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Eine uralte Prophezeiung. Ein gefährlich charmanter Magier. Und eine Stadt voller verfeindeter Hexenclans … Carolines Magie ist mächtiger als alles, was die Hexenclans von London bisher erlebt haben. Hängt das mit einer uralten Prophezeiung Merlins zusammen? Das glauben zumindest die beiden größten Clans und machen erbarmungslos Jagd auf Caroline. Als selbst der charmante Ash sich gegen Caroline wendet, flieht sie in die Obhut von Henri und seiner Familie von Voodoozauberern. Doch ihren Feinden kann sie nicht entkommen … Entdecke die fantastisch-romantischen Buchwelten von Sandra Grauer bei Ravensburger: Flowers & Bones Band 1: Tag der Seelen Band 2: Kuss der Catrina Flame & Arrow Band 1: Drachenprinz Band 2: Elfenkriegerin Clans of London Band 1: Hexentochter Band 2: Schicksalsmagie
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Seitenzahl: 520
Als Ravensburger E-Book erschienen 2020
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH
© 2020 Ravensburger Verlag
Text © 2020 Sandra Grauer
Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Offenburg.
Umschlaggestaltung: Katharina Netolitzky unter Verwendung von Motiven von Shutterstock/FashionStock und Shutterstock/viewgene
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-47983-2
www.ravensburger.de
Für Niklas, Betty und ChristianFür meine Mutter
Ein Kind, mächtig und gefahrvoll,der beiden größten Stämme Spross,beschenkt mit Kräften übervoll,einst freigesetzt, wüt’ Todes Ross.
Wenn fünfmal zehn der Eltern Zahl,vom heut’gen Tage an,erblickten Mondes Lichte fahl,nichts sie mehr halten kann.
Im Streite ungeschlagen Vaters Stamm,ertönet dann fataler Schallvom Ufer hoch zu Sieges Damm,der Tochter Feuer verrät all.
Verfolgt von Kreuzes Macht,Väter vergießen Söhne Kraft,Bruder Bruder töt’ in Zwietracht,sodann end’t dero Vorherrschaft.
Von den alten Stämmen zwei,die teilten sich die Welt,wird besteh’n nur einerlei,wenn einst das Urteil fällt.
Ash hatte recht. Er hatte absolut recht, ebenso wie Merlin mit seiner jahrhundertealten Prophezeiung richtiglag: Ich würde den Untergang der Clans bedeuten, und ich konnte nichts dagegen machen, ob ich wollte oder nicht. Es war zu spät.
Wut kroch durch meine Arterien, drohte sie zu verstopfen. Mein Mund fühlte sich an, als hätte ich Sandpapier verschluckt, mein Herz schlug zu schnell. Und plötzlich explodierte die Wut und ich mit ihr.
Feuer. Überall züngelte mit Alkalimetall versetztes Feuer – die Art Feuer, welche Magie außer Gefecht setzt. Und mittendrin Morgans, Merlins, Lecourts. Lilafarbene Flammen schlängelten sich um Ash und Henri, um George, May, meinen Dad. Alle Clanmitglieder brannten. Alle außer mir.
Mein Schrei war so laut, dass er mir selbst in den Ohren wehtat. Ich breitete die Arme aus und setzte meine Kräfte ein. Versuchte, die Flammen zu beeinflussen. Ich wusste, dass ich es konnte; ich hatte so den Drachen im Holland Park vernichtet.
Ich sah die Angst und Verzweiflung in Ashs Augen, die Ungläubigkeit in denen von Henri. May, Garry, Samantha, George, Alice, Jared, Meredith – sie alle konnten nicht glauben, was hier passierte. Die Flammen schlugen höher und höher, die Clanmitglieder kämpften ums Überleben.
Gleich war es vollbracht. Gleich würde sich auch die letzte Strophe der Prophezeiung erfüllen.
Von den alten Stämmen zwei,die teilten sich die Welt,wird besteh’n nur einerlei,wenn einst das Urteil fällt.
Mit zitternden Augenlidern kam ich wieder zu mir. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich ohne Bewusstsein gewesen war, aber es konnte nicht lange sein. An dem Bild von zuvor hatte sich nicht viel geändert, nur dass Tianna nun zusammen mit Henri neben dem immer noch regungslosen Ash kauerte. Sie fühlte Ashs Puls, so wie Henri es kurz zuvor getan hatte, und sagte etwas zu ihrem Neffen. Er sprang auf, wollte aus dem Zimmer eilen und entdeckte mich, wie ich allmählich wieder zu mir kam.
»Caroline!«
Einen Moment war er versucht, nach mir zu sehen, doch seine Tante trieb ihn zur Eile an. »Alles okay?«, fragte sie dann an mich gewandt, während Henri das Zimmer verließ.
»Denke schon«, antwortete ich. Meine eigene Stimme kam mir irgendwie fremd vor. Langsam versuchte ich, mich aufzusetzen, was besser ging als erwartet. Keine Übelkeit, kein Schwindelgefühl, keine Schmerzen.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte Tianna, ohne von Ash aufzusehen. »Es ist durchaus üblich, nach der Magieaktivierung in Ohnmacht zu fallen. Du musst dir das wie beim Kochen vorstellen. Nachdem man die ganzen Zutaten in eine Suppe getan hat, muss man auch erst noch einmal alles aufkochen.«
Um ehrlich zu sein, machte ich mir gerade mehr Sorgen um Ash als um mich selbst. Ich kroch hinüber zu Tianna, nahm Ashs Hand in meine. Sie fühlte sich kalt an, aber ansonsten sah er unversehrt aus. Nicht so wie nach dem Drachenangriff. »Ist er …?« Mir versagte die Stimme, ich konnte und wollte den Gedanken nicht zu Ende führen.
Tianna schüttelte den Kopf. »Das nicht, aber er ist sehr schwach. Ich weiß nicht, was passiert ist, denn äußerlich sind nur Verletzungen zu erkennen, die sicher schon ein paar Stunden alt sind.«
»Er wollte zu mir«, sagte ich. »Kurz vor der Magieaktivierung. Henri konnte ihn gerade noch zurückhalten.«
Nun blickte Tianna doch einen kurzen Moment auf. In ihren Augen lag Besorgnis, was mein Herz augenblicklich schneller klopfen ließ. »Deine Magie ist ziemlich stark, Caroline, und sie ist bei der Aktivierung ein wenig außer Kontrolle geraten. So etwas habe ich noch nie erlebt. Hast du das nicht gespürt? Das ganze Haus ist erzittert.« Sie senkte den Blick. »Ash muss direkt in den Aktivierungsbann geraten sein. Wenn er durch deine Magie verletzt wurde, kann ich nichts für ihn tun.«
Die Welt schien stehen zu bleiben, ebenso wie mein Herz. Nein. Nein! Das durfte nicht sein. Ash durfte nicht sterben, schon gar nicht durch meine Hand. Das würde ich nicht zulassen. »Was soll ich machen?«
»Du kannst nichts machen, Caroline.«
»Das glaube ich nicht. Irgendetwas –«
»Caroline …«
»Nein!«, schrie ich, selbst überrascht, dass meine Stimme schon wieder so gut funktionierte.
»Was ist los?«, fragte Henri, der einen Moment zögernd im Türrahmen stand und dann auf uns zueilte. Er hielt seiner Tante eine Art Flakon entgegen, doch Tianna schüttelte den Kopf.
»Das wird nichts bringen«, begann sie, aber ich unterbrach sie.
»Das spielt keine Rolle, versuch es wenigstens.«
Sie schien protestieren zu wollen, überlegte es sich bei meinem und Henris Anblick aber anders. Leise seufzend griff sie nach dem Flakon. »Also gut, das müssen wir Ash einflößen.«
Ich rutschte noch näher an Ash heran und hob vorsichtig seinen Kopf, um ihn auf meinen Schoß zu betten. Er war schwer und rührte sich nicht, zuckte nicht einmal mit den Augenlidern. Tianna entkorkte den Flakon und kam so nah, dass mir ihr Duft in die Nase stieg: Orange und ein Hauch von Jasminparfüm. Tropfen für Tropfen träufelte sie die durchsichtige Flüssigkeit in Ashs Mund. Er verschluckte sich nicht, aber der Trank zeigte auch sonst keinerlei Wirkung.
»Wozu ist das?«, fragte ich.
»Zur Stärkung und Mobilisierung der Kräfte«, erklärte Tianna.
Ich horchte auf. Zwar war der Stärkungstrank, den Ash und ich dabeigehabt hatten, leer, aber zu Hause im Kühlschrank war noch ein Rest. »Ich habe letzte Nacht einen Stärkungstrank unter Ashs Anweisung gebraut. Es ist noch was übrig, bei mir zu Hause. Vielleicht wirkt das Rezept der Morgans besser, wenn dieser hier nichts bringt.«
Ich hatte noch nicht einmal ausgesprochen, da schüttelte Tianna bereits den Kopf. Sie machte zwar einen gefassten, gleichzeitig aber auch einen extrem traurigen Eindruck, was es für mich nur noch schwerer machte. Es schien nicht so zu sein, dass sie nicht bereit war, Ash zu helfen, doch sie war offensichtlich felsenfest davon überzeugt, nichts für ihn tun zu können.
Auch Henri schüttelte den Kopf. Er wagte es nicht, mir in die Augen zu sehen, als er sagte: »Wie sollen wir so schnell an den Trank kommen? Du kannst dich nicht teleportieren, sonst spüren die Clans dich auf, und wir haben ganz andere Probleme.«
»Wenn sie Ash sehen, werden sie ihm helfen wollen«, erwiderte ich, aber Tianna und Henri blickten mich nur traurig an, und ich wusste selbst, dass ich mir etwas vormachte. Die Morgans und Merlins waren wie besessen davon, mich zu töten, und jetzt, wo meine Magie endlich aktiviert war, würden sie es umso mehr wollen. Auch meinen Vorschlag, Megan darum zu bitten, den Trank herzubringen, schluckte ich herunter. Auf Londons Straßen herrschte sicher nach wie vor Chaos. Sie würde nicht schnell genug hier sein, und wir durften keine Zeit verlieren. »Ash.« Sanft strich ich ihm über das Gesicht. Eine Träne rollte über meine Wange und tropfte auf ihn herab. Weitere Tränen folgten, doch ich dachte nicht einmal daran, sie beschämt wegzuwischen. Einen Moment beugte ich mich über Ash, schmiegte mich an ihn, doch dann setzte ich mich entschlossen wieder auf. Ich war schon immer dickköpfig gewesen, nicht bereit aufzugeben, und wenn es um Ashs Leben ging, würde ich nicht damit anfangen. Ich hatte nicht mein eigenes Leben gerettet, um jetzt ihn auf diese Weise zu verlieren. »Ich werde Ash zu seiner Familie bringen. Vielleicht wissen die Morgans einen Ausweg.«
»Nein.« In der Annahme, Henri wolle mir das Ganze wieder ausreden, setzte ich zum Protest an, doch stattdessen fügte er hinzu: »Das würde dich dein Leben kosten. Ich werde Ash zu seiner Familie bringen.«
»Kinder.« Kopfschüttelnd strich Tianna sich die Haare aus der Stirn.
Die Glühbirnen flackerten über uns, dann erhellte grelles Licht das Zimmer, sodass ich für einen Moment die Augen zusammenkneifen musste. London schien endlich wieder Strom zu haben. Gleichzeitig fiel unten die Haustür ins Schloss, und laute Schritte eilten die Treppe in den ersten Stock hinauf.
»Das wird dein Vater sein«, sagte Tianna zu ihrem Neffen.
Und tatsächlich betrat im nächsten Augenblick ein Mann den Raum, der das Ebenbild seines Sohnes war: die gleichen tiefbraunen Augen und braunen Haare. Die beiden hatten sogar fast die gleiche Frisur (Henris Haare waren nur einen Tick länger als die seines Vaters) und die gleiche Statur. Seine Augen wanderten durch den Raum und blieben einige Sekunden an mir hängen, bevor er Tiannas Blick suchte.
»Habe ich es mir doch gedacht«, polterte er los. Seine Stimme war so tief und durchdringend, dass ich zusammenzuckte. »Wie konntest du eine Magieaktivierung vornehmen, ohne das Ganze mit mir zu besprechen?«
»Wir hatten keine Zeit, Vater. Es ging um …« Henris Vater hob eine Hand, den Blick weiterhin auf Tianna gerichtet, und sein Sohn verstummte mitten im Satz.
Tianna wirkte im ersten Moment ebenfalls eingeschüchtert, doch dann straffte sie die Schultern, ihre Augen eisig. »Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Wie Henri eben sagen wollte, bevor du ihn so rüde unterbrochen hast, ging es um Leben und Tod. Hätte ich das Mädchen sterben lassen sollen? Ihre Magie musste aktiviert werden, und da der Londoner Hexenmeister tot ist …«
»Wirklich?« Henris Vater runzelte die Stirn, doch dann glättete sie sich wieder, die Augen ein wenig freundlicher. »Du hättest dich dennoch vorher mit mir absprechen sollen. Immerhin bin ich der Hungan dieser Gemeinde, und mit deiner Aktion hast du uns alle in den Clanstreit der Merlins und Morgans hineingezogen.« Sein Blick wanderte zu mir. »Ich gehe doch richtig in der Annahme, dass du Caroline bist?«
Er wusste also von mir. »Ja«, antwortete ich und verkniff mir ein Sir.
»Ajani Lecourt, Henris Vater.« Er kam näher und reichte mir die Hand. »Die Aktivierung deiner Magie hat ganz London erschüttert, ist euch das eigentlich klar?«
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. War das normal oder nicht? Gut oder schlecht?
»Ich fürchte, das hat nicht nur die anderen Clans, sondern womöglich auch die Maleficarier auf den Plan gerufen.« Bevor einer von uns etwas dazu sagen oder ich auch nur über diese Aussage nachdenken konnte, fuhr Ajani zusammen. »Was ist mit dem jungen Morgan passiert? Sag mir nicht, er ist in den Aktivierungsbann geraten.«
Tianna nickte zerknirscht. »Ich war in Trance, ich konnte nichts dagegen tun.«
Ajani warf die Hände in die Luft. »Herrgott, Tianna! Muss ich dir erklären, was das bedeutet? Wenn Arthur das nicht überlebt … Du hast uns alle in Gefahr gebracht.«
»Glaub mir, unsere Gemeinde steckt ohnehin mit drin. Das hätten wir nicht verhindern können.«
Henri zog die Augenbrauen zusammen. »Wie meinst du das? Weil ich Caroline geholfen habe?«
Seine Tante schüttelte den Kopf. »Es ist viel größer als das, glaub mir.«
Ihre Stimme und Worte riefen bei mir eine Gänsehaut hervor, und obwohl ich wissen wollte, was es mit ihrer Aussage auf sich hatte, verlor ich allmählich die Geduld. »Wir verlieren hier kostbare Zeit. Ich werde Ash jetzt zu seiner Familie bringen.«
Zu meiner Überraschung stimmte Ajani mir zu. »Sie sind die Einzigen, die ihm jetzt noch helfen können, aber ich übernehme das. Hoffentlich kann ich einen Krieg zwischen unseren Familien noch verhindern.« Er wandte sich mir zu. »Und dich muss ich leider des Hauses verweisen.«
»Was?« Henri sprang auf. »Das kannst du nicht machen, Vater. Wo soll sie denn hin? Sie hat doch sonst niemanden.«
»Schon gut, Henri.« Hoch erhobenen Hauptes rappelte ich mich auf. Der Boden schwankte ein wenig unter mir – mein Kreislauf hatte wohl doch noch mit der Aktivierung meiner Magie zu kämpfen –, aber ich schaffte es, das Gleichgewicht zu halten.
Bis jetzt hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht, wie es weitergehen oder wo ich die Nacht verbringen sollte. Nachdem Ash und ich aus dem Anwesen der Morgans entkommen waren, war so viel passiert, und ich hatte keine Verschnaufpause zum Nachdenken gehabt. Doch jetzt, wo meine Magie aktiviert war und ich zumindest nicht deshalb sterben würde, musste ich mir etwas überlegen. Ash und Henri konnten mir nicht mehr helfen, und nach Hause konnte ich auch nicht. Ob Megan dort sicher war? Solange sie nicht wusste, wo ich war, vermutlich schon. Hierbleiben war ebenfalls keine Option. Nicht nur, dass das Lecourt-Oberhaupt mich nicht hier haben wollte. Wenn er Ash zu den Morgans brachte, würden diese wissen, dass ich hier war. Sprich, ich war in diesem Haus nicht mehr sicher, denn Ajani Lecourt hatte ziemlich deutlich gemacht, dass er sich nicht in meinen Kampf hineinziehen lassen wollte. Doch da hatte er die Rechnung ohne Tianna gemacht.
»Nein«, sagte sie entschlossen. »Caroline wird hierbleiben.«
»Das hast du nicht zu entscheiden, Tianna.«
»Ich habe zumindest ein Mitspracherecht, ebenso wie Henri und alle anderen. Caroline ist nämlich eine von uns.«
Es war bestimmt eine gute Viertelstunde vergangen, seit Tianna die Bombe hatte platzen lassen, und dennoch war ich kein bisschen schlauer als vorher. Unter diesen Umständen hatte Ajani es vorgezogen, lieber vor Ort zu bleiben und sich Tiannas Geschichte anzuhören, allerdings musste Ash trotz allem so schnell wie möglich zu seiner Familie gebracht werden. Also hatte Ajani das Zimmer verlassen, um jemand anders aus dem Clan damit zu beauftragen und haarklein zu instruieren. Tianna hatte ihn begleitet, vielleicht, um unseren Fragen und bohrenden Blicken aus dem Weg zu gehen.
»Was heißt das, du bist eine von uns?«, fragte Henri stattdessen mich zum wiederholten Male, doch ich schüttelte wie zuvor den Kopf. Wie ein aufgebrachtes Tier wanderte er durch das Zimmer und machte mich damit noch nervöser, als ich ohnehin schon war. Hin und wieder blieb er am Fenster stehen und sah kurz hinaus in die Dunkelheit, dann drehte er sich zu mir um und musterte mich, als suchte er nach Ähnlichkeiten zwischen uns.
Es ließ sich nicht leugnen, dass diese Ähnlichkeiten vorhanden waren. Meine schokoladenbraunen Augen und dunkelbraunen Locken und nicht zuletzt der cappuccinofarbene Teint – irgendwo in meinem Stammbaum musste sich afrikanisches oder lateinamerikanisches Blut verstecken. Doch was hatte das zu bedeuten? War Brian Merlin doch nicht mein Vater? Konnte der magische Vaterschaftstest falsch sein? Seufzend vergrub ich den Kopf in den Händen. Ich konnte nur hoffen, dass Ajani und Tianna bald zurückkommen würden, damit ich endlich die Wahrheit erfuhr.
»Denkst du …?«, setzte Henri an, denn bisher hatte sich keiner von uns getraut, es laut auszusprechen, geschweige denn es auch nur zu laut zu denken. Doch auch jetzt kam Henri nicht dazu, denn Ajani und Tianna hatten sich ausgerechnet diesen Moment ausgesucht, um zurückzukehren. Sie schlossen die Tür hinter sich und betraten mit raschen Schritten das Zimmer, beide einen ernsten Ausdruck auf dem Gesicht.
»Setz dich«, bat Tianna ihren Neffen, und Henri ließ sich zurück auf das Yogakissen sinken. »Wir haben nicht viel Zeit. Sobald Kouri Ash bei den Morgans abgeliefert hat, werden sie wissen, dass Caroline hier ist. Uns bleibt höchstens eine halbe Stunde, um euch auf den neuesten Stand zu bringen und eine Lösung zu finden.«
»Eine Lösung wofür?«, fragte ich lauter als beabsichtigt, doch ich hasste es, wie ein kleines Kind behandelt und ständig im Dunkeln gelassen zu werden.
»Du bist eine von uns«, begann Tianna.
»Das sagtest du bereits, aber was genau bedeutet das?«, fragte Henri, der mindestens ebenso ungeduldig war wie ich.
Tianna warf ihm einen strafenden Blick zu, den sie sich bei mir verkniffen hatte. »Das bedeutet, dass Caroline zur Hälfte eine Lecourt ist. Der blutrote Anhänger kam mir gleich so bekannt vor.« Sie wandte sich direkt an mich. »Ich habe bei der Aktivierungszeremonie nicht nur den Moment deiner Geburt gesehen, ich habe auch die Magie meiner verstorbenen Schwester Sophie gespürt. Es besteht kein Zweifel daran, dass du Sophies Tochter und damit eine halbe Lecourt bist. Wie auch immer das möglich ist.«
»Aber …?« Ich hatte es mir fast gedacht, denn was sonst hätten die Worte Du bist eine von uns bedeuten sollen? Trotzdem war ich völlig verwirrt. »Brian Merlin hat gesagt, ich sei die Tochter von ihm und seiner verstorbenen Frau Tara. Warum hätte er lügen sollen? Oder bedeutet das, dass Brian auch nicht mein Vater ist?«
»Er ist dein Vater.« Tianna sah Ajani, der sich auffallend ruhig verhielt, ebenso tadelnd an wie zuvor Henri.
Ich versuchte, die Bedeutung der Worte und die daraus entstandenen Konsequenzen zu verstehen, während Henri vehement den Kopf schüttelte. »Tante Sophie und Brian Merlin? Das kann nicht sein, es muss sich um einen Irrtum handeln.«
»Ich wünschte, es wäre so«, mischte sich nun Ajani ein und sah mich an. »Ich selbst habe Sophie und Brian damals geholfen, dich auf die Welt und an einen sicheren Ort zu bringen. Wir wussten, dass es dein Todesurteil bedeuten würde, sollten die Merlins jemals von deiner Existenz erfahren. Brian ist zwar George Merlins Schwiegersohn, aber in seinen Adern fließt dennoch reines Merlinblut. Über ein paar Ecken ist er auch mit seinem Schwiegervater verwandt. Deshalb durfte niemand von dem Kind wissen«, fügte er entschuldigend an Tianna hinzu. »Ich musste dich und alle anderen in dem Glauben lassen, es sei mit Sophie gestorben. Es geschah zu Carolines Schutz.«
»Aber …« Ich schluckte. Meine Hände begannen zu zittern, und ich hielt meine Unterarme fest umklammert, um sie daran zu hindern. Die Prophezeiung kam mir in den Sinn. Merlins Prophezeiung. Ich hatte nur noch Bruchstücke davon im Ohr, doch das genügte. Und als hätte Ajani meine Gedanken gelesen, sagte er die Strophen, die ich erst kurz zuvor gehört hatte, erneut auf:
»Ein Kind, mächtig und gefahrvoll, der beiden größten Stämme Spross, beschenkt mit Kräften übervoll, einst freigesetzt, wüt’ Todes Ross.
Wenn fünfmal zehn der Eltern Zahl, vom heut’gen Tage an, erblickten Mondes Lichte fahl, nichts sie mehr halten kann.
Im Streite ungeschlagen Vaters Stamm, ertönet dann fataler Schall vom Ufer hoch zu Sieges Damm, der Tochter Feuer verrät all.
Verfolgt von Kreuzes Macht, Väter vergießen Söhne Kraft, Bruder Bruder töt’ in Zwietracht, sodann end’t dero Vorherrschaft.
Von den alten Stämmen zwei, die teilten sich die Welt, wird besteh’n nur einerlei, wenn einst das Urteil fällt.«
Ein Kind, mächtig und gefahrvoll, der beiden größten Stämme Spross … Ich glaubte nicht an Prophezeiungen, trotzdem bekam ich es mit der Angst zu tun, denn die Morgans und Merlins taten es. Ich schluckte erneut. »Aber wenn ich zur Hälfte eine Merlin und zur Hälfte eine Lecourt bin, dann … dann …«
Ajani nickte. »Dann bist du das Kind aus Merlins Prophezeiung, das es eigentlich nicht geben dürfte, weil sich die Morgans und Merlins geschworen haben, es niemals Teil dieser Welt sein zu lassen.«
Mehrere Gedanken rasten gleichzeitig durch meinen Kopf, rauf und runter wie auf einer Achterbahn. Wenn ich zum Teil von den Lecourts abstammte, floss durch meine Adern nicht nur herkömmliche, sondern auch Voodoomagie. Und dann war ich auf irgendeine Weise mit Henri verwandt. Wenn das alles der Wahrheit entsprach, gehörten die Morgans ganz offensichtlich nicht zu den beiden mächtigsten Clans Londons. Was bedeutete das für Ash? Und für uns? Hatten wir womöglich doch eine Chance auf eine Zukunft? Die Gefahr, Ash und ich könnten dieses mächtige Kind bekommen, war gebannt. Doch der Gedanke an Ash und mich raste gleich wieder in die Tiefe, denn wenn ich das Kind aus der Prophezeiung war, vor dem sich alle so sehr fürchteten, würden die Merlins mich erst recht bis zum bitteren Ende jagen. Bisher hatte immerhin die (wenn auch sehr geringe) Wahrscheinlichkeit bestanden, sie zur Vernunft bringen zu können. Eine Schwangerschaft konnte doch heute im Gegensatz zu damals tatsächlich ziemlich einfach verhindert und im schlimmsten Fall sogar abgebrochen werden, aber ich existierte bereits. Es gab kein Zurück mehr. Und wenn man an die Prophezeiung glaubte, konnte man auch glauben, dass sie sich bereits erfüllte. Ajani hatte gesagt, die Aktivierung meiner Magie habe ganz London erschüttert und womöglich sogar die Maleficarier auf den Plan gerufen. Beschenkt mit Kräften übervoll, einst freigesetzt, wüt’ Todes Ross … Und später hieß es: Verfolgt von Kreuzes Macht …
Mein Blick wanderte zum Lecourt-Oberhaupt, und ich spannte mich an. Glaubte er an die Prophezeiung, die Merlin vor so vielen Hundert Jahren gemacht und damit mein Leben ruiniert hatte? Inzwischen war ich mir selbst nicht mehr so sicher, was ich glauben sollte. Wüt’ Todes Ross. Vor allem diese Worte ließen mich nicht mehr los. War Ash das erste Opfer? Bitte nicht.
Ajani schenkte mir so etwas wie ein Lächeln, als schien er erneut meine Gedanken erraten zu haben. »Keine Sorge, ich glaube nicht an die Prophezeiung, sonst hätte ich deinen Eltern damals wohl kaum geholfen, dein Leben zu retten.« Unwillkürlich fragte ich mich, ob er auch heute noch bereit war, für mein Leben zu kämpfen. Doch bevor ich den Mut aufbringen konnte, ihn danach zu fragen, sagte er: »Wir werden dich vor den Merlins und auch vor den Morgans beschützen. Dennoch kannst du nicht hierbleiben. Wenn die Clans wissen, wo du dich aufhältst, wird es für sie nur umso leichter werden, dir etwas anzutun. Das verstehst du doch, oder?«
Ich nickte. Trotzdem blieb die Frage, wo ich mich stattdessen verstecken sollte. Kurz verspürte ich den Drang, mich einfach in einen Zug zu setzen und London sowie der magischen Welt den Rücken zu kehren, doch so gern ich diesen übermächtigen Wunsch einfach in die Tat umgesetzt hätte, so wusste ich auch, dass es keine Dauerlösung war. Meine Magie war inzwischen vielleicht aktiviert, aber das änderte rein gar nichts. Die Clans würden mich nicht in Ruhe lassen, und ich wollte nicht mein ganzes Leben lang in Angst und auf der Flucht verbringen. »Ich werde schon einen Unterschlupf finden«, sagte ich und rappelte mich erneut auf. Da war ich endlich Teil einer Familie, zweier sogar, und war dennoch auf mich allein gestellt. Die Lecourts waren nicht besser als die Merlins. Vielleicht trachteten sie mir nicht selbst nach dem Leben, aber sie rissen sich auch nicht gerade ein Bein aus, um es zu schützen.
Ajani stand ebenfalls auf und sagte zu meiner Überraschung und Erleichterung: »Henri wird dich begleiten. Wir bleiben in Kontakt, und morgen überlegen wir weiter.«
Henri nickte. »Lass uns einen Zug raus aus der Stadt nehmen und irgendwo ein Hotel suchen.«
»Megans Eltern haben nicht weit von hier entfernt ein Landhaus. Sie hat es mir angeboten.«
Ajani schüttelte den Kopf. »Denkt an den Stromausfall. Auf Londons Bahnhöfen wird nach wie vor Chaos herrschen, außerdem sollte deine Freundin nicht wissen, wo du bist. Die Merlins werden zuallererst versuchen, deinen Aufenthaltsort von ihr zu erfahren.«
Ich schluckte und fischte das Handy aus meiner Tasche. »Ich muss sie warnen. Megan ist meine beste Freundin. Ihr darf nichts geschehen.«
Ajani nahm mir das Handy aus der Hand und schaltete es aus, bevor er es mir zurückgab. »Wenn du es benutzt oder auch nur eingeschaltet hast, kann man dich orten. Nehmt zu niemandem Kontakt auf, und mach dir keine Sorgen um deine Freundin. Ihr wird nichts geschehen. Die Merlins werden mithilfe eines Zaubers oder Tranks versuchen, die Wahrheit aus ihr herauszubekommen, und sie ansonsten in Ruhe lassen. Die Merlins wollen zwar deinen Tod, aber sie sind keine Mörder, so paradox das klingen mag.«
In meinen Augen waren sie sehr wohl Mörder, denn sie hatten bisher nicht nur unzählige unschuldige Mädchen umgebracht, sondern auch den Hexenmeister. Und sie waren mir auf den Fersen. Aber ich schluckte meinen Einwand hinunter; für solche Diskussionen war jetzt keine Zeit. »Also ein Hotel in der Nähe.«
Ajani holte sein Portemonnaie aus der Hosentasche und reichte seinem Sohn einige Pfundnoten. »Nehmt ein Luxushotel, da werden sie euch am wenigsten vermuten. Zahlt bar, und checkt unter keinen Umständen unter euren richtigen Namen ein. Gebt vor, irgendwelche Internetstars zu sein, die ihren Fans aus dem Weg gehen wollen, oder winkt mit etwas Geld. Und wenn alles nichts hilft, sucht euch ein anderes Hotel. Die Merlins sind Magier, aber sie sind nicht blöd. Wenn sie euch ohne Magie finden können, werden sie es tun.«
»Papa Ajani …« Tiannas Stimme klang flehentlich, und meine Gedanken zu der merkwürdigen Ansprache lösten sich sofort in Luft auf, denn auch mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Ich kam mir vor wie die Hauptfigur in einem Thriller.
»Du weißt, dass sie hier nicht sicher ist.« Ajani strich Tianna über den Arm und wandte sich dann wieder seinem Sohn und mir zu. »Noch Fragen?«
Ich nickte. Vielleicht erschien es in Anbetracht der Umstände nicht wichtig, aber für mich, die ich nie eine Familie gehabt hatte, war es das. »Wenn Tianna sowohl meine als auch Henris Tante ist – sind wir dann Cousin und Cousine?«
Ajani lächelte. »Um ein paar Ecken. Henris Mutter war die Cousine deiner Großmutter. Meine verstorbene Frau hat sehr früh ihre Eltern verloren. Sie ist als Tiannas und Sophies Schwester aufgewachsen, aber eigentlich war sie ihre Großcousine.« Ich versuchte noch, das Familiengeflecht zu entwirren, als Ajani mit einem Grinsen hinzufügte: »Du und Henri seid stammbaummäßig weit genug voneinander entfernt, um offiziell heiraten zu dürfen.«
Henri riss die Augen auf und lief knallrot an. »Ist gut, Vater. Wir machen uns dann jetzt auf den Weg.«
»Wartet bitte noch einen Moment.«
Tianna eilte aus dem Zimmer, und ich hörte sie im Raum nebenan, doch bevor ich mich fragen konnte, worauf wir warten sollten, kehrte sie auch schon wieder zurück. In der Hand hielt sie eine Fotografie, die sie mir reichte. Darauf war eine Frau zu sehen, noch recht jung und mit dunklen Locken. Sie war wunderschön und schien glücklich zu sein. In einem weißen Kleid saß sie auf einer Sommerwiese voller Klatschmohn, lachend und das Gesicht der untergehenden Sonne zugewandt. Um den Hals trug sie einen blutroten Anhänger an einer Silberkette, und am Hals hatte sie einen Leberfleck. An genau der gleichen Stelle wie ich. Augenblicklich spürte ich ein Band zwischen uns, obwohl ich sie nie kennengelernt hatte.
»Meine Mutter«, sagte ich leise.
Tianna nickte. »Das ist Sophie. Das Bild wurde in dem Sommer aufgenommen, in dem sie sich in Brian Merlin verliebte. Auch wenn ich damals nicht wusste, dass Brian der Mann war, in den sie so vernarrt gewesen war. Sie hat ein großes Geheimnis daraus gemacht. Jetzt ist mir auch klar, warum.«
»Sie sieht glücklich aus«, murmelte ich, meine Augen immer noch auf das Foto geheftet. Ich wollte jedes Detail an meiner Mutter wahrnehmen, mir einprägen.
»Das war sie auch. Sie hat immer gute Laune versprüht.« Ein Schatten legte sich auf Tiannas Gesicht. »Ich wusste nur, dass sie schwanger war, aber im Gegensatz zu ihr hatte ich damals keine Ahnung von der Prophezeiung und all dem. Trotzdem war sie voller Zuversicht gewesen. Wenn sie wüsste, was die Merlins dir antun wollen …«
»Es wird Zeit, ihr solltet los«, sagte Ajani.
Ich nickte, doch mein Blick war weiterhin auf das Foto gerichtet. Ich wollte nicht gehen, ich wollte hierbleiben und mehr über meine Mutter erfahren. Aus der Zeit, in der sie meinen Vater kennengelernt hatte, wie sie als Kind und Jugendliche gewesen war. Und ich wollte mehr von Tianna erfahren, die mir auf Anhieb sympathisch gewesen war. Je länger ich die Fotografie betrachtete, desto mehr Ähnlichkeiten erkannte ich zwischen ihr und meiner Mutter, aber auch zwischen ihr und mir. Schließlich wandte ich seufzend den Blick ab und wollte ihr das Foto reichen, doch Tianna schob meine Hand zurück.
»Behalte es. Wenn wir etwas mehr Zeit haben, erzähle ich dir von Sophie. Versprochen.«
Sorgsam verstaute ich das Foto in meiner Tasche. »Danke, Tianna.« Wir lächelten uns an.
»Ich will nicht drängen, aber ich schätze, wir sollten uns beeilen. Kouri ist schon mindestens zwanzig Minuten fort«, bemerkte Henri, der zwischenzeitlich das Zimmer verlassen hatte und nun mit einer kleinen Reisetasche in der Hand zurückkehrte.
Tianna nickte. »Nur eins noch.« Sie hängte mir die Kette wieder um den Hals und legte den Ring meines Vaters in meine Handfläche. Dann zog sie mich ohne Vorwarnung in ihre Arme. »Willkommen in der Familie, Caroline.«
Ash hörte Stimmen. Zuerst wie aus der Ferne, doch dann immer klarer. Viele Stimmen. Bekannte Stimmen. Er riss die Augen auf und wollte sich aufsetzen, doch sein Vater drückte ihn zurück auf das Sofa. Das braune Ledersofa im Haupthaus der Morgans. Wo war Caroline? Und was machte er auf dem Anwesen seiner Familie? Nun gab es für ihn kein Halten mehr, er schoss mitdem Oberkörper nach oben. Eine Welle von Übelkeit erfasste ihn, seineOrgane fühlten sich an, als würde jemand sie wie einen Schwamm zusammendrücken und auswringen wollen. Jetzt wusste er auch, warum sein Vater ihn zuvor daran gehindert hatte, sich aufzusetzen. Vorsichtig ließ er sich zurück in die liegende Position helfen und zwang sich, ein paar ruhige, gleichmäßige Atemzüge zu tun. So schlecht hatte er sich noch nie gefühlt, nicht einmal bei der Blinddarmentzündung vor sieben Jahren, wo beinahe jede Hilfe zu spät gekommen war. Als hätte ihn jemand durch den Fleischwolf gedreht.
»Wo ist Caroline?«, fragte er, dieses Mal nicht nur in Gedanken. Seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen.
»Das wüssten wir alle gern«, murmelte sein Vater, ohne den Blick von seiner Arbeit zu nehmen.
Was tat er da eigentlich? Es sah so aus, als würde er Ash so etwas wie Wadenwickel machen, nur amganzen Körper. Jemand hatte ihn bis auf die Boxershorts ausgezogen. Was zum Teufel war passiert? Ash ließ den Blick durch den Salon schweifen, in der Hoffnung, eine Antwort auf seine nicht gestellte Fragezu bekommen. Ein Teil seiner Familie war anwesend, ebenso ein Teil der Merlins. Von dem erbitterten Streit, den sich die Clans erst kurz zuvor geliefert hatten, war nichts mehr zu spüren – und auch nichts mehr zu sehen. Keine zerbrochenen Vasen oder Fensterscheiben, keine kaputten Möbel oder zerrissenen Vorhänge. Nichts deutete auf das hin, was hier vor wenigen Stunden passiert war. Nichts außer den ernsten Gesichtern der Clanmitglieder, wobei seine Familie auch irgendwie geschockt wirkte. Und da entdeckte er ein Gesicht, das eigentlich nicht hierher gehörte. Das kantige Gesicht von Kouri Lecourt, Henris älterem Bruder und rechte Hand des Lecourt-Oberhaupts.
»Was …?«, setzte Ash an, doch sein Vater bedeutete ihm, still zu sein.
»Gleich«, formte er tonlos mit den Lippen.
Ash blickte erneut zu seiner Familie, auch wenn ihm das Drehen des Kopfes immer schwerer fiel.
»Was soll das bedeuten, Caroline ist eine halbe Lecourt?«, fragte seine Tante May in diesem Moment an Kouri gewandt. »Das kann nicht sein. Das ist völlig unmöglich.«
Kouri schien noch größer zu werden, als er mit seinen ein Meter neunzig ohnehin schon war, als er mit stolz geschwellter Brust antwortete: »Wenn ich es euch doch sage. Caroline stammt zur Hälfte von den Merlins und zur anderen Hälfte von unserem Clan ab. Fragt Brian Merlin danach, er wird es euch bestätigen.«
Es wurde so leise in dem Salon, dass Ash seinen rasselnden Atem überdeutlich hören konnte. May Morgan und George Merlin starrten sich an. »Das kann nicht sein«, wiederholte May. »Wenn fünfmal zehn der Eltern Zahl …So heißt es in der Prophezeiung. Ash und Caroline sind die fünfzigste Generation, oder etwa nicht?« Sie wirbelte erneut zu George Merlin herum, der nickte.
»Jared ist unsere fünfzigste Generation, also muss Caroline es auch sein.«
Kouri zuckte mit den Schultern. »Es tut mir leid, vielleicht habt ihr euch verzählt. Meine Tante Sophie jedenfalls war in der fünfzigsten Generation, als sie vor etwa neunzehn Jahren schwanger wurde.«
»Verzählt?«, schrie Meredith. »Verzählt? Willst du mir sagen, meine einzige Tochter ist umsonst gestorben?«
George brachte Meredith mit einer Handbewegung zum Schweigen, während sich May mit beiden Händen durchs Gesicht fuhr. »Das darf nicht wahr sein. Wenn Caroline das Kind aus der Prophezeiung ist … Das ändert alles.«
Oh ja, es änderteeinfach alles, doch Ash konnte nicht weiter darüber nachdenken, denner brauchte alle verbliebene Kraft und Konzentration, um nicht erneutvon der Dunkelheit verschlungen zu werden.
»Das erklärt zumindest das Erdbeben und Carolines ungeheure Macht«, bemerkte George und schüttelte den Kopf. »Wie konntet ihr so unvernünftig sein, ihre Magie zu aktivieren? Was mischt ihr euch überhaupt in unsere Clanangelegenheiten ein?«
»Es ist durchaus auch unsere Angelegenheit«, erwiderte Kouri ruhig, doch seine Stimme war auch jetzt nicht ohne Stolz.Hochmut kommt vor dem Fall,hätte er ebenso gut sagen können. »Ganz offensichtlich sind die Lecourts zusammen mit den Merlins die beiden mächtigen Clans, von denen in der Prophezeiung die Rede ist.«
Garry verschränkte die Arme vor der Brust. »Im Leben nicht. Euer Voodooclan soll stärkersein als unserer?« Kouri sagte nichts dazu, erwiderte Garrys finsteren Blick aber.
»Im Streite ungeschlagen Vaters Stamm«, murmelte Meredith, die keinen Zweifel an Kouris Worten zu haben schien. »Wenn Caroline das Kind ausder Prophezeiung und Brian der Vater ist, würde das jabedeuten, dass unser Clan der mächtigste ist. Weil die Morgans diesen dämlichen Wettstreit vor so vielen Jahrhunderten gewonnen haben, dachten wir, sie wären der mächtigste Clan und würden den Vater des Kindes stellen. Aber dem ist gar nicht so. Wir haben uns nicht nur mit der Generation vertan. Wir sind auch der mächtigste Clan und stellen nicht wie bisher angenommen die Mutter, sondern den Vater … Oh mein Gott, Fred. Unsere Tochter. Unsere einzige Tochter. Von ihr ging keinerlei Gefahr aus. Sie ist umsonst gestorben.« Ihr Mann konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie in Ohnmacht fiel.
George biss die Zähne zusammen, doch dann ging er auf Kouri zu. »Wo ist sie? Wo steckt das Mädchen?« Er schnippte mit den Fingern. »Alice, ruf deinen Sohn an und sag ihm, er und die anderen sollen die Gegend rund um das Lecourt-Anwesen absuchen und im Auge behalten.« Die blonde Frau nickte und verließ mit dem Handy in der Hand den Salon.
»Sie ist nicht mehr bei uns«, erklärte Kouri. »Ich soll euch von Papa Ajani ausrichten, dass er keinen Krieg will. Meine Tante hat Carolines Magie aktiviert, ohne zu wissen, was sie tat und ohne Rücksprache mit unserem Hungan zu halten.«
»Das ist wahr«, sagte Ash. Seine Stimme war kaum hörbar, und dennoch drehten sich alle zu ihm herum. Er wusste selbst nicht, warum er sich in diese Situation einmischte, doch Henri war nach wie vor sein Freund. Er wollte nicht, dass die Lecourts Ärger bekamen. Immerhin hatte Tianna ohne Rücksicht auf die Konsequenzen Carolines Leben gerettet, und dafür würde er ihr auf ewig dankbar sein.
»Du hältst den Mund, zu dir kommen wir später«, fuhr George ihn an, dann wandte er sich wieder an Kouri. »Und warum ist euer Oberhaupt nicht selbst hergekommen?«
»Caroline ist wie gesagt direkt nach der Zeremonie abgehauen«, antwortete Kouri. »Papa Ajani versucht, etwas aus meiner Tante herauszubekommen. Vielleicht hat sie ihr bei der Flucht geholfen. Aber er möchte sich morgen mit euch treffen, um alles Weitere zu besprechen. Wie ihr wisst, hat sich unser Clan bisher aus offensichtlichen Gründen nicht für die Prophezeiung interessiert. Immerhin hat uns niemand für mächtig genug gehalten, um einer der beiden Clans aus der Prophezeiung zu sein, aber nun betrifft sie uns ebenso wie euch.«
»Was gibt es da noch zu besprechen?«, fragte George schroff. »Die Sache ist klar, das Mädchen muss weg. Jetzt erst recht.«
»Das sieht Papa Ajani ebenso, aber er findet, wir sollten das Ganze inRuhe durchdenken und einen Plan ausarbeiten. Heute Nacht ist genug geschehen, was die Maleficarier aufmerksam gemacht haben könnte. Das möchte er gern in Zukunft vermeiden.«
George wedelte mit der Hand, seine Gesichtszüge noch griesgrämiger als sonst. »Also gut. Sag deinem Oberhaupt, wir erwarten ihn morgen Vormittag um zehn Uhr auf unserem Anwesen.«
»Warte«, sagte May, als Kouri sich abwenden und gehen wollte. »Was ist mit meinem Neffen? Ihr habt sein Leben aufs Spiel gesetzt.«
Kouri sah hinüber zu Ash, ihre Blicke trafen sich. Nicht zum ersten Mal fragte Ash sich, wie Kouri mit seinem besten Freund verwandt sein konnte. Die Ähnlichkeit zwischen den Brüdern und ihrem Vater war zwar nicht zu übersehen, aber das war auch alles, was Henri mit seinem älteren Bruder gemein hatte. Kouri hatte nicht Henris Herzlichkeit,seine Offenheit, auch wenn er in diesem Moment ehrlich betroffenaussah. Doch bei Ashs Anblick war das wenig verwunderlich. Er wusste, dass er ein Häufchen Elend abgab. Halb nackt und schweißgebadet lag er da auf dem kalten Ledersofa und versuchte krampfhaft, das Zittern seines Körpers zu verhindern, was ihm immer weniger gelang.
»Es tut uns furchtbar leid, es war gewiss nicht Tiannas Absicht, Ash zu verletzen. Das müsst ihr uns glauben. Tianna stand während der Aktivierungszeremonie unter Trance. Sie hatte keinen Einfluss auf die Geschehnisse, und Ash wollte auf sein eigenes Risiko an der Zeremonie teilnehmen. Meine Tante hat alles versucht, um ihn zu heilen, aber es lag nicht in ihrer Hand.«
May seufzte, vermutlich weil sie wusste, dass Kouri die Wahrheit sagte. Dass Ash auf eigenes Risiko an der Zeremonie hatte teilnehmen wollen, klang ganz nach ihm, das konnte sie nicht leugnen. »Na schön, sag deinem Oberhaupt, von der Seite der Morgans ist alles in Ordnung, sollte Ash das Ganze überleben. Wenn nicht …« Sie ließ die Drohung offen im Raum schwingen.
Wenn nicht …Ash spürte, dass diese Worte alles andere als abwegig waren. Wenn er doch nur Caroline noch einmal sehen könnte. Zu gern hätte er Kouri etwas für sie mit auf den Weg gegeben, denn er wusste, dass zumindest Henri Caroline niemals im Stich lassen würde. Doch er konnte nicht. Er brachte keinen Ton heraus.
»Das scheint mir fair.« Kouri nickte und verließ eilig den Salon.
Maywandte sich an ihre Schwester, Ashs Mutter. »Begleite ihn hinaus, und danach lass bitte Brian Merlin hochbringen.« Samantha nickte und folgte Kouri Lecourt aus dem Salon. »Das ist doch in deinem Sinne, oder?«, wandte sich May an George.
»Natürlich. Ich möchte wissen, ob der Lecourt-Junge die Wahrheit gesagt hat.«
Wieder herrschte Schweigen, nur Meredith war zu hören, die inzwischenaus ihrer Ohnmacht erwacht war und bitterlich weinte. Ashs Augen fielen zu. Er versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Kouri hatte die Wahrheit gesagt, daran bestand für ihn kein Zweifel. Warum sonst sollten sich die Lecourts in die Probleme und Streitereien der Clans einmischen, wenn es dazu keinen Grund gab? Der Voodooclan hielt sichgern aus diesen Dingen heraus, aber wenn er Teil derProphezeiung war, ging das nicht mehr. Aber hatte Kouri auch die Wahrheit gesagt, was Papa Ajanis Einstellung zu Caroline anging? Würden die Merlins jetzt zusammen mit den Lecourts Jagd auf Caroline machen? Und was bedeutete das alles für ihn und Caroline? Ash übersah etwas, das stand für ihn außer Frage, aber er konnte einfach keinen klaren Gedanken fassen. Sie schwirrten in seinem Kopf herum wie Gewitterfliegen und verursachten ein ähnliches Durcheinander. Doch im Grunde wusste Ash, dass das nicht das Problem war. Er stand auf der Schwelle zwischen Leben und Tod. Was auch immer mit ihm bei Carolines Magieaktivierung passiert war, es raubte ihm jede Energie und fügte ihm Schmerzen zu, sobald er sich bewegen wollte.
»Wie sieht es aus?«, hörte er May fragen, und er wusste, dass es um ihn ging.
»Das wird schon wieder«, antwortete sein Vater, der Ashs letzte noch verbliebene Hautstelle mit einem warmen Wickel verband. »Ash ist ein zäher Bursche, er packt das.«
Doch die Tonlage seines Vaters sagte etwas anderes. Es stand ernst um Ash. Er spürte selbst, wie jede Faser seines Körpers ums Überleben rang.Carolines Magie wütete in ihm, bereit, ihn von innen herauszu zerstören, sobald er aufhörte, dagegen anzukämpfen. Und er wusste, dass er nicht mehr lange aushalten würde. Er hatte nicht Carolines Kraft, nicht ihr Durchhaltevermögen. Er war lange nicht so stark, wie alle immer annahmen.
»Wie steht es wirklich um ihn, Richard?«, fragte May. Ihre Stimme klang näher, vermutlich stand sie nun direkt vor Ash, aber er hatte nicht mehr die Kraft, um die Augen noch einmal zu öffnen und sich zu vergewissern.
Sein Vater schwieg einen Moment, schließlich stieß er ein Seufzen aus, das eigentlich alles sagte. »Nicht gut, er ist extrem schwach. Wenn er diese Nacht überlebt, hat er gute Chancen, aber …«
Ash wollte es schaffen, er wollte es wirklich. Und wenn er es nur tat, um Caroline noch einmal küssen zu können.
Caroline. Wie es ihr wohl ging? Wo sie wohl war? Immerhin lebte sie, und das war vorerst alles, was für ihn zählte. Mit diesem Gedanken rutschte Ash erneut in die Bewusstlosigkeit.
In dem einen Moment saß ich noch hinter Henri auf seinem Motorrad, die Arme um seine Taille geschlungen, im nächsten Moment wurde mir schwindelig, und ich befand mich auf einmal auf dem Anwesen der Morgans. Dieses Mal war mir sofort klar, dass mich mein Vater an seinen Erlebnissen teilhaben ließ. Neben dem Schwindel fühlte ich auch unendliche Erleichterung. Mein Vater lebte, und es schien ihm zumindest halbwegs gut zu gehen, wenn er die Kraft hatte, mir diese Vision zu schicken. Ich klammerte mich noch fester an Henri, um nicht vom Motorrad zu fallen, denn er raste ziemlich schnell durch die nach wie vor überfüllten Straßen Londons. Nur langsam lichtete sich das Chaos, das der von den Clans verursachte Stromausfall ausgelöst hatte. Der Fahrtwind blies mir ins Gesicht, während ich mich voll und ganz auf die Bilder konzentrierte, die ich dank meines Vaters mit ansehen konnte.
In diesem Augenblick wurde er die schmale, steile Treppe aus dem Kerker nach oben geführt. Seine eigene Familie hatte tatsächlich zugelassen, dass er in seinem Zustand in das muffige Verlies gesperrt worden war? Zum Glück war ich nur eine halbe Merlin und gehörte auch zu den Lecourts. Ich spürte immer noch ein mir völlig unbekanntes Gefühl der Zugehörigkeit, wenn ich an den Moment dachte, in dem Tianna mich in ihre Arme geschlossen und in der Familie willkommen geheißen hatte. Ich mochte sie, und ich wünschte, sie hätte mir die ganze Nacht von meiner verstorbenen Mutter erzählen können. Hoffentlich würden wir Gelegenheit haben, das nachzuholen.
»Brian. Wie geht es dir?«, fragte May höflich, als mein Dad zusammen mit Samantha Morgan den Salon betrat.
»Wie soll es mir schon gehen?«, erwiderte mein Vater.
Seine Stimme war schwach, und ich zuckte zusammen. Zu gern hätte ich ihn gesehen. Wie ging es ihm wirklich? Hatte sich jemand um seine Wunde gekümmert?
Sein Blick wanderte durch den Raum, und ich nahm mit ihm zusammen jedes Detail wahr. Nur wenige der Clanmitglieder waren anwesend, der Streit zwischen ihnen schien vergessen zu sein. May, Samantha, Garry und Richard Morgan auf der einen Seite; George, Alice und Meredith Merlin, die sich mit geröteten Augen an einen Mann klammerte, dessen Namen ich nicht kannte, auf der anderen. Und mein Vater natürlich. Der Rest der Clans war vermutlich ausgeströmt, um nach mir zu suchen. Ein Schauer lief mir über den Rücken, und ich war für den Bruchteil einer Sekunde versucht, mich auf der Straße umzusehen, ob uns auch niemand folgte, doch ich hielt die Augen fest geschlossen, denn ich wollte keinen Moment auf dem Anwesen der Morgans verpassen. In diesem Augenblick fiel der Blick meines Vaters auf Ash, und mein Herz setzte für einige Schläge aus. Immer noch regungslos lag er auf dem Sofa. Sein gesamter Körper war in Mullbinden gehüllt. Warum war er nach wie vor ohne Bewusstsein? Und warum stand seine Familie hier herum, anstatt ihm zu helfen?
»Was ist mit eurem Jungen passiert?«, fragte mein Vater und wandte den Blick nur ganz kurz zu May, als wüsste er, dass ich ganz bei Ash bleiben wollte.
»Deine Tochter ist passiert«, antwortete May. »Sie ist stärker, als sie sein sollte, und das weißt du. Sie ist das Mädchen, das es nicht geben dürfte.«
»Ich weiß nicht, wovon …«
»Es reicht«, fuhr George meinen Vater an. »Verkauf uns nicht für dumm. Sie ist hier, oder? Das Mädchen sieht uns zu.« George trat näher an Brian heran, seine stechend blauen Augen zu Schlitzen verengt. Es war, als würde er mich direkt ansehen, als er zwischen zusammengebissenen Zähnen sagte: »Wir kriegen dich, verlass dich drauf. Du wirst uns nicht entkommen.«
Brian trat einen Schritt zurück und brach den Blickkontakt ab. »Es reicht, Caroline ist nicht hier. Ich habe im Moment überhaupt nicht die Kraft, ihr Visionen zu schicken, weil ihr mich lieber in ein Verlies sperrt, anstatt einen Arzt zu holen.«
»Wir haben dich verarztet«, erwiderte George, »und lenk nicht vom Thema ab. Kouri Lecourt war hier und hat uns die Wahrheit gesagt, die du uns eigentlich längst hättest sagen sollen. Sophie Lecourt, ernsthaft? Wie konntest du dich mit der Frau eines anderen Clans einlassen? Und dann auch noch des Voodooclans? Durch deine Adern fließt reines Merlinblut, hast du das vergessen? Wegen einer dummen Liebelei alles zu riskieren …«
Brian seufzte. »Das war keine Liebelei. Ich habe Sophie geliebt, schon immer. Wenn sie keine Lecourt gewesen wäre …«
Alice sog scharf die Luft ein. »Wie konntest du das Tara nur antun? Wusste meine Schwester etwa davon?«
»Sie hat es geahnt«, erwiderte mein Vater leise, als schämte er sich vor mir. »Wir hatten unsere Probleme. Erst die Fehlgeburten, dann endlich das Unfassbare: Tara wurde schwanger und hat einen Jungen erwartet, doch wir haben auch ihn bei der Geburt verloren. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das mit einem macht. Wir haben uns schon vorher entfremdet, und unser Sohn bot uns die Chance, noch einmal zusammenzufinden. Doch mit seinem Tod zog Tara sich immer mehr zurück, ich kam nicht mehr an sie heran. Wir standen mehrfach davor, uns zu trennen, und wenn sie am Ende nicht krank geworden wäre …«
»Ich verstehe das«, sagte Meredith mit zitternder Stimme. »Es ist ohnehin ein großes Glück, ein gesundes Kind auf die Welt zu bringen, und wenn einem dann noch die eigene Familie verbietet, ein Mädchen zu bekommen …«
»Aus gutem Grund«, brüllte George fast. »Du spürst gerade am eigenen Leib, was das für Konsequenzen hat.«
»Eben nicht«, brüllte Meredith zurück. »Es gab keinen Grund, mein Kind umzubringen. Mein Mädchen, mein armes Mädchen.«
Schluchzend sank sie auf die Knie, doch George beachtete sie gar nicht. Mit zittrigen Händen fuhr er sich durch die grauen Haare. Hatte er etwa Angst? Vor mir? Aber er hatte gerade erst bewiesen, wie viel stärker als ich er war. Vielleicht war ich entkommen, aber nur, weil mir die Morgans unfreiwillig dabei geholfen hatten, indem sie George attackiert hatten. »Ich verstehe immer noch nicht, wie du dich mit Sophie Lecourt einlassen konntest, Brian«, fuhr er fort. »Und das nicht nur, weil Tara meine Tochter war. Wie kam es überhaupt dazu? Ich meine, eine Lecourt … Wir haben uns von denen immer ferngehalten.«
»Du vielleicht.« Das Bild verwackelte, als Brian sich auf einem Stuhl an dem langen Esstisch niederließ. »Ich war schon zu Jugendzeiten in Sophie verliebt, aber aufgrund der Prophezeiung haben wir nicht zueinandergefunden, dabei wusste sie nicht einmal davon. Trotzdem hat es nicht mehr als einen Kuss zwischen uns gegeben.« Er seufzte. »Mein Vater hat uns erwischt und mir die Leviten gelesen. Nachdem ich ihm versprochen habe, mich von Sophie fernzuhalten, hat er mir versprochen, es für sich zu behalten. Doch nachdem er starb und Tara und ich immer mehr auseinanderdrifteten … Tara wollte die Trennung auf Probe, und ich war allein auf Haiti. Sophie war zu der Zeit auch dort, ihre Familie besuchen.«
Mein Vater schwieg einige Sekunden, als schwelgte er in Erinnerungen. Zu gern hätte ich diese mit ihm geteilt, und tatsächlich zogen plötzlich Momente vor meinem inneren Auge an mir vorbei, die ich selbst nie erlebt hatte. Ich zuckte zusammen, als ich ein Mädchen erblickte – kein Kind mehr, aber auch noch keine Frau –, das mir mit seinen dunklen Locken zum Verwechseln ähnlich sah. Wie in einen Strudel wurde ich mitten in die Erinnerungen gezogen.
Neben Sophie steht ein Brian, der zwar noch sehr jung, aber an den haselnussbraunen Haaren und Augen dennoch auf Anhieb zu erkennen ist. Es ist schon dunkel, doch die taghelle Stadt erhellt die Gesichter der beiden. Brian nimmt Sophie bei der Hand und zieht sie weiter, hinein in eine enge Gasse. Dort stehen sie sich gegenüber, zuerst ein wenig schüchtern. Sophie lächelt, und Brian lächelt zurück. Prüfend drückt er ihr einen Kuss direkt auf den Mund. Sie lächelt immer noch, und nun wird er mutiger. Er zieht sie an sich, eine Hand auf ihrem Rücken, die andere an ihrem Hinterkopf, und küsst sie erneut. Sie erwidert den Kuss,stellt sich auf die Zehenspitzen, um ihm noch näher zu sein. Im nächsten Moment taucht ein Mann in der Gasse auf, schreit die beiden an und zieht sie auseinander. Brian sieht erschrocken aus, Sophieweiß nicht, wie ihr geschieht. Sprachlos beobachtet sie, wie der Mann Brian aus der Gasse schiebt, weg von ihr.
Die Gasse wirbelt im Kreis herum, im nächsten Moment steht Brian in einer Kirche und steckt einer blonden Frau einen Ring an den Finger. Sie küssen sich, und die Gäste applaudieren. Die Kirche verschwindet, stattdessen steht das Paar in einem Schlafzimmer und schreit sich an. Dann dasselbe Schlafzimmer, doch ein anderer Tag, ein anderes Jahr. Dieses Mal schreien sie nicht, aber sie sehen ebenso traurig aus. Die blonde Frau sitzt auf dem Bett, Tränen in den Augen. Sie sagt etwas, ohne Brian dabei anzusehen. Er nickt und verlässt das Zimmer, verlässt seine Frau.
Brian steht an einem Strand mit türkisblauem Wasser und Palmen, im Hintergrund die Berge. Mit der Hand schirmt erdie Augen vor der Sonne ab, den Blick auf eine nun ältere Sophie im gelben Bikini gerichtet. Sie sitzt mit anderen Frauen zusammen und lacht. Plötzlich hebt sie den Blick, als spürte sie Brians Augen auf sich. Sie sieht überrascht aus, doch ihr Lächeln vertieft sich, und auch Brian sieht zum ersten Mal seit Langem wieder glücklich aus.
Brian und Sophie am selben Strand, später nun. Der Mond ist bereits aufgegangen. Sie liegen im goldgelben Sand und küssen sich. Im nächsten Moment befinden sie sich auf einer Sommerwiese voller Klatschmohn, einen Picknickkorb neben sich. Brian kniet im Gras, er hält eine Kamera in der Hand. Er sagt etwas zu Sophie, und sie lacht, die Augen geschlossen und das Gesicht der untergehenden Sonne zugewandt, die gerade noch als ganzer Ball am Horizont zu sehen ist. Der blutrote Anhänger um ihren Hals fängt die Sonne ein und funkelt wie ein Rubin. Brian drückt auf den Auslöser, legt die Kamera beiseite und krabbelt auf allen vieren auf Sophie zu. Sie lacht immer noch, doch dann formen seine Lippen ein »Ich liebe dich«. Aus Sophies Lachen wird ein liebevoller Blick. Sie legt Brian eine Hand auf die Wange, küsst ihn und lässt sich mit ihm ins Gras sinken.
Brian ist zurück in dem Schlafzimmer, zurück bei der blonden Frau. Wieder hat sie Tränen in den Augen, doch dieses Mal sieht sie nicht traurig aus. Sie hält ihm ein Ultraschallbild entgegen, auf dem oben in der Ecke »It’s a boy« steht. Erwartungsvoll betrachtet sie ihn, und er nickt, ebenfalls Tränen in den Augen. Anstatt das Zimmer zu verlassen, lässt er sie zurück in sein Herz.
Brian und die blonde Frau sind in einem hellen Raum, ein halbes Dutzend Leute um sie herum. Ein Mann in einem weißen Kittel schüttelt den Kopf, ein kleines lebloses Bündel auf dem Arm. Die Frau schreit und schlägt um sich, Ärzte müssen sie festhalten und ihr ein Beruhigungsmittel spritzen, während Brian hilflos danebensteht.
Sophie liegt in einem Bett in einem abgedunkelten Zimmer. Die Bettwäsche ist weiß, ebenso ihr Nachthemd, und sie ist sehr blass. Der blutrote Anhänger um ihren Hals bildet den einzigen Farbklecks. Sie hat die Augen geschlossen und sieht friedlich aus. Brian stürzt auf sie zu, nimmt ihre Hand in seine und rüttelt sie, doch sie rührt sich nicht. Ajani, ein Baby auf dem Arm, das kaum größer ist als eine Puppe, legt ihm eine Hand auf die Schulter und redet auf ihn ein. Brian wischt sich Tränen aus den Augen, denen lautlos weitere folgen, und streicht Sophie ein letztes Mal über die Wange, bevor er aufsteht und sich Ajani zuwendet. Er betrachtet das Baby, und sein Blick wird liebevoll. Vorsichtig nimmt er es in seine Arme, wiegt es und drückt ihm einen Kuss auf den dunklen Lockenkopf.
Die Bilder verschwammen vor meinen Augen. Ich war zurück in der Gegenwart und konnte nur mit Mühe ein Schluchzen verhindern. Mein Vater schüttelte den Kopf und strich sich über die Augen. »Meine Gefühle für Sophie flammten erneut auf, und auch sie hat mich nie vergessen«, fuhr er erschöpft fort. »Wir verbrachten einen wundervollen Sommer zusammen, und als ich nach London zurückkehrte, um mich von Tara scheiden zu lassen, offenbarte Tara mir, dass sie erneut schwanger sei und einen Jungen erwarte. Ich beendete die Sache mit Sophie, obwohl ich sie wirklich geliebt habe, aber ich hatte nun mal Tara das Jawort gegeben und wollte uns diese letzte Chance auf Glück nicht nehmen. Doch dann starb der Junge, Tara zog sich mehr denn je in ihr Schneckenhaus zurück, und auch Sophie ließ kurz darauf bei der Geburt unserer Tochter ihr Leben. Ich wusste nicht einmal, dass sie schwanger war. Sie hat es mir nicht gesagt.« Eine Weile hatte ich nur die Tischplatte aus poliertem Ahornholz vor mir, doch nun blickte Brian (und ich mit ihm) jedem Anwesenden in diesem Salon in die Augen. »Caroline war alles, was ich noch hatte. Ich konnte sie nicht umbringen, Prophezeiung hin oder her. Ich konnte es nicht. Versteht ihr das nicht?«
Einen Moment herrschte Betroffenheit, und nun konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich war weiß Gott nicht die einzige Merlin, die sich unfair behandelt fühlte und der die Chance auf Glück versagt wurde. Mein Vater und meine Mutter, Meredith und Tara … Diese Prophezeiung hatte nicht nur mein, sondern viele Leben zerstört. Zu viele.
May war es schließlich, die als Erste das Wort ergriff. »Ich will dich nicht verurteilen, Brian, denn zum Glück waren es nicht meine Familienmitglieder, die ihre Kinder nicht bekommen und großziehen durften. Aber das hättest du nicht tun dürfen. Du hättest uns zumindest die Wahrheit sagen müssen, als du die Chance dazu hattest.«
»Damit ihr Caroline an Ort und Stelle umbringt? Ich habe sie nicht nach dem Tod ihrer Mutter an einen sicheren Ort gebracht und das Geheimnis ihrer Existenz gewahrt, damit ihr sie jetzt kaltblütig ermordet.« Die Stimme meines Dads hatte nicht so viel Nachdruck, wie man bei diesen Worten vermuten würde. Es ging ihm nicht gut, das hörte ich. Ebenso wie es Ash nicht gut ging, doch keiner schien sich um die beiden zu kümmern oder zu sorgen. Sie waren alle nur auf Rache aus.
George schlug sich gegen die Stirn. »Jetzt verstehe ich auch, warum du Jared verteidigt hast. Du wusstest, dass der Junge immer wieder versagen und es nicht schaffen würde, das Mädchen umzubringen.«
»Ich hatte es gehofft«, gab mein Vater zu. »Die Chancen standen auf jeden Fall besser, als wenn du jemand anders für die Aufgabe eingesetzt hättest.«
»Ich fasse es nicht.« Ashs Mutter schüttelte den Kopf, die Arme vor der Brust verschränkt. »Das Ganze geschieht zu einem höheren Wohl, Brian Merlin, aber das scheinst du nicht zu verstehen.«
Wie konnte selbst sie so ruhig und hart bleiben, wo ihr Sohn augenscheinlich um sein Leben rang? Ich hatte keinen Zweifel daran, dass sie ihren Kindern das Leben genommen hätte, wäre die Wahl damals bei dem Wettstreit auf die Morgans und nicht auf die Merlins gefallen. Aber vielleicht war ich auch unfair und dieses Leben mit der Prophezeiung hatte sie so hart werden lassen.
»Auf jeden Fall muss er bestraft werden«, forderte Garry Morgan. »Sophie Lecourt können wir ja nicht mehr zur Rechenschaft ziehen.«
»Wir kümmern uns um Brians Strafe, da könnt ihr euch sicher sein«, sagte George entschlossen.
»Aber er ist einer von euch«, setzte Garry an. »Ihr –«
»Nein«, unterbrach May ihn. »Unser Clan zieht sich ab sofort zurück.«
»Bitte was? May, das können wir nicht tun. Du kannst sie doch nicht so einfach davonkommen lassen.« Garry war nicht der Einzige, der mit Mays Entschluss nicht einverstanden zu sein schien, denn auch Ashs Eltern blickten verständnislos. Doch May blieb bei ihrer Entscheidung.
»Ganz offensichtlich gehören die Morgans nicht zu den beiden mächtigsten Clans Londons. Damit betrifft uns die Prophezeiung nicht mehr.«
»Aber May«, begann nun auch George. »Du kannst doch nicht einfach …«
»Ich kann, und ich werde«, erwiderte May mit fester Stimme. »Und nun verlasst bitte Peony Hall.«
»Caroline? Ist alles okay?«
Es dauerte einen Moment, bis ich zurück in der Wirklichkeit landete und Henris Stimme hörte. Er hatte das Motorrad vor einem Luxushotel zum Stehen gebracht, an dem ich schon oft vorbeigelaufen war, in dem ich mir eine Nacht aber nicht einmal ansatzweise hätte leisten können. Schnell wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und nickte.
»Was ist los?«, fragte Henri ernst.
Ich stieß die Luft aus. »Mein Vater. Er hat mich an seinen Erinnerungen mit Sophie teilhaben lassen. Außerdem halten die Clans ihn gefangen, und Ash ist immer noch bewusstlos. Ich mache mir Sorgen. Es sah nicht so aus, als würde seine Familie ihm wirklich helfen.«
»Mach dir keinen Kopf, Caroline. Man muss die Morgans nicht mögen, das tue ich auch nicht, aber wenn sie Ash helfen können, werden sie es tun.« Er strich mir über den Arm. »Und deinem Dad geht es gut?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Er hat ganz schön was durchgemacht. Schwer zu sagen, wie es mit seinen Verletzungen aussieht. Ihn selbst sehe ich ja während dieser Visionen nicht, aber er wirkte schwach und erschöpft. Ich muss ihm helfen, Henri. Ich muss ihn da rausholen. Sie wollen ihn bestrafen. Noch ist er auf Peony Hall. Wenn wir uns beeilen …«
Ich wollte wieder aufs Motorrad steigen, doch Henri griff nach meiner Hand. »Caroline, bitte. Ich verstehe dich, er ist dein Vater, aber du kannst im Moment nichts für ihn tun. In der ganzen Stadt wimmelt es von Magiern, die dir nach dem Leben trachten, und auf Peony Hall ist es nicht besser. Außerdem bist du ebenso erschöpft wie dein Vater. So kannst du ihm nicht helfen.«
»Aber ich muss es zumindest versuchen. Er ist mein Dad, Henri. Was würdest du tun?«
Er lächelte traurig und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Du bist neben Ash der sturste Mensch, den ich kenne. Trotzdem kann ich dir das nicht erlauben.«
»Ich brauche deine Erlaubnis nicht«, sagte ich scharf. »Und ich brauche auch deine Hilfe nicht.« Das war nicht wahr, das wusste ich. Selbst mit Henri an meiner Seite standen meine Chancen schlecht, und allein hatte ich erst gar keine. Da brauchte ich mir nichts vorzumachen. Ich hatte kaum Erfahrung, meine Kräfte nach wie vor nicht unter Kontrolle, und zudem fühlte ich mich wie schon mal gegessen und wieder ausgespuckt. Keine guten Voraussetzungen. Obwohl ich es besser wusste, machte ich auf dem Absatz kehrt und wollte zurück nach Kensington, zurück zu Ash und meinem Dad.
»Caroline, es tut mir leid«, sagte Henri. Er griff nach meiner Hand und wirbelte mich zu sich herum. »So war das nicht gemeint, aber dein Vater hat dich nicht jahrelang beschützt und ist dieses Risiko eingegangen, damit du jetzt so leichtsinnig dein Leben für ihn aufs Spiel setzt. Das würde er nicht wollen und ich auch nicht. Ich mache mir Sorgen um dich, verstehst du? Ich will dich nicht verlieren. Du hast dich vielleicht für Ash entschieden, und offenbar sind wir sogar auf entfernte Art miteinander verwandt, aber das ändert nichts an meinen Gefühlen für dich.« Die ganze Zeit über sah er mir fest in die Augen, auch wenn es ihm nicht leichtzufallen schien.
Nicht nur seine Worte brachten mich zum Wanken, auch mein Kreislauf spielte schon wieder verrückt. Ich hatte gehofft, mit der Aktivierung meiner Magie hätte das Ganze endlich ein Ende, doch ich schien tatsächlich erschöpfter zu sein, als mir lieb war. Henri stützte mich, indem er mir einen Arm um die Taille legte.
»Na komm, wir sind hier draußen nicht sicher. Lass uns reingehen, du ruhst dich aus, und morgen sehen wir weiter.«
Widerwillig ließ ich mich von Henri ins Foyer des Luxushotels bringen.