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Alea liebt ihren Plus-Size Körper, die Freiheit, sie selbst zu sein. Bis Titus ihr Herz in Gefahr bringt. Sind beide stark genug, Grenzen zu überwinden?
Alea liebt ihren Plus-Size-Körper, die Freiheit, sie selbst zu sein. Das verbreitet sie auch auf ihrem Body-Positivity-Account auf Social Media. Die Resonanz ihrer Follower bestärkt Alea, mit ihrer schwierigen Vergangenheit Frieden zu schließen. Aber es ist ein wackliger Frieden, den sie nur aufrecht erhalten kann, indem sie im realen Leben niemandem wirklich nahekommt. Das gilt insbesondere für Männer wie Titus, die Körper optimieren, anstatt Menschen zu akzeptieren, und damit für all das stehen, was Aleas Leben früher zur Hölle gemacht hat. Und doch ist Titus plötzlich da. In ihrer WG. In ihrem Leben und irgendwann, einfach so, in ihrem Herzen.
Tropes: Forced Proximity, Opposites Attract, Found Family, He falls first and harder
{heartlines} = True Story + New Adult: Inspiriert von den echten Geschichten und Persönlichkeiten der Storygeber*innen schreiben die Autor*innen Romane zum Eintauchen und Mitfühlen. Mit Charakteren, die Mut machen, und unvergesslichen Lovestorys, die unsere Herzen erobern.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 409
Veröffentlichungsjahr: 2024
Über die Autorin
Die Autorin Leonie Lastella wurde in Lübeck geboren und lebt mit ihrer Familie in einem Dorf bei Hamburg. Sie liebt das Schreiben, taucht begleitet von Musik tief in die Welten ein, die sie erschafft. Einen Roman zu verfassen, der auf Alexas Story und auf echt erlebten Gefühlen basiert, war eine spannende Herausforderung. Alexa damit eine Stimme zu geben, war etwas ganz Besonderes. Leonie Lastella wurde unter anderem von der DELIA für ihre Werke ausgezeichnet und schreibt auch bei dtv erfolgreiche New-Adult-Romane.
Über die Storygeberin
Die Storygeberin Alexa Black kommt aus Baden-Baden und lebt heute in Kiel. Sie steht sie kurz vor dem Abschluss ihres Masters in Medienkonzeption und arbeitet als Journalistin beim NDR. Sie liebt es kreativ zu sein – sei es in der Küche, auf der Bühne oder auf dem Papier. Sie engagiert sich für die Rechte der LGBTQIA+-Community und setzt sich gegen Fettfeindlichkeit ein. Ein offener und toleranter Mensch zu sein, ist ihr bei all ihren Projekten ganz besonders wichtig.
Der Roman:
„Sie will niemanden lieben. Nicht einmal Titus. Vor allem nicht Titus.“
Alea liebt ihren Plus-Size-Körper, die Freiheit, sie selbst zu sein. Das verbreitet sie auch auf ihrem Body-Positivity-Account auf Social Media. Die Resonanz ihrer Follower bestärkt Alea, mit ihrer schwierigen Vergangenheit Frieden zu schließen. Aber es ist ein wackliger Frieden, den sie nur aufrechterhalten kann, indem sie im realen Leben niemandem wirklich nahekommt. Das gilt insbesondere für Männer wie Titus, die Körper optimieren, anstatt Menschen zu akzeptieren, und damit für all das stehen, was Aleas Leben früher zur Hölle gemacht hat. Und doch ist Titus plötzlich da. In ihrer WG. In ihrem Leben und irgendwann, einfach so, in ihrem Herzen.
Stark. Berührend. Echt. Ein Roman, der Tabus infrage stellt und das Leben feiert. Basierend auf einer wahren Geschichte.
Der Roman »Your Eyes on Me« based on Alexa’s true story thematisiert potenziell triggernde Inhalte. Sollte es daher Themen geben, die ihr vermeiden oder nur vorbereitet lesen möchtet, dann werft bitte einen Blick auf S. 312, wo die sensibleren Themen des Romans aufgelistet sind. Bitte denkt jedoch daran, dass die Liste die Handlung des Buches spoilern könnte.
{heartlines} – based on a true story
Weil das Leben die besten Geschichten schreibt.
Jede Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Wir schaffen einen Safe Space für die Begegnung von Autor*innen mit jungen Menschen, die ihre Erlebnisse teilen möchten. Inspiriert von den echten Geschichten und Persönlichkeiten der Storygeber*innen schreiben die Autor*innen Romane zum Eintauchen und Mitfühlen. Mit Charakteren, die Mut machen, und unvergesslichen Lovestorys, die unsere Herzen erobern.
Wenn auch du als Storygeber*in dabei sein möchtest, dann schicke uns eine E-Mail an
mit folgendem Inhalt: eine kurze Schilderung deiner wahren Erlebnisse und deine Motivation, daraus einen Roman zu machen. Die Länge sollte maximal 2-3 Seiten sein.
Wir freuen uns, von dir zu hören!
www.penguin.de/verlage/heartlines
@penguinlovestories
Leonie Lastella
Based on Alexa’s true story
Roman
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Dieses Buch basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte, einen Anspruch auf Faktizität erhebt es aber nicht. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffes und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerkes gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist. Für alle Leser und Leserinnen erkennbar erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt, wodurch Grenzen bewusst verschwimmen.
Originalausgabe 01/2025
Copyright © 2025 by Leonie Lastella
Copyright © 2025 by {heartlines} Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Diana Mantel
Sensitivity Reading: Jade S. Key
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-31813-0V001
www.penguin.de
@penguinlovestories
Für alle, die echt sind, in einer Welt, die es nicht ist.
LIEBEDICHSO, WIEDUBIST. NICHTWIEANDEREDICHGERNHÄTTEN.
Ich starre auf die Kommentare unter meinem letzten Beitrag. Ein Posting über drei verschiedene Sommeroutfits, passend zum Beginn der Semesterferien. Outfits, die zu meinen Lieblingslooks gehören. Ein Sommerkleid, kombiniert mit einer oversized Jeansjacke, eine weite Marlenehose und ein Crop-Top, das meine Figur betont. Denn ja, ich habe eine Figur. Mit Rundungen. Mit Ecken, die ich mag und gern zeige. Und Stellen, die mich vor Herausforderungen stellen, die ich aber akzeptiere. Mittlerweile. Weil sie zu mir gehören. Das letzte Outfit ist ein Bikini mit einem halb durchsichtigen geblümten Kaftan. Meine beste Freundin Luca und ich haben ihn zusammen geshoppt, und ich liebe das Teil.
Der Großteil meiner Community auch. Fast dreihundert positive, wertschätzende Kommentare stehen unter dem Beitrag. Aber da sind auch die anderen. Die hasserfüllten. Und obwohl ich es nicht will, kratzen sie an mir.
So was wie dich will doch keiner sehen.
Die Outfits sind echt nichts für deine Figur, obwohl ich das Gewicht jetzt gar nicht so schlimm finde. Noch bist du ja nicht total eklig.
Das ist doch krank. Und sich dann noch so anzuziehen.
Boah, ich würde die Outfits nicht mal selbst tragen, weil ich mich dafür zu fett fühle, aber du solltest das echt nicht anziehen.
Das sind nicht alle, aber ich gebe es mir nicht, die übrigen negativen Äußerungen auch noch zu lesen, sondern blockiere die Leute einfach, bei denen schon die Emojis scheiße sind. Danach atme ich. Ich sitze einfach auf dem Bett, atme und sehe aus dem Fenster meines Zimmers über den Elbstrand aufs Wasser, das ganz ruhig dahinfließt und dem es völlig egal ist, was irgendwelche Trolle auf Instagram schreiben. So egal, wie es mir meistens ist. Aber eben nur meistens. Und heute ist kein Meistens-Tag.
Ich rapple mich vom Bett hoch und gehe zu der flaschengrünen Cordcouch, die in einer Ecke meines Zimmers steht. Darüber der pinke Leuchtschriftzug. Be yourself. Etwas, woran ich mich mit jedem Posting auf meinem Body-Positivity-Account erinnere. Man sollte sich immer selbst lieben, auch wenn es Dinge gibt, die man besser wertschätzen kann als andere.
Ich befestige mein Handy in dem Stativ, das immer bereitsteht und so ausgerichtet ist, dass es genau meine Lieblingsecke der Couch und den Schriftzug im Fokus hat. Dann schalte ich noch das Mikro ein und drücke auf Aufnehmen.
»Wie vielleicht einige von euch gesehen haben, gab es unter meinem letzten Posting einige unschöne Kommentare«, beginne ich das Video. »Ich habe die meisten gelöscht. Alles Negative zu blockieren schafft eine Bubble. Ich weiß das, aber das hier soll ein positiver Ort bleiben. Für euch und für mich. In meinem virtuellen Wohnzimmer lasse ich mich nicht abwerten. Dazu hat niemand das Recht. Deswegen hier ein kleiner Reminder an mich und euch: Wenn dich andere Menschen aufgrund deines Körperbildes bewerten, sagt das immer mehr über sie aus als über dich. Konzentrier dich auf die Menschen, die dir guttun, nicht auf Kommentare im Internet. Denn die richtigen Menschen wissen, du bist mehr als dein Gewicht, und eine Waage kann niemals deinen Wert als Person bestimmen. Lieb dich so, wie du bist, nicht wie andere dich gern hätten. Steh zu allem, was an dir perfekt ist, und genauso zu allem, was nicht so perfekt ist. Denn die Summe macht dich erst einzigartig und wunderschön. Stay body positive and be yourself.« Ich lächle, deute auf den leuchtenden Schriftzug hinter mir und beende die Aufnahme wie jedes meiner Videos. Und ja, ich glaube, was ich sage. Ich glaube es wirklich. Und mich und meine Follower daran zu erinnern, hilft mir, es niemals wieder zu vergessen. Trotzdem klingen die fiesen Kommentare nach, die ich zwar aus meinem Thread löschen kann, aber leider hat mein Gedächtnis keine solche Löschtaste. Und der Hass nagt an dem wackligen Frieden, den ich mit mir geschlossen habe.
Ich schneide das Video und lade es dann hoch. Keine Filter, die ein verzerrtes Bild von mir wiedergeben würden. Einfach ich. Und sofort trudeln erste Kommentare ein.
Das ist, was ich heute Morgen hören musste.
Deine Worte tun so gut.
Word, beautiful.
Ich lege das Handy beiseite, als Luca mein Zimmer betritt.
»Netter Pep Talk, A.« Luca ist die Einzige, die mich so nennt, und damit ihrer Vorliebe für Pretty Little Liars frönt. Sie wirft sich neben mich auf das Sofa. »Ein superschöner Beitrag. Ich habe die Kommentare nicht gesehen, aber wenn du darüber reden willst – ich bin da.« Sie sieht mich ernst an. Luca weiß so ziemlich als Einzige, wie sehr ich früher gegen mich gekämpft habe, wie sehr mich Kommentare getroffen haben, die mich auf mein Gewicht reduziert haben. Luca war eine der Ersten, die mich einfach so geliebt hat, wie ich bin. Und sie tut es jetzt, auch über ein Jahr nach unserer Trennung. Sie sieht mich, nicht mein Gewicht oder eine wandelnde Problemzone. Durch sie habe ich angefangen zu sehen, dass ich schön bin. Nicht trotz meiner Makel, sondern wegen ihnen. Wegen allem, was mich ausmacht.
»Das sind nur Internettrolle. Die habend doch keine Ahnung.« Ich zucke die Schultern und puste mir die Haare aus der Stirn. »Lohnt sich nicht, ihnen noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken, indem wir über sie sprechen.« Das ist meine Art, damit umzugehen. Stellung beziehen und versuchen, es abzuhaken, bevor die Kommentare Zweifel streuen können, wo keine hingehören.
»Okay.« Luca setzt sich auf und drückt mich fest an sich. Sie kommt gar nicht auf die Idee, meinen Wunsch nicht zu respektieren oder mich vom Gegenteil überzeugen zu wollen. So ist Luca. Wild, einzigartig und absolut wunderbar. Ihr Haar riecht nach Farbe und Holzstaub. Seitdem sie die alte Kapitänsvilla im Treppenviertel von Hamburg von ihrer Oma geerbt hat und neben ihrem Studium von Grund auf renoviert, gehört dieser Geruch zu ihr. Wie ich in diese WG. Ich mag es. Genau wie die Farbkleckse auf ihrer Latzhose und die Tatsache, dass sie vollkommen unbeirrt von den Katastrophen, die sie bei ihrem Do-it-yourself-Großbauprojekt heraufbeschwört, nie aufgibt, immer fröhlich ist und fehlendes Können durch Kreativität ersetzt. Sie ist meine Familie. Genau wie Hope und Jasper. Vielleicht etwas mehr als die beiden, auch wenn ich es nicht geschafft habe, sie nah genug an mich heranzulassen, damit wir als Paar eine Chance gehabt hätten. Aber ich liebe sie alle drei.
»Komm, ich mache uns einen Tee.« Luca sieht mich erwartungsvoll an und flitzt los, als ich nicke. Ich höre, wie sie in der Küche zu rumoren beginnt, und stehe auf, um ihr die Treppe hinunter ins Erdgeschoss zu folgen. Gemeinsam tragen wir wenig später die Tassen, eine Schale mit Kandis und ein paar Kekse auf die winzige Terrasse vor dem Haus, die den Großteil des noch winzigeren Gartens einnimmt, und setzen uns.
Mit Blick auf den Strand, den schmalen Gehweg, eine der vielen Treppen des Viertels und die Elbe trinken wir unseren Tee. Luca erzählt von ihrem neuesten Projekt. Sie will das untere Badezimmer rausreißen und komplett neu einrichten. Ich verkneife mir, ihr zu raten, wenigstens für die Anschlüsse einen erfahrenen Klempner zu beauftragen. Sie wird es sowieso selbst machen.
»Das geht doch schief.« Jasper springt die drei Stufen zur Terrasse hinauf und lässt sich auf einen der freien Stühle fallen. Er sieht müde aus. Der bevorstehende Launch seiner Modelinie Gymbeam vereinnahmt ihn. Letzte Nacht hat er wieder mal durchgearbeitet, und allmählich macht sich die Mehrbelastung bemerkbar. »Und wenn das ganze Haus unter Wasser steht und ich zwei Stunden warten muss, bis Hope das obere Badezimmer freimacht, verspreche ich, dich mit einer Rohrzange durchs Haus zu jagen.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Du weißt, was eine Rohrzange ist?« Jasper hat viele Stärken, aber bis gerade eben hätte ich gedacht, er hätte noch nie ein Werkzeug aus der Nähe gesehen.
»Mein Opa war Handwerker. Ich weiß also zumindest, wie die Teile aussehen. Und jemanden damit zu hauen, dürfte selbst ich hinkriegen.« Er lacht, schließt die Augen und reckt das Gesicht in Richtung Sonne. Ein Seufzen dringt aus seinem Mund. »Vielleicht ist aber auch egal, was du mit dem Bad anstellst, weil ich einfach nie wieder von diesem Stuhl aufstehen werde.«
»Nicht mal für Caipirinhas?« Zweifelnd sehe ich ihn an, aber er öffnet die Augen nicht.
»Nope.«
»Und wie sieht es mit meinen sensationellen Erdbeer-Daiquiris aus?«
Luca sieht mich besorgt an, als Jasper noch mal den Kopf schüttelt. »Er ist krank«, wendet sie sich an mich. »Vielleicht hat er Fieber oder noch schlimmer, seine Genialität könnte über die Hirnschranke getreten sein und verursacht jetzt einen Kurzschluss.«
»Ich kann dich hören«, brummt Jasper.
»Das spricht gegen einen kompletten Kurzschluss.« Ich stehe auf und streiche ihm liebevoll die Haare aus der Stirn, aber er reagiert nicht mehr, und sein Atem wird tiefer und gleichmäßig. »Ich bringe ihm eine Decke mit«, sage ich. »Muss sowieso meine Unterlagen holen, damit ich mit meiner Hausarbeit weiterkomme.« Und was wäre ein besserer Platz dafür als in der Sonne, umgeben von Freunden? Okay, von einem schlafenden Freund und einer Freundin, die plant, uns eines von zwei Badezimmern zu rauben. Ich lache leise, weil es trotzdem kein besseres Zuhause gibt, verschwinde nach drinnen, schnappe mir eine Wolldecke, den Laptop und eine Flasche Wasser und kehre zu den beiden zurück.
Luca kämpft mit der Bearbeitung ihres letzten Videos und schimpft leise vor sich hin. Sie teilt ihre DIY-Exzesse noch nicht so lange auf Social Media. Eigentlich erst seit Jasper, Hope und ich bei ihr wohnen und sie ermutigt haben, die Verwandlung der Villa auf Social Media zu posten und dadurch vielleicht ein wenig Geld für die Renovierung dazuzuverdienen.
»Wieso macht das Ding nie, was ich will?«, stöhnt sie gerade. Nachdem ich die Decke über Jasper ausgebreitet habe, setze ich mich zu ihr.
»Hier«, sage ich und zeige ihr einen Trick, wie sie das Video ganz einfach trennen kann. »Und ich würde den Teil hier schneller machen, sonst wird das insgesamt zu lang.«
»Jetzt sehe ich ein bisschen aus wie der Roadrunner, aber du hast recht, so ist es besser.« Luca lacht und gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Danke.«
»Stets zu Diensten im Kampf gegen die Technik.« Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht, klappe den Laptop auf und rufe die Hausarbeit auf, die ich nach den Semesterferien abgeben muss. Inwiefern wirkt sich die Berichterstattung in den sozialen Medien auf das kollektive Handeln aus? Ich seufze und verbringe die nächsten Stunden damit, wahlweise an meiner Arbeit zu schreiben oder Jasper beim Schlafen und später beim hektisch Aufwachen und Schimpfen zuzusehen, weil er zu viel Zeit verloren hat.
Luca geht nach ihrer Pause nach drinnen, und dem Poltern und Knirschen aus der Villa nach zu urteilen, geht es dem Haus an die Eingeweide.
Am frühen Abend trudelt endlich auch Hope ein. Sie arbeitet als Produktmanagerin in einem Start-up, das Apps entwickelt, in der HafenCity. Ich würde gern mehr Interesse für ihren Job zeigen, aber ich verstehe im Grunde nie, was genau die Firma entwickelt. Aber Hope liebt ihren Job, genau wie ihren Social-Media-Account @Konterbunt, dessen Name nicht nur erahnen lässt, wie intelligent, differenziert und wichtig ihre Beiträge sind, sondern auch wie kreativ Hope ist.
»Wie war dein Tag?«
Hope grinst schief. »Wochenend-Erdbeer-Daiquiris-würdig.« Sie zeigt zum Haus. »Jasper hat mir geschrieben, dass ihr vorhabt, ihn mit jeder Menge davon davor zu bewahren, sich zu überarbeiten.« Mit einem Zwinkern lässt sie sich auf einen der Stühle fallen. »Da bin ich auf jeden Fall dabei.«
Sie nimmt sich einen Keks und verdreht genießerisch die Augen, was mich zum Lachen bringt.
»Hab übrigens einige der Kommentare gesehen, bevor du sie gelöscht hast.«
Sie sieht mich ernst an. Auf die Weise ernst, die ich nicht mag, weil Mitleid und Verständnis darin mitschwingen und ich mich klein fühle. Ich weiß, Hope meint es nicht böse, aber es fühlt sich einfach nicht gut an.
»Die Art von Menschen kann man nur blockieren oder alternativ an die Wand hauen«, sagt sie in diesem Moment und macht damit den Blick hundertmal wieder wett. Wie immer ist sie verbal-radikal. »Was nehmen sich solche Leute nur raus?« Sie schüttelt den Kopf. »Mich hat heute tatsächlich ein Kunde gefragt, ob ich ihm ein Glas Wasser servieren könnte. Als er seinen Fehler bemerkte, hat er noch dumme Witze gerissen und hätte mich am liebsten den Rest des Meetings über ignoriert. Da sieht man mal wieder, wie struktureller Rassismus und fehlende Repräsentation die Meinung der Gesellschaft bilden.«
Ich bin fassungslos und kappe den Gedanken, ob es im Angesicht dieser rassistischen Ausgrenzung überhaupt legitim ist, mich wegen meiner Figur diskriminiert zu fühlen. Aber man sollte eine Ungerechtigkeit nicht an einer anderen messen. »Was hast du zu ihm gesagt?«
Hope grinst und wiegt ihren Kopf. »Dass mich wirklich sehr interessieren würde, in welchem Jahr seine Lebensrealität stehen geblieben ist, und wenn er an einer Zusammenarbeit interessiert ist, müsste er schon mit mir als schwarzer Produktmanagerin reden. Zum Glück bin ich in einer Position, in der ich mir das nicht gefallen lassen muss.« Sie lehnt sich zurück, und es scheint, als wäre Hope aus Teflon, an dem all der Mist einfach abperlt. Aber das ist auch nur eine Schicht von vielen. Und jede solcher Äußerungen ist nicht nur unnötig, respektlos – sie trifft. Immer. Auch wenn Hope lernen musste, damit umzugehen, und das besser beherrscht als ich.
»Was sagst du?« Ich stupse sie an. »Ich hole die Gitarre. Luca mixt unsere Getränke, und du schaffst Jasper aus seinem Elfenbeinturm an den Strand?«
Hope wirft einen gespielt vorsichtigen Blick zum Nachbarhaus hinüber. »Du meinst, wir nichtsnutzigen Hausbesetzer arbeiten schon wieder aktiv am Verkommen der noblen Nachbarschaft, indem wir ein alternatives, diverses Sit-in am Strand machen?«
»Ja, so in etwa.« Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Die Nachbarschaft hat noch …, sagen wir, gewisse Anpassungsschwierigkeiten mit unserer WG. Zu bunt, zu anders, zu unpassend. Das sagt zumindest unsere Nachbarin Margarete, die Jasper konsequent nur Gretchen nennt, was wohl seine Art des passiven Widerstands gegen das Establishment ist und Gretchen langsam, aber sicher zur Weißglut treibt.
Dabei sind wir alle super bodenständig, ehrgeizig und sehr angepasst, wenn man uns an Studium, Arbeit, Hobbys und der Sauberkeit in der WG misst – und nicht an gesellschaftlichen Normen, die sowieso nicht mehr aktuell sind.
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Ich bin so lange an der Isar entlanggerannt, bis ich das Gefühl hatte, nach Hause kommen zu können, ohne an all den ungesagten Worten zwischen Johanna und mir zu ersticken.
Aber mit jedem Meter, den ich mich der Wohnung nähere, verfliegt die Ruhe, das Gefühl von Kontrolle, das ich während des Sports empfunden und versucht habe abzuspeichern. Fühlt sich unstet an und so, als sollte ich besser noch weitere zehn Kilometer rennen.
Aber das geht nicht. Ich muss dringend etwas essen, noch die Videos von gestern bearbeiten und mit Jo absprechen, in welchem Intervall sie sie gepostet haben möchte. Videos, die so fake sind, dass ich kotzen möchte.
Trotzdem stecke ich den Schlüssel ins Schloss und drücke die Tür auf. Ich muss es nicht lieben, aber unser gemeinsamer Account, der uns als Paar zeigt, unseren Lifestyle und unseren Sport, bringt die Kohle, die ich zum Leben und Studieren brauche. Und ich habe keine Alternative. Kein Nebenjob bringt genug, um sich die Mieten in München leisten zu können. Und eine Familie, die mich finanziell auffangen könnte, habe ich nicht. Ich habe niemanden. So einfach. So beschissen.
Im Inneren ist es still. Jo mag es so. Dann kann sie in Ruhe arbeiten, ohne abgelenkt zu werden. Ich drehe durch, wenn meine Gedanken in der Stille zu viel Raum bekommen.
Mit einem Seufzen werfe ich den Schlüssel auf die Kommode hinter der Tür und biege in die Küche ab. Sie ist klein, aber exklusiv eingerichtet. Hat ein Schweinegeld gekostet. Geld, das ich gern gespart hätte, aber Jo meinte, es wäre eine gute Investition. Unsere Wohnung wäre schließlich in fast jedem Video zu sehen und müsse was hermachen. Etwas hermachen, was sie nicht ist. Denn fünfeinhalb Quadratmeter sind niemals fucking Gatsby, egal wie teuer die Arbeitsplatte war. Aber immerhin haben die Küche, Jo und ich etwas gemeinsam: Wir tun so, als wären wir etwas, das wir nicht sind.
Mit dem Messlöffel gebe ich Proteinpulver in einen Shaker, fülle das Ganze mit Wasser auf und schüttle das Zeug. Das ist keine Mahlzeit im eigentlichen Sinne, aber es wird erst mal reichen. Ich habe einfach keine Lust zu kochen. Früher haben wir das oft zusammen gemacht. Jo saß auf der Küchenzeile (da war sie noch von Ikea), wir haben geredet, sie hat mir das klein geschnippelte Gemüse geklaut, bevor ich es in die Pfanne werfen konnte, und hat gelacht, wenn ich versucht habe, das Essen zurückzuerobern. Wir haben Bier aus Flaschen getrunken, uns geküsst und danach im Wohnzimmer gegessen, Serien gebingewatchet und Sex auf dem Boden gehabt. Ich schließe die Augen. Diese Version von uns haben wir irgendwo auf dem Weg verloren. Jo hat sich verloren. Oder vielleicht gab es diese Version von uns auch nie. Vielleicht wollte ich sie einfach so sehr, dass ich gesehen habe, was ich sehen wollte. Fakt ist, jetzt ist nichts mehr davon da.
Ich nehme einen tiefen Schluck des Proteinshakes und gehe zurück auf den Flur, von dem die anderen vier Räume abgehen. Alle sind nur minimal größer als die Küche – trotzdem kostet die Wohnung ein Vermögen.
Nach Jo zu rufen, wird sofort den nächsten Streit provozieren, weil ich sie wie immer bei etwas extrem Wichtigem störe oder gar in ein Live stolpere. »Dabei hast du kein Recht mehr, überhaupt in mein Leben zu platzen«, Zitat Jo vor drei Tagen. Also lasse ich es und gehe sie einfach suchen.
Hinter der Tür zum Arbeitszimmer höre ich Stimmen und drücke die Tür leise auf. Sicher ist sie gerade live und wird mich gleich zu sich vor die Kamera ziehen, mich küssen und den Followen vorspielen, wir wären glücklich, zusammen, verliebt. Einen Moment wird es sich anfühlen wie früher in der Küche, auf der Ikea-Küchenzeile. Aber Jo ist nicht mehr die Jo von damals. Und ich bin nicht mehr der Typ, in den sie bis über beide Ohren verknallt war. Der sie genau so verrückt zurückgeliebt hat. Alles, was gleich passieren wird, ist rein geschäftlich. Würde unser Erfolg nicht maßgeblich davon abhängen, dass wir vor der Kamera so tun, als wären wir immer noch ein Paar, würden wir wohl längst nicht mehr zusammen hier wohnen. Dass wir es trotzdem tun, ist Folter, der größte Scheiß, aber vielleicht auch unsere einzige Chance. Oder ich bin einfach nur zu stur, um aufzugeben, wer weiß?
Ich bin im Türrahmen stehen geblieben. Das Bild, das sich mir bietet, braucht, bis es von grobpixelig zu gestochen scharf hochfährt. Rasierklingenscharf.
Jo ist nicht in einem Live. Die PCs sind nicht mal an. Ihr Handy liegt umgedreht vor ihr. Das Tablet daneben. Dabei ist sie immer auf irgendeinen Bildschirm fokussiert. Immer.
Jetzt nicht. Sie redet mit einem Typen. Himmelt ihn an. Nicht irgendeinen Typen. Sie himmelt Nick an. Meinen Kumpel Nick. Meinen engsten Freund hier in München. Dachte ich. Ihr Bein hängt lässig über seinem. Wie früher bei mir. Und seine Hand liegt auf ihrem Schenkel. Auf der fucking Innenseite und zu weit oben, als dass es unverfänglich sein könnte. Er setzt eine Flagge mit seiner Scheißhand. Jo ist jetzt Nick-Land. Was für ein Arschloch! Das Blut rauscht in meinen Ohren, und alles in mir wird kalt und hart.
»Titus«, ist alles, was Jo sagt. Aber sie klingt nicht schuldbewusst, nicht entschuldigend, eher genervt, weil sie ahnt, dass ich eine Szene machen werde. Sie nimmt nicht mal ihr beschissenes Bein von seinem. »Nick ist vorbeigekommen.«
»Sehe ich.« Klingt wahrscheinlich eher wie ich töte ihn, wenn er sich nicht in der nächsten Sekunde von dir entfernt. Am besten weit, weit weg. Ein anderes Bundesland wäre gut.
Aber er geht nicht. Stattdessen sieht er mich mitleidig an. Mitleid? Sein Ernst? »Hey, Titus. Ich wollte nicht … aber ihr seid jetzt ja auch schon eine ganze Weile nicht mehr zusammen und …«
Als gäbe ihm das das Recht, mit der Frau rumzumachen, mit der ich seit vier Jahren zusammen bin. Ohne mich vorzuwarnen? Ohne mich zu fragen, ob ich fine damit bin? Bin ich nicht. Fuck!
Da ist dieser Druck in meiner Brust. Ich kenne ihn von früher und weiß, er muss irgendwo hin, wird aus mir herausbrechen, wenn ich nicht aufpasse. Ich balle die Hände zu Fäusten. Aber das reicht nicht. Früher hätte ich Nick eine reingehauen. Aber ich bin nicht mehr der Titus von früher. Will es nicht mehr sein. Kontrolle. Ich muss die Kontrolle behalten, aber das werde ich nicht schaffen, wenn Nick mich weiter so ansieht, als müsste ich für diese Scheiße hier Verständnis haben. Erwartet er ernsthaft, dass ich fine damit bin? »Verpiss dich«, zische ich ihm zu und halte seinem Blick stand, aber er bleibt einfach, wo er ist, legt seinen Arm um Jos Taille. Und die Kontrolle in mir wird zu etwas Heißem, das meine Selbstbeherrschung wegbrennt.
Ich konzentriere mich auf Jo. Zwischen uns liegt Stille. Nichts als Stille. So wie sie es mag. Und ich es hasse. Ich hasse sie in diesem Moment. »Ich erwarte nicht, dass du mich noch liebst«, stoße ich durch zusammengepresste Kiefer. »Aber wir waren vier Jahre zusammen, also wie wäre es mit etwas, das weniger Faust ins Gesicht ist. Musste es echt Nick sein? Hier?« Sie hätten verdammt noch mal in seiner Wohnung rummachen können. Deren Küche ist auch weitaus fancier. Ich atme in meine Handfläche, atme, um nicht durchzudrehen.
Jo scheint das Ganze total kaltzulassen. Sie spielt inzwischen an ihrem Handy, als ginge sie der ganze Mist nichts an, und ich frage mich nicht zum ersten Mal, wo das Mädchen hin ist, in das ich mich damals verliebt habe. Der Erfolg hat sie total verändert. Zu einer Person gemacht, die ich kaum wiedererkenne, nicht mehr lieben kann, und trotzdem hofft ein verzweifelter Teil von mir immer noch, ich könnte die echte Jo wieder ausgraben. Hofft, das hier ist nicht das Ende. Weil ich echt krass scheiße darin bin, Dinge zu verlieren.
»Warum nicht, Nick?«, fragt sie gelangweilt. »Er ist nicht so … schwierig wie du. Ich habe Spaß mit ihm, und by the way, ich will, dass wir das hier lassen. Es wird Zeit. Nick wird hier einziehen.« Sie streicht mit ihrer Hand über sein Polohemd.
»Du willst, dass er hier einzieht? Das ist …« Keine Ahnung. Es gibt kein Wort, das auch nur annähernd umreißt, wie egoistisch das ist. »Du benutzt ihn doch nur, um mir eins reinzuwürgen. Das ist so erbärmlich.« Und das Schlimmste ist, es funktioniert. Denn ich fühle mich, als hätte sie mein Scheißherz rausgerissen und wäre anschließend darauf herumgehüpft.
»Hey, Mann, red nicht so mit ihr.«
Keine Ahnung, warum es heißt, man würde rotsehen. Meine Wut ist nicht rot. Sie ist gleißend hell und bricht durch immer größer werdende Risse. Ich kontrolliere meinen Atem, jeden Muskel, schlucke an den Worten, die sich in meinem Hals verkanten, aber ich verliere. Ich muss … hier raus. Bevor das in einer Katastrophe endet.
In einer kantigen Bewegung drehe ich mich um und gehe zurück zur Tür. Auf dem Weg nehme ich den Schlüssel mit, ziehe die Tür hinter mir zu, bringe Abstand zwischen Jo, Nick und mich, indem ich die Treppe hinablaufe und die Haustür aufdrücke, die immer klemmt. Alltägliche Bewegungen, die sich so weit entfernt anfühlen, als würde ich mich unter Wasser bewegen. Ich stoße gegen jemanden, höre, wie er sich beschwert. Will um mich schlagen, weil ich Nick nicht geschlagen habe. Weiß, dass ich nicht so sein, will und lasse es. Gehe nicht mehr, sondern laufe. Renne, weil Sport schon immer das Einzige war, wodurch ich mich kontrollieren konnte. Quer durch die Stadt renne ich. Mit hämmerndem Herzen. Meine Seiten stechen. Es ist heiß. Ich habe zu wenig gegessen, kaum getrunken, seit Tagen zu wenig geschlafen. Mir ist schwindelig und kotzübel. Aber ich laufe weiter. Um nicht durchzudrehen und etwas Unüberlegtes zu tun, wie zurück zur Wohnung zu gehen und Nick so lange zu schütteln, bis er sieht, was für ein Scheißfreund er ist. Wie Jo anzuschreien, bis sie zur Einsicht kommt, dass wir einander brauchen. Wirklich brauchen. Vielleicht nicht als Paar, aber als Geschäftspartner und Mitbewohner. Als Freunde. Fuck. Ich brauche diese Dinge von ihr, will die Jo von früher zurück. Aber sie braucht nur Nick, und ich bin im Weg.
Obwohl ich völlig fertig bin, ziehe ich das Tempo noch mal an. Weil das Gefühl, mir würde die Lunge aus der Brust springen, zumindest das ätzende Gefühl in mir überlagert, alles verloren zu haben. Ich sprinte durch den Olympiapark und dann den Berg hinauf.
Völlig fertig erreiche ich die Spitze und werfe mich schwer atmend ins Gras. Unter mir, im Olympiastadion, spielt irgendeine Band. Die Musik ist so gut zu hören, als würde ich im Innenraum stehen. Das hier sind die billigsten, aber besten Konzertplätze in ganz München. Doch ich bin nicht da, um den Abend zu genießen, wie früher mit Jo. Ich will ihn einfach nur überstehen. Der Abendhimmel wird dunkler, die Temperaturen kühlen ab, und ich friere. Weil meine Klamotten verschwitzt sind und alles in mir kalt, aber ich bleibe liegen, starre in den Sternenhimmel, lasse Musik und Stimmen über mich hinwegfluten. Wie zum Henker soll es jetzt weitergehen? Zurück in die Wohnung kann ich nicht. Nicht, wenn ich vermeiden will, auch noch den letzten schmalen Streifen Erde zwischen mir und Jo zu verbrennen. Aber es ist nun mal auch nicht so, dass ich einfach meine Tasche packen und für ein paar Wochen zu meiner Familie fahren könnte, bis ich weiß, wie es weitergehen soll. Ich habe keine F… Mit einem Ruck setze ich mich auf und ziehe das Telefon aus meiner Hosentasche. Jasper. Wir sind das, was Brüdern am nächsten kommt. Wir sind zusammen in einer Einrichtung aufgewachsen, zusammen durch jeden Scheiß. Er hat mich zum Sport und weg vom Abgrund gebracht. Seitdem es ihn in den Norden und mich in den Süden verschlagen hat, haben wir zwar kaum noch Kontakt, aber Jasper ist die Sorte Mensch, die man auch nach einem Jahr Funkstille anrufen und um einen Gefallen bitten kann, und er sagt ohne zu zögern Ja. Selbst wenn der Gefallen so groß ist wie meiner. Das hoffe ich zumindest.
DUBISTMEHRALSDEINGEWICHT.– UNKNOWN.
Wir sitzen in unserer kleinen gemütlichen Küche, von der aus man einen tollen Blick über den winzigen Garten des Hauses, den Gehweg vorm Haus, den Strand und die Elbe hat. Ich könnte für immer hier bleiben, dem warmen Sommerregen zusehen, wie er gegen die Scheiben fällt, und Hopes und Lucas Diskussion über den perfekten Farbton für das Badezimmer im Erdgeschoss zuhören. Hope ist für etwas Farbenfrohes. Luca für schlicht, weil man dann frei ist, was die Deko angeht.
»Was meinst du, Alea?«
»Hmm.« Ich nippe an meinem Tee und zucke die Schultern. »Dass ich auf keinen Fall etwas dazu sagen werde, weil ich für flaschengrün wäre.«
Hope sieht mich einen Augenblick fassungslos an und lacht dann laut los.
»Das war kein Witz von ihr.« Luca sieht mich verzweifelt an. »Flaschengrün ist schon bei einer Couch ein Wagnis, wobei ich nicht deine heißgeliebte Couch dissen will. Sie passt wirklich gut in dein Zimmer, aber als Wandfarbe sieht das aus, als hätte sich ein Flubber übergeben.«
»Hi, Mädels.« Jasper kommt herein, schüttelt sich die Regentropfen von der Kapuze und befördert eine Tüte mit frischen Brötchen unter der Jacke hervor, die einfach herrlich duften. Er schält sich aus dem völlig durchnässten Canvas-Stoff und schüttet seine Beute in den Brötchenkorb. In derselben Bewegung fischt er ein Franzbrötchen heraus und beißt hinein, noch bevor er sich gesetzt hat. »Ich habe Gretchen auch eins mitgebracht und ihr in die Hand gedrückt. Bestechung, bevor sie wieder wegen des Baulärms schimpft.«
»Na, mal sehen, ob es klappt.«
»Ich setze große Hoffnungen in Hefe, Zimt und Zucker«, erwidert Jasper kauend. »Aber mal zu etwas ganz anderem als unserem Lieblingsnachbarschaftsdrachen. Ich habe gestern mit Titus telefoniert. Ein paar von euch kennen ihn über Social Media und von der ein oder anderen Convention.« Hope nickt, während ich Jasper nur anstarre und hoffe, dass sich das Gespräch nicht in die Richtung entwickeln wird, die ich annehme.
»Wir sind zusammen aufgewachsen, also schon ewig befreundet. Er hat jetzt auch Semesterferien und wollte …« Er macht eine kurze Pause und lässt das Franzbrötchen sinken. »Titus hat vorgeschlagen, mir mit dem Launch der Modelinie unter die Arme zu greifen, und jemand mit so vielen Followern, der das Ganze unterstützt, könnte ich echt gut gebrauchen.« Er nickt, als wäre ihm das Argument gerade erst eingefallen. »Deswegen wollte ich euch fragen, ob es okay wäre, wenn er herkommt und vorübergehend in das Zimmer unter der Treppe zieht?«
Und da haben wir das gequirlte Elbwasser. Ich will nicht, dass dieser Kerl herkommt. Aber Jasper beachtet mich gar nicht, sieht nicht, wie sehr ich mich verkrampfe, weiß nicht, warum mein Magen ein Eigenleben entwickelt. Er konzentriert sich auf Luca. Ihr gehört das Haus, und es ist ihre Entscheidung. Nicht meine. Egal, was ich empfinde.
»Ist er auch Influencer?« Luca sieht fragend in die Runde. »Noch nie von ihm gehört.«
Ja, und hauptberufliches Arschloch. Ich atme tief ein und wieder aus. Das ist nicht fair. Im Grunde kenne ich ihn gar nicht. Nur seine Freundin und ihren gemeinsamen Account. Was leider Rückschlüsse auf seinen Charakter zulässt.
»Eigentlich ist er Sportstudent, aber zusammen mit seiner Freundin eben auch ziemlich erfolgreich auf Social Media.«
Was Luca bis jetzt entgangen sein dürfte, weil sie noch neu im Social-Media-Business ist und Titus eine komplett andere Bubble bedient. Jasper tippt auf seinem Handy herum und hält Luca das geöffnete Profil von @TitusandJo hin.
Obwohl ich das Bild nur über Kopf sehe, erkenne ich Johanna und Titus. Er oben ohne, den Sixpack unter der hellbraunen Haut angespannt, damit jeder seine Muskeln bewundert. Sie in engen Sport-Tights und bauchfrei. Und alles, was ich in diesem Moment empfinde, ist Abwehr. Ich will wirklich nicht, dass er hier einzieht. Ein Typ, dessen Lebensaufgabe es ist, sich und andere zu optimieren. Der mit einer Frau wie Johanna zusammen ist. Ich schließe die Augen, versuche die Erinnerung zu kappen, aber sie lassen sich nicht aufhalten. Es ist, als würde ich wieder in diesem Toilettenraum der Dmexco in Köln stehen. Das Influencer-Event des Jahres. Das war vor drei Jahren. Ich war das erste Mal eingeladen und habe es geliebt. Habe es genossen, so viele Menschen kennenzulernen, über Social Media und meinen Account zu reden, Ideen aufzugreifen, Neues zu entwickeln, gewertschätzt zu werden für das, was ich aufgebaut habe, was mir wichtig ist.
Aber dann war da dieser Moment im Toilettenraum. Die Beleuchtung ist mies. Zittrige Neonlampen, die mich blass erscheinen und meine rotblonden Locken zu karottig und zu wenig blond aussehen lassen. Kaltes Licht, in dem man nichts verstecken kann. Johanna steht mit einer Freundin vor dem Spiegel. Ihr abschätziger Blick trifft mich, als ich den Raum betrete, gleitet an mir auf und ab, bevor sie sich wieder dem Spiegel zuwendet und ich in einer der Kabinen verschwinde. Sie ist sonnengebräunt und wunderschön. Ein bisschen zu wunderschön, um daneben nicht selbstkritisch zu werden. Ich schließe die Tür, höre wie sie mit ihrer Freundin über Intervallfasten redet, das sie ganze neu für sich entdeckt hat. Wie toll es ist. Wie einfach und effektiv. »Ein Gamechanger.« Sie lacht. »Seitdem ich das mache, liegt mein Körperfettanteil endlich unter fünfzehn Prozent. Das davor war echt nicht schön. Ich war so fett! Widerlich.«
Sie stößt die Luft aus, und das Geräusch verliert sich in dem der Spülung, während ich denke, dass egal, wie schön sie ist, ihre Sicht auf sich selbst und das, was wichtig ist, krass ist.
»Und weißt du, was das Beste ist? Titus steht total auf mein neues Ich«, sagt sie triumphierend, als ich zu ihnen an die Waschbecken trete, und wackelt übertrieben mit den Augenbrauen, um zu verdeutlichen, wie sehr er drauf abgeht, dass sie hungert.
Was für ein Bullshit. Ich seufze. Es denken einfach zu viele Menschen so, nicht cool. Ich verdrehe die Augen, wasche mir die Hände. Erst als ich mich abtrockne, spüre ich die Blicke der beiden auf mir, bemerke, dass sie aufgehört haben zu reden. Johanna dreht sich um, lehnt sich mit der Hüfte gegen das Waschbecken und verschränkt die Arme vor der Brust. »Was?«
Ich schüttle den Kopf. Im Internet gelingt es mir gut, für mich einzustehen und dafür, dass sich jeder so akzeptieren sollte, wie er ist. Und dass niemand hungern sollte, um anderen zu gefallen. Aber das hier ist nicht das Internet, sondern das reale Leben. Und ich will die Konfrontation nicht. »Nichts«, murmle ich.
Sie mustert mich wieder von oben bis unten. Kein wohlwollendes Mustern, sondern eins, das mir das Gefühl gibt, ein widerliches Insekt zu sein.
»Du solltest das mit dem Intervallfasten auch ganz dringend mal ausprobieren.« Ich erinnere mich genau an ihr Lachen. »Und dein Intervall sollte mindestens 24 Stunden betragen.« Noch lauteres Lachen, härter, kalt und so richtig fies böse. Ich wollte so gern etwas Schlagfertiges antworten, aber es fiel mir nichts ein. Mein Kopf war leer, und Scham pulsierte unter meiner Schädeldecke. Also bin ich stattdessen geflüchtet. Ich bin einfach aus dem Toilettenraum gestürzt und habe mir eine ruhige Ecke gesucht, um mich zu sammeln. Ich habe nicht geweint. Ich bin nicht zusammengebrochen, aber den Rest der Veranstaltung habe ich mich bei jeder neuen Begegnung mit vermeintlich netten, zugewandten Menschen gefragt, ob sie sich nur aus Mitleid mit der Dicken unterhielten. Habe mich gefragt, was sie über meinen Körper denken und ob ich überhaupt dorthin gehörte. Ob ich es wert war, zwischen all diesen perfekten, passenden Menschen an diesem Event teilzunehmen. Und dieses Gefühl hätte mich fast zerlegt.
Die WG ist mein Wohlfühlort. Mein Zuhause, an dem ich mich sicher fühle und noch nie so empfunden habe. Eine Zuflucht, die so ganz anders, so viel gesünder und besser ist als das toxische Zusammenleben mit meinem Stiefvater oder die Treffen mit Menschen wie Johanna. Ganz bestimmt will ich das nicht ändern, indem ich diesen Ort mit einem ätzenden Typen wie Titus teile, der seiner eigenen, wunderschönen Freundin die Kalorien in den Hals zählt, um ihren Körperfettanteil so weit zu reduzieren, dass es zwar ungesund, aber medial vermarktbar ist und seinem verschobenen Schönheitsideal entspricht. Der so ist wie mein Stiefvater, für den nie ich von Bedeutung war, sondern immer nur mein Gewicht und wie ich äußerlich wirke.
»Hey, scheint echt ein cooler Typ zu sein.« Luca scrollt durch den Feed, während ich mir ein Schnauben verkneife und immer noch hoffe, sie wird Nein sagen. Gerade wird ein Video abgespielt, in dem Johanna an einer Stange hängt und sich mit Klimmzügen abmüht. Titus läuft ins Bild, nur bekleidet mit einer Shorts und mit freiem Oberköper, der jeden definierten Muskel zeigt. Er greift links und rechts von ihr an die Stange und zieht sich ebenfalls hoch, während er seine Beine um ihre schlingt, sodass er ihr einen Teil des Körpergewichts abnimmt und sie im selben Rhythmus unendlich viele Klimmzüge machen. Ich wende den Blick ab.
»Okay, und er ist verdammt hot«, stellt Hope fest und hat einen leicht verklärten Blick.
»Jepp, das fällt selbst mir auf. Obwohl ich für Männer gänzlich unempfänglich bin.« Luca lacht.
Ja, sie haben recht. Rein optisch ist er heiß, aber das ist nun mal nicht, was uns als Personen ausmacht. Und ich weiß leider, wie er und seine bekloppte Freundin ticken.
»Vor allem ist er aber nett«, sagt Jasper in diesem Moment, und ich frage mich wirklich, wie ein so toleranter, liebenswerter Mensch wie Jasper jemandem wie Titus nett finden kann, sogar mit ihm befreundet ist. »Ihr werdet ihn mögen, versprochen, und er könnte mir mit seinen über 1,5 Millionen Followern echt helfen.«
»Das stimmt, das ist eine echte Chance, und nett passt doch zu uns. Also, einverstanden.« Luca hat ihre Entscheidung gefällt.
Jaspers Blick gleitet zu Hope. »So was von einverstanden.« Sie wackelt mit den Augenbrauen, als wäre es allein deswegen keine Frage, weil sie wie alle anderen Titus superheiß findet.
»Alea?« Jasper sieht mich erwartungsvoll an.
Ich will Titus nicht hier haben. Aber die Mehrheit hat für ihn gestimmt, und er bedeutet eine Chance für Jasper, der mit seiner Modelinie alles auf eine Karte gesetzt hat. Er kann diesen Push mehr als gut gebrauchen. Genau wie eine helfende Hand, da er schon jetzt am Limit ist und in Arbeit versinkt. Wie könnte ich einem Freund diese Chance kaputtmachen, aus Angst, mich vielleicht für ein paar Wochen unwohl zu fühlen? Ich bin nicht mehr die Alea von vor drei Jahren. Ich bin stärker, selbstbewusster. Ich kann Titus etwas entgegensetzen, sollte es nötig sein. Also nicke ich. Widerstrebend, aber ich nicke.
FITNESSISNOTABOUTBEINGBETTERTHANSOMEBODYELSE. IT’S ABOUTBEINGBETTERTHANYOUUSEDTOBE.— KHLOEKARDASHIAN
»Bleibst du, oder wirst du hier nur zwischengeparkt?«
Ich sitze auf einem einfachen Kieferbett. Eines von zweien in dem schlichten Zimmer, in dem ich laut den Betreuern erst mal ankommen soll. Meine Tasche liegt neben mir. Darin alles, was ich besitze. In einem verfickt halb leeren Matchsack. Ich zucke die Schultern und mustere den Typen, der an der sonnengelb gestrichenen Wand lehnt. Blonde Haare. Schlaksig. Freundlich. Was mir suspekt ist. Hat was von einem übereifrigen Welpen.
»Ich bin Jasper. Ich schlafe hier.« Er tritt gegen den Rahmen seines Bettes.
»Titus.« Keine Ahnung, was ich noch sagen soll. Ich habe keinen Bock auf Small Talk. Keine Lust, mich mit jemandem anzufreunden, mit dem ich sowieso nicht lange das Zimmer teilen werde. Ich will ja nicht mal hier sein. Und das werde ich auch nicht lange. Ein paar Tage, etwas Richtiges zu essen, ausschlafen, dann bin ich wieder weg. Das machen die Einrichtungen genau dreimal mit, dann schieben sie mich weiter. Been there, done that.
»Ist nicht so übel hier.« Jasper sieht aus, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Sogar ziemlich gut. Total locker und unnervig. Und wir als Zimmergenossen, das könnte, glaube ich, echt flex sein.«
Er kennt mich nicht, also wie will er das bitte beurteilen? Ich stehe auf und kicke den Matchsack unter das Bett. Auspacken lohnt sich nicht. »Hör zu.« Ich sehe mich um, und mein Blick fällt auf die Tapete neben seinem Bett, die auf Höhe des Kopfendes fehlt. Graue Striemen in Sonnengelb. Er muss sie abgezogen haben. Risse in der lässigen Jasper-Fassade. »Du scheinst echt nett zu sein und so, aber ich suche wirklich keine Freunde.« Ich will gehen. So wie ich es immer tue. Einfach gehen, egal, ob das gegen die Regeln ist. Egal, ob sie mich deswegen rauswerfen.
»Wer sagt denn, dass ich Freunde suche?« Jasper ist mir auf den Flur gefolgt. »Alles, was ich sage, ist, dass du seit zwei Jahren der Normalste bist, den sie mir vorgesetzt haben.« Er drängt mich in den Aufenthaltsraum und fort von der Tür. »Kein Mundgeruch, soweit ich das beurteilen kann.« Er schnüffelt in meine Richtung. »Kein verwesendes Essen unter dem Bett?« Als ich nicht antworte, zuckt er die Achseln. »Egal, damit könnte ich leben. Hauptsache, du hast genug Anstand, zum Wichsen ins Badezimmer zu gehen.« Als ich ihn verdattert ansehe, lacht er und reicht mir einen Teller. »Gibt noch Spaghetti vom Mittagessen. Du kannst dir einfach davon nehmen.«
Woher zum Henker weiß er, dass mir der Magen in den Kniekehlen hängt? »Passt schon«, murmle ich, weil ich das ganz sicher nicht zugeben werde, und stelle den Teller zurück. Er soll gar nicht erst auf die Idee kommen, dass wir hier connecten.
»Dein Begräbnis.« Er grinst breit. »Wenn du nicht willst, schleppe ich dich eben auf leeren Magen zum Sport. Die Leitung hat so ’nen Deal mit ’nem Fitnessstudio ganz hier in der Nähe.«
»Eigentlich …« Ich deute zur Tür. »Wollte ich mich mit meinen Kumpels treffen. Am Eisbach.« Und ganz sicher werde ich den Welpen nicht mitnehmen, damit er mich verpetzt.
»Und gegen das Establishment rebellieren, indem du zu spät, betrunken und bekifft nach Hause kommst. Klingt verlockend, aber wie gesagt, mein Selbsterhaltungstrieb ist sehr ausgeprägt. Das kann ich also nicht zulassen.«
Als könnte er mich mit seinen Pommes-Pieker-Armen davon abhalten. Aber Tatsache ist, ich stehe noch immer neben ihm. Ich gehe nicht. Dieser Lauch hat das mit dem Welpenblick voll drauf. »Okay, also gut«, brumme ich genervt. Ich kann auch später noch zu den anderen. »Wo müssen wir hin?«
Jasper quietscht, hält mir die Hand zum High Five hin und lässt sie lässig wieder fallen, als ich keine Anstalten mache, einzuschlagen. Er scheint es nicht persönlich zu nehmen und quatscht ohne Punkt und Komma, während wir unsere Klamotten holen. Dass Sport besser ist als Gras oder Pillen. Bezweifle ich. Wie viel Muskeln er schon aufgebaut hat. Wo denn, bitte? Dass die Mädchen voll auf durchtrainierte Kerle stehen. Was echt ein Argument dafür ist. Dass Sport das Einzige ist, was ihm hilft, wenn er traurig ist. Er verstummt, und sein Blick wird leer. Der Welpe ist fort. Das Grinsen auch. Was zurückbleibt, ist ein einsamer Junge, der zu viel gesehen hat. Ich will nicht wissen, was das ist. Ich habe genug damit zu tun, was ich erlebt habe. Aber ich verstehe ihn. Vielleicht wollte ich nicht, dass wir connecten. Und das ist auch immer noch so, aber ihm die Hand auf die Schulter zu legen und sie wortlos zu drücken, wird wohl nicht gleich das Raum-Zeit-Gefüge aus den Angeln heben. Es wird nichts verändern.
Es hat alles verändert. Blinzelnd öffne ich die Augen und setze mich in meinem Sitz auf. Die Bremsen des ICE bringen die Tonnen aus Stahl fast geräuschlos zum Stehen. Nick war mein bester Freund, bis er sich an Jo rangemacht hat. Jasper ist mehr als nur mein bester Freund: Wir sind Brüder. Seit diesem Tag damals vor acht Jahren waren wir immer füreinander da. Und er würde mich im Gegensatz zu Nick niemals so hintergehen. Glaube ich. Hoffe ich. Damals hat er mich jeden verdammten Tag zum Sport geschleppt, damit ich nicht abschmiere. Ich habe kapiert, dass ich besser laufen oder pumpen gehe, anstatt auf der Straße rumzuhängen, weil es mich in deutlich weniger Schwierigkeit bringt. Im Gegenzug habe ich ihn beschützt, wenn ihm irgendwer was tun wollte, weil mein Bizeps einfach mehr Eindruck gemacht hat als seiner. Wir haben zusammengehangen, als hätte uns jemand an der Hüfte mit Alleskleber fixiert. Wir haben beide das Abitur geschafft. Jasper ganz locker. Ich gerade so, dank seiner Hilfe. Aber wir sind als Erfolge aus dem System hervorgegangen, das uns mit vierzehn beinahe verschluckt hätte. Weil wir einander hatten.
Ich grinse, als ich meinen alten Matchsack durch den Gang zur Tür ziehe, auf den Bahnsteig trete und Jasper auf mich zugerast kommt. Er fällt mir um den Hals, schiebt mich wieder auf Armeslänge von sich.
»Du siehst echt scheiße aus.« Mit seinem typischen Grinsen hält er mir die Hand zum High Five hin. Ich zögere, tue so, als würde ich wie damals nicht einschlagen, und tue es dann im letzten Moment doch.
»Ist immer noch nicht witzig«, bemerkt er und stößt mich mit der Schulter an.
»Behauptest du, seitdem wir vierzehn waren, aber du siehst ja auch nicht deinen Gesichtsausdruck. Ist saukomisch.«
Er verzieht zweifelnd sein Gesicht.
»Wo müssen wir hin? S-Bahn?« Ich habe mich gewundert, dass ich in Altona aussteigen sollte und nicht am Hauptbahnhof. Die kleine Bude in der Sternschanze, die sich Jasper mit zwei Mitbewohnern teilt, wäre von dort aus deutlich näher, aber vielleicht liegt es an irgendwelchen Baustellen.
»Hast lange nichts von dir hören lassen.« Er deutet in Richtung der Parkplätze. »Sonst hätte ich dir schon erzählt, dass ich umgezogen bin. Marten ist nach Island gegangen. Peer ist zurück nach Berlin. Allein konnte ich die Wohnung nicht halten, und im Grunde war die Bude auch ein Albtraum.«
Ich zucke die Schultern. Eigentlich fand ich sie immer super, verbinde damit aber auch ausgelassene Küchenpartys, Bars und Clubs in unmittelbarer Nähe, und Jaspers Nachbarin Charlotte, mit der ich vor Jo mal was hatte.
Wir erreichen den Parkplatz, und Jasper steuert auf zwei Räder zu, die zusammen an einem Parken-nur-mit-Parkticket-Schild angekettet sind. Er schließt das Schloss auf und reicht mir das rostige. Seines sieht aus, als hätte es ein kleines Vermögen gekostet.
»Ist geleast«, sagt er, als er meinen Blick bemerkt.
»Man kann Räder leasen?«
Jasper lacht und fährt vor mir her in Richtung Elbe. »Man kann alles leasen. Alles bis auf Freunde und Liebe.« Er sieht zu mir, und ich lasse mich bewusst etwas zurückfallen.
»Sorry. Denkst du noch viel über sie nach?«
»Ist zwei Tage her«, brumme ich. Zwei Tage, seit ich herausgefunden habe, dass die Pause zwischen Jo und mir das Ende ist und sie mit meinem besten Freund rummacht. »Wissen deine Mitbewohner Bescheid?«
Er schüttelt den Kopf. »Dachte, dir ist es lieber, wenn keiner was weiß. Sie denken, du bist da, um mir mit dem Launch zu helfen.«