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Wenn die Funken sprühen und die Fetzen fliegen. Eine Romance zum Verlieben! - Der zweite Liebesroman von Leonie Lastella mit Suchtfaktor - Ein Beach-Café in Seattle. Ein unverschämt attraktiver Mitbewohner. Und ein verräterischer Kuss. Große Gefühle, prickelnde Liebesszenen, authentische Figuren Everly und David waren das perfekte Paar – bis sich David plötzlich von ihr trennte. Jetzt braucht Everly dringend einen neuen Mitbewohner und einen Job, aber die Stelle im Beach-Café hat einen riesigen Haken: Weston – ihren arroganten und furchtbar unsympathischen ehemaligen Mitschüler, dem Everly aber auch den aufregendsten Kuss ihres Lebens verdankt. Für Weston ist Liebe ein Luftschloss, in dem Menschen wie Everly und David verrotten, anstatt das Leben in vollen Zügen zu genießen. Bis er aus seiner Wohnung geworfen wird, und ausgerechnet Everly ihm anbietet, bei ihr einzuziehen … Folgende weitere Romance-Titel sind von Leonie Lastella bei dtv erschienen: »Das Licht von tausend Sternen« »So leise wie ein Sommerregen« »Carry me through the night« »Seaside Hideaway – Unsafe« »Seaside Hideaway – Unseen«
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Seitenzahl: 482
Everly und David waren das perfekte Paar – bis David sich plötzlich von ihr trennte. Jetzt braucht Everly dringend einen neuen Mitbewohner und einen Job, aber die Stelle im Beach-Café hat einen riesigen Haken: Weston – ihren selbstgefälligen ehemaligen Mitschüler, dem Everly aber auch den aufregendsten Kuss ihres Lebens verdankt. Für Weston ist Liebe ein Luft schloss, in dem Menschen wie Everly und David verrotten, anstatt das Leben in vollen Zügen zu genießen. Bis er aus seiner Wohnung geworfen wird und ausgerechnet Everly ihm anbietet, bei ihr einzuziehen …
Für meine Schwester, Kendra, du bist ein Stück Kindheit, das immer bleibt, und mein allerliebster Ausprobiermensch.
Der Geruch nach Alkohol und feiernden Menschen durchdringt die Luft auf Miles’ Party. Wenn der Star der Footballmannschaft sturmfrei hat und in das Luxushaus seiner Eltern auf Bainbridge Island einlädt, kommt jeder. Jeder außer mir. Normalerweise.
Heute lehne ich entgegen meiner Gewohnheit an der Wand des riesigen Wohnzimmers und beobachte das Getümmel. Ich bin nur hier, weil meine beste Freundin Jules darauf bestanden hat, auf diese dämliche Party zu gehen, und ich sie auf keinen Fall alleinlassen wollte. Der Grund, weshalb sie diese Feier auf keinen Fall verpassen konnte, gefällt mir ganz und gar nicht: denn der ist groß, verdammt gut aussehend, Miles’ bester Freund und ein Idiot – Weston Lewis.
Jules’ Männergeschmack ist wirklich zum Abgewöhnen und wird schlimmer, wenn sie unter akutem Liebeskummer leidet und deswegen zu viel getrunken hat. Eine Abwärtsspirale, die sie hinabschlittert. Und ich mit ihr. Ich schlucke die pechschwarzen Erinnerungen hinunter, die uns das schon einmal beschert hat. Und gleichzeitig überlege ich krampfhaft, wie ich aufhalten könnte, was sich auf der Tanzfläche anbahnt.
Weston ist mittlerweile genauso betrunken wie sie und steigt, nachdem er Jules erst den ganzen Abend ignoriert hat, jetzt umso bereitwilliger auf ihre Flirtversuche ein. Ich muss das beenden. Jules ist meine beste Freundin. Das allein wäre Grund genug, sie in dem Zustand von einem Aufreißer wie Weston fernzuhalten. Und außerdem haben wir uns geschworen, aufeinander aufzupassen. Immer.
Noch tanzen die beiden nur, wenn man wohlwollend als Tanzen bezeichnen will, dass Weston Jules die Zunge in den Hals schiebt und besitzergreifend seine Hand über ihren Po gleiten lässt. Mich kotzt es an, wie er sich auf ihre Kosten inszeniert. Wie immer zieht er die Weston-Lewis-Show ab.
Die Anlage wird noch lauter aufgedreht und Dexter Hollands Stimme lässt die Luft in der Villa erzittern. Ich stoße mich von der Wand ab und gehe auf die beiden zu. Weston strafe ich mit Nichtachtung. Jules versuche ich aus seiner Umarmung zu befreien, indem ich an ihrem Pullover zupfe und so tue, als gäbe es eine brandwichtige Sache, die ich unter vier Augen mit ihr klären muss.
Aber anstatt dankbar für meine Rettung zu sein, wirft Jules mir einen Blick zu, der mir ein ›Verschwinde, Everly‹ entgegenbrüllt.
Sie hat keine Ahnung, auf was sie sich hier einlässt. Sie hat Weston als Trostpflaster für Tyler auserkoren, der sie erst vor drei Tagen sitzen gelassen hat. Dabei hat Weston das Potenzial, eine noch größere Trümmerlandschaft aus ihrem Gefühlsleben zu produzieren.
»Wir müssen reden!«, brülle ich Jules über den Lärm der Musik hinweg zu.
»Was willst du, Eve?«, schreit Weston an ihrer Stelle zurück, während meine beste Freundin sich an seine Brust schmiegt.
»Ich spreche nicht mit dir, sondern mit Jules«, knurre ich genervt.
»Sieht so aus, als hätte sie gerade Besseres zu tun.« Er zaubert einen aufgesetzt mitleidigen Gesichtsausdruck hervor und lacht, was Jules dazu bringt, ihm gegen den Arm zu schlagen, ihren Platz an seiner Brust zumindest für loyale zwei Sekunden zu verlassen und sich mir zuzuwenden.
»Mach dir keine Sorgen, Eve«, lallt sie. »Ist alles gut, echt.« Sie gibt mir einen Kuss und schlüpft dann zurück in Westons Arme.
Nichts ist gut. Sie ist zu betrunken und verletzt, um noch durchdachte Entscheidungen zu treffen. Zusätzlich erzeugen Westons Hände offenbar ein Vakuum in ihrem Hirn, das sie vergessen lässt, wie solche Aktionen enden. Jedes Mal. Ich verstehe einfach nicht, wieso sie pausenlos auf die immer gleichen Typen reinfällt. Jules ist klug, schön und sie hinterfragt Dinge kritisch. Immer. Es sei denn, es geht um ihre Männerwahl.
Bevor ich zu einem zweiten Versuch ansetzen kann, Jules von Weston zu entfernen, flüstert er ihr etwas ins Ohr. Sie löst sich von ihm, winkt mir zu und verschwindet dann in Richtung provisorischer Bar. Dort füllt sie ihren Becher und stolziert, ohne den Blick von Weston zu lösen, zur Treppe. Er wird ihr gleich folgen. In eines der vielen Zimmer. Die Vorstellung erzeugt ein hohles Gefühl in meiner Brust.
Unwillkürlich packe ich seinen Arm und zwinge ihn, stehen zu bleiben. Seine Haut fühlt sich seltsam an. Kühl, obwohl die Temperaturen im Haus längst Vorhöllenniveau haben.
»Was soll das?«, fährt er mich an. Demonstrativ sieht er auf meine Hand, die noch immer seinen Arm umklammert.
Ich lasse ihn los und versuche mich zu sammeln. Wenn Jules mir nicht zuhört, werde ich Weston eben überzeugen müssen, dass das hier eine Schnapsidee ist. »Hast du zwei Minuten?«
»Muss das unbedingt sein?« Sein Blick wandert zur Treppe, über die Jules im Obergeschoss verschwunden ist, und lässt wenig Zweifel daran, was er jetzt lieber täte.
Ich sehe ihn unnachgiebig an, bis er die Augen verdreht. »Okay, reden wir«, gibt er seufzend nach. »Aber draußen. Dann kann ich eine rauchen.« Er drängelt sich durch die Partymeute in Richtung Ausgang. Draußen angekommen, entfernt er sich von den Grüppchen, die im Garten und auf dem privaten Strandabschnitt stehen, der zu Miles’ Elternhaus gehört. Er betritt den Steg, der rund zehn Fuß in die Elliot Bay ragt und an dessen Ende sich ein kleines Bootshaus befindet. Erst als uns die Hütte verdeckt, bleibt er stehen, lehnt sich gegen die Holzwand und steckt sich eine Zigarette an. »Also, was gibt es so Wichtiges, Eve?«, kommt er direkt zum Punkt.
Zuallererst einmal soll er mich nicht mehr Eve nennen. Das dürfen nur meine Freunde und er gehört ganz sicher nicht zu diesem überschaubaren Kreis. Aber anstatt ihm genau das an den Kopf zu knallen, bleibe ich stumm. Ich sage gar nichts. Nur mein Herz rast, als müsste es vor ihm und mir allein in der Dunkelheit fliehen.
Weston nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette und bohrt seinen Blick in meinen. Vermutlich in der Erwartung, ich würde ihm endlich sagen, was ich so dringend loswerden wollte, damit er wieder verschwinden kann. Er sieht müde aus. Vermutlich hat er in letzter Zeit zu viel gefeiert. Es übertrieben. Das würde auch erklären, warum er heute nicht in der Schule war, obwohl wir den SAT-Test in Geschichte geschrieben haben. Ohne den kann Weston seinen Abschluss vergessen. Aber offenbar ist ihm seine Zukunft scheißegal.
Vielleicht kann man so denken, wenn die stinkreichen Eltern einen so oder so auf einer Eliteuni unterbringen. Ein Wutknoten ballt sich in meinem Magen zusammen. Ich musste schon immer hart für meine Ziele kämpfen, während ihm alles auf dem Silbertablett präsentiert wird. Das ist okay. Ich neide niemandem etwas. Es macht mich einfach nur wütend, dass ihm diese Privilegien so verdammt egal sind.
»Der Frisch-gevögelt-Look steht dir übrigens«, durchbricht Weston meine Gedanken und beugt sich vor. Wind und die feuchte Seeluft haben meine Haare zu einem wilden Chaos verwirbelt, an dem Weston jetzt zupft. Und ich? Ich halte ihn nicht ab. Wieso halte ich ihn nicht ab?
»Sieht gut aus. Nicht so streng wie sonst«, sagt er. Seine Stimme ist tief und so ruhig wie das Wasser unter uns.
»Finger weg«, zische ich endlich. Eine klare Grenze. Ich bin mir nur nicht ganz im Klaren, ob ich sie für mich oder ihn ziehe. »Außerdem kann ich auf deine Meinung gut verzichten, Weston.«
Er reibt sich über den Nacken. »Bitte nenn mich nicht Weston. Das tut niemand. Wes, okay?« Er lächelt mich zögernd an. Ein einnehmendes Lächeln, das eine Brücke schlägt, die ich nie vor hatte zu bauen. Er deutet an mir vorbei zum Haus. »Ich sollte dann wohl mal«, sagt er, rührt sich aber nicht.
Sollte er jetzt gehen, wird er einen Jules-Scherbenhaufen produzieren.
»Warte!« Ich straffe die Schultern, um zu sagen, was gesagt werden muss, und dann zu verschwinden. Aber mein Hirn ist ein schwarzes Loch und schluckt all die Worte, die ich mir zurechtgelegt hatte.
Weston lehnt noch immer an der Schuppenwand, sieht mich unverwandt an, sagt aber nichts. Nicht einmal etwas Bescheuertes, obwohl ich ihn anstarre, kein Wort herausbringe und ihm damit eine Steilvorlage biete.
»Jules macht echt eine schwere Zeit durch«, presse ich endlich hervor und versuche nicht so anfällig für ihn zu sein wie ein Kartenhaus. »Tyler hat sie übel verarscht. Und du wirst dasselbe tun, wenn dir klar wird, dass sie etwas Festes sucht. Könntest du dir nicht einfach eine der Post-its schnappen, die sonst immer an dir und deinen Sportlerfreunden kleben, und sie in Ruhe lassen?«
»Ein Post-it?« Er lacht anerkennend über Jules’ und meine Bezeichnung für die Mädchen, die ihn und seine Freunde umschwärmen. »Nett, wirklich, aber, wenn du mich fragst, sah es nicht so aus, als würde Jules in Ruhe gelassen werden wollen«, entgegnet er und zupft an einem Loch in seinem Ramones-Shirt herum. »Außerdem, was geht es dich an? Bist du jetzt ihre Aufpasserin, oder was?«
Ja, wahrscheinlich bin ich das. Genau wie Jules es für mich gewesen ist. »Und wenn? Lass es einfach gut sein, Wes. Jemanden wie dich verkraftet sie derzeit nicht.«
»Du glaubst wirklich, du würdest mich kennen, oder?«
Mein Herz flattert gefährlich, als Weston sich plötzlich von der Wand abstößt und näher kommt. Ich wünschte, es wäre Furcht, die mir den Atem raubt.
Ich rieche den Qualm der Zigarette, die Weston in die Dunkelheit schnipst, und darunter ihn – einfach Weston.
»Du weißt einen Scheiß über mich! Ihr alle wisst einen Scheiß.« Sein Gesicht ist meinem so nah, dass ich die Worte, die er mir entgegenschleudert, auf meiner Haut spüre. Genau wie die Traurigkeit, die darin mitschwingt. Ein Gefühl, das ich nicht mit Weston verbinden kann.
Sein Shirt berührt den schmalen Streifen nackter Haut an meinem Bauch, als er einen weiteren Schritt auf mich zumacht. Ich sollte gehen. Nicht nur, weil wir einander mittlerweile viel zu nah sind. Es gibt noch eine Million weiterer Gründe, weswegen es klüger wäre, schleunigst zu verschwinden. Die meisten sind so finster wie die Nacht über dem Puget Sound, der Bainbridge Island von Seattle trennt.
Aber Weston wirkt angreifbar, ehrlich, so überhaupt nicht wie er. Vielleicht rühre ich mich deshalb keinen Zentimeter. Mit bebendem Atem und stolperndem Herzen.
Wie oft habe ich mir gewünscht, er würde während unserer gemeinsamen Schulzeit nur einmal den Sarkasmus weglassen und mich nicht mit seiner überheblichen Art in den Wahnsinn treiben. Jetzt wünsche ich mir, er wäre wieder dieser Idiot. Es würde mich retten. Verhindern, was als Nächstes passiert.
Weston berührt zögernd mein Gesicht, rahmt es ein. Und nur Sekunden später legt er seine Lippen auf meine. Sanft, aber bestimmt.
Ich kann nicht denken, mich nicht wehren. Ich spüre nur das Verlangen, mit dem er den Kuss intensiviert und das in jede meiner Zellen dringt, mich mit fortreißt, meinen Widerstand und meine Überzeugungen wegspült. Der Kuss ufert aus. Ich klammere mich an seinen Oberkörper, spüre Westons Atem, der rau gegen meinen schlägt und ein statisch aufgeladenes Kribbeln durch meinen Körper jagt.
Dieser Kuss ist anders als alles, was ich bisher erlebt habe – wilder, heftiger, mitreißender. Ich kann verstehen, dass Jules diesem Blick, diesem Körper, dass sie Weston verfällt. Aber ich bin nicht Jules.
Ihr Name poltert durch meinen Kopf und knallt mit Davids zusammen. Mein Freund, den ich liebe.
Ruckartig mache ich mich von Weston los, aber anstatt auch nur einen Funken angebrachten Schuldgefühls zu zeigen, legt er nur den Kopf schief und grinst überaus zufrieden.
Ich bin eine Idiotin, denn ich habe ernsthaft geglaubt, er wäre mir gegenüber einen Moment lang ehrlich gewesen. Aber Weston Lewis ist nie ehrlich. Das war nur eine weitere Inszenierung, um zu bekommen, was er will.
Er hat die unantastbare Everly geknackt. Und ich habe mich knacken lassen. Jules wird mir das nicht verzeihen. Sie darf nie erfahren, was hier gerade passiert ist. Ich fühle mich schrecklich und gleichzeitig spüre ich irgendwo zwischen Herz und Milz eine meterhohe Wes-Bodenverwerfung.
»Bist du bescheuert? Ich habe einen Freund. Und du wolltest vor zwei Minuten noch was von Jules«, stoße ich hervor. Ich wünschte, meine Stimme würde entschlossener klingen. Mehr nach mir. Aber vielleicht ist es ganz normal, dass ich mich anders anhöre, denn dieser Kuss hat alles verändert.
»Als wäre das einseitig gewesen.« Weston zuckt mit den Schultern.
Ich bin kurz davor, ihm in seinen überheblichen Hintern zu treten. Weil er recht hat und mich das unfassbar wütend macht. Vor allem auf mich selbst. »Du erzählst niemandem hiervon!«, zische ich ihn an, als würde es den Verrat an Jules ungeschehen machen. Den Verrat an David. Und an mir selbst. »Sonst bringe ich dich um. Ich schwöre es.« Ich beiße die Zähne aufeinander und trete ganz nah an Weston heran. Ich werde ihm beweisen, dass er nicht halb so unwiderstehlich ist, wie er denkt. Ich muss es mir beweisen. »Und lass Jules in Ruhe. Sie hat so ein Arschloch wie dich nicht verdient!«
Offenbar sind ihm die flapsigen Sprüche ausgegangen, denn er reagiert nicht auf die Beleidigung. Er wendet sich einfach ab und starrt über das Wasser, während ich mich wie betäubt umdrehe und zurück zum Fähranleger stolpere. Fort von Weston. Und während Kurt Cobain mir »It’s Fun To Lose And To Pretend« nachbrüllt, beginne ich zu rennen.
Das Leben kennt tausend Wege, dir in den Arsch zu treten. Das ist eines der Lieblingszitate meiner Nana Olivia, aus dem Film Silver Linings, den meine Großmutter, laut eigener Aussage, nur wegen Bradley Coopers Hintern gefühlte tausend Male gesehen hat. Wie so oft treffen ihre Zitate mitten ins Schwarze.
Allein hätte ich mit Sicherheit keine so passenden Worte gefunden, um den heutigen Tag zu beschreiben. Verbissen stapfe ich neben Nana durch die imposante Eingangstür der Waterfront Senior Residence. Ein Ort, an den alte Menschen gehören. Alte, einsame Menschen. Nana ist weder das eine noch das andere. Ihre Haut ist vielleicht runzlig und ihr Führerschein zeigt vierundachtzig Lebensjahre, trotzdem ist sie jung gebelieben und zudem eindeutig verrückter als meine Freundinnen und ich.
»Jetzt mach nicht so ein Gesicht«, fordert sie mich auf und stößt mich leicht an. »Das ist ja nicht irgendein Bunker, in den du mich abschiebst, damit ich leise und unspektakulär dem Ende entgegengehe.« Sie dreht sich um die eigene Achse, um den beeindruckenden Blick, der sich uns von der Residenz über die Elliot Bay bietet, in sich aufzunehmen. »Das ist ein Palast mit Aussicht.«
Ich nicke, weil ich widerstrebend zugeben muss, dass sie recht hat. Die Eingangshalle erinnert an ein Fünfsternehotel, nicht an ein Seniorenheim. Jede Menge Marmor. Ein großer moderner Tresen dominiert den Empfang, direkt darüber hängt ein riesiger Kronleuchter von der hohen Decke.
»So langsam verstehe ich die sündhaft teuren Unterbringungskosten. Der ganze Marmor will ja schließlich bezahlt werden«, flüstert Nana leise kichernd, sodass die Frau, die auf uns zusteuert, sie nicht hören kann.
»Mrs Barns?«, versichert sie sich und hält ihr eine perfekt manikürte Hand entgegen. »Ich bin Ruth Ward. Wir haben einen Termin.«
Nana schüttelt ihre Hand auf dieselbe unkonventionelle Art, wie sie es immer tut. Mit herzlicher Wärme und viel Enthusiasmus, die so gar nicht zu der kühlen Reserviertheit von Ruth Ward passt. »Nennen Sie mich einfach Olivia. Und ich habe es erfolgreich geschafft, mein Leben lang eine Miss zu bleiben, aber das nur am Rande.«
Es ist nicht so, dass Nana keine Möglichkeit gehabt hätte zu heiraten. Es gab nach dem viel zu frühen Tod ihrer großen Liebe genügend Bewerber, aber sie liebt ihre Unabhängigkeit. Überhaupt ist sie die stärkste Person, die ich kenne.
»Das ist meine Enkelin Everly«, fügt sie hinzu.
Ich reiche Ruth Ward ebenfalls die Hand, höre aber nur mit halbem Ohr zu, als sie bereits im Eingangsbereich sämtliche Vorzüge ihrer Einrichtung herunterrattert. Sauna, Fitnessstudio mit Physiotherapeuten, die sich auf ältere Patienten und deren Bedürfnisse spezialisiert haben, ein Schwimmbad, verschiedenste Freizeitangebote wie Yoga, Pilates, Tai-Chi, Kunsthandwerk und Tanz, regelmäßige Ausflüge zu den Farmer Markets oder in die Natur rund um Seattle. Ich bleibe dabei, das hier ist ein verdammtes Hotel. Reizvoll und ohne Zweifel schön. Für einen Urlaub, aber doch nicht, um für immer hier zu leben. Es ist kein Zuhause und viel zu gediegen, um passend für Nana zu sein. Sie mag es bunt, verrückt und gemütlich. Vielleicht wehrt sich aber auch nur alles in mir gegen die Vorstellung, meine Großmutter könnte tatsächlich hierherziehen, weil ich sie nicht verlieren will.
Wir sind mittlerweile in dem kleinen Apartment angekommen, das Nana beziehen könnte, wenn sie bereit wäre, dafür eine horrende vierstellige Summe im Monat zu bezahlen.
Ich muss sie davon überzeugen, dass das hier Irrsinn ist. »Dürfen wir uns einen Augenblick allein umsehen?«, versuche ich Ruth Ward loszuwerden. Am liebsten würde ich die Frau mit all der sie umgebenden Perfektion und ihrem Seniorenluxustempel zum Nordpol jagen. Sie lächelt und zeigt makellose Zähne. Was sonst?
»Aber sicher. Sehen Sie sich in Ruhe in Ihrem neuen Zuhause um«, wendet sie sich an Nana. »Ich bin gleich vor der Tür, sollten Sie mich brauchen.«
Sie tut ja fast so, als hätte meine Großmutter sich bereits für den Umzug entschieden. Ich presse die Zähne zusammen, anstatt sie deswegen mit ihrem teuren Seidenschal zu erwürgen. Nana war es wichtig herzukommen und ich werde sie nicht in Verlegenheit bringen, auch wenn ich immer noch denke, dieser Besuch ist pure Zeitverschwendung.
»Was ist eigentlich los, Eve?«, fragt sie mich, sobald wir allein sind. Sie setzt sich aufs Bett und wartet, bis ich mich neben sie plumpsen lasse. »Du siehst aus, als wärst du total durch den Wind. Ist irgendetwas im Krankenhaus passiert?«
Als Praktikantin in der Klinik Erfahrungen zu sammeln ist die beste Vorbereitung für das Aufbaustudium in Medizin im nächsten Jahr. Und der Stress dort ist auch nicht, was mir den Tag versaut hat. Ich schüttle den Kopf und überlege, wie ich den Grund in Worte fassen soll, ohne ihr die gute Laune zu verderben. Wie ich ihr sagen soll, dass David nach sechs Jahren vor genau zwei Stunden mitten im Crate and Barrel Home Store mit mir Schluss gemacht hat. Während ich eine bescheuerte Tischlampe unterm Arm hielt. Dass ich denke, mit mir stimmt etwas nicht, weil es mich zwar trifft, die Beziehung zu verlieren, aber kaum, David gehen zu lassen. Mich hat verletzt, was er mir an den Kopf geknallt hat, aber es berührt mich kaum, dass er keine Zukunft mehr für uns beide sieht. Eine Zukunft, der Nana mit ihrem Umzug Platz machen will. Das ist einer der Hauptgründe, warum wir heute im Waterfront sind. »Ich möchte einfach nicht, dass du ausziehst«, fasse ich zusammen, was sich stärker in mein Herz krallt als die Trennung von David.
»Ich weiß, es ist ein großer Schritt, wenn wir nicht mehr zusammenleben, aber ich würde nur wenige Querstraßen entfernt wohnen. Du könntest mich jederzeit auf einen Saunagang besuchen kommen.« Sie zwinkert mir zu. »Ich gehe also im Grunde nicht weg. Ich wohne nur etwas luxuriöser und gebe dir ein bisschen Raum, um erwachsen zu werden. Wer wohnt mit Anfang zwanzig schon noch gern mit seiner steinalten Großmutter zusammen?« Sie lächelt liebevoll und streicht mir über den Arm.
»Ich«, erwidere ich kläglich, aber Nana schüttelt den Kopf.
»Das hier ist perfekt. Für uns beide. Glaub mir, sonst hätte ich mich nicht dafür entschieden, das Apartment zu nehmen.«
Mein Herzschlag setzt aus. »Du hast was?«
»Ich habe bereits zugesagt«, bestätigt Nana sanft. »Und die ersten zwölf Monate angezahlt. Zugegeben, das kommt etwas plötzlich, aber es ist ein guter Schritt. Der richtige für uns. Ich habe immer von so etwas wie dem hier geträumt. Ich werde hier rundum verwöhnt. Und du kannst endlich mit David zusammenziehen. Das möchtest du schon so lange. Ihr jungen Leute braucht Platz, um eure Zukunft zu gestalten.«
Ich habe das Gefühl, als wären Nanas Worte der letzte Arschtritt, den ich noch gebraucht habe, um vollends im Chaos zu versinken. Ich gebe mir alle Mühe, meine Gefühle vor ihr zu verstecken. Etwas, was ich sonst nie tue, aber Nana hat es selbst gesagt. Das hier ist ihr Traum. Welches Recht hätte ich, ihr das zu nehmen? Wie betäubt nicke ich. »Okay.«
Dabei ist nichts okay. Nana wird ausziehen. David ist weg. Er war immer mein Fels, so solide, dass ich mein Fundament darauf gebaut habe. Jetzt hat es Risse. Was sage ich, Krater. Und Nanas Entscheidung auszuziehen bricht sie zur Größe des Grand Canyons auf. Alleine werde ich alles verlieren. Und mit alles meine ich die Wohnung und mit ihr all die Erinnerungen an Mom und Dad, die zwischen ihren Wänden stecken. Schon die Studiengebühren aufzubringen, ist eine Herausforderung. Ich kann nicht auch noch die laufenden Kosten für die Eigentumswohnung allein tragen.
Ich konzentriere mich auf meine Atmung, versuche mein Herz zu beruhigen, damit all das nicht aus mir herausplatzt. Es würde Nana ganz sicher dazu bringen, bei mir zu bleiben. Sie würde keine Sekunde zögern, ihren Traum für mich zu begraben. Das hat sie schließlich schon einmal getan. Direkt nach Moms und Dads Tod. Ich kann das nicht noch einmal von ihr verlangen.
»Du willst das hier wirklich?« Ich wische mir eine Träne aus dem Augenwinkel und lächle.
»Ja«, sagt Nana schlicht und schließt mich in ihre Arme. Ein Ja, das so unscheinbar ist und gleichzeitig mein Leben komplett auf den Kopf stellt.
Ich hasse diese Wohnung, die viel zu kleinen Zimmer, die Aussicht auf die Nachbarhäuser von Seattles South Park mit den vielen Graffiti auf dreckigem Mauerwerk.
Trotzdem lebe ich noch immer in diesem Schuhkarton von Wohnung, in den Dad Mom und mich vor knapp vier Jahren, nach ihrer Trennung, verfrachtet hat. Seufzend schenke ich mir einen Kaffee ein und trinke die starke Mischung am Fenster stehend. Ich habe fast die gesamte Nacht auf dem Dachboden verbracht, den vertrauten Geruch der Farben eingeatmet und versucht meine Gefühle auf eine Leinwand zu bannen, wo sie keinen Schaden anrichten können. Es hat nicht funktioniert. Ich bin noch immer wütend. Scheißwütend.
Schon bevor Dad uns hierher abgeschoben hat, um die machtgeile Tussi Nummer fünfhundertsiebenunddreißig in Ruhe über Küchenzeile, Sofa und Tisch unseres Apartments am Pike Place zu vögeln, war unser Verhältnis schwierig. Seitdem ist es nicht besser geworden.
Er wollte immer, dass ich Medizin studiere und ein angesehener Arzt werde, wie er. Vermutlich habe ich nur deswegen meinen Abschluss punktgenau als Jahrgangsschlechtester absolviert. Seiner Ansicht nach schmeiße ich mein Leben seitdem als Hilfskraft im Wipe Out weg. Einem Restaurant am Pier 55. Er weiß nichts über mein Leben. Es kommt ihm nicht einmal in den Sinn, dass mir die Arbeit gefallen könnte. Er denkt, ich würde es nur tun, um ihn zu provozieren. Aber ich habe ziemlich schnell begriffen, dass es mir keine Genugtuung verschafft, ihn zu enttäuschen.
Ich wende meinen Blick von der gegenüberliegenden Häuserwand ab, schütte den Rest meines Kaffees in den Ausguss und schiebe mich an den Umzugskartons im Flur vorbei ins Badezimmer. Ich verstehe nicht, wieso ich ihm noch immer so viel Macht über mich gebe. Warum ich meine Gedanken an ihn verschwende.
Für einen Moment stütze ich die Hände auf dem Waschbecken ab, lasse den Kopf zwischen meinen Armen hängen und stoße die Luft aus. Natürlich weiß ich, wieso ich ausgerechnet heute an Dad denke. Fuck.
Ich atme, aber die Erinnerungen an unsere letzte Begegnung verschwinden nicht aus meinem Kopf. Bilder dieses bescheuerten Tages vor drei Jahren. Der Tag, der alles verändert hat.
Ich atme. Versuche mich zu beruhigen. Niemand weiß, warum ich damals den SAT-Test geschwänzt habe, warum ich danach kaum noch zur Schule gegangen und schließlich ganz abgetaucht bin. Nicht einmal Miles habe ich davon erzählt.
Ich schließe die Augen und rutsche in voller Montur in die Badewanne. So wie ich es getan habe, nachdem alles vorbei war. Als Dad gegangen war. Drei Jahren ist es jetzt her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Drei verfickte Jahre und ich liege paralysiert wie ein Käfer auf dem Rücken in derselben Badewanne wie an diesem verdammten Morgen und verpasse den Schichtbeginn im Wipe Out. Ich muss mich zusammenreißen. Weitergehen. Oft gelingt es mir. In diesem Moment nicht. Meine Muskeln streiken wie nach einem Marathon und weigern sich, sich auch nur einen weiteren Meter fortzubewegen. Erst das Klingeln meines Handys reißt mich aus der Erstarrung. Run You von The Qemists kündigt meinen besten Freund an.
»Hi, Miles«, sage ich betont locker, nachdem ich rangegangen bin. »Was gibt es?«
»Mensch, Alter, alles in Ordnung bei dir?« Eine rhetorische Frage. Miles erwartet keine ehrliche Antwort darauf. Das ist, was ich an ihm schätze. Er bohrt nicht so lange, bis es wehtut.
»Wo steckst du? Die Jungs und ich stehen vor dem Wipe Out und warten auf Frühstück für Champions.« Das ist in Miles’ Welt das Wichtigste. Seine Jungs. Und Essen. Erst danach kommen Mädchen und Football, womit sich seine Interessen auch schon so ziemlich erschöpfen. Auch wenn sein Dad gern sehen würde, dass er denselben Enthusiasmus für das Studium und den nach dem Abschluss geplanten Einstieg ins Familienunternehmen aufbrächte. Ich massiere mir mit der freien Hand die Schläfen und versuche den Kopfschmerz zu vertreiben, der sich in meinem Schädel ausbreitet.
»Also, was ist? Es sind Semesterferien, Alter. Freiheit für die armen geplagten Studenten. Das müssen wir feiern.«
Wir müssen gar nichts feiern, denn ich studiere nicht. Für mich bedeuten die Semesterferien keine Freiheit, sondern jede Menge Arbeit. »Als hättest du das Semester über etwas anderes getan, als Football zu spielen und zu feiern«, murmle ich. »Ich sage Miguel, dass er euch aufschließen soll, anstatt sich in der Küche zu verstecken.« Das hätte er längst tun sollen, auch wenn ich in der Regel die Türen des Wipe Out öffne. »Gib mir zehn Minuten, dann bin ich am Pier.« Bevor Miles etwas sagen kann, lege ich auf. Umständlich rapple ich mich aus der Wanne hoch und wische die Vergangenheit weg. Ich muss mich auf die Aufgabe konzentrieren, das Wipe Out zu managen. Das ist wichtiger als emotionaler Ballast. Ich atme tief durch und scrolle durch die Kontakte, um Miguel einen Einlauf zu verpassen. Auch wenn noch niemand vom Service da ist, muss er den Laden öffnen. Wir können es uns nicht leisten, Gäste zu verlieren, weil die Türen verschlossen sind. Genau das erkläre ich Miguel, während ich mir meine Schlüssel schnappe und aus der Tür eile.
Es klingelt an der Tür. Jules. Niemand sonst klingelt so, dass Ungeduld und nie enden wollende Energie gleichermaßen mit dem schrillen Ton in die Wohnung schwappen. Ich rapple mich von der Bettkante hoch, auf der ich seit einer geschlagenen Stunde gehockt und die Kartons angestarrt habe. Ich habe alle Dinge hineingestopft, die David und mich ausgemacht haben. Fotos, Klamotten, seine verdammten Kaugummis, die er ständig kaut, mehrere Squash-Pokale. Wer spielt eigentlich Squash? Ich seufze und schlurfe zur Tür. Ich habe David aus meinem Leben eliminiert, und es fühlt sich merkwürdig leer an, plötzlich allein zu sein und nicht länger Teil eines Wirs. Ein Jules-Energieboost ist jetzt genau das Richtige.
Als ich die Tür aufziehe, kippe ich fast um, weil sich mir meine beste Freundin mit einem ›Hi, Eve, was geht‹ an den Hals schmeißt. Jules ist wunderschön mit ellenlangen Beinen, einer tollen Figur und dem vereinnahmensten Lachen in ganz Seattle. Dazu hat sie dunkle glatte Haare, die aussehen, als hätte irgendwer Schneewittchen geklont. Ich bin das genaue Gegenteil. Da, wo sie schlank ist, habe ich zwei, drei Kilo zu viel. Wo sie schön ist, bin ich durchschnittlich. Anstatt ihrer wunderschönen Haare schlage ich mich mit widerspenstigen aschblonden Locken herum, die jedem Styling-Marathon trotzen.
»Tadaaa«, preist sie sich selbst an. »Ich bin deine Ablenkung für den ersten Abend ohne Olivia.« Sie reckt eine Flasche Tequila in die Höhe. »Ich und Mister Tequila.«
Mein Lieblingsburger aus Nanas Stammlokal, dem Wipe Out am Pier, wäre mir jetzt lieber. Nur dort kombinieren sie einen vegetarischen Burger mit Bacon zu einer monströsen Kalorienperversität, die meine Laune vielleicht noch retten könnte. Aber Nana ist nicht da, um mir so den Scheißtag zu retten. Und ich gehe seit Jahren schon nicht mehr dorthin, weil es der Treffpunkt von Miles’ und Westons Clique ist. Connor ist ständig dort, und ab und an auch sein Cousin, Kyle.
Ich kappe den Gedanken, bevor meine Laune noch mieser wird, und folge Jules in die Küche, wo sie bereits zwei Wassergläser aus dem Schrank zerrt.
Bedeutungsvoll schraubt sie den Deckel der Flasche auf und gießt uns großzügig ein. Als wäre das Zeug Apfelsaft. Ich schüttle angewidert den Kopf, nehme den Drink aber aufgrund der fehlenden Burgeralternative entgegen.
Wenn ich eine Lösung für meine finanzielle Misere, mein Liebesaus und meine in den Luxus geflüchtete Großmutter finden will, sollte ich vermutlich nicht trinken, sondern einen Plan schmieden. Im Gegensatz zu Jules mache ich immer Pläne und Listen. Sie helfen mir, das Chaos zu bezwingen. Jules feiert Probleme einfach weg und vertraut darauf, dass sich schon alles fügen wird. Gerade klingt das echt verlockend.
»Wenn dir das Leben Zitronen schenkt, besorg Tequila und Salz«, sagt Jules todernst, als hätte sie meine Gedanken erraten.
»Das ist Nanas Job«, murmle ich kläglich. Sie ist diejenige, die mit ihrem unerschöpflichen Vorrat an Zitaten jede Lebenslage ein kleines bisschen besser macht. Und mit fetttriefendem Junkfood.
Jules nickt. »Sie fehlt dir, nicht wahr?«
Wir haben erst vor vierzig Minuten die letzten Sachen in die Seniorenresidenz hinübergeschafft. Es ist lächerlich, Nana jetzt schon zu vermissen, und doch ist es dieses Gefühl, das sich in mir breitmacht wie ein adipöser, Feuer spuckender Drache.
Jules nimmt mich in den Arm und drückt mich fest an sich. »Du hast ja recht. Es ist irgendwie spooky ohne sie in der Wohnung. Das wird eine ganz schöne Umstellung.«
Ich bin heilfroh, dass Jules vorbeigekommen ist. Niemand außer ihr versteht, wieso mir Nana so wichtig ist. Natürlich habe ich schon Tage, sogar Wochen ohne sie verbracht, aber das war anders. Ich wusste immer, dass sie in unsere gemeinsame Wohnung zurückkehren wird. Wenn wir uns jetzt sehen, werde ich eine Besucherin sein. Wir werden nicht zusammen im Bett liegen und bis mitten in die Nacht quatschen. Es wird keine Tequilagelage in der Küche geben, bei denen wir mit Jules und Chloe um Shots und die Ehre pokern.
Jules macht eine Kopfbewegung zu den Kartons neben der Haustür. »Olivia oder David?«
Ich schließe die Augen. »David. Er holt einen Teil seiner Sachen später ab.«
»Wirst du mir irgendwann erzählen, was passiert ist? Ich kann noch immer nicht glauben, dass ihr wirklich miteinander Schluss gemacht habt. Ihr seid das perfekte Paar.«
Eine Perfektion, die mir Sicherheit gegeben hat. Und Ruhe. David war es zu ruhig. Er wollte mehr. Was im Umkehrschluss bedeutet, ich reiche nicht aus. »Nicht wir haben Schluss gemacht, sondern er«, halte ich fest und kippe in einem verzweifelten Anflug von Selbstmitleid die Hälfte meines Getränks hinunter. Der Tequila brennt sich seinen Weg durch meine Kehle, Speiseröhre und Magen, wo er meine Selbstbeherrschung zerfrisst.
»Vielleicht hat er nur kalte Füße bekommen, weil du ihm ständig in den Ohren gelegen hast, hier mit dir einzuziehen. Männer neigen zu panischen Kurzschlusshandlungen, wenn man versucht, sie in Verbindlichkeiten zu verstricken. Gib ihm ein bisschen Zeit und Raum, dann renkt sich das bestimmt wieder ein.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich mit einem Typen zusammen sein will, der nach sechs Jahren Schluss macht, nur weil er sich nicht festlegen will«, erwidere ich reserviert. Vielleicht bin ich unrealistisch, was die Liebe betrifft, versaut durch meine Eltern, die mir eine bis zu ihrem Tod wahre, einzigartige, allem trotzende Liebe vorgelebt haben, aber ich will genau das und mich nicht mit etwas zufriedengeben, das man mitten in einem Möbelhaus beendet. Es macht mich sauer, dass Jules nicht meiner Meinung ist und David allein aus Loyalität zu mir verflucht. Dabei sollte sie gefälligst unkritisch auf meiner Seite stehen. Aber so ist Jules nun mal nicht. Sie sagt immer, was sie denkt. Selbst, wenn es wehtut.
Jules setzt sich auf einen der Stühle und zieht die Füße auf die Sitzfläche. Die Arme schlingt sie um die Knie. Ihre Stimme verdunkelt sich. »Du weißt, dass David einer von den Guten ist.« Sie verstummt. »Es gibt Schlimmeres als Unentschlossenheit«, fügt sie schließlich leise hinzu.
Sekundenlang liegt Stille zwischen Jules und mir und Erinnerungen, die ohrenbetäubend laut an den Rändern unserer Freundschaft nagen. »Ich weiß«, sage ich leise und leere den Tequila. David ist einer von den Guten. Aber reicht das? Müsste mein Herz nicht nach ihm brüllen? Sollte ich nicht das dringende Bedürfnis haben, um unsere Beziehung zu kämpfen? Hätte er es nicht tun müssen? »Ich weiß nicht, was mit David und mir wird, und bis ich das herausgefunden habe, werde ich mich neben meinem Praktikum um einen Job bemühen. Irgendwie muss ich die Kosten stemmen und ich will nicht abhängig von ihm oder irgendwem sonst sein.«
»Ich würde sofort zu dir ziehen, wenn ich das Geld hätte, aber mehr als mein kleines Loch von WG-Zimmer kann ich mir nicht leisten.«
»Das weiß ich doch.« Meine Wohnung ist groß und die anteiligen Nebenkosten übersteigen Jules’ Budget bei Weitem.
»Was ist mit Olivia? Unterstützt sie dich nicht?«, fragt Jules und schenkt uns nach.
Der Tequila wirbelt meine Gedanken durcheinander, aber einer steht unverrückbar im Auge des Wirbels: Nana soll vorerst nichts erfahren. »Ich will sie nicht damit behelligen. Sie ist gerade erst umgezogen. Der Neuanfang im Waterfront ist alles, worum sie sich derzeit kümmern sollte.« Wenn sie Wind davon bekommt, dass ich finanziell in der Klemme stecke, wird sie postwendend ihren Vertrag mit Ruth Ward kündigen und ihr Traum platzt. Außerdem würde sie das Geld verlieren, das sie bereits angezahlt hat. »Ich schaffe das schon allein.« Irgendwie.
»Und wie willst du das hinbekommen?« Jules sieht mich skeptisch an und nippt an ihrem Getränk. Die Haare hat sie zu einem Zopf zusammengefasst, den sie gedankenverloren eindreht. »Ich meine, du arbeitest jede freie Minute neben deinem Studium im Krankenhaus. Wann willst du da noch genügend verdienen, um allein alle Kosten zu decken?«
»Zum Glück sind jetzt erst mal Semesterferien. Also habe ich keine Kurse. Bleiben nur das Praktikum und der Job. Das ist zu schaffen.«
Jules sieht mich zweifelnd an. »Selbst wenn du keine Kurse hast, lernst du wie eine Verrückte für den Einstellungstest, und die Semesterferien dauern auch nicht ewig. Die Kosten für die Wohnung laufen auch danach weiter. Und neben dem ganzen Kram musst du ja auch noch für deine beste Freundin da sein.« Sie zieht eine Grimasse. »Der letzte Punkt ist natürlich der Wichtigste.«
Natürlich. Nichts in Jules’ Gesichtsausdruck zeigt, dass sie einen Witz gemacht hat. Weil es vermutlich keiner war. Manchmal macht es mich irre, dass sie sich selbst so ernst nimmt. Ich stecke in einer Krise und ihre einzige Sorge ist, ich könnte kein offenes Ohr für sie haben. Eine Weile sitzen wir stumm nebeneinander, trinken und hängen unseren Gedanken nach, bis Jules plötzlich neben mich auf die Küchenbank rutscht und ihre Arme um mich schlingt. »Das wird alles wieder und so lange heißt es: Wir beide gegen den Rest der Welt«, sagt sie und lehnt ihre Stirn an meine. »Wir beide und der Tequila«, fügt sie hinzu und stößt ihr Glas gegen meines.
Ich liebe Jules trotz ihrer Schwächen, denn sie ist immer für mich da. Und ich für sie.
Es ist Dienstag und für einen Wochentag brechend voll im Wipe Out. Der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um ein Vorstellungsgespräch zu führen. Aber Tatsache ist, wir sind so hoffnungslos unterbesetzt, dass wir dringend Hilfe benötigen. Wenn irgend möglich, muss ich vor dem nächsten, wahrscheinlich umsatzstärksten Wochenende der Saison noch jemanden einstellen, der uns unterstützt, und das hoffentlich auch langfristig.
Ob Everly Scott dafür die beste Wahl ist, bleibt abzuwarten, aber ich habe Olivia versprochen, ihrer Enkelin eine Chance zu geben. Und ich würde sagen, es ist so gut wie unmöglich, der alten Dame irgendetwas abzuschlagen. Für sie würde ich sogar Avocado essen oder Miles erzählen, wo ich wohne.
Olivia kommt fast jeden Morgen ins Wipe Out und frühstückt immer an demselben Tisch mit Blick auf das Wasser. Danach nimmt sie ein Stück Pie mit und manchmal einen Veggieburger mit extra Baconstreifen. Eine ungewöhnliche Mischung, aber es passt zu ihrer Persönlichkeit. Oft setze ich mich zu ihr. Ich mag es, ihr eine Weile zuzuhören, mit ihr zu reden und den Tag so zu beginnen. Was sie seit drei Jahren zu einer der wenigen Konstanten in meinem Leben macht und eine Verbindung zu Eve schafft, die ich schlecht einordnen kann.
Sie sitzt Olivia gegenüber und dreht ein Glas Cola in ihren Händen. Mir hat Eve den Rücken zugewandt, aber allein der Anblick ihrer ungebändigten Locken schafft es, mich für einen Moment in die Vergangenheit zu katapultieren. Ich erinnere mich an den Schuppen, den Nirvana-Song und an unseren Kuss.
»Hi, Eve«, sage ich locker, als ich in ihrem Blickfeld auftauche, und begrüße danach Olivia.
»Hallo, Weston«, sagt die alte Dame und lächelt mich an, während Eve zur Salzsäule erstarrt.
»Du arbeitest hier?«, stößt sie schließlich hervor. »Ich dachte …« Sie bricht ab, den Blick auf den Stammtisch meiner Clique gerichtet. Sie dachte, ich würde hier nur abhängen.
Ich nicke. »Sieht ganz so aus, als hätten wir zwei jetzt ein Vorstellungsgespräch.«
»Ein toller Job, und dann noch mit einem ehemaligen Schulkameraden von dir.« Olivia scheint ganz verzückt. Eve nicht.
Ich frage mich, ob sie ihrer Großmutter von dem Kuss vor drei Jahren erzählt hat. Die beiden stehen sich nah. Nah genug, dass es im Bereich des Möglichen liegt. Ich sollte mich konzentrieren, anstatt mir über so etwas den Kopf zu zerbrechen. »Wir setzen uns am besten raus«, schlage ich vor. »Es gibt einen Bereich, der noch im Umbau ist. Dort sind wir ungestört.«
Eve zögert, steht dann aber auf. Wirkt ganz so, als hätte sie keine Wahl. Sonst wäre sie vermutlich schon weg. Olivia hat mir erzählt, dass sie den Job dringend braucht und die meisten alternativen Arbeitsstellen mit den wechselnden Schichten im Krankenhaus kollidieren, wo Eve ein Praktikum absolviert.
Sie folgt mir auf die Pierterrasse, die noch renoviert werden muss, bevor ich sie für die Gäste nutzen kann. Ich deute auf einen von der Sonne ausgeblichenen Tisch und zwei alte Deckchairs, die ich provisorisch dazugestellt habe. »Du suchst also einen Job«, stelle ich das Offensichtliche fest.
»Hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet du hier in Seattle studieren würdest«, entgegnet Eve auf meine Frage.
»Ich studiere nicht.« Ich halte ihrem Blick stand.
»Das hier ist dein Hauptjob?«
Eigentlich sollte ich das Gespräch führen, aber stattdessen nicke ich und sehe sie eindringlich an. »Ja, was dagegen?« Ich bemühe mich, gleichgültig zu wirken. Ach, scheiß drauf. Ein Gegenschlag ist mit Sicherheit befriedigender. »Was ist mit dir? Immer noch glücklich mit David, dem Langweiler, zusammen?«
Eve kneift die Lippen so sehr zusammen, dass das Blut aus ihnen weicht. Treffer versenkt, wie es scheint.
Ich schlucke die Neugierde hinunter, wieso der Haussegen beim Traumpaar Nummer eins der Highschool schief hängt. Auch, weil Eve gerade nachsetzt.
»Und du? Rebellierst immer noch gegen deinen Dad, indem du in einem ranzigen Laden am Pier kellnerst?«
Meine Hilfsbereitschaft bekommt gerade gefährliche Risse. »Erstens ist das Wipe Out nicht ranzig. Zweitens bin ich kein Kellner, sondern Manager«, erwidere ich frostig und beuge mich über den Tisch zu ihr hinüber. »Und drittens weißt du einen Scheiß über mich, also lass es, okay?« Diese Worte habe ich schon einmal zu Eve gesagt. Unwillkürlich muss ich an ihre Lippen denken, an ihren heißen Atem, der sich mit meinem vermischte. Fuck. Das war ein unbedeutender Kuss. Nichts, was mich Jahre später noch aus der Fassung bringen sollte.
»Herzukommen war eine absolute Schnapsidee. Hätte ich gewusst, dass du …« Sie führt den Satz nicht zu Ende, aber es ist klar, dass sie in dem Fall lieber Gift geschluckt hätte, als sich von Olivia zu diesem Vorstellungsgespräch überreden zu lassen. Sie rafft ihre Tasche und ihre Jeansjacke zusammen und will aufstehen.
»Warte!« Ich greife nach Eves Arm und halte sie zurück. Wie sie mich damals auf Miles’ Party. Auch wenn es mich im Grunde nichts angeht, kann ich sie nicht gehen lassen. Olivia hätte mir nie erzählen sollen, warum sie auf Biegen und Brechen in die Seniorenresidenz umziehen wollte. Warum es essenziell wichtig ist, dass Eve lernt, allein klarzukommen. Dann würde ich mich jetzt sicher nicht so scheiße verantwortlich für sie beide fühlen. »Du brauchst den Job, oder?« Wäre es nicht so, wäre Eve gar nicht erst mit mir hinausgegangen. Sie hätte mich sofort stehen lassen. Ich halte sie noch immer fest, und es widerstrebt mir, sie loszulassen, auch wenn sie längst wieder auf ihren Stuhl zurückgesunken ist. Ich tue es trotzdem, weil alles andere creepy wäre.
»Ja«, gibt sie zähneknirschend zu.
»Okay.« Sekundenlang liegt Stille zwischen uns, bevor ich weiterspreche. »Du brauchst einen Job und ich dringend Hilfe.«
Sie blinzelt mich skeptisch an und die feine Röte auf Eves Wangen zeigt mir, dass sie es für keine gute Idee hält, ausgerechnet mit dem Typen zusammenzuarbeiten, der für einen flirrenden Moment schon einmal ihre heile Beziehungswelt mit David ins Wanken gebracht hat.
Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass da mehr zwischen uns war als eine fantastische sexuelle Energie. Mehr existiert nie. Entweder ich bin scharf auf eine Frau oder eben nicht. Ich weiß, dass Eingeschlafene-Füße-David und Eve die ewige Liebe propagieren, aber Liebe ist ein Trugschloss, in das sich Menschen wie die beiden gegenseitig einsperren, nur um darin zu verrotten.
»Wir beginnen morgens um acht und schließen gegen Mitternacht. Die Zeiten, die du abdecken kannst, trägst du einfach in den Kalender ein, der in der Küche hängt.«
»Das heißt, du gibst mir den Job trotz …?«
Trotz dem, was damals zwischen uns passiert ist. Trotz dessen wir keinen Satz miteinander wechseln können, ohne uns an die Gurgel zu gehen. Bescheuert. Ich weiß. Trotzdem nicke ich. »Kriegst du es hin, noch vor dem Wochenende zum Probearbeiten zu kommen? Wenn das gut läuft …« Ich halte ihr meine Hand hin. Es dauert einige Sekunden, bevor Eve einschlägt und sich dann hastig zurückzieht. Als hätte sie sich verbrannt. Und verdammt, genauso fühlt es sich an, Everly Scott zu berühren.
Jules wohnt in einem winzigen WG-Zimmer in einer der Nebenstraßen vom Occidental Square und damit nur unweit von meiner Wohnung im beliebten Pioneer-Square-Viertel. Chloe schlüpft immer dann bei mir oder Jules unter, wenn sie in den Semesterferien von der Ostküste nach Hause kommt. Häufiger bei Jules als bei mir, obwohl ich deutlich mehr Platz habe. Ich versuche deswegen nicht eifersüchtig zu sein. Chloe könnte natürlich auch zu ihren Eltern gehen, aber ihr Bruder hat ihr altes Zimmer annektiert und ist nicht bereit, es während ihres Aufenthalts mit ihr zu teilen. Er ist zwar älter geworden, aber noch immer so eine Plage wie früher.
Die beiden warten schon in unserem Stammcafé, dem Biscuit Bitch, das den Blick auf das historische Feuerwehrdenkmal auf dem Occidental erlaubt und nicht nur die besten Muffins und Cupcakes verkauft, sondern auch den weltleckersten Kaffee. Er wird hier noch selbst geröstet, gemahlen und per Hand verarbeitet. Ich liebe die gemütlichen Sitzecken im Inneren und die farbenfrohen Stühle, die sich unter flatternden, bunten Girlanden auf den Occidental Square ergießen.
Es ist mein erster freier Abend ohne Nana zu Hause. Anstatt nur einer Stunde Yoga im Anschluss an meine Schicht im Krankenhaus habe ich gleich zwei Kurse besucht, um mich zu beschäftigen. Mit dem Resultat, dass mir alles wehtut, weil die Kursleiterin eine verdammte Masochistin ist und ich grottenschlecht im Yoga. Obwohl ich es schon lange mache, kippe ich bei fast jeder Figur um und habe das Gefühl, Muskelgruppen zu beanspruchen, die man als normaler Mensch nicht nutzen sollte.
Hätten meine Freundinnen heute keine Zeit gehabt, wäre ich wahrscheinlich mit Muskelkater und blauen Flecken ins Bett gekrochen und hätte mich schrecklich allein gefühlt. So hebt die Aussicht, die neuesten News über Jules’ Männerkatastrophen und Chloes Miststück von Dozentin zu erfahren, meine Laune. Das ist genau, was ich heute brauche. Das und den Geruch nach frisch geröstetem Kaffee.
Ich trete an den Tresen des Biscuit Bitch um die Cupcake-Auswahl zu scannen. Meine Freundinnen sitzen auf einem der gemütlichen, dunklen Ledersofas im hinteren Teil des Cafés und unterhalten sich angeregt mit Pepe, dem Barista. Er erklärt ihnen gerade leidenschaftlich das faszinierende Handwerk der Kaffeerösterei. Ich glaube nicht, dass sich das Interesse meiner Freundinnen tatsächlich um die dunkle Bohne dreht. Wohl eher um Pepes mokkabraunen Teint und seinen durchtrainierten Körper.
»Everly«, begrüßt er mich und lässt die beiden allein.
Ich winke ihnen vom Tresen aus zu. Bevor ich sie richtig begrüße, muss ich eine rettende Koffeinration bestellen.
»Einen Latte macchiato al caramello wie immer?«, kommt Pepe mir zuvor und ist schon hinter die Bar geflitzt, bevor ich etwas erwidern kann. Er drückt, dreht und schraubt an seiner Kaffeemaschine herum und singt dabei leise vor sich hin. Die Zubereitung eines einfachen Kaffeegetränks sieht bei ihm tatsächlich so aus wie die Bedienung eines Raumschiffs. Aber der Kaffee schmeckt auch galaktisch.
»Danke, Pepe.« Ich nicke ihm dankbar zu und schiele zu den Schokoladen-Cupcakes hinüber. Sie scheinen in Kombination mit dem Latte macchiato perfekt geeignet, um die Erinnerungen an den heutigen Tag ins Zuckerkoma zu schicken.
»Wann gehst du endlich mit mir aus, Bella?«
»Sobald ich auf Südländer stehe, Pepe«, gehe ich auf unseren üblich oberflächlichen Flirt ein. Entschuldigend lege ich ihm meine Hand auf den Arm und nehme dann den Latte entgegen. Ein aufdringliches Kakaoherz schwimmt auf dem Milchschaum, bevor ich es demonstrativ mit dem Löffel ertränke.
Es würde Jules treffen, wenn ich mir etwas aus Pepes Flirtoffensive machen würde. Sie steht auf ihn. Ein untrügliches Indiz dafür, dass Marco, ihr letzter Lover, passé ist. Jules hat seit dem Ende der Highschool eine Latinophase. Ihr Beuteschema ist immer gleich. Dunkler Teint, dunkle Augen, dunkle Seele. Männer, die sie in Rekordgeschwindigkeit auf Wolke sieben treiben, nur um sie dann genauso schnell ins Bodenlose fallen zu lassen. Pepe wäre da vermutlich eine heilsame Ausnahme, denn er ist ein wirklich netter Kerl.
Mit dem Kaffee in der einen Hand, einem überdimensionalen Cupcake in der anderen gehe ich zu meinen besten Freundinnen und lasse mich auf das Sofa neben Chloe plumpsen.
»Schön, dass du endlich da bist«, begrüßt sie mich und drückt mich sekundenlang an sich.
»Gleichfalls«, stoße ich hervor. »Wie geht es Boston?«
»Steht wider Erwarten noch, obwohl ich dort wohne«, flachst Chloe.
Ich vermisse sie unendlich. Seitdem sie auf der anderen Seite des Landes studiert, sehen wir uns viel zu selten. Ich schenke ihr ein Grinsen und umarme dann auch Jules, bevor ich mich über meinen Cupcake hermache.
»Ich verhungere«, kommentiere ich meinen Versuch, die Hälfte des Kuchens auf einmal in den Mund zu stopfen.
»Wie geht es Olivia nach dem ersten Tag bei The Walking Dead?«, erkundigt sich Jules.
Ich mustere sie mit einem strafenden Blick. »Nenn die Bewohner der Residenz nicht so. Nana ist jetzt eine von ihnen.«
»Sorry.« Jules hebt beschwichtigend die Arme. Sie würde niemals etwas sagen, was Olivia beleidigt. Immerhin liebt sie meine Großmutter genauso abgöttisch wie ich. »Ich stell mir das eben gruselig vor.« Sie legt ihre Stirn in tiefe Falten. »Da sind doch bestimmt alle scheintot. Olivia passt da überhaupt nicht hin.« Sie zieht die Nase kraus und schüttelt den Kopf.
»Vielleicht ist es nicht halb so schlimm, wie du es dir vorstellst, und es gefällt ihr dort einfach«, wirft Chloe ein. »Versuch mal, dich in Olivia hineinzuversetzen.«
»Sie scheint wirklich glücklich zu sein«, bestätige ich Chloes Worte, auch wenn es mich ein wenig neidisch macht, dass ihr das ohne mich so spielend einfach gelingt. Ganz im Gegensatz zu mir.
»Jules hat mich schon auf den neuesten Stand gebracht, während wir auf dich gewartet haben. Auch was dich und David angeht.« Chloes Blick verfinstert sich. »Nach sechs Jahren so Schluss zu machen. Der hat sie ja wohl nicht mehr alle. Und warum überhaupt? Das ergibt keinen Sinn.«
Wenigstens mal eine, die es ausspricht. Und es im selben Moment wieder relativiert.
»Aber ich bin sicher, das ist nur eine Momentaufnahme, und wenn ihr später zwei Kinder, einen Labrador und ein Häuschen in einem schicken Vorort habt, werdet ihr über diese Phase lachen.« Sie nimmt mich kurz in den Arm. »Kommst du einigermaßen klar?«
Ich nicke und schweige. Ich will lieber nicht über David reden. Einfach, weil ich nicht wüsste, wie ich erklären sollte, dass mir die Trennung wider Erwarten nicht das Herz gebrochen hat. Dass ich mir mehr Gedanken darüber mache, wie es finanziell weitergehen wird, als über unser Ende. Und dass ich nicht einen Wimpernschlag lang darüber nachgedacht habe, um ihn zu kämpfen.
»Wir müssen nicht darüber sprechen, wenn es noch zu sehr wehtut«, sagt Chloe einfühlsam.
Ich widerspreche ihr nicht und komme mir wie eine Lügnerin vor. Eine gefühllose Lügnerin.
»Aber du musst mir von deinem neuen Job erzählen. Ich will alles darüber wissen.« Chloe sieht mich erwartungsvoll an.
Ich muss den Mädels vor allem von Wes erzählen. Wenn ich es nicht tue, gewinnt es an unangemessener Bedeutung. Aber wenn ich es ihnen erzähle, werden sie bestimmt jedes noch so winzige Detail aus mir herausquetschen wollen.
»Wie sind zum Beispiel die Kollegen so?«
Und schon geht es los. Ich beiße von meinem Cupcake ab, um Zeit zu schinden. Vielleicht finde ich dann die richtigen Worte, um die Info, dass Weston das Wipe Out leitet, belanglos einfließen zu lassen. »Ich hatte bis jetzt nur das Vorstellungsgespräch mit dem Manager des Ladens«, quetsche ich an meinem Kuchen vorbei. »Am Wochenende soll es voll werden. Deswegen habe ich morgen schon meinen Probearbeitstag. Während der Frühschicht sind wir allein und er kann mir in Ruhe alles zeigen.«
»Allein mit dem Chef.« Jules verdreht genießerisch die Augen. »Hört sich vielversprechend an.«
Jules hat so etwas wie einen siebten Sinn für pikante Details. Wenn die zwei wüssten, dass Weston mein Chef ist, wären sie sicher nicht so begeistert von dieser Vorstellung.
»Und wie ist er so?«
Irgendwann werden sie es sowieso erfahren. Ich atme tief ein. »Weston leitet den Laden.« Nana sagt immer, man solle Pflaster mit einem Ruck abreißen.
Jules schnappt nach Luft, als hätte ich genau das getan. Wes hat sie nach dieser bescheuerten Party vor drei Jahren sitzen gelassen. Obwohl die beiden nie richtig zusammen waren, hat es sie verletzt, als er nach unserem Gespräch auf dem Steg beendet hat, was noch nicht mal richtig begonnen hatte. Nach unserem Kuss. Ich schließe sekundenlang die Augen. Der hatte sicher nichts mit seiner Entscheidung zu tun, Jules abzuweisen. Es hat sie getroffen. Härter, als es das hätte tun dürfen. Härter als viele Beziehungscrashs davor und danach.
Chloe behauptet bis heute, dass er der Grund sei, warum Jules’ Männertyp von blond, heiß und unwiderstehlich zu dunkel, gefährlich und südländisch gewechselt hat. Ich will nicht glauben, dass das stimmt.
»Aber nicht der Weston?« Jules Gesicht verdüstert sich. »Weston–mir–ist–alles–scheißegal–und–ich–poppe–alles–was–nicht–bei–drei–auf–den–Bäumen–ist–Lewis?« Sie glaubt bis heute fest daran, dass er sie für ein anderes Mädchen fallen gelassen hat, und liegt damit schmerzlich richtig und gleichzeitig total falsch.
Ich schließe die Augen. »Genau der«, gebe ich zu und nicke. »Weston–ich–bin–zu–faul–zum–Lernen–und–am–Ende–hat–mein–Vater–mir–den-Abschluss–gekauft–Lewis.« Wir wissen alle, dass es nicht möglich ist, sich den Abschluss tatsächlich zu kaufen, aber es passt so wunderbar in das Bild von Wes mit seinen stinkreichen Eltern und seiner überheblichen Art. Er war nicht dumm, aber sein Monsterego war ihm stets im Weg.
»Hab gehört, dass er nach dem Abschluss ins Ausland gegangen ist. War auf jeden Fall ’ne Zeit lang von der Bildfläche verschwunden, der Gute.« Chloe weiß solche Dinge. Sie weiß grundsätzlich alles. Sie ist unser Klatsch-und-Tratsch-Almanach, und das, obwohl sie sich nie im Zentrum der Schul-High-Society befunden hat. Sie ist einfach eine gute Beobachterin. »Warum arbeitet der denn in einem Restaurant und bedient das Fußvolk?«
Eine sehr gute Frage, die Chloe da stellt. »Lässt ihm vielleicht genug Zeit, Mädels aufzureißen und ansonsten abzuhängen.« Ich zucke teilnahmslos die Schultern, obwohl an ihn zu denken, mein Inneres in Aufruhr versetzt.
»Ist trotzdem komisch«, wirft Chloe ein und klaut mir den Rest meines Cupcakes. Ausgerechnet den Teil mit dem flüssigen Schokoladenkern. »Daddy hätte ihn doch für sich arbeiten lassen oder ihn an jeder Uni seiner Wahl unterbringen können.«
»So ein Typ hat eben in der Highschool schon seine besten Jahre hinter sich. Danach geht es nur noch bergab«, brummt Jules. »Du wirst ja wohl nicht wirklich für ihn arbeiten, oder?«
Irgendwo in meinem Schädel erklingt leise die Melodie von Nirvanas Smells Like Teen Spirit, bevor ich ärgerlich den Lautstärkeregler auf null drehe.
»Eve?«, holt mich Jules aus meinen Gedanken, indem sie mich mit dem Ellenbogen anstößt.
»Sorry, ich war abgelenkt. War ein echt langer Tag heute. Was hast du gefragt?«
»Ich fragte, ob du ernsthaft in Erwägung ziehst, den Job anzunehmen?«
Ihr Blick lässt keinen Zweifel zu. Jules denkt, freundschaftliche Loyalität würde so etwas ausschließen.
Eine Loyalität, die ihren Ursprung in unserer Vergangenheit hat und mich sonst tatsächlich immer dazu bringt einzulenken. Aber in diesem Fall kann ich mir diese Loyalität einfach nicht leisten. »Ich werde vermutlich kaum etwas mit ihm zu tun haben. Ich will dort nur arbeiten, mich nicht mit ihm anfreunden.« Ich fahre mir durch die Haare. »Jules, ich brauche den Job. Du weißt, wie klamm ich bin, und dort bin ich wegen der Arbeitszeiten absolut flexibel.« Ein Luxus, den ich bisher vergeblich gesucht habe, denn ich muss meine Arbeitszeiten an die des Schichtbetriebs im Krankenhaus anpassen. »Und das Wipe Out liegt direkt gegenüber der Seniorenresidenz. Nana frühstückt jeden Morgen dort. So werde ich sie wenigstens ab und an sehen. Oder ich kann sie vor oder nach der Arbeit besuchen, wenn wir uns nicht im Restaurant treffen. Es gibt keine andere Arbeitsstelle, die mir all das bietet.«
Jules betrachtet mich prüfend und macht keinen Hehl daraus, dass ihr die Sache trotzdem nicht gefällt. »Also schön«, erwidert sie widerwillig. »Aber sag nicht, wir hätten dich nicht gewarnt, und such unbedingt nebenher nach etwas Besserem. Es gibt noch andere Jobs in der Nähe der Waterfront. Arbeit, wo der Chef kein Arschloch ist.«
Ich nicke, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, neben all den anderen Baustellen in meinem Leben auch noch nach einem neuen Job zu suchen, nur weil ich ab und an mit Weston Lewis konfrontiert sein werde.
Eve ist pünktlich. Das war zu erwarten. Sie war schon zu Schulzeiten so verdammt pflichtbewusst.
Heute trägt sie eine schlichte, eng anliegende Jeans und eines unserer Wipe-Out-Shirts, das ich ihr nach dem Vorstellungsgespräch mitgegeben habe. Sie sieht darin deutlich besser aus als unsere Köche. Eine Tatsache. Keine Wertung.
»Hi, Eve«, begrüße ich sie und bitte sie hinter den Tresen. Mir entgeht nicht, dass es sie ärgert, wenn ich sie Eve nenne. Ich habe trotzdem nicht vor, damit aufzuhören. »Ich zeige dir gleich alles. Am Anfang ist es sicher erst mal viel, aber keine Sorge, die Abläufe hast du schnell drauf. Und wenn du dich gut anstellst, können wir heute Abend den Arbeitsvertrag klarmachen.« Ich öffne die Kühlschränke, die sich unterhalb des Tresens befinden, und erkläre ihr das Ordnungssystem, auf das wir angewiesen sind, um auch im größten Chaos schnell und nach Möglichkeit blind die richtigen Flaschen zu finden.
Eve nickt von Zeit zu Zeit und achtet penibel darauf, mir nicht zu nahe zu kommen. Ich tue das genaue Gegenteil. Dabei sollte ich professionell bleiben. Immerhin ist es absolut wichtig, dass unsere Zusammenarbeit klappt. Wenigstens das kann ich für Olivia tun.
Ich klopfe auf die Tafel, die hinter dem Tresen an der Wand hängt. »Hier notieren wir die aktuellen Angebote. Morgens Frühstücke. Zur Lunchzeit leichte Snacks und Kuchen. Abends dann ausgewählte, warme Gerichte und Salate. Auf der linken Seite halten wir die Wellenhöhen entlang der Küste für die Surfer fest, Windgeschwindigkeiten und ob es irgendwo einen Haiangriff gab.« Das unterstreicht den Surfer-Spirit, den das Wipe Out verkörpert. Genau wie das Surfbrett, das als Tresen dient, und die Durchreiche zur Küche, deren Rahmen aus einem längs halbierten VW-Bus besteht. »Ich hole die Informationen jeden Morgen aus dem Netz und irgendeiner von uns klettert hoch und trägt die aktuellen Daten ein.«
Eve hört mir aufmerksam zu und ich sehe, wie sie innerlich mitschreibt. In der Schulzeit fand ich diese Streberattitüde furchtbar, aber das hat sich wie so vieles geändert. Es ist angenehm, dass sie so aufmerksam ist und ich nicht alles zehnmal erklären muss.
Ich gehe voraus zur Küchentür und halte sie ihr so auf, dass sie unter meinem Arm durchtauchen muss, um diesen Bereich des Wipe Out zu betreten. Sie beißt sich auf die Lippen und eine leichte Röte überzieht ihre Wangen, als sie sich eng an mir vorbeischiebt. »Das ist die Küche«, sage ich und meine Stimme klingt rau. »Miguels, Sams und Ravis Reich. Unsere Köche. Sie arbeiten im Schichtbetrieb hier. An umsatzstarken Tagen kriegen sie Unterstützung von euch Aushilfen.« Ich warte, bis Ravi ihr die Hand gegeben und Eve sich ihm vorgestellt hat. »Aber keine Sorge, wenn du das nicht willst, kannst du dich auch nur für den Service eintragen. Allerdings sind wir ein Team und ich erwarte, dass jeder mit anpackt, sollte es akut nötig sein.« Ich nehme Ravi einen Teller mit Rührei, Speck und Hash Browns ab, der für Tisch drei bestimmt ist, und ziehe mit der freien Hand eine dunkle Schürze mit dem Logo des Wipe Out darauf aus dem Regal. »Die ist für dich.«
Eve schlingt sie sich um die Taille und sieht mich dann ein wenig verloren an.
»Der Teller geht an Tisch drei«, sage ich und gebe ihr das Essen. Genauso habe ich damals im Wipe Out angefangen, mit einem Sprung ins kalte Wasser. »Die Tische sind im Uhrzeigersinn vom Eingang aus durchnummeriert. Bedient wird von rechts. Ansonsten kannst du wenig falsch machen. Sei einfach freundlich, das hilft dir, weil du mehr Trinkgeld bekommst, und mir, weil die Gäste wiederkommen.«
Eve steht noch immer wie angewurzelt vor mir. Wenn sie so weitermacht, ist das Rührei kalt, bis sie es dem Gast gebracht hat. Ich berühre ihren Arm und die feinen Härchen darauf stellen sich auf. Sie reagiert auf mich. Das sollte mich vermutlich nicht freuen.