem tiefsten Ausdruck vielleicht in der Gegenüberstellung zweier Einträge dieser Rubrik faßbar: »Die schönste Dichtung hat immer die Form eines Monologs«. – » Das Denken in der Einsamkeit kennt keine Phrasen. Es kennt nur Sätze von schrecklicher Nacktheit. Es gibt Dinge, die sind für den wirklich Alleinseienden unmöglich. Und je schöner sie sind, desto weniger sind sie für sich; und um so mehr verlangen sie nach einem Anderen.« Das Problem des Schreibens, das Hin- und Herwandern zwischen Einsamkeit und Markt, zwischen Mystik und Ästhetik, zwischen Sein und Scheinen kann kaum zutreffender, ehrlicher ausgedrückt werden.
GLADIATOR. – Das Thema dieser Rubrik ist durch Gestalten der Mythologie Valérys (Herr Teste, Leonardo) schon vorgezeichnet, bevor der Gladiator in seiner ganzen Größe (ausgeschrieben seit 1916) auf den Plan tritt. Ein zentraler Ausgangspunkt ist die Idee vom Übermenschen, vom Willen zur Macht des Intellekts, vom Ecce homo und der Umwertung aller Werte; so gesehen, gewinnt Gladiator die Züge eines Zarathustra, der dem Leser/Hörer die Maximen einer »sportlichen Philosophie« nahelegt: Körper, Geist und Sinne müssen in höchstem Maße trainiert und dressiert werden wie bei einem »animal intellectual« oder Rassepferd. Bewußtsein und Bewußtheit, Denken und Handeln müssen durch gezielte Erziehung zu einem Höhepunkt an Reinheit, Einzigartigkeit und Wirtschaftlichkeit gebracht werden. Welche Mittel das Ich zu diesem Ziel fuhren? Übungen in Mathematik (Analysis, Kopfrechnen), in der Musik (Kombinatorik von Noten, Beherrschung eines Instruments), im Zeichnen (modellartiges Abbilden der Wirklichkeit), in der Sprachverwendung (Verse machen, Sprachkritik).
Damit werden die Grenzen des Möglichen angegriffen, das Ich steigert sich im Anspruch an sich selbst, an sein rational gesteuertes Denken; es wird gottähnlich (Jupiter), Idol und Genie, erkennt sich aber kritisch in seinem Stolz und Größenwahn. An Vorbildern ist kein Mangel: Cäsar, Tiberius, Leonardo, Goethe, Wagner, Poe, Mallarmé, Nietzsche …
SPRACHE. – Was ist und wozu dient mir und meiner Erkenntnis die Sprache? Inwiefern determiniert eine bestimmte Sprache mein Denken, und welchen Einfluß kann ich meinerseits auf die Sprache und meinen Sprachgebrauch nehmen? Derartige Fragen stellt sich Valéry notwendigerweise beim Schreiben seiner Hefte, ist ihre Antwort doch entscheidend für Erfolg oder Mißerfolg seiner Forschungen: vermittels Schrift das Gedachte zu übersetzen, Gedanken über das »nachgedachte Denken« einem möglichen Leser zu vermitteln.
Eines seiner ersten Hefte (1897) ist ausschließlich der Analyse der Sprache gewidmet, ein anderes wird später (1911) Sprache (L Langage) genannt, und das Sigel L bezeichnet den Stein des Anstoßes, der immer dann wieder ins Rollen kommt, wenn das reine Denken auf die unzulängliche Umgangssprache zurückgreifen muß. Ständig versucht Valéry, den eigenen Sprachgebrauch zu präzisieren, Begriffe zu definieren, die Sprache von Vagheit und falschen Problemen zu reinigen, und er kritisiert scharf den – vor allem philosophischen – Sprachgebrauch.
Das wahre Denken verbirgt sich hinter allem Sprachlichen, wird durch Sprache gefiltert und verfälscht; die innere Sprache und ihre interne Kommunikationsstruktur haben nur entfernt Bezug zur geäußerten Sprache. Ein Ziel muß also darin gesehen werden, die mentalen Funktionsabläufe der Versprachlichung des wirklich Gedachten zu rekonstruieren, der Mechanik des Denkens und der Konstitution von Bedeutung und Sinn der Wörter und Sätze nachzuspüren. Sprache ist aber wesentlich ein transitives Mittel, das nur im Durchgang eine Aufgabe erfüllt, denn vor der Verschlüsselung (vom reinen Denken zum Sprechen) und bei der Entschlüsselung (vom Gehörten zum Verstehen) der Umgangssprache müssen sich Phänomene der Nicht-Sprache einstellen oder wiederherstellen lassen. Verstehen vollzieht sich im Bereich der alltäglichen Kommunikation, indem die sprachlichen Mittel nach Erfüllung ihrer Aufgabe annulliert werden; was jedoch für die poetische Funktion der Sprache keineswegs zutrifft. Sprache ist ein Zeichensystem unter anderen – etwa Musik, Algebra, Gesten, Uniformen, Geld u.a.m. Sie muß somit über zeichenhafte und systematische Eigenschaften verfügen (vgl. Rubrik SYSTEM, Band II). In unterschiedlichen Zeichenmodellen (triadisch etwa: Wort, Sache, Bild) gründet Valéry eine seiner semantischen Theorien auf den Referenzbegriff, unterscheidet jedoch immer wieder zwischen dem formal-funktionalen, dem signifikativen und dem akzidentellen Gesichtspunkt derartiger Zeichenprozesse und -phänomene.
Sofern man nach wissenschaftsgeschichtlichen Bezugspunkten dieser Sprach- und Zeichentheorie fragt, könnte man Namen nennen wie Leibniz, Mallarmé, Bréal, F. de Saussure und die Ideen des Wiener Kreises, L. Wittgenstein u.a. Über die vor allem diachron orientierte Sprachwissenschaft war Valéry zeitlebens enttäuscht. Sein mentalistischer Ansatz, den er auf eigener Intuition begründet, kann für die Psycholinguistik ebenso befruchtend sein wie für die allgemeine Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie.
Bei der Erforschung der wahren Elemente und der klaren, einfachen Operationen des Denkens war es Valérys Maxime, »sich nicht durch die Zeichen täuschen zu lassen«. Diese Aufforderung sollte der Leser dieser Rubrik nicht außer acht lassen: kritische Haltung gegenüber allem Zeichenhaften.
Hartmut Köhler
Jürgen Schmidt-Radefeldt
Federzeichnung Paul Valérys von seinem Schreibtisch,
im Besitz von Herrn und Frau Julien Cain
Der Text über der Zeichnung lautet:
»Passe dans mes regards sans briser leur absence.« –
»Geht durch meinen Blick hindurch, ohne seine Abwesenheit zu brechen.
Hier soll keiner von mir betört werden.
(1897–1899. Tabulae meae Tentationum – Codex Quartus, I, 180.)
Selbsterörterung ohne Ende. (Ebenda, I, 229.)
Wenn je dies Suchen hier an die Öffentlichkeit soll, dann noch am ehesten in der Form: ich habe dies gemacht und das. Einen Roman, wenn man will, und wenn man will, auch eine Theorie.
Die Theorie von einem selbst. (Ebenda, I, 276.)
» … Diese Arbeiten präsentiere ich als – einen Versuch, und diesen Versuch als das Zeichen der Verwunderung, die mich überkam, als ich feststellte, daß man ihn niemals zuvor unternommen hatte.« (1898. Ohne Titel, I, 369.)
Um dieses Unternehmen zu verstehen, müßt ihr alle literarische Gewohnheit abstreifen – selbst die schlichte Logik –
jede Seite – da fängt etwas an, das mit der vorhergehenden nur durch das Ziel verbunden ist – Und es ist dennoch ein einziger durchgehender Satz, worin ein anderer, ein Hauptsatz steckt.
Kunstwerk aus den Fakten des Denkens selber.[1] (1899. Ohne Titel, I, 765.)
Wenn meine Arbeit nicht wertlos ist – dann ist sie sehr kostbar: und ich behalte sie für mich. Taugt sie nichts – hat sie für keinen irgendwelchen Wert, und ich behalte sie – für niemanden. (1900–1901. Ohne Titel, II, 163.)
Wie ein vernunftbegabtes Tier – sein Geist läuft – malmt – im Kreise wie ein starkes Tier. (1900 – 1901. Ohne Titel, II, 191.)
Ich empfinde all dies, was ich hier niederschreibe – diese Beobachtungen, diese Annäherungen, als einen Versuch, einen Text zu lesen, und dieser Text enthält eine Menge klarer Fragmente. Das Ganze ist schwarz. (1902. Ohne Titel, II, 479.)
Versuche, Skizzen, Studien, Entwürfe, Kladden, Übungen, Vortasten. (1903–1905. Ohne Titel, III, 339.)
Was immer in diesen meinen Heften steht, hat das Charakteristikum, niemals endgültig sein zu wollen. (1905. Ohne Titel, III, 599.)
Oft schreibe ich hier einen absurden Satz hin anstelle eines Blitzes, der sich nicht hat greifen lassen oder der – gar kein Blitz war. (Ebenda, III, 665.)
Ich spreche wie … eine Kladde mitsamt dem von mir immer wieder Durchgestrichenen, Darübergeschriebenen, Verworfenen, und bisweilen tritt eine sehr deutliche Linie, ein wesentliches Wort hervor. (1905–1906. Ohne Titel, III, 750.)
Waren mehrere Anläufe fruchtlos, gib nicht auf, insistiere aber auch nicht. Lagere das Problem lieber in den Kellern deines Geistes, wo es heranreift. Wandelt euch beide. (Ebenda, III, 779.)
In diesen Heften halte ich nicht »Meinungen« von mir fest, ich schreibe Bildungen in mir auf. Es ist nicht so, daß ich zu dem gelange, was ich schreibe, darauf komme, sondern ich schreibe, was dahin führt – wohin eigentlich? Ich notiere Figuren, die sich von selbst bilden, denen ich manchmal nachgehe – die ich auch nicht deutlicher, harmonischer, genauer finde als andere. Ich höre auf, bevor ich schreibe, daß sie nichts bedeuten, daß ich das Gegenteil sagen werde. Das lohnt gar nicht, denn ich weiß ja, welchen Wert sie für mich haben. (1915–1916. A, V, 753.)
Was in den Sinn kommt, wird erst dann wahrhaft »mein Gedanke«, meine Ansicht – mein Projekt –, wenn es kontrolliert, akzeptiert, zumindest vorläufig aufgenommen worden und zur Entfaltung vorgesehen ist, oder zur Aufbewahrung oder auch zur Anwendung – –
Somit ist das, was ich hier aufschreibe, oft nicht als »mein Gedanke« aufgeschrieben, sondern als möglicher Gedanke, der meiner werden kann oder nicht werden kann und also ausgeschieden wird.
Was sich bei einem Autor kritisieren läßt, ist nur der Richter über solche Eingänge. (1917. E, VI, 563.)
Ich vermerke hier die Gedanken, die mir kommen. Aber es ist nicht so, daß ich sie akzeptiere. Das ist ihr Rohzustand. Noch schlaftrunken. (1921, N, VII, 842.)
Ich beobachte an diesen Heften, daß mein Denken sich besonders in Transformationen gefällt, die denen der Analyse ähneln und die aus einer spontanen Analogietätigkeit hervorgehen […] (1922. S, VIII, 676.)
Es gibt Tage für Gesamtheiten und Tage für Einzelheiten. (1922–23. V, IX, 75.)
Das Problem, vor das ich mich immer dringender gestellt sehe, ist, wie ich meine Gedanken in eine Ordnung bringen kann, allerdings nicht in eine äußerliche, sondern in eine organische und nützliche Ordnung. (1924. E. Faire sans croire, X, 352.)
»Ich baue darauf, daß auf dem hier aufgezeichneten Weg bessere Köpfe als der meinige leidlich neue Dinge finden werden.« (1925. η. Jamais en paix!, X, 552.)
Ich habe bisweilen einige winzige Bruchstücke dessen gefunden, was ich eigentlich wollte. (Ebenda, X, 608.)
Meine Philosophie – ich werde mich wohl dazu entschließen müssen, die Hefte nach Gebieten und nach Themen anzulegen. (1925. θ. Comme moi, X, 776.)
Freude – Erregung, um 5 Uhr aufspringen und sich sogleich darauf werfen, eine Menge Gedanken gleichsam simultan niederzuschreibenA,
mit dem Gefühl extremer innerer Geschwindigkeit, die über die ganze verborgene Ausdehnung des geistig-seelischen Feldes hin (das dadurch überhaupt erst freigelegt wird) Verbindungen aufscheinen läßt
(denn in jedermann gibt es solch ein verborgenes Reich)
und die Sprache, selbst die innere, nicht schnell genug, um zu folgen und der Seele mitzuteilen, was sie andrerseits doch schon berührt (das ist das Flimmern des Meeres unter der Sonne –)
identifizierend,
sich spiegelnd, bei jedem Auftreffen eine bestimmte Menge von Dingen in sich beleuchtend, die wechselseitige Antworten der verschiedenen Ordnungen sind – empfindungshafte Antworten oder auch formelle, signifikative oder andere.[2] (1927. U, 27, XII, 207.)
A. [Anmerkungen, die mit Großbuchstaben gekennzeichnet sind, verweisen, wenn sie kursiviert sind, auf Besonderheiten der Eintragungen; wenn sie nicht kursiviert sind, auf Zusätze von Paul Valéry. D.Hrsg.] Ein Pfeil verweist auf die eine Seite vorher aufgezeichneten Gedanken.
Es ist eine Penelopearbeit, meine Arbeit in diesen Heften – denn es ist ein Heraustreten aus der gewöhnlichen Sprache und ein Wiederhineingleiten, ein Heraustreten aus der Sprache – im allgemeinen – das heißt dem – bloßen Vorübereilen, und ein Zurückkommen.
So wie die Sticknadel abwechselnd von beiden Seiten her die Webfläche durchsticht, so sticht auch der Geist hindurch und kommt wieder hervor und zeichnet und verknüpft mit seinem Faden die Welt, die die Gitterleinwand ist, der Kategorienkanevas. Er bildet dort Muster und Ansätze zu Mustern … Schmuckstickereien.
– Es gibt etwas in mir, dasA (1927–1928. X, XII, 606.)
A. Abgebrochener Satz.
Im Grunde – das hier (Hefte, Notizbücher), das ist ein Haufen Studien für some »philosophy« (whose name I dislike) – or a Misosophy, better – ein Haufen Entwürfe for an abstract scheme of the complexity of thoughts – in order to recall and possess in the shortest time a clearest sense of the manifold and possibilities involved in the appearance of person, single voiced, Ego – I and Me, that consciousness, at each moment it exists, imposes …[3] (1931. A’O’, XV, 72.)
Es ist jemand oder etwas in mir, der will nicht (schon 10 oder 20 Mal hat er verweigert) mit dieser Arbeit anfangen, die ich tun muß – wofür die Ideen schon da sind – ja sogar aufgeschrieben. Aber dieser Widerspenstige sträubt sich. Er liefert die Form nicht – die Ausgangsform. Jegliche Richtung, in die er aufbrechen könnte, mißfällt ihm. Der Widerwille ist stärker. Jeder abgebrochene Versuch steigert die Unlust.
– Überlegung. Ich habe gesagt: jemand. Denn es ist natürlich – urtümlich – wild –, einen Wunsch oder eine Abneigung, die sich einem mit der Person konformen Willen entgegenstellen, zu personifizieren; die Person ist das Vernünftige – das Gesellschaftlich-Gesellige – das Vorausschauende. (1932–1933. Ohne Titel, XVI, 102.)
Wozu zum Teufel nützt das alles oder kann das überhaupt nützen, was ich hier notiere? Das ist das morgendliche Umhertappen; und ich bin wie nicht-ich-selbst, gestört in meinem Tagesgefühl, wenn irgendein Umstand mich davon abhält, eine Stunde oder zwei seelische Morgengymnastik zu treiben, zweckfrei, zwischen 5 und 7. Immer dieselben Gedanken seit 92! (1933–1934. Ohne Titel, XVI, 793.)
Ego
Ich stelle fest, daß ich diesen Heften niemals anvertraue, worüber ich mich freue, und kaum jemals, woran ich leide, noch was, ganz allgemein, rein augenblicklich ist. Beschreibungen, Erinnerungen. Wohl aber, was mir dazu angetan scheint, mein Transformationsvermögen zu vergrößern – meinen Implex durch Kombination zu verändern.
Das setzt eine Art Glauben an irgendwie geartete Erbauung voraus.[4] (1934–1935. Ohne Titel, XVII, 687.)
Acht Uhr
Vor fünf aufgestanden – um acht scheint es mir, daß ich schon einen ganzen Tag lang geistig gelebt, somit das Recht erworben habe, bis zum Abend dumm zu sein. (1935. Ohne Titel, XVII, 794.)
Wenn ich Fragmente aus diesen Heften nehme und wenn ich sie mit in eine Reihenfolge bringe und veröffentliche, wird das Ganze wohl etwas darstellen. Der Leser – und auch ich selbst – wird es zu einer Einheit formen.
Und diese Formung wird in seinem Verstande, oder sogar in meinem, etwas anderes sein, darstellen – etwas von mir bislang nicht Vorhergesehenes. (Ebenda, XVII, 892.)
Ich versuche und habe versucht – für meinen Privatgebrauch und ohne die geringste Verbreitungsabsicht – (im Gegenteil!), zu sehen, was ich sehe – und mich auf das zurückzunehmen, was ich kann.
Das ist es, was ich mit dem Goldwert vergleiche. (1935. Ohne Titel, XVIII, 149.)
Sich nicht glauben –
Diese Hefte stehen für die provisorische und immerwährend provisorische Natur all dessen, was mir durch den Kopf geht. Penelope. (Ebenda, XVIII, 201.)
Ich bin wie eine Kuh am Pflock, dieselben Fragen grasen seit 43 Jahren meine Gehirnwiese ab. (1936. Ohne Titel, XVIII, 648.)
18. 4. 37
Was ich hier schreibe, schreibe ich nur mir.A (1937. Ohne Titel, XIX, 883.)
A. Satz auf der ersten Seite des Heftes, von einer aquarellierten Schlange umgeben.
In dieser Stunde, 5 Uhr morgens, widerstrebt es mir, mit dem Geiste arbeiten und dabei an die Meinung anderer denken zu müssen.
Das ist die Stunde, so wenig ähnlich, so sehr einzig zu sein wie möglich – – (1937. Ohne Titel, XX, 161.)
Ego
Diese Notizhefte sind mein Laster. Sie sind auch Anti-Werke, Anti-Fertiges.
Was das »Denken« betrifft, sind Werke Verfälschungen, denn sie schalten das Vorläufige und Nicht-Wiederholbare aus, das Augenblickliche und die Mischung von rein und unrein, Ordnung und Unordnung (1937–1938. Ohne Titel, XX, 678.)
Ego
Es ist nicht unmöglich, daß diese Schreibereien, diese Art, alles zu notieren, was in den Sinn kommt, für mich eine Form des Wunsches sind, mit mir zu sein und sozusagen ich zu sein – Und ich merke das, wenn ich beobachte, wie erleichtert ich mich vor diesen Heften einfinde, gleichsam in Pantoffeln – ich denke dabei an das, was mir einfällt – und nicht an das, woran man für die andern denken muß.
So daß diese Notizbücher und die darin ausgedrückten Gewohnheiten mir eigentlich eher »Ursachen« der Schreibereien sind als Wirkung und Agens einer ausdrücklichen Absicht, dies oder das niederzuschreiben. (1938. Polynésie, XXI, 349.)
Sie sprechen von geistigem Leben – von DENKEN usf. Aber nur nicht aufblähen.
Ich brauche morgens dieses Heft und meine Zigarette – und beide gleich notwendig. Andernfalls leide ich. Das Heft ist Manie, aber die Gewohnheit ist so alt und fest, daß der »Wert« der Dinge, die aus dem (noch halb schlafenden) Geist in das Heft gelangen, selbst Gewohnheit ist.
Wie bei der Rebe, deren Erzeugnis angeblich alle 4 Jahre »besser« ist – »Gut« nennt man den Wein des Jahres (C + 4 N)A und »Wert« wird die Qualität der Anwendungspunkte sein (oder der Gesichtspunkte). (1938. Ohne Titel, XXI, 435.)
A. Dies GUT wird unabhängig vom Geschmack werden!
Was ist das also, was ich mache?
Im Grunde zeichne ich nur nach, was ich in der ersten Absicht gedacht habe. Und diese Hefte sind ein ständiges Durchpausen. (1939. Ohne Titel, XXII, 156.)
Mit einem Mal SEHE ich diesen Tisch, an den ich mich doch jeden Tag setze.
Mit einem Mal entdecke ich ihn, und meine ganze persönliche Unordnung, auf diesem Unterbau meiner Dauermühen, wo sich schon so viele Ich-selbst aufgestützt haben, soviel Überdruß und Selbstgefälligkeit, soviel Mißvergnügen, so viele Wünsche, Ängste, soviel Ungeduld und Mißgelauntheit – so viele Stimmungen.
Seit 40 Jahren trägt er meine Hände, diese ewigen Hefte, und meine kleinen Arbeiten, von ihren Anfängen bis zu ihrer Fertigstellung. (1940. Ohne Titel, XXII, 886–887.)
Tagebuch des Ich –
Ich schreibe nicht »mein Tagebuch« – Es würde mich zu sehr langweilen, DAS aufzuschreiben, was zu vergessen mich am Leben erhält; DAS, was nichts kostet als die ungeheure Mühe, hinzuschreiben was nichts kostet; DAS, was nicht häßlich ist und nicht schön, nicht wahr und nicht falsch (wenn es vollständig ist) – ja nicht einmal ich noch ein anderer – und was für einen anderen so willkürlich beliebig ist, wie er es nur will. Ich bedaure, manche kuriosen Dinge, die ich sah oder hörte, nicht aufgeschrieben zu haben –, einige einzigartige Eindrücke. Ich habe nur »Ideen« notiert – oder besser – (im allgemeinen) Momente, die besonders einfach waren oder besonders neu oder besonders fruchtbar – schienen – und sich »in mir« ereigneten. (Ebenda, XXIII, 8.)
Ego. Das hier.
Ich schreibe diese Notizen ein wenig so, wie man Tonleitern übt – und sie wiederholen sich auf dieselben Töne seit 50 Jahren – ein wenig so, wie man zu einer bestimmten Stunde spazierengeht – jeden Tag. Und ich schreibe sie nicht, um daraus so etwas wie ein Werk oder ein System zu machen, sondern so, als sollte ich unbegrenzt weiterleben, eine stationäre Aufgabe erfüllend – so wie eine Spinne ihr Netz webt, ohne jedes Danach oder Davor, so wie ein Mollusk mit seinen schraubenförmigen Ausscheidungen fortfahren würde – er sieht doch gar nicht ein, warum oder wie er aufhören sollte mit dem Sekretieren, Stück um Stück.
Der Fall meines Geistes scheint mir daher einzigartig und im Gegensatz zu den meisten anderen Geistern zu stehen; und dennoch vollkommen allgemein und zoologisch, wenn ich ihn unter organischem Blickwinkel betrachte. […] (1940. Rueil-Paris-Dinard I, XXIII, 387.)
Projekt meines Dictionnaire philosophique[5] oder das einfachste Mittel, mir den Stoff dieser Notizbücher vor Augen zu führen- und mir das Übel, die Mängel und das im Innersten (mir gegenüber) Lächerliche eines Systems zu ersparen – will sagen einer im wesentlichen künstlichen Fabrikation. Denn es besteht doch keinerlei Wahrscheinlichkeit, daß die Tätigkeit des Denkens an einem bestimmten Punkt halt macht – aus anderen als akzidentellen Umständen. Sollte das Denken nämlich glauben, an einem solchen Punkt die Vollkommenheit der Analyse und des Ausdrucks erreicht zu haben, so ist das eine Empfindung und kein Gedanke –. Das ist dann außerhalb der Gruppe.
System bedeutet Architektur, was Ordnung, Symmetrien, Vollendung voraussetzt[6] – das heißt Ergänzung durch Hinzufügungen, wie sie nahelagen oder notwendig wurden durch andere Sichtweisen als die unmittelbare Wahrnehmung der Bedürfnisse, die die wahrhaft lebenswichtigen Gebäudeteile erzeugt haben – es ist dies eine Arbeit zweiter Stufe, oder manchmal sind es im Gegenteil die organischen Teile. Der Nutzen und die Wirkung.
– Eine »Philosophie« muß in der Hand transportierbar sein.
Bedingungen – Schnelle Substitutionen ermöglichen, Ökonomie – und vollständige Durchführungen – bei Bedarf – »Matrizen«. Angelegenheit der Sprache.
4. 7ber4I
Memoiren von mir
Ich könnte ein Buch machen aus meinen Gedanken, so wie sie mir kamen und kommen, nicht als Wahrheiten oder als Willensbekundungen, wofür die Philosophen die ihren ausgeben, sondern als die allergewöhnlichsten Tatsachen und Vorgänge meines Lebens, und fast so wie man ein Tagebuch führt, ohne daß man dem Bemerkenswerten, Seltenen oder Nicht-Seltenen mehr Bedeutung zumißt als ein Barometer oder Thermometer den Druck- und Temperaturwerten der Luft, wo die Extreme genauso verzeichnet werden wie der Rest.
Die Produktion von IdeenA ist bei mir eine natürliche, gleichsam physiologische Tätigkeit – deren Unterbindung meinen körperlichen Zustand ernsthaft beeinträchtigt, deren Ausübung mir unerläßlich ist. (1941. Cahier de vacances à M. Edmond Teste, XXIV, 837.)
A. Die Ideen dieser Art sind nicht die, die der Nutzen oder die Umstände erfordern oder als Mittel gebrauchen, sie kommen in meinen Handlungen und Zielen nicht vor und gehören auch nicht zu denen, die irgendein Werk zum Gegenstand oder zum Gefäß haben – Nach der Natur und selbst nach der Tageszeit ihres Entstehens unterscheide ich diese von jenen – – –
Ego
Ein Unbekannter in mir sagt boshaft: »Diese Hefte sind dein Laster«. Und das Bedürfnis, jeden Morgen Notizen zu schreiben, ist etwas, das durchaus auch nicht geschehen könnte, ebenso seltsam, dringend und unreflektiert wie der Tabakgenuß – im übrigen mit ihm verbunden. Es ist recht erheiternd, daß meine Reflexionen die Frucht eines unreflektierten, stundenweisen Vermögens sind und daß es zu einer bestimmten Zeit dem Zwang der Freiheiten des Geistes zu gehorchen gilt.
Laster? – Der imaginäre Schaden, auf den dieser Vorwurf anspielt – ist ja, daß ich auf diese Weise Zeit vergeude, die für benutzbare Werke verwendet werden könnte.
Aber – ich habe niemals in mir die Tugenden eines Autors gefunden, so wie man sich Autoren vorstellt. Niemals, zu keiner Zeit habe ich mein Leben aufgefaßt als einer äußeren Produktion geweiht. Alle meine Produktionen entstanden aus einem Seitensprung meiner wahren Natur und nicht aus Gehorsam ihr gegenüber. Selbst meine Verse – denn ich habe sie stets als in ewiger Verfertigung befindlich betrachtet und veröffentlicht nur per accidens. Ein Gedicht ist für mich eine unbegrenzte Zerstreuung, ein Gegenstand, der sich einen Augenblick lang aus seinen Entwürfen und Tilgungen heraushebt, geformt erscheint, dann – nach beliebig langer oder kurzer Frist aber wieder erscheint als das Mögliche herausfordernd – das Begehren reizend …
Denn der Geist braucht seine Ohnmacht für den Liebesakt. (1942. Ohne Titel, XXV, 552.)
Ego
Wenn ich in diese Hefte schreibe, schreibe ich mir, schreibe ich mich.
Doch ich schreibe mir nicht alles, ich schreibe mich nicht ganz. (1944. Ohne Titel, XXVIII, 236.)
Mein ewiges Heft ist mein »Eckermann«.
(Man braucht nicht Goethe zu sein, um
sich einen treuen Gesprächspartner zu leisten.)
Ich sage ihm, was kommt,
Wie es kommt –
(Aber nicht alles, was kommt –
Und noch weniger
Alles, was kommen könnte,
Wenn …?)
(1945. Ohne Titel, XXIX, 416.)
Diese Sätze lassen sich als Selbstdefinition für das »Unternehmen« der Cahiers auffassen. Sie lassen sich freilich auch auf Mallarmés Würfelwurf und das dort im Vorwort formulierte Kunstziel einer Annäherung des Schreibens an die Denk- oder Hirnvorgänge »in ihrer Nacktheit« beziehen. Eine folgenreiche Zielsetzung, die Valérys »Unternehmen« prägte und die beispielsweise noch für André Bretons Definition des Surrealismus bestimmend wirkte.
Zu der von Valéry häufig gebrauchten Begriffstrias »formell – signifikativ – akzidentell« (die »3 Gesetze«) siehe vor allem die Rubrik SYSTEM in Band 2 dieser Ausgabe.
Valéry hatte leidlich gute Kenntnisse im Englischen und sprach italienisch mühelos. Des Deutschen war er nicht mächtig (im Gegensatz zu André Gide), doch finden sich gelegentlich deutsche Ausdrücke und Begriffe (besonders der Philosophie) in den Cahiers. Alle fremdsprachigen Wörter in den Cahiers haben wir ebenso wiedergegeben, bisweilen mit einer Übersetzung versehen, jedoch nicht im Falle der englischen Begriffe (z.B. egotism, mind, self-cousciousness, strange oder objectivity).
Dieser Eintrag ist – mit Varianten – abgedruckt in den 1944 erschienenen Propos me concernant (Oe., Band II, 1524; Werke, Band 2, in Vorb., Zu dem was mich betrifft). Dies gilt auch für einige weitere Einträge dieser und der folgenden Rubrik, wird jedoch nicht mehr im einzelnen verzeichnet.
Nach Voltaire. Vgl. dazu Rubrik EGO, Anm. 208.
Vgl. die Rubrik SYSTEM in Band 2 dieser Ausgabe.
Vgl. die Rubrik PHILOSOPHIE in Band 2 dieser Ausgabe.
Cahiers Bd. XVIII, 537 (1935). Selbstportrait
Strenge der Phantasie ist mein Gesetz. (1894. Journal de bord, I, 25.)
Verstanden habe ich etwas, wenn mir scheint, ich hätte es erfinden können. Und ich weiß es ganz und gar, wenn ich zuletzt glaube, ich sei selbst daraufgestoßen. Die Variationen. Methode. (Ebenda, I, 53.)
Höher als alle anderen schätze ich die disjunktiven Geister. (Ebenda, I, 59.)
Ich achte, kurz gesagt, bei allem nur darauf, wie leicht oder wie schwierig es zu verstehen oder auszuführen ist – ich verwende die größte Mühe darauf, dies zu ermessen, und nicht darauf, mich daran zu binden.
Ich existiere, um etwas zu finden. (Ebenda, I, 128.)
Meine Natur verabscheut alles Vage, (1896–1897. Selfbook, I, 101.)
Mein Leben hat nichts Außergewöhnliches. Aber durch die Art, wie ich darüber denke, wird es verwandelt. (Ebenda, I, 107.)
Unter den Männern, die noch leben und allgemein bekannt sind, bewundere ich persönlich