Carry me through the night - Leonie Lastella - E-Book
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Carry me through the night E-Book

Leonie Lastella

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Beschreibung

Man kann sich nicht aussuchen, an wen man sein Herz verliert So unvergesslich wie die erste Liebe: Die Romane von Leonie Lastella - Eine New-Adult-Romance mit Suchtfaktor - Leonie Lastella widmet sich hier dem viel diskutierten Thema GhostingAuf einem Stipendiaten-Empfang der Berkeley Universität trifft Autumn auf Ryan. Seine geheimnisvolle Art zieht sie magisch an – obwohl ihre oberste Regel lautet: Verschenke nie dein Herz, denn Gefühle machen angreifbar. Trotzdem flirtet sie mit Ryan. Trotzdem kommen sie sich immer näher. Was unverbindlich beginnt, wird schnell eine emotionale Achterbahnfahrt. Bis Ryan von einem Tag auf den anderen spurlos aus Autumns Leben verschwindet und ihr damit das Herz bricht. Doch als sie ihn zufällig wiedertrifft, muss sie erkennen, dass sich nichts an ihren Gefühlen für ihn geändert hat. Aber kann sie Ryan wirklich verzeihen, dass er sie geghostet hat? Und was steckte hinter seinem Verschwinden? Folgende weitere Romance-Titel sind von Leonie Lastella bei dtv erschienen: »Das Licht von tausend Sternen« »Wenn Liebe eine Farbe hätte« »So leise wie ein Sommerregen« »Seaside Hideaway – Unsafe« »Seaside Hideaway – Unseen«

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Seitenzahl: 456

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Leonie Lastella

Für Lasse.

Trust me.

You are magic.

I have seen your

darkest nights

and brightest days

and I want you to know

that I will be here

forever

loving you

in dusk.

 

Atticus

Autumn

Ich bin wirklich hier. In Kalifornien. Rund dreitausend Meilen entfernt von meinem bisherigen Leben. Von meiner Familie. Es fühlt sich unwirklich an. Frei, gut … und gleichzeitig furchtbar.

Denn für meinen Traum lasse ich Mom im Stich. Mit meinen vier kleinen Geschwistern, dem alten Haus, das ich trotz der abblätternden Farbe und der viel zu kleinen Zimmer liebe. Und mit den Geldsorgen, die sie genauso langsam, aber unaufhörlich auffressen wie die Termiten unsere Veranda. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann alles so instabil wird, dass es zusammenbricht.

Wie läuft es bei euch, Mom?, tippe ich in mein Handy.

Mein Herz verkrampft sich bei dem bloßen Gedanken daran, mein Stipendium für das Grafikdesign-Studium an der UC Berkeley und mein neues Leben unter kalifornischen Schäfchenwolken aufzugeben, sollte sie auch nur andeuten, sie käme nicht zurecht.

Uns geht es hervorragend, Süße. Mach dir keine Sorgen. Genieß lieber das Stipendiatendinner. Du wirst sie alle umhauen. Kuss, Mom und die Kleinen.

Ich lächle und wünschte, ich könnte sie in diesem Moment umarmen. So fest wie bei unserem Abschied vor fünf Tagen. Weil ich sie vermisse. Und noch mehr, weil sie mir die Wahrheit verschweigt, um mir diesen Neuanfang zu ermöglichen. Eine Wahrheit, die ich trotz allem kenne. Es geht ihr nicht hervorragend. Sie strampelt sich ab, arbeitet so viel, dass sie sich zwischen ihren Jobs und meinen Geschwistern zerreißt. Wir leben in einer Gegend, in die sich kein Fetzen Perspektive verirrt. Menschen, die dort aufwachsen, greifen nicht nach den Sternen. Weil niemand sie dazu ermutigt. Und weil die glühenden Himmelskörper an diesem Ort weiter entfernt erscheinen als anderswo.

Und doch bin ich hier. Weil Mom anders ist und mir beigebracht hat, meine Träume zu verfolgen und hart dafür zu arbeiten. Nur deswegen habe ich das Stipendium bekommen, studiere an meiner Traum-Uni und wohne zum ersten Mal in meinem Leben in einem Zimmer, das nur mir gehört. Fast nur mir. Mein Blick wandert zu der karg eingerichteten Zimmerhälfte meiner Mitbewohnerin Tess hinüber. Sie ist so gut wie nie hier, und das ist neben ihrer unkomplizierten Art das, was ich bis jetzt am meisten an ihr mag.

Mit einem Lächeln stelle ich die Musik lauter, schließe meine Augen und tanze, als müsste ich den Raum füllen, der plötzlich so viel Luft zum Atmen lässt.

»Du bist jetzt aber kein Hippie oder so was?«, reißt mich plötzlich eine Stimme aus meiner Tanz-als-würde-dir-keiner-zusehen-Performance.

Es ist Tess. Ich habe sie nicht kommen hören, aber sie ist da, lehnt im Türrahmen und starrt mich an, als hätte ich eine Schraube locker.

»Von dem Geruch von Räucherstäbchen muss ich nämlich kotzen«, sagt sie, wirft ihre Tasche aufs Bett und schließt die Tür hinter sich.

Ich will die Musik ausstellen, aber Tess schüttelt den Kopf. »Lass an. Ist eine gute Band.« Sie kneift die Augen zusammen und mustert mich. »Dachte nicht, dass Klangschalentussis auf My Chemical Romance stehen.«

»Ich besitze keine Klangschale«, erwidere ich mit einem Grinsen und setze auch ihre direkte Art auf die Liste der Dinge, die ich an meiner neuen Mitbewohnerin mag. »Und auch keine Räucherstäbchen. Ich bin einhundert Prozent hippiefrei, versprochen.«

»Du tanzt also nur so durchs Zimmer?« Argwöhnisch mustert sie mich. Der Gedanke scheint noch bedenklicher für sie zu sein als eine Hippie-Mitbewohnerin.

»Der Stipendiatenempfang macht mich nervös. Deswegen dachte ich, ich lasse etwas Dampf ab«, erkläre ich, um Tess die Sorge zu nehmen, sie könnte es mit einer komplett Irren zu tun haben.

»Piekfeine Veranstaltung.« Sie nickt. »Aber mach dir keine Sorgen. Die Sportler-Stipendiaten …« Genussvoll verdreht sie die Augen.

»… machen diese ganze Stock-im-Hintern-Veranstaltung erträglich?«, rate ich und bringe Tess damit zum Lachen.

Sie ist ebenfalls Stipendiatin, bereits im zweiten Jahr, und hat angeboten, mich später zu begleiten. So kenne ich wenigstens schon jemanden und sie kann mir zeigen, wie alles läuft.

Ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass ich im Grunde eine Wildfremde für sie bin, zieht Tess sich das Shirt über den Kopf und schält sich dann auf einem Bein hüpfend aus ihrer Jeans. Nur in Unterwäsche öffnet sie ihren Kleiderschrank. Er beherbergt ein wildes Durcheinander an Klamottenbergen. Zielsicher zerrt sie mehrere Kleider und Röcke heraus und breitet sie auf dem Bett aus. Dann erfolgt ein Auswahlverfahren, das sich mir nicht ganz erschließt. Als sich nur noch zwei Kleider in der engeren Auswahl befinden, dreht sie sich zu mir um.

»Was meinst du? Das oder das?« Abwechselnd hält sie erst ein blassrosa Kleid vor sich, dann ein schlichtes und doch aufregendes schwarzes.

»Sehen beide toll aus.« Ich zucke die Schultern.

Sie vertagt die Entscheidung und deutet auf meinen Kleiderschrank. »Was ziehst du an?«

Neben meinen langen und kurzen Jeans und einer Handvoll verschiedener Tops hängen eine Reihe Flanellhemden im Schrank, die ich überwerfe, wenn es kühler wird. Sie haben Dad gehört und aus irgendeinem trotzig bescheuerten Grund habe ich sie all die Jahre aufbewahrt und mit nach Kalifornien geschleppt.

Daneben, ganz links, befindet sich das Kleid, das ich mir extra für den Empfang gekauft habe. Von dem Trinkgeld, das ich in den letzten Jahren im Hillstones bekommen und eisern gespart habe. Es ist ein zartes dunkelblaues Kleid, dessen Chiffon bis kurz über meine Knie fällt. Ein schmaler cognacfarbener Gürtel betont die Taille. Ich ziehe es aus dem Schrank und halte es vor mich.

Tess pfeift durch die Zähne. »Heißes Teil. Steht dir bestimmt mega.« Sie zwinkert mir zu.

»War auch megateuer. Aber wo die Liebe hinfällt.« Ich ziehe eine Grimasse und lache. Es ist total verrückt und untypisch für mich, so viel Geld für ein bisschen Stoff auszugeben, aber ich bereue es nicht. Es ist das erste Mal, dass ich mir den Luxus gönne, etwas für mich zu tun, und ich habe mir fest vorgenommen, das Beste aus meiner Zeit hier zu machen.

Tess nickt. Ihrem vollen Kleiderschrank nach zu urteilen, versteht sie mich genau. »Wenn ich daneben noch eine Chance auf einen Sportler-Hotti haben will, erfordert das definitiv das kleine Schwarze«, beschließt sie und stößt mich leicht an der Schulter an. »Wir werden heute total viel Spaß haben. Was meinst du?«

Ich meine, dass ich Tess mag. Mit jeder Sekunde mehr. So sehr, dass ich dieses Zimmer sogar freiwillig mit ihr teilen würde.

Ryan

Meine Laune ist nicht wirklich partytauglich. Wenn man das hier überhaupt als Party bezeichnen kann. Ich schwenke mein Glas, als wäre das Wasser darin Whiskey, und lehne mich gegen eine der Säulen der Wheeler Hall, in der das alljährliche Stipendiatendinner zum Semesterbeginn stattfindet. Ein Typ, der aussieht, als hätte er eine der Säulen im Hintern stecken, wirft mir einen missbilligenden Blick zu. Wahrscheinlich sind die Dinger heilig oder so etwas. Warum musste Nate mich auch unbedingt herschleppen? Und warum zum Teufel bin ich mitgegangen?

Die Antwort entlockt mir ein tiefes Seufzen. Weil ich zu Hause nichts anderes zu tun gehabt hätte, als an Willow zu denken. Ich schiebe ihr Bild weg, bevor ich mich daran festbeißen kann. Das hört sich einfach an. Ist es aber nicht.

»Sieht vielversprechend aus.« Nate reißt mich aus meinen Gedanken, während er den Raum weiter nach potenziellen Flirtopfern abscannt. »Ein paar Mädels haben schon zugesagt, später mit auf die Party bei Kappa Nu zu kommen.«

»Super«, brumme ich und wedle mit meiner Hand, als hätte das je ausgereicht, ihn zu verscheuchen. Natürlich bleibt er vollkommen unbeeindruckt. »Du darfst mir später danken, wenn die geilste After-Party der Welt vorbei ist. Ich habe den Freshies versprochen, dass wir sie in deinem Truck mitnehmen.« Er wartet meine Zustimmung nicht ab. »Wie ist deine Ausbeute?«

Er redet genug für uns zwei, deswegen zucke ich nur mit den Schultern, um zu zeigen, dass ich keine klargemacht und auch kein Interesse daran habe, das zu ändern.

»Du bist ein beschissener Wingman, Hunter.«

»Vielleicht, weil ich nie zugestimmt habe, dein Wingman zu sein.« Ich ziehe eine Augenbraue nach oben und sehe ihn düster an.

»Wenn du meinst.« Er formt mit Daumen und Zeigefinger beider Hände einen Bildausschnitt, in dem ich das Zentrum bin. »Könnte funktionieren. Gibt ja das Gerücht, dass Frauen auf diese düstere und geheimnisvolle Masche stehen. Das werden wir gleich mal testen.« Er zwinkert mir zu und winkt ein paar Mädchen heran, die genau in dem Moment den Saal betreten.

Ich kann ein Stöhnen nicht unterdrücken. »Nate, ernsthaft. Ich will einfach nur meine Ruhe.«

»Ruhe?« Er macht ein Würgegeräusch, das zeigt, wie viel er davon hält. »Wir sollten lieber herausfinden, ob du deine Taktik ändern musst.« Nate hat genau wie ich ein Baseball-Vollstipendium an der UC Berkeley und ist auf dem Feld ein unglaublicher Stratege. Leider verwechselt er das echte Leben oft mit dem Spielfeld. Wie ich ist er im zweiten Jahr, und seitdem wir gemeinsam in der Uni-Mannschaft spielen, hängen wir zusammen ab. Egal, wie sehr er mich manchmal mit seiner guten Laune nervt, er ist ein verlässliches Gegengewicht und reißt mich mit. Wahrscheinlich sind wir deswegen Freunde. Auch wenn er im Grunde keine Ahnung hat, wer ich eigentlich bin. Sicher könnte ich das ändern, aber es gibt Gründe, warum ich mein Privatleben und das Studentendasein strikt voneinander trenne.

Die Mädchen erreichen uns. Und als wäre das nicht schlimm genug, entdecke ich Megan unter ihnen. Vor einem halben Jahr haben wir auf einer Party miteinander rumgemacht. Seitdem hängt sie, wann immer sich die Gelegenheit ergibt, an mir wie eine Klette. Ich sehe das nicht als Kompliment. Eher als ein Zeichen dafür, dass sie kein Nein akzeptiert. Denn ich habe ihr von Anfang an klargemacht, dass ich nie mehr wollte, als dass sie meinen damals echt miesen Abend etwas besser macht. Sie war einverstanden, nur eine Ablenkung. Nicht mehr. Allerdings fühlt sich die Art, wie sie sich gerade an mich schmiegt und mir zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange haucht, verteufelt nach mehr an.

»Na, hast du mich vermisst?« Eine Frage, die sie als Scherz tarnt.

Ich löse sanft ihren Arm von meiner Taille und mache einen Schritt nach hinten. »Ich vermisse generell niemanden.« Meine Stimme taucht in tiefes Schwarz. Weil es eine verdammte Lüge ist, die sich wie Batteriesäure durch meine Brust ätzt. Es stimmt, dass mir Megan nichts bedeutet. Genau wie mir jedes andere Mädchen egal war, mit dem ich in den letzten zwei Jahren etwas hatte. Aber es gibt einen Menschen, den ich immer vermissen werde. Willow.

»Wir sollten uns langsam setzen. Das Dinner müsste bald losgehen«, höre ich Nate sagen. Eine unmissverständliche Einladung an Megan und ihre Freundinnen, sich zu uns zu setzen. Ich werfe ihm meinen tödlichsten Blick zu, bringe ihn damit aber nur zum Lachen. Als er vollkommen ungerührt den nächstbesten Tisch ansteuert, zeige ich ihm den Mittelfinger, füge mich aber gleichzeitig in mein Schicksal. Was bleibt mir auch anderes übrig. Die Feier bei Kappa Nu beginnt erst in zwei Stunden. Zwei Stunden, bis die ohrenbetäubend laute Musik und das ein oder andere Bier dafür sorgen werden, dass meine Gedanken aufhören, sich um den immer gleichen Menschen zu drehen.

Natürlich setzt sich Megan neben mich. Das war nicht anders zu erwarten. Sie glaubt offenbar, dass meine abweisende Art und meine klare Ansage nur dafür gedacht sind, ihren Kampfgeist zu wecken.

Ich brauche dringend Abstand. Der Stuhl schrappt über den Holzboden, als ich ihn zurückschiebe, obwohl ich mich gerade erst hingesetzt habe. »Will noch jemand was?«, werfe ich in die Runde und deute auf mein Glas. »Ich gehe was zu trinken holen.« Doch sobald ich mich einen Schritt vom Tisch entferne, steht Megan ebenfalls auf. »Ich begleite dich«, gurrt sie, die Stimme so anschmiegsam wie ihre Hand, die sich auf meinen Unterarm stiehlt.

Ich atme geräuschvoll aus. Überlege, ob ich sie einfach mitgehen lasse, obwohl Abstand zwischen sie und mich zu bringen der einzige Grund war, überhaupt aufzustehen. Ob ich es ertrage, noch zwei Stunden von ihr angegraben zu werden? Die Antwort ist Nein. »Meg, mein Glas ist noch halb voll«, sage ich deswegen leise. Aber egal, wie sehr ich mich bemühe, jeder am Tisch hört mich. Eine öffentliche Abfuhr wäre unfair, also schließe ich sie in meine Arme, murmle dicht an ihrem Ohr: »Ich brauche nicht wirklich einen Drink. Ich wollte nur etwas Zeit für mich. Abstand.«

Sie macht sich von mir los, starrt mich an. Als hätte ich ein Versprechen gebrochen, das ich nie gegeben habe.

»Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich keine Beziehung will.« Obwohl es mir leidtut, bleibe ich unnachgiebig. »Nicht mal etwas, was von Weitem so aussieht.«

Megan atmet zitternd ein, schafft es aber schnell, ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen. »Ahnt ja keiner, dass du das so ernst meinst.«

»Todernst.« Meine Stimme lässt keinen Zweifel.

Blut pulsiert unter Megans heller Haut und sie lacht kühl. »Wir hatten Spaß. Ich dachte einfach, das könnte man wiederholen.« Ihre Stimme schwankt. Sie fährt sich durch die Haare. »Aber wie es aussieht, stehst du nicht auf Spaß. Ist kein Ding.« Mit den Worten setzt sie sich und steigt in das Gespräch am Tisch ein, als wäre nichts gewesen. Nur die Art, wie sie mir demonstrativ den Rücken zudreht, zeigt, dass es sehr wohl ein Ding ist.

Mein Glas stelle ich auf dem Tisch ab und fahre mir mit den Händen durch die Haare. Nates Blick kreuzt meinen, ich sehe ein Kopfschütteln darin. Ich glaube, er ist der Einzige, der das mit den Augen kann. Auf seine Vorwurfsvoller-großer-Bruder-Masche kann ich gerade echt verzichten. Also ignoriere ich ihn, lasse die Bar hinter mir, steuere auf die Türen zu, die auf die Dachterrasse der Wheeler Hall führen, und lasse all die Menschen hinter mir. Hier draußen umgeben mich nur das Rauschen des Windes und das Geräusch einer Sirene, die aus Upper Rockridge zu hören ist. Tief sauge ich die klare Luft in meine Lungen. Sie trägt das Salz des Pazifiks in sich. Ein Geruch, der mir augenblicklich Ruhe schenkt. Licht fällt durch die bodentiefen Fenster auf die Steinplatten. Ich entferne mich so weit, dass mich die Helligkeit von drinnen nicht mehr erreicht. Sobald mich die Dunkelheit verschluckt, habe ich nicht länger das Gefühl, zwischen mir und der Welt würde ein Abgrund klaffen. Von der Brüstung aus kann man den Großteil des Campus überblicken. Die Gebäude, die durch weitläufige Grasflächen, Fichten und Pinien voneinander getrennt sind. Ich stütze meine Hände auf den Sandstein und ziehe meinen Körper hinauf.

»Ähm, kann ich dich eventuell davon abhalten, dich ausgerechnet von der Wheeler Hall in den Tod zu stürzen?«

Ich zucke überrascht zusammen. So viel zum Thema Alleinsein. Anscheinend hatte nicht nur ich die Idee, hier rauszukommen. »Ist die Wheeler Hall denn so ungeeignet?«, kontere ich und hoffe, meine abweisende Art wird mir die Ruhe verschaffen, die ich brauche, um meine Gedanken zu sortieren. Ohne den Blick von ihr zu lösen, setze ich mich auf die Brüstung. Ein Bein über dem Abgrund, das andere auf der sicheren Terrassenseite.

Sie hat dunkle, lange Haare, die ihr in sanften Wellen über die Schultern fallen. Ein hübsches Gesicht, das im Gegensatz zu Megans nicht vollkommen überschminkt ist. Ihr Kleid ist ein Stück hochgerutscht, weil sie wie ich rittlings auf der Balustrade sitzt und Kleider wie ihres nicht dafür gemacht sind. Dieser Tatsache schenkt sie allerdings nicht einen Fitzel Beachtung, auch nicht meinem Blick.

»Ungeeignet vielleicht nicht«, antwortet sie. »Aber das Gebäude steht im National Register of Historic Places und ist eines der Wahrzeichen der Uni. Ich würde einfach gern verhindern, dass es wegen dir am Ende als Suicide Hall in die Geschichte eingeht.« Sie lacht zart.

»Suicide Hall klingt wirklich scheiße. Haunted Hall wäre vielleicht besser. Oder Hall of Horror«, schlage ich vor und ihr Lachen zupft an meinen Mundwinkeln. »Aber keine Angst, ich werde nicht dafür sorgen, dass sich einer dieser Spitznamen etabliert. Die Frage ist, wie sieht es mit dir aus?« Immerhin sitzt sie genau wie ich direkt über dem Abgrund, anstatt sich drinnen zu amüsieren.

»Ich trinke einen Virgin-Mojito und befinde mich auf der berühmten Dachterrasse der Wheeler Hall. Mitten in Berkeley.« Sie klingt ehrfürchtig, so als würde sie jede Sekunde davon auskosten. »Ich müsste total verrückt sein, mich ausgerechnet jetzt umzubringen.« Sie legt den Kopf in den Nacken, sieht in die Sterne und lacht leise. Ein Geräusch, das sich in meinem Inneren ausbreitet, bis es verklingt.

»Warum guckst du mich so an?«, fragt sie mich nach stillen Sekunden und richtet den Blick auf mich, nicht länger in den Himmel.

Sie hat recht. Ich starre sie an. Und ich kann nicht damit aufhören. Nicht, weil sie hübsch ist. Nicht, weil ihr Kleid so viel ihres Schenkels zeigt, dass es einen verrückt machen könnte. Oder weil sie zu diesem atemberaubenden Kleid schlichte, leicht verwaschene Chucks trägt. Es ist ihr Lachen. Oder besser die Tatsache, dass sie damit aufgehört hat. Irgendein völlig wahnwitziger Teil von mir wünscht sich dieses Lachen zurück. Dabei wollte ich eben noch, dass sie verschwindet. Ich zucke mit den Schultern. Auf keinen Fall werde ich ihr das stecken. Das ist absurd. Genauso irre wie die Tatsache, dass mich der Klang an die vier Millisekunden auf der Homebase erinnert, die zwischen Pitch und Schlag verstreichen und meine Probleme verlässlich aus dem Fokus rücken. Dieser Wimpernschlag, in dem die Zeit stillsteht, die Welt unscharf wird und jede Faser meines Körpers auf den Schlag konzentriert ist. In dem alle Probleme aufhören zu existieren. Selbst die, die nicht einmal mit Alkohol und schlechter Kappa-Nu-Party-Musik verschwinden.

»Ich bin übrigens Autumn«, stellt sie sich vor und rutscht etwas näher.

»Ryan«, antworte ich etwas zu spät und versuche, das Raue aus meiner Stimme zu vertreiben. Es gelingt mir nicht. »Warum bist du hier und nicht …?« Ich deute auf den Saal, in dem das Essen, an dem wir beide teilnehmen sollten, gleich beginnt.

Sie zögert. »Ich brauchte fünf Minuten nur für mich. Um zu realisieren, dass ich wirklich hier bin. Ich meine … Berkeley. Ich habe so lange davon geträumt.« Sie verstummt, als würde ihr plötzlich bewusst werden, dass sie zu viel gesagt hat. Einem Wildfremden. »Vielleicht bin ich aber auch einfach nur froh, nicht mehr vor Juckpulver auf der Hut sein zu müssen, und wollte diesem feierlichen Gedanken Raum geben.«

Obwohl sie das Gesicht zu einer Grimasse verzieht, zeigt ihr Lächeln, dass sie diese Streiche ebenso liebt, wie sie froh ist, ihnen entkommen zu sein. »Hört sich an, als hättest du einen kleinen Bruder?« Ich lache wissend. Damit kenne ich mich aus. Meine große Schwester Amy und mich trennen sieben Jahre und ich habe sie in den Wahnsinn getrieben.

Sie nickt und verdreht die Augen. »Um genau zu sein, habe ich nicht nur einen Bruder, sondern auch drei Schwestern. Alle jünger.«

Ich verziehe das Gesicht. »Hört sich verdammt anstrengend an.«

»Dass deine Vorstellungskraft ausreicht, bezweifle ich.« Ein Grinsen überzieht ihr Gesicht. »Aber jetzt bin ich hier. Ich beginne ein neues Leben.« Sie zuckt mit den Schultern. »Und der Masterplan für den Neuanfang sagt, ich sollte lieber hier sein und nicht dort drinnen.«

»Und was genau sieht dieser Plan noch vor?« Überraschenderweise frage ich nicht nur aus Höflichkeit.

»Jede Sekunde genießen, nichts tun, was ich nicht will, und alles ausprobieren, was ich in den letzten Jahren verpasst habe.« Sie sieht mich prüfend an. »Und warum sitzt du lieber hier anstatt bei deinen Freunden?«

Dieses Mal bin ich es, der den Kopf in den Nacken legt, aber ich blicke nicht in die Sterne, sondern schließe die Augen. »Ich bin vor Nate geflüchtet.« Kurz schweige ich, weil es sich verflucht noch mal nach einer Lüge anfühlt, nur die halbe Wahrheit zu sagen. »Mein Kumpel. Er denkt, ich wäre sein Wingman.« Ich verziehe das Gesicht. »Keine Ahnung, wie er darauf kommt, aber ich liefere auf jeden Fall nicht die Ergebnisse, die er sich erhofft hat.«

»Was genau erwartet er denn?«

Ich stoße die Luft aus. »Keine Ahnung. Eine Wagenladung partywütiger Mädchen, die ihm zu Füßen liegen, vermutlich.«

Sie lacht. Und fuck, ich lache mit. Das zweite Mal in nur fünf Minuten. Das ist neuer Rekord.

»Was passiert, wenn du die nicht auftreiben kannst? Musst du dann in der Gemeinschaftsdusche des Wohnheims schlafen?«

»Ich wohne nicht mit Nate auf dem Campus. Aber er wird es mir vermutlich morgen beim Training heimzahlen.« Nate ist Pitcher und kann einen Batter wie mich mit seinen Fastballs an den Rand der Verzweiflung bringen. Das macht ihn zu einem unserer wertvollsten Teammitglieder. Aber als Gegner möchte man ihn nicht haben. Nicht einmal im Training.

»Du könntest mich retten, indem du mit zur Verbindungsparty bei Kappa Nu kommst.« Jetzt ist es offiziell. Ich bin geistesgestört. Wieso sage ich so etwas? Drinnen sitzt Megan als lebender Beweis dafür, dass ich verflucht scheiße darin bin, es unverbindlich zu halten. Und für mehr bin ich einfach nicht der Typ. Nicht mehr.

»Bittest du mich gerade um ein Date?« Sie dreht sich suchend um, als müsste ich jemand anders meinen. Dann runzelt sie die Stirn. »Wir kennen uns doch gar nicht.«

Im Saal ertönt der Gong, der den Beginn des Essens ankündigt, aber Autumn macht keine Anstalten, aufzustehen. Und ich bleibe ebenfalls sitzen.

»Kein Date«, sage ich. Ich date nie. »Ich versuche nur, dich bei deinem Plan zu unterstützen, dein Leben hier in Berkeley in vollen Zügen zu genießen. Ist eine gute Party. Und ganz nebenbei würdest du mir helfen, meinen besten Freund nicht zu enttäuschen.«

»Eine Win-win-Situation also.« Sie nickt, wirkt aber nicht überzeugt. Die Hände auf die Brüstung gestützt, beugt sie sich zu mir. »Okay, vielleicht sage ich Ja. Erzähl mir etwas über dich. Nur um sicherzugehen, dass du kein Psychopath bist, der mich in seinen Keller lockt oder so. Dann sehen wir weiter.«

Nicht einmal Nate weiß mehr über mich, als dass ich gut Baseball spiele, einen zwanzig Jahre alten Ford Pick-up fahre und mit ihm die Studentenpartys unsicher mache. Also krame ich in meinem Hirn nach etwas ähnlich Unverbindlichem. So wie ich es immer tue. »Ich bin ein ziemlich guter Batter.« Als ich ihren verständnislosen Blick sehe, füge ich hinzu: »Schlagmann beim Baseball. Dafür habe ich mein Stipendium bekommen.«

»Ah.« Sie nickt. »Beeindruckend.«

Bei ihr klingt es wie eine Frage. Natürlich imponiert ihr das null.

»Erzähl mir das Erste, was dir einfällt, wenn du an dich selbst denkst«, fordert sie mich auf.

Ich lebe den Traum, Baseball zu spielen und auf eine Eliteuni zu gehen auf Kosten anderer. Ich war egoistisch, mehr als einmal, habe damit Leben zerstört und weigere mich dennoch, es als Fehler zu sehen. Aber diese Seite von mir zeige ich nicht. Nie. Und ich mache auch bei Autumn keine Ausnahme. »Ich wohne in einem Poolhaus«, stoße ich dumpf die am wenigsten aussagekräftige Information hervor, die mir einfällt.

»In einem Poolhaus?« Autumn mustert mich, als könnte sie diese Antwort nicht so recht einordnen. »Das ist echt das Erste, was dir zu deiner Person einfällt?« Sie stößt entgeistert die Luft aus. »Dass deine Eltern stinkreich sind?«

Ein Typ, der sich über das Geld seiner Eltern definiert, ist mit Sicherheit niemand, den sie auf eine Party begleitet. Das sollte mir egal sein. Trotzdem relativiere ich meine Aussage. »Genau genommen wohnen meine Eltern in einem kleinen Haus in Twin Peaks. Aber mein Schwager versucht seit drei Jahren, mit seinem abartigen Reichtum meinen Charakter zu verderben.« Ein Lächeln gleitet über ihr Gesicht und lässt den eigentlichen Grund, aus dem ich dorthin gezogen bin, verblassen.

»Warum wohnst du nicht bei deinen Eltern, wenn sie auch in San Francisco leben?« Sie stellt ihre Beine auf der Brüstung auf und knibbelt an den Schnürsenkeln ihrer Chucks herum. Sieht wackelig aus, aber ich unterdrücke das Bedürfnis, sie festzuhalten, obwohl ich sonst eher dazu neige, andere Menschen vom Dach schubsen zu wollen. Stattdessen lasse ich den Erinnerungsorkan abebben, den sie mit ihrer Frage heraufbeschworen hat. »So spare ich rund zwanzig Minuten pro Strecke«, präsentiere ich die plausibelste Erklärung.

Sie reagiert nicht und aus irgendeinem Grund rede ich genau deswegen weiter. »Und ich bin im letzten Highschool-Jahr ziemlich heftig mit meinen Eltern aneinandergeraten. Hätte mir meine Schwester nicht geholfen und mich bei sich wohnen lassen, hätten wir vermutlich so viel Erde verbrannt, dass wir nie wieder ein Wort miteinander gewechselt hätten.« Wieso erzähle ich ihr das? Das ist zu nah an der Wahrheit und gleichzeitig nicht mal ein Bruchteil davon. Ich rutsche von der Brüstung und lehne mich mit dem Oberkörper dagegen, spüre die Wärme, die in dem Stein gespeichert ist. Mit einer winzigen Bewegung meiner Hand könnte ich Autumns Bein berühren. Aber ich tue es nicht. Eine Weile verharren wir so. Wortlos. Sonst fliehe ich vor der Stille, aber das hier ist anders. »Was ist mit deinen Eltern?«, frage ich schließlich. »Sind sie damit einverstanden, dass du so weit weg von zu Hause studierst?«

Sie umschlingt ihre Beine mit den Armen und zögert, bevor sie doch noch antwortet. »Mein Dad lebt nicht bei uns. Er wohnt in Texas.« Klingt, als würde ihr das zusetzen, auch wenn sie versucht, es zu verbergen.

»Wie lange schon?«

»Das ist nichts, worüber ich rede.« Sie weicht meinem Blick nicht aus, sondern hält ihm stand. Trotzig, als wollte sie ihrem Dad, mir und der ganzen Welt zeigen, dass, was auch immer vorgefallen ist, sie nicht kleingekriegt hat.

Ich nicke. »Okay.« Wer könnte besser als ich verstehen, dass man die kaputten Teile seines Lebens nicht vor einem Fremden ausbreiten will? »Was ist mit deiner Mom?«

Autumn reibt sich über die Stirn, während ein Lächeln über ihre Lippen huscht. »Auch wenn sie mich eigentlich zu Hause braucht, will sie, dass ich hier studiere. Ihr ist wichtig, dass ich glücklich bin.«

»Hört sich an, als wäre sie eine tolle Mom.«

»Ist sie. Und gerade deswegen denke ich oft, ich sollte nicht in Berkeley, sondern bei ihr sein, um zu helfen.« Autumn hält den Atem an, als wäre das etwas, was sie sich sonst nicht einmal vor sich selbst eingesteht. »Es ist nicht fair, dass ich auch noch gegangen bin«, schiebt sie leise hinterher.

So wie ihr Dad. Das ist eine Menge Druck, den sie sich selbst macht. All die Fehler ihrer Eltern auszugleichen. Ich hole Luft, um ihr genau das zu sagen, aber sie legt mir ihre Hand auf den Unterarm und schüttelt den Kopf.

Die Worte bleiben mir im Hals stecken. Ich starre auf ihre Hand. Auf meinem Arm. Und sage nichts.

Gedämpfte Geräusche einer anderen Welt jenseits der bodentiefen Terrassenfenster dringen zu uns. Dort sind Licht, Ausgelassenheit, Lachen. Dinge, deren Nähe ich sonst krampfhaft suche. Weil ein Teil davon zu werden bedeutet, die Dunkelheit in mir zu vertreiben.

Ich verstehe es nicht, aber alles, was ich jetzt tue, ist, meine Hand über die von Autumn zu schieben. Und nichts zieht mich in diesem Moment weg von ihr, hin zum Licht.

Autumn

Ich spüre jeden Millimeter Haut, mit der Ryans Hand meine berührt. Sekunden werden zu Minuten. Ich spüre ihn bis in meine Haarspitzen. Und das, obwohl sich nur unsere Hände berühren. Ihm nahe zu sein lässt all die guten Gründe verschwimmen, aus denen ich mich von Typen wie ihm fernhalten wollte.

Vorsichtig ziehe ich meine Hand zwischen seinen Fingern hervor. Dann rutsche ich von der Brüstung, schlinge die Arme um meine Mitte und lehne mich neben ihn.

»Vielleicht sollten wir …« Ich deute in Richtung des Saals, wo das Stipendiatendinner schon fast vorüber ist. Kellner flitzen herum und räumen bereits den Hauptgang ab.

»Ja, vermutlich.« Er sieht noch immer über den Campus, dann zu mir und würdigt den Saal keines Blickes. »Wenn wir uns beeilen, bekommen wir vielleicht noch Nachtisch.«

»Dessert ist sowieso der einzig wichtige Gang«, stelle ich voller Inbrunst fest. Mom und ich haben mindestens einmal im Monat den Jacobs-Nachtisch-Tag zelebriert. Wenn die Kleinen im Bett waren, haben wir beide es uns auf dem Sofa gemütlich gemacht, um uns herum zig verschiedene Desserts – klassische, Ausgefallenes aus aller Welt und natürlich unsere Favoriten. Das war unsere Zeit. Und ich habe jede Sekunde davon geliebt. »Ich meine, wenn in fünf Minuten die Welt untergeht, würdest du dann nicht auch lieber einen Cowboy-Cookie mit Vanilleeis im Magen haben als Rosenkohl?«, frage ich Ryan, die Gedanken noch immer erinnerungsklebrig wie eine zarte Zuckerglasur auf einem Lemon Pie.

»Guter Punkt.« Ryan lacht und das erste Mal erreicht dieses Lachen auch seine Augen. Die er nur auf mich richtet, als wären ihm alle Desserts der Welt scheißegal. So, als würde er selbst dann noch hier mit mir stehen, wenn wir tatsächlich nur noch fünf Minuten bis zur Apokalypse hätten. Ich schlucke schwer und versuche, mich zusammenzureißen.

Diesen Blick hat er mit Sicherheit für Situationen wie diese hier perfektioniert. Und selbst wenn das hier keine übliche Masche ist, heißt das noch lange nicht, dass ich meinen Vorsatz, mich vorerst nur auf mich zu konzentrieren und meine Freiheit zu genießen, ohne mich in irgendetwas oder irgendwen zu verstricken, wegen ihm über den Haufen werfe.

Er kappt die Verbindung zwischen uns, indem er sich umdreht und ebenfalls den Rücken an die Mauer lehnt. So plötzlich, dass ich das Gefühl habe, mein Gleichgewicht zu verlieren. Den Blick richtet er kurz auf seine Schuhspitzen, bevor er wieder mich ansieht. »Wir sollten das Dessert wirklich nicht verpassen, aber bevor wir reingehen …« Er zögert. »Hältst du mich nun für einen Psychopathen oder kommst du nachher mit?« Er sieht mich herausfordernd an.

Alles in mir schreit Ja. Dabei wäre ein klares Nein deutlich vernünftiger. Allerdings war der Plan, nicht mehr nur vernünftig zu sein, sondern das Leben zu genießen. Auf dieser Party könnte ich jede Menge Spaß haben. Ausgelassen mit Tess tanzen. Dieses Flirren zwischen Ryan und mir noch ein wenig länger genießen, auch wenn es nirgendwo hinführt. »Darf ich jemanden mitbringen?«, platzt es aus mir heraus. Meine Frage wäscht das Leuchten aus Ryans Augen. Er geht vermutlich davon aus, ich würde von einem Typen sprechen, und braucht zwei Sekunden, bis er sich wieder fängt. »Klar, bring jemanden mit«, sagt er dann fest und so unerschütterlich, als würde ihm meine Frage nichts ausmachen.

»Prima.« Mein Herz schlägt schneller, als ich ihm ganz nah komme. Jeder Partikel in der Luft zwischen uns vibriert. »Dann ist es abgemacht«, flüstere ich. »Tess und ich fahren mit euch zur Party.« Ich warte nicht ab, wie er auf die Tatsache reagiert, dass ich nur meine Mitbewohnerin mitbringen will, drehe mich um und gehe zurück ins Innere der Wheeler Hall und an unseren Tisch.

Tess empfängt mich ungeduldig. »Wo zum Henker bist du so lange gewesen? Ich wollte schon die Nationalgarde alarmieren.«

Meine Wangen brennen und ich senke den Blick auf die noch unbenutzte Serviette, die an meinem Platz liegt. »Ich habe wohl irgendwie die Zeit vergessen.« Den Grund verschweige ich, auch wenn sich der gerade am anderen Ende des Saals neben einer Blondine auf einen Stuhl fallen lässt und meine Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Tess bleibt mein Blick nicht verborgen. Sie folgt ihm durch den Saal. »Ryan Hunter? Woher kennst du bitte Ryan Hunter?«, quietscht sie, als hätte ich einen Promi kennengelernt und vergessen, ihn ihr vorzustellen.

»Von der Dachterrasse«, erwidere ich so beiläufig wie möglich, aber in dem Moment dreht er sich zu mir um. Unsere Blicke verhaken sich über den Saal hinweg und meine Stimme gerät ins Wanken.

»Der Typ ist so heiß.« Tess stöhnt und fächelt sich Luft zu.

»Und das weiß er auch«, gebe ich zu bedenken und verdrehe die Augen. Gut auszusehen ist immerhin keine Leistung. Nur Zufall. Nichts, was Typen für mich anziehend macht. Das Problem ist, dass er nicht nur gut aussieht. Mir hat auch unser Gespräch gefallen. Sein Lachen, wenn es seine Augen erreicht hat. Die ruhige, etwas zu ernste Art. Ich denke auf jeden Fall zu viel über ihn nach, anstatt mich auf das Dinner, meine Mitbewohnerin und all die neuen Eindrücke zu konzentrieren.

Tess grinst. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du das Essen verpasst hast, um mit Ryan Hunter auf der Dachterrasse abzuhängen. Auf jeden Fall weißt du, wie man sich amüsiert.« Sie gibt mir ein Highfive und schiebt mir mit der Serviette ein noch heißes Schälchen Apple Crumble zu. »Nachtisch. Damit du nicht verhungerst, Badass.« Sie lacht leise.

Ich bin kein Badass. Sonst würde ich loslassen, anstatt alles zu analysieren. Mit dem Löffel durchbreche ich die Crumble-Schicht und konzentriere mich auf das Dessert. Heißer Dampf entweicht. »Was das Amüsieren angeht, habe ich noch einen Anschlag auf dich vor«, sage ich wie beiläufig und schiebe mir den ersten Löffel in den Mund. Der warme, fruchtig-süße Geschmack lässt mich genüsslich aufstöhnen. Hungrig schiebe ich einen weiteren hinterher, bevor Tess mir den Löffel entwendet und fragend die Augenbrauen hochzieht.

»Könntest du mich vielleicht nicht so auf die Folter spannen? Ich bin kotzungeduldig. Insbesondere, wenn es um Ryan, Spaß und einen Anschlag auf mich geht.«

Ich erobere mein Besteck zurück, erlöse Tess aber, bevor ich weiteresse. »Es geht nicht um ihn, sondern um uns.« Ich würde mir gern glauben. »Er hat gefragt, ob wir später mit auf eine von den Verbindungspartys kommen.« Ich tue so, als wäre es keine große Sache. Dabei spüre ich seine warme, dunkle Stimme selbst jetzt noch in jedem Winkel meines Körpers. Niemand sollte mir mit nur einer Frage so tief unter die Haut gehen.

»Er hat was?« Tess starrt mich an. »Aber nicht die Kappa-Nu-Party heute Abend? Das ist die Party überhaupt. Da kommt man nur mit Einladung rein. Letztes Jahr hat mich Simon mitgenommen. Heißer Typ. Aber ein kompletter Vollidiot. Dieses Jahr habe ich noch niemanden dazu bekommen, mich einzuladen.«

»Doch.« Ich nicke. »Mich. Er hat mich gefragt und ich nehme dich mit. Also, wenn du Lust und noch nichts anderes vorhast …?«

»Ob ich was anderes vorhabe?« Sie lacht. »Du bist lustig. Dich fresse ich im Fall der Fälle als Letztes.« Stürmisch umarmt sie mich. »Das ist so mega.« Dann schiebt sie mir ihr unberührtes Dessert zu. »Du brauchst vielleicht mehr als eine Portion. Sonst hältst du am Ende nicht lange genug durch. Ich bin sehr ausdauernd, wenn es ums Feiern geht.« Sie sieht zu Ryan hinüber, dann wieder zu mir. »Übrigens guckt er ständig zu dir rüber. Keine Ahnung, was genau ihr da draußen gemacht habt, aber du scheinst einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben.«

Ich unterdrücke den Impuls, nachzuprüfen, ob stimmt, was sie sagt, während der illoyale Teil von mir einen Salto schlägt. Echt jetzt? Ich drehe durch, weil er zu mir rübersieht? »Wir haben uns nur unterhalten«, murmle ich. »Wahrscheinlich passt er nur auf, dass wir nicht durch die Hintertür verschwinden und dadurch seinen Ruf als Wingman ruinieren.« Ich erkläre Tess, dass er mich nur deswegen gefragt hat und dass ich allein wegen meiner sozialen Ader zugesagt hätte.

Tess zieht eine Augenbraue nach oben. Natürlich glaubt sie mir kein Wort. Ich glaube dem Mist ja selbst nicht. Deswegen unterbreche ich sie auch nicht, als sie mir euphorisch alle Informationen über Ryan liefert, die sie hat. Er ist Batter für die Cal Golden Bears, das Uni-Baseballteam. Im Hauptfach studiert er Wirtschaft und ist total beliebt, was laut Tess an seinem »Killerbody« oder aber an seinem besten Freund liegen muss. Denn er ist eher der schweigsame, unnahbare Typ, kein Gute-Laune-Magnet wie Nate. Meistens hält er sich im Hintergrund. Und er ist absolut besessen vom Sport.

»Wenn du mich fragst, ist Nate so liebenswert wie Obi-Wan Kenobi. Und dein Hot-Bat wäre in Relation dazu dann wohl der Todesstern. Zumindest wenn man seine Eroberungen fragt.« Tess beendet ihre Ausführungen, indem sie mich über seinen Beziehungsstatus in Kenntnis setzt. Single. Überzeugter. Was nicht heißt, dass er abstinent lebt, wie Tess grinsend hinzufügt.

»Der Todesstern also«, murmle ich. Das würde erklären, warum ich mich fühle, als wäre ich in sein Gravitationsfeld geraten. Ich bin froh, dass ich meine Emotionen hinter jeder Menge Apple Crumble verstecken kann. Er lässt also nie mehr zu als ein Abenteuer. Sein Interesse an mir beschränkt sich damit wohl auf einen One-Night-Stand. Ich weiß nicht, wie ich das finden soll. Ich reagiere auf ihn. Das lässt sich nicht leugnen. Sex ohne Gefühle würde perfekt zu meiner obersten Regel passen, niemals, wirklich nie mein Herz zu verschenken und den Spaß mehrerer Jahre hier in Berkeley nachzuholen. Aber auch wenn ich mich ausprobieren wollte, sollte ich es vielleicht langsam angehen lassen und nicht gleich in die Königsdisziplin von Probier-neue-Dinge-aus einsteigen, indem ich etwas mit einem Typen anfange, der mehr in mir bewegt, als er sollte. Ich könnte mich erst mal auf Schach, Yoga oder Volleyball beschränken. Ich sollte. Aber das klingt im Vergleich zu Ryan leider todlangweilig.

»Schmeckt es?« Tess grinst, als wüsste sie genau, worüber ich nachgrüble.

»Ist sehr lecker«, nuschle ich und schiebe meine brennenden Wangen auf die Wärme des leckeren Desserts. Entschlossen starre ich auf die zimtigen Äpfel und Streusel und schaufle die Mischung in mich hinein. Wie um zu betonen, dass ich allein den Apple Crumble meinte. Aber Tess lässt sich nicht täuschen. Sie prustet los und ich kann nicht anders, als mit einzustimmen.

Ryan

Die Stimmung ist so ausgelassen, als hätten wir die Conference Championships gewonnen. Die Jungs tanzen auf der Ladefläche meines Pick-ups und grölen den Song Savage Love von Derulo mit, der aus den Boxen dröhnt. Den Text haben sie zu »Sandwich Love« umgedichtet und flippen total aus, als Megan auf den Spaß einsteigt und sich textgetreu zwischen Cal und Xander schmiegt. Keine Ahnung, ob sie versucht, mich eifersüchtig zu machen. Aber es berührt mich null.

Autumn sitzt zusammen mit ihrer Freundin Tess auf der Rückbank des Wagens, was mich hingegen ganz und gar nicht kaltlässt. Ich höre ihre Stimme, ihr Lachen, und wünschte, ich müsste nicht fahren, nicht aufpassen, dass keiner der Verrückten von der Ladefläche fällt.

Cal, unser Second Baseman, schlägt mit der Hand auf das Dach der Fahrerkabine. »Alter, gib mal Gas, sonst kommen wir erst auf der Party an, wenn wir alle schon unseren Abschluss haben.«

Ich halte meine Hand aus dem Fenster und zeige ihm den Mittelfinger. Ich werde ganz sicher nicht schneller fahren und riskieren, dass sich jemand verletzt. Es ist schon bescheuert genug, überhaupt Menschen auf der Ladefläche über den Campus zu karren. Ich mache das nur, weil sich so wenigstens keiner betrunken hinters Steuer klemmt.

Zehn Minuten später erreichen wir endlich das Verbindungshaus von Kappa Nu. Das Gebäude ähnelt einem Organismus, der im Rhythmus der heiseren Bässe atmet, die aus Fenstern und Türen pulsieren. Menschen stehen auf dem Rasen vor dem Haus und in Grüppchen auf der Steintreppe vor dem Eingang. Plastikbecher liegen auf dem Boden, und irgendjemand wollte wohl das Klischee bedienen und hat den Ahornbaum, der mittig auf dem Vorplatz steht, mit Klopapier umwickelt.

Noch bevor ich richtig eingeparkt habe, springen Cal und Xander von der Ladefläche auf den Asphalt und sorgen unter lautem Gegröle dafür, dass sich das Auto leert. Ich folge dem Tross als Letzter ins Haus und will Autumn fragen, ob ich ihr etwas zu trinken holen darf oder ob sie tanzen will. Am liebsten wäre mir allerdings, wir würden irgendwohin verschwinden, wo wir reden können. Nur sie und ich, wie auf der Dachterrasse. Aber gerade als ich mich zu ihr umdrehen will, springt mich etwas von hinten an. Jemand. Sam. Unser Catcher. Er hat die Macke, Freude, Begeisterung oder seinen steigenden Alkoholpegel mit sehr viel Körperlichkeit auszudrücken. Seine Arme pressen meinen Brustkorb zusammen. Verzweifelt drehe ich mich zweimal um die eigene Achse, um ihn loszuwerden. Wie ein Beutetier, das mit einem Puma auf dem Rücken kämpft. Als ich ihn endlich abgeschüttelt habe, reicht er mir lachend ein Bier, das er als Friedensangebot vom Tisch neben sich angelt. Die Hälfte verschüttet er zwar, aber ich nehme es trotzdem entgegen und sehe mich nach Autumn um. Sie ist mit ihrer Freundin auf die Tanzfläche verschwunden, bewegt sich im Rhythmus der Musik, lacht, umarmt Tess und singt ausgelassen den Songtext mit. Ich überlege, wie stalkermäßig manisch es auf einer Skala von Pennywise bis Ted Bundy rüberkäme, wenn ich nach nicht einmal zwei Minuten Spaß, den sie auf der Tanzfläche hat, zu ihr renne und sie bitte, mit nach draußen zu kommen, wo wir ungestört sind.

Aber meine Gedanken werden von dem Vibrieren meines Handys unterbrochen. Mom und Dad dürften um diese Uhrzeit schon im Bett liegen. Vielleicht ist es meine Schwester. Ihr Mann, Cas, ist auf Geschäftsreise. Es könnte etwas mit den Mädchen sein. Ich ziehe das Telefon aus der Tasche und gebe Nate zu verstehen, dass ich seine Hilfe brauche, um Sam loszuwerden. Wenn ich eine Chance haben will, wenigstens etwas zu verstehen, muss ich den Anruf draußen annehmen. Er begreift sofort, legt unserem Teamkollegen den Arm um die Schultern und zieht ihn mit sich. Endlich ungestört, schiebe ich mich durch die breiten Glastüren in den Garten. Erst als ich allein bin, sehe ich auf das Telefon und bleibe wie angewurzelt stehen. Willows Gesicht nimmt das komplette Display ein. Eine Aufnahme aus dem letzten Sommer. Ich erinnere mich an jeden Augenblick dieses Tages am Cove State Beach. Und mit jedem ungeduldigen Vibrieren kehrt die irrationale Hoffnung zurück, dieses Mal würde es gut gehen. Dieses Mal würden meine Ex und ich uns aufeinander zubewegen, anstatt uns abzustoßen.

»Hi«, sage ich und schaffe es einfach nicht, all das aus meiner Stimme zu tilgen, was zwischen uns steht.

Zunächst kommt keine Antwort. Nur Stille. Ein statisches Rauschen, das mich fertigmacht. Schon bevor sie etwas sagt. Denn es ist nicht die gute Art von Ruhe, sondern die vor einem verdammten Hurrikan.

Und schon bricht der Sturm los. »Du bist auf einer verfickten Party? Ist das dein Ernst, Ryan«, zerfetzt ihre Stimme das, was auch immer an Zuversicht in mir war. »Da brauche ich dich ein einziges Mal und du amüsierst dich lieber? Was auch sonst.«

Natürlich hört sie die Musik, auch wenn ich mich so weit wie möglich in den Garten zurückgezogen habe. Ich zwinge meine Stimme zur Ruhe. »Wenn du mich brauchst, kann ich jetzt sofort losfahren. Sag mir einfach, wohin ich kommen soll, und ich setze mich ins Auto.« Und lasse mein neues Leben wieder einmal zurück, um nach dem porösen Strohhalm zu greifen, den sie mir hinhält.

»Vergiss es. Ich wusste, auf dich Arschloch kann man sich nicht verlassen«, zischt sie weiter, als hätte ich ihr nicht gerade angeboten, alles stehen und liegen zu lassen. »War ja nie anders.«

Mein Brustkorb zieht sich zusammen. Weil es nicht stimmt. Ich will ihr genau das sagen, aber ich weiß nur zu gut, dass die Wahrheit keine Rolle spielt. Der Strohhalm, den ich nicht greifen konnte, geht in Flammen auf.

»Ich bin doch rangegangen«, murmle ich bitter. Warum kann sie mir nicht einfach eine Chance geben? Warum muss jedes Wort ein Kampf sein? Mit der freien Hand reibe ich über meinen Nacken. Ich sollte auflegen. Aber ich kann nicht. Weil ich weiß, dass sie eben auch recht hat. Dass ich ihr etwas schuldig bin. Weil ich Spaß habe, meinen Weg gehe, während in ihrem Leben nichts mehr so ist wie zuvor. Weil ich nur mein Herz verloren habe. Nicht mein ganzes bisheriges Leben.

»Fuck you, Ryan«, brüllt sie in die statische Stille und legt auf.

Vier Monate ist es her, dass sie sich das letzte Mal gemeldet hat. Vier Monate, in denen ich auf diesen Moment gewartet habe. Sechs, seitdem ich sie das letzte Mal gesehen habe. Und jetzt habe ich es verbockt, weil ich auf eine Party gegangen bin. Fraglich, wann sie sich das nächste Mal meldet. Ob sie es überhaupt tut.

Schwer lasse ich mich auf die gemauerte Umrandung des Grillplatzes fallen und konzentriere mich aufs Atmen, analysiere jedes ihrer Worte, den Klang ihrer Stimme. Wie war sie drauf? Nur wütend? Verzweifelt? Ist sie stabil? Ich weiß, ich werde keine Antworten darauf bekommen. Ich weiß ja nicht einmal, wo sie wohnt. Und selbst wenn, würde sie mich nicht helfen lassen.

Schritte nähern sich und ich setze mein Ich-bin-Sportler-und-die-Welt-kann-mir-nichts-anhaben-Gesicht auf. Noch ein unverbindliches Lächeln obendrauf, dann drehe ich mich um.

Es ist Autumn. Und ich weiß nicht, wie, aber sie schafft es einfach so, meine Maske zu pulverisieren.

»Hi«, sagt sie leise zu dem Ballon-Ich, aus dem bei ihrem Anblick jegliche Luft entweicht. »Alles okay?«

Nichts ist okay, also schweige ich. Weil ich nicht lügen will. Nicht bei ihr.

»Darf ich mich zu dir setzen?«

Mein Leben fühlt sich an wie eine instabile Bombe. Könnte sein, dass sie urplötzlich detoniert und jeden verletzt, der in meiner Nähe ist. Trotzdem lege ich meine Hand auf den warmen Stein neben mir und nicke.

Autumn

Tess und ich haben getanzt, gelacht und ein bisschen getrunken. Aber die zwei Bier können unmöglich dafür verantwortlich sein, dass Brauseperlenschnüre in meinem Magen aufsteigen, seitdem ich neben Ryan sitze.

Er sieht traurig aus. Leer irgendwie. Als hätte jemand alles in ihm fortgespült, inklusive all der Worte, die manchmal sowieso nichtssagend sind. »Ist alles okay?«

Er schüttelt den Kopf und fährt sich mit einer Hand durch die kurzen blonden Haare. »Nein, aber das ist auch nichts, was durch Reden besser wird.« Er lächelt gezwungen und gibt es dann auf. Entschlossen steht er auf. »Als wir hier angekommen sind, wollte ich dich fragen, ob du Lust hast zu tanzen. Seitdem ist alles irgendwie anders. Aber das würde ich noch immer gern tun.« Er hält mir die Hand hin und sieht mich fragend an.

Ich tanze gern. Mit meinen Geschwistern am Sonntagmorgen auf Moms Bett, um sie aus den Federn zu kriegen. Oder mit meinen Freundinnen auf diese verrückte Weise, aber das hier ist etwas ganz anderes.

Ihm entgeht das Nein nicht, das schon auf meiner Zunge liegt und nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden.

»Du könntest etwas Neues ausprobieren«, bittet er mich.

»Auch wenn ich nicht so aussehe, ich habe schon mal getanzt«, erwidere ich lächelnd und gebe ihm nichts außer meiner Hand. Der Rest von mir klammert sich an dem Brocken Widerstand fest, den Ryan mit seinem intensiven Blick noch nicht zerlegt hat.

»Nicht mit mir.« Er macht einen Schritt auf mich zu. Dann noch einen und legt mir die Hand auf den Rücken. »Nicht so.« Unsere Körper sind einander so nah, dass jeder meiner Sinne überfordert ist. »Und nicht zu solcher Musik.« Er lacht. Ein kurzes, dunkles Geräusch, das genauso schnell wegbricht, wie es gekommen ist.

Erst jetzt achte ich auf das Lied, das zu uns in den Garten dringt. Gangsterrap. Keine Musik, die sich besonders gut dazu eignet, eng umschlungen zu tanzen. Trotzdem gebe ich nach. Weil mich alles an dieser Situation reizt. Sein ›Nicht zu solcher Musik‹. Sein ›Nicht so‹. Aber vor allem er selbst.

Sanft beginnt Ryan, sich mit mir zu drehen. Unsere Bewegungen passen kein Stück zu dem Rhythmus der Musik. Und doch ist es absolut perfekt.

Alles, was ich in diesem Moment spüre, ist Ryans durchtrainierter Körper an meinem, sein Atem auf meiner Haut, als er den Kopf leicht gegen meinen lehnt. Mein Puls rast. Mein Herz stolpert. Und meine Beine wollen mich nicht mehr tragen. Als wäre Ryan pures Kryptonit für mich. Es ist bestimmt nicht gesund. Und dennoch schlinge ich meine Arme um seine Mitte, nehme jede winzige Berührung auf, speichere sie ab. Ich falle. In diesen Tanz. In ihn und uns. Ein Uns, das gegen meine oberste Regel verstößt. Aber mein Unterbewusstsein leistet ganz hervorragende Arbeit, indem es mir einredet, das hier wäre nur Spaß. Ich genieße das Leben. Und das ist doch genau, was ich mir vorgenommen hatte.

Ryan löst seine Wange von meiner und dreht den Kopf so weit, dass seine Lippen meine Wange streifen. Es ist keine richtige Berührung, aber sie reicht aus, um meinem Herzen Schluckauf zu bereiten. Ernst sieht er mich an. Durchdringend. Entschlossen. Aber bevor er die Ahnung des Kusses, der zwischen uns schwebt, wahr werden lassen kann, taucht Tess in unserer Slowdance-zu-Gangsterrap-Welt auf und katapultiert uns zurück in die Realität.

»Da bist du ja. Zum Glück habe ich dich gefunden«, brüllt sie mir kichernd und viel zu laut entgegen und stolpert um ein Haar über ihre eigenen Füße. Ich weiß nicht, ob ich ihr dankbar sein oder jeden Zentimeter Rasenfläche hassen soll, den ich zwischen Ryan und mich legen muss, um sie aufzufangen.

»Wir müssen los«, lallt sie und schlingt ihre Arme um meinen Hals.

»Wohin?« Eigentlich will ich nirgendwo anders sein, aber je mehr Abstand zwischen mir und Ryan entsteht, desto klarer wird mein Verstand und sagt mir, dass das hier keine gute Idee ist.

»Es gibt noch eine andere Party bei Delta Phi. Die checken wir aus«, nuschelt Tess und klammert sich an mir fest.

»Du meinst Delta Psy«, korrigiert Ryan sie.

»Meinetwegen.« Tess winkt ab. »Ich verstehe sowieso nicht, was das mit diesen pseudointelligenten griechischen Buchstaben soll. Das ist doch total unkreativ.« Die Arme noch immer um meinen Hals geschlungen, zerrt sie mich über den Rasen in Richtung Straße. »Aber egal, solange die Verbindungstypen wissen, wie man feiert. Party.« Das Ypsilon von Party zieht sie so sehr in die Länge, dass es in ein wildes Wolfsgeheul übergeht. Und sie kriegt eine Antwort. Einige ihrer Freundinnen warten bereits vor dem Haus an zwei dort parkenden Ubern und stimmen ein.

Ich drehe mich zu Ryan um, obwohl Tess unnachgiebig an mir zerrt.

»Jetzt komm schon, Autumn«, fordert sie mich ungeduldig auf. Ich soll ihr in das vordere der zwei Autos folgen, aber noch ist mein Blick mit Ryans verhakt, der an derselben Stelle steht, an der wir vor nicht einmal zwei Minuten getanzt haben.

Er macht einen Schritt in meine Richtung. Als wollte er etwas sagen, mich zurückhalten, Tess schütteln, weil sie dafür verantwortlich ist, dass ich gehe. Mitten in dem schrecklichen Gangsterrap-Song, mitten in unserem Tanz. Inmitten eines Moments, der eine Erinnerung hätte werden können. Aber dann bleibt er doch stehen, sieht mir hinterher. Stumm. Vielleicht ist es richtig so. Vielleicht sollten wir beide keine Erinnerung sein.

Ryan

Ich mag das Gefühl, wenn ich meinem Körper alles abverlange. Wenn meine Lunge brennt und ich jeden Muskel spüre. Wenn nichts anderes mehr Platz in meinem Kopf hat. Deswegen war ich schon über eine Stunde vor dem Beginn des Trainings auf dem Baseballfeld. Nach demWarm-up habe ich Bälle vom Batting Tee geschlagen, bis die anderen nach und nach eintrudelten und der Coach das offizielle Training eröffnete. Die immer gleiche Bewegung bringt Routine in den Abschlag. Oft mache ich über Stunden nichts anderes, als einen Ball nach dem anderen über das Feld zu schicken. Bis meine Muskeln wie von allein die richtige Geschwindigkeit, den perfekten Abschlagszeitpunkt und den richtigen Drive finden. Im Spiel bleibt keine Zeit, das Hirn zu bemühen. Da muss das Muskelgedächtnis funktionieren. Laut Nate arbeite ich wie ein Besessener an diesem Erinnerungsvermögen. Das ist meine Form von Meditation.

Das Training läuft wie immer. Aufwärmen, Krafttraining, Stretching, Sprint- und Stoppübungen, unterbrochen von kleinen, nicht ernst gemeinten Kabbeleien und flachen Witzen, Wurf- und Schlagtraining, Sprungübungen.

Wir stecken mitten in dem abschließenden Trainingsspiel, als ich plötzlich Autumn am Spielfeldrand entdecke. Sie achtet nicht auf uns Spieler. Dafür ist sie viel zu sehr in ein Telefongespräch vertieft, das sie führt. Seit dem Stipendiatendinner und der anschließenden Party habe ich sie nicht mehr gesehen. Das ist jetzt über eine Woche her. Eine Woche, vollgestopft mit Kursen, Trainingseinheiten und administrativem Kram zum Semesterbeginn. Trotzdem habe ich an sie gedacht. Zu oft. Was dazu geführt hat, dass ich noch mehr als üblich trainiert habe. Ich bereue keine Sekunde dieses Abends – und doch habe ich ein schlechtes Gewissen. Das müsste sich ausschließen, tut es aber nicht. Ich wollte sie wiedersehen, aber ihre Freundin hat sie auf der Party ins Uber gezerrt, bevor wir Nummern austauschen konnten, und außer einem Vornamen weiß ich nichts von ihr. Berkeley ist groß. Ihr zufällig auf dem Campus über den Weg zu laufen war mehr als unwahrscheinlich.

Aber jetzt ist sie hier. Zumindest für die nächste Minute. Danach wird sie das Ende des Platzes erreichen und hinter der Tribüne verschwinden. Ich stehe auf der First Base und sollte auf den Schlag von Xander warten, um die nächste zu erreichen. Er steht auf dem Abschlagpunkt und lässt seinen Schläger probeweise kreisen, prüft den Abstand zwischen der äußersten Ecke der Homebase und seiner Position, wartet auf den Ball von Nate. Dann schlägt er. Ein weiter Ball ins Outfield. Zur zweiten Base schaffe ich es auf jeden Fall. Vermutlich würde ich sogar die dritte erreichen, aber anstatt loszusprinten, verlasse ich die gerade Linie, die die Plattformen miteinander verbindet, und renne in die entgegengesetzte Richtung zum Spielfeldrand.

Ich höre Xander, der dieses Trainingsspiel genauso ernst nimmt wie ein Ligaspiel, hinter mir fluchen und kann es ihm nicht verdenken. Normalerweise bin ich genauso und würde jedem meiner Mitspieler für so eine Romeo-Aktion den Arsch aufreißen.

Trotzdem renne ich weiter, ignoriere ihn und die anderen. Sogar den Coach, der mir eine Mischung aus Verwünschungen, Androhung von Strafeinheiten und ein Trillerpfeifenstakkato hinterherschickt. Atemlos erreiche ich Autumn, die mittlerweile ihr Gespräch beendet hat. Sie erschrickt, als ich neben ihr zum Stehen komme.

»Hi.« Nicht unbedingt die intelligenteste Begrüßung, aber ich bin ziemlich außer Atem und mein Kopf ist ein Vakuum. Mit einer ungeduldigen Bewegung wische ich mir den Schweiß von der Stirn und entdecke einige Grashalme auf meinem Trikotärmel, die sich vorher in meinem Gesicht befunden haben müssen. Der perfekte Aufzug, wirklich, Hunter.

»Hi«, antwortet sie trotzdem mit einem Lächeln.

Und ich wünschte, sie würde nicht nur lächeln, sondern lachen. Dieses Geräusch erzeugen, das alles aus dem Fokus rückt.

Sie sieht sich um, als würde sie erst jetzt begreifen, wo sie sich befindet. »Ich habe mit meiner Mom telefoniert und dafür ein ruhiges Plätzchen gesucht.« Sie hält ihr Handy hoch. »Ich stalke dich nicht oder so.«

»Wie schade.« Ich sehe sie fest an und einen Augenblick lang verflüchtigt sich die Zeit. Keiner von uns sagt etwas, aber dann deutet Autumn hinter mich.

»Vielleicht solltest du …«

Die Welt kämpft sich zurück in meine Wahrnehmung und damit auch mein Coach, der wie ein Wahnsinniger in meine Richtung brüllt.

»… lieber zurückgehen?«, beendet sie den Satz. »Sieht aus, als würdest du dir gerade mächtig Ärger einhandeln.«

Ich zucke mit den Schultern. »Könnte sein, dass mich der Coach in den Keller sperrt und mich eine Million Liegestütze machen lässt, bevor ich wieder Tageslicht sehe.« Ich grinse schief und zwinge meinen Atem in einen ruhigeren Rhythmus. Bevor ich gehen kann, muss ich tun, wofür ich diese ganze Aktion überhaupt gestartet habe. »Darf ich kurz?« Ich deute auf ihr Telefon. »Ist ein Notfall.«

»Ein Notfall?« Sie sieht mich irritiert an, gibt mir aber, ohne zu zögern, ihr Handy.

Mit wenigen Klicks manövriere ich mich in ihr Telefonbuch, tippe meine Nummer ein und speichere sie ab.

»Ich glaube nicht, dass einem Mädchen deine Nummer zu geben im Allgemeinen als Notfall gilt.« Sie grinst. »Die werden dir den Kopf abreißen.« Mit einem weiteren Blick hinter mich fügt sie ein »Und zwar alle!« hinzu und streckt dann ihre Hand nach dem Telefon aus. Aber noch kann ich es ihr nicht zurückgeben.

Jemand wirft mir einen Ball gegen den Helm, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen. Obwohl ich den Kopfschutz trage, tut es weh. Das kann nur Nate gewesen sein. »Kommst du jetzt oder was?«, schreit er über den Platz.