Coatlicue - Margarethe Alb - E-Book

Coatlicue E-Book

Margarethe Alb

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Beschreibung

Janus Schlingmann hat es beinahe geschafft. Er ist einer der führenden Experten, wenn es um die Deutung und Zuordnung von Ouroboroi, den antiken Schlangenkreisen, geht. Schon seine erste Forschungsarbeit wäre ein Erfolg geworden, wenn seine damalige Freundin Brigid nicht die Veröffentlichung verhindert hätte. Janus ist längst darüber hinweg, als er nach Peru berufen wird, um am Oberlauf des Amazonas eine ungewöhnliche Darstellung eines Schlangenkreises zu begutachten. Wieder ist es dabei Brigid, die ihre Hände im Spiel hat und wieder macht sie ihm einen Strich durch die Rechnung seiner Karriere. Aber was ihn da nach der Landung in Lima erwartet, hätte er sich niemals träumen lassen. Plötzlich gerät der so abgeklärte Wissenschaftler in den Sog einer Welt, an die zu glauben er sich nie gestattet hätte. Aber. VORSICHT! Wenn Ihr euch, warum auch immer, vor Kriechtieren, speziell vor Nattern, Ottern, Vipern oder sogar den gutmütigen Anakondas fürchtet, eventuell sogar Ekel empfindet, dann lasst gefälligst die Finger von diesem Buch. In dieser Ausgabe findet sich- an den Roman angestellt- eine Kurzgeschichte über gemeuchelte Dinosaurier. Vielleicht sind es aber auch nur Zeichnungen von Dinos. Oder so. Lasst Euch überraschen! Bücher aus Margarethes Feder: Rynestig-Reihe: Teil 1 Wolfsmohn Teil 2 Veilchenherbst Teil 3 Eiseswärme Teil 4 Flittermond Teil 5 Fliederherz Teil 6 Hexenkraut Band 1-3, 4-5 und 6+Flammenhaupt sind auch als Sammelbände erhältlich Fortführung der Rynestig-Bücher, aber für sich lesbar: Fliederblütenregen; Fernweh + Der Dschinn im Spiegel (Teil 7a+7b) Coatlicue (Teil 8) Einzelbücher, aber mit bekannten Charakteren: Glitzertanne, ein Adventskalender Glitzerstaub, ein Weihnachtswunderbuch Margarethes Menagerie der Drachen, Kinderbuch Flammenhaupt, zwei Kurzgruseleyen Anthologien: Weihnachtszauber Aetherseelen Arbeitsbericht des Bundesamtes für magische Wesen: Migration, Heimat und Herkunft

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Janus Schlingmann hat es beinahe geschafft. Er ist einer der führenden Experten, wenn es um die Deutung und Zuordnung von Ouroboroi, den antiken Schlangenkreisen, geht. Schon seine erste Forschungsarbeit wäre ein Erfolg geworden, wenn seine damalige Freundin Brigid nicht die Veröffentlichung verhindert hätte. Janus ist längst darüber hinweg, als er nach Peru berufen wird, um am Oberlauf des Amazonas eine ungewöhnliche Darstellung eines Schlangenkreises zu begutachten. Wieder ist es dabei Brigid, die ihre Hände im Spiel hat und wieder macht sie ihm einen Strich durch die Rechnung seiner Karriere. Aber was ihn da nach der Landung in Lima erwartet, hätte er sich niemals träumen lassen. Plötzlich gerät der so abgeklärte Wissenschaftler in den Sog einer Welt, an die zu glauben er sich nie gestattet hätte.

Aber…. VORSICHT! Wenn Ihr euch, warum auch immer, vor Kriechtieren, speziell vor Nattern, Ottern, Vipern oder sogar den gutmütigen Anakondas fürchtet, eventuell sogar Ekel empfindet, dann lasst gefälligst die Finger von diesem Buch.

Inhalt

Magische erste Worte

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

Bonusgeschichte: Kopflos

Und noch mehr Magisches

1.

2.

Magische erste Worte

Coatlicue ist anders. Natürlich reiht es sich in die Geschichten ein, welche mit der Rynestig-Reihe ihren Anfang nahmen und mit Syringas Fliederblütenregen fortgeführt wurden. Aber trotzdem ist es ein eigenes Abenteuer, welches Jan erlebt. Schon lange habe ich den Traum gehabt, einen Abenteuerroman zu schreiben. Insofern liegt hier eines meiner Herzensprojekte vor Euch.

Ich bin glücklich, Janus, Brigid und viele der Wesen aus den vorhergehenden Büchern mit auf die Reise schicken zu dürfen.

Aber, wie im Klappentext schon erwähnt, VORSICHT ist geboten!

Wenn Ihr euch, warum auch immer, vor Kriechtieren, speziell vor Nattern, Ottern, Vipern oder sogar den gutmütigen Anakondas fürchtet, eventuell sogar Ekel empfindet, dann lasst gefälligst die Finger von diesem Buch.

Wer sich aber traut, diese Seite umzublättern, dem wünsche ich viel Vergnügen beim Eintauchen in die Magie der lateinamerikanischen Welt aus Mythen. Sagen und einer Maus, wie sie noch kein Mensch jemals zuvor zu sehen bekommen hat.

Eure

Margarethe Alb.

1.

Er spürte, wie die Unruhe immer weiter von ihm Besitz ergriff. Stinksauer, wie er war, hätte er besser an einem Boxkampf teilnehmen sollen, als hier zu sein. Warum musste es eigentlich immer wieder ihn erwischen? Was hatte er verbrochen, dass ausgerechnet er in diese Wasserlache hatte fallen müssen? Sein Karma war eindeutig unter die Verräter einzuordnen.

Nicht zum ersten Mal verfluchte Doktor Janus Schlingmann sein Ungeschick und die immer lauernde Tollpatschigkeit, die ihn bereits sein Leben lang begleiteten.

Und zu guter Letzt war er auch noch hier eingesperrt. Für zwölf lange Stunden steckte er in dieser schrecklich lauten, schaukelnden Todesfalle fest.

Einmal, nur ein einziges Mal, wäre es angebracht gewesen, wenn sich seine angeborene Ungeschicklichkeit verkrümelt hätte.

Hätte, hätte Fahrradkette.

Jan legte seufzend den Gurt über seinem Schoß zusammen und ließ den Verschluss einrasten. Obwohl er sich geschworen hatte, sich nie wieder auf Ausgrabungen, welcher Art auch immer, einzulassen, befand er sich nun auf dem Weg ausgerechnet nach Peru. Irgendwo in der Wildnis zwischen dem Hochland der Anden und dem Regenwald des Amazonas würde ausgerechnet die hochnäsige Biologieprofessorin Brigid Vibora auf ihn warten.

Allein beim Gedanken an die blonde Vipernexpertin kam ihm die Galle hoch. Vielleicht lag es allerdings auch daran, dass das vermaledeite Flugzeug gerade verflixt steil vom Boden abhob.

Mussten die eigentlich immer so steil starten? Jan schluckte und wandte seine Gedanken wieder sichereren Gefilden, wie seinem Hass auf die Vibora, zu.

Er war beileibe kein nachtragender Mann, aber es gab Dinge, die konnte man einfach nicht vergeben. Und der Verrat Brigids wog nun einmal schwerer als alles andere.

Sie konnte noch so sehr behaupten, dass damals alles nur zu seinem besten gelaufen wäre. Das verfluchte Weib hatte ihm seine grenzgeniale Forschungsarbeit und damit eine atemberaubende Veröffentlichung versaut. Es hätte seinen Durchbruch in die Reihen der angesehensten Wissenschaftler seines Gebietes sein sollen. Aber nein, Frau Professor hatte es vorgezogen, ihm alles zu versauen.

Jan lehnte sich zurück und versuchte den Lärm des startenden Flugzeuges auszublenden.

Oh ja, Brigid Vibora war ein Miststück der ganz besonderen Art.

In Gedanken reiste Jan zurück in die Mensa der Universität. Er war schon immer ein Einzelgänger gewesen. Nicht, dass er dieses Schicksal freiwillig auf sich genommen hätte, irgendwie mieden ihn viele Menschen. Von klein auf hatte er beobachtet, wie der Platz neben ihm im Klassenzimmer leer blieb oder Fußgänger die Straßenseite wechselten, wenn Jan vorüberging.

Dafür, dass er die meiste Zeit seiner Kindheit in Heimen und Internaten verbracht hatte, war er außergewöhnlich einsam geblieben.

Nicht, dass er von sich aus die Gesellschaft der berüchtigten Partyanimals gesucht hätte, aber so ein Freund, mit welchem man seine Sorgen hätte teilen können, wäre schon nett gewesen.

Das hatte sich an der Uni geändert. Schon in seiner ersten Woche war ihm aufgefallen, dass die Strukturen hier völlig verschieden zu denen der Internate waren. Es gab natürlich die Gruppen der Feierwütigen. Aber eben auch jene, die für ihre Themen brannten und freiwillig die Bibliotheken bevölkerten oder sich für Projekte eintrugen.

Jan war überglücklich gewesen, als er den ersehnten Studienplatz ergattert hatte. Er liebte Geschichte. Und Geschichten. Und das weite Feld der Archäologie.

Von Kindesbeinen an hatte er alles verschlungen, was auch nur andeutungsweise etwas mit Forschungen und Ausgrabungen zu tun gehabt hatte.

Viele Jahre gab es dabei für ihn nur ein Idol. Na gut, genauer betrachtet war Indiana Jones nur oberflächlich dazu geeignet, als Vorbild herzuhalten, aber Jan hatte alle erreichbaren Bücher, zerschlissenen Heftchen und Filme unzählige Male verschlungen.

In seinen Träumen war er durch Dschungel gestreift um seltene Artefakte zu finden, hatte Wüsten durchquert und unzählige gefährliche Abenteuer durchlebt.

Und dann war da seine Leidenschaft für die so farbenfrohen nordischen Sagen um Odin und sein Gefolge. Und die Traumschlange der Australier.

Die Liste ließ sich beliebig fortsetzen, denn nicht nur die Sagen an sich, sondern sämtliche der mythischen Schlangen hatten es ihm angetan.

Jan verdrehte die Augen ob seiner nostalgischen Gedankengänge und griff nach dem Becher mit Wasser, den er soeben von der Stewardess entgegengenommen hatte.

Der Flieger hatte endlich seine Reisehöhe erreicht und glitt nun gleichmäßig brummend durch den zunehmend dunkler werdenden Abendhimmel. Zumindest war so der Plan.

Von wegen.

Jan wusste schon, warum er das Fliegen so verabscheute.

Es ruckelte und bebte, als sie eines dieser ekelhaften Luftlöcher durchflogen und die immer lauernde Tollpatschigkeit schlug mit der ihr eigenen, traumwandlerischen Sicherheit, zu.

Jan sparte es sich zu fluchen und wand sich aus dem weichen Tweedsakko. Zum Glück hatte er einen Platz am Gang erwischt und musste nicht auch noch permanent jemanden bitten, ihn hindurch zu lassen, wenn er sich die Beine vertreten oder eben trockene Sachen aus seinem Handgepäck klauben wollte. Die zerschlissene schwarze Tasche hatte sich bei dem sich wiederholenden Rucken natürlich im Gepäckfach verklemmt.

Jan zerrte kräftig daran, um diese zu befreien und natürlich riss dabei der Reißverschluss mit einem lauten Ratschen. Zwei Paar zusammengerollte Socken, ein Ordner und die Mappe mit Schreibzeug verteilten sich auf dem Gang.

Während er spürte, dass er wieder einmal knallrot anlief, lachten einige ungeschlachte Muskelprotze zwei Reihen vor ihm haltlos auf. Jan schloss kurz die Augen und zählte bis zehn.

Natürlich machten sich die Sportskanonen über ihn lustig. Das war immerhin schon sein ganzes Leben lang so. Die Kerle dort vorn sahen aus, als spielten sie Football oder zumindest Eishockey.

Typen wie Bäume eben, die nichts anderes als Gewalt, Gewichte zu stemmen und Cheerleader im Kopf hatten. Es fehlte nur noch, dass einer von ihnen auf den Boden spuckte, oder seine Muskeln unter einem dieser unsäglichen Tätowierungen aufreizend aggressiv spielen ließ.

Jan verfluchte Brigid innerlich wieder und wieder, während er seine Habseligkeiten notdürftig wieder verstaute und sich danach die Kopfhörer seines Smartphones in die Ohren steckte.

Brigid. Wie er die eindrucksvolle Professorin jemals als begehrenswert hatte einschätzen können, war ihm schleierhaft. Klar, die Blondine konnte mit traumhaften Kurven aufwarten und beherrschte einen Augenaufschlag zum Niederknien, aber ihre Seele schien kohlrabenschwarz zu sein. Jan ließ den Kopf gegen die Lehne seines Sitzes sinken.

Er hatte sich einige Male mit der Biologin getroffen und sich dabei, naiv wie er gewesen war, eingebildet, in ihr seine Seelenverwandte getroffen zu haben.

Sie verstanden sich vom ersten Augenblick an blendend. Es schien egal, ob sie sich in einem Bistro oder dem Planetarium trafen, ihnen ging niemals der Gesprächsstoff aus. Brigid war eine wahre Fundgrube an dem Wissen, nach dem es ihm so sehr dürstete. Niemals hatte er sich in ihrer Gegenwart als minderwertiger Mensch gefühlt. Sie hatte ihn geradezu behutsam an die Hand genommen und in die Freuden der Wissenschaft eingeführt.

Jan war dumm genug gewesen zu glauben, dass Brigid auch noch auf andere, als universitäre Weise, an ihm interessiert sein könnte.

Er zog die Kopfhörer aus den Ohren und hörte sein eigenes, bitteres Lachen. Sie war nicht anders als alle anderen Frauen, die er kennen gelernt hatte.

Hatte ihn von vorn bis hinten verarscht. Frau Professor Vibora hatte es nur darauf abgesehen gehabt, ihn zu demütigen.

Ein halbes Jahr hatte er an dem Aufsatz geschrieben, der ein völlig neues Bild auf die Darstellung von Nattern im Bildwerk der Inka werfen sollte. Die Schlangen, welche in den kalten und trockenen Monaten verschwanden und erst in der Zeit der Erneuerung, wenn im Oktober die ersten Regenfälle das ausgedörrte Land erweckten, wieder auftauchten. Die Tiere, welche als Zeichen der Erneuerung verehrt wurden aber doch so viel mehr darstellten. Quetzacoatl, die gefiederte Schlange, spielte eine ebenso wichtige Rolle in seiner Arbeit, wie die geheimnisvolle Coatlicue, ein Frauenwesen, welches in einen Rock aus ineinander verwobenen Schlangen gekleidet war. Und da war zu guter Letzt auch noch Amaru, die Riesenschlange, welche als Gott der Weisheit und des Wissens verehrt wurde.

Nicht zu vergessen, die unzähligen Zwischenaufgaben der Schlangengötter. Jan konnte bis heute tagelang darüber referieren. Aber hier ging es eben auch um seine allererste Arbeit. Jene, die Brigid Vibora so gefühllos komplett zerstört hatte, indem sie den Ordner auf das Geländer einer Bücke gelegt hatte. Bei Sturm. Und strömendem Regen.

Diese Arbeit, die sie mit ihren abwertenden, öffentlich geäußerten Worten danach so erfolgreich unglaubwürdig gemacht hatte.

Die Arbeit, deren Verlust dafür gesorgt hatte, dass er von der damals heiß ersehnten Expedition nach Brasilien ausgeschlossen worden war.

Natürlich war Jan in der Lage gewesen, das Papier zu rekonstruieren, aber bis dahin war es nun einmal zu spät gewesen. Und das nahm er ihr bis zum heutigen Tage übel. Nicht, dass er heute noch heiß darauf wäre, sich im tropischen Feld an Ausgrabungen zu versuchen, diese Phase seiner Arbeit hatte er glücklicherweise hinter sich gelassen.

Jan war ganz offensichtlich eher der Theoretiker. Ihn zog es nicht mehr nach draußen, um sich der Forschungen wegen die Sonne auf die empfindliche Haut scheinen oder die Kälte dieselbe erfrieren zu lassen. Das sollten die tun, die nur in völlig überteuerten Outdoorklamotten herumliefen und sogar an der Uni Schäufelchen und Pinsel in den Taschen mit sich trugen.

2.

Die Sportler vor ihm lachten auf. Trotz der späten Stunde spielten diese lauthals miteinander Karten und diskutierten jeden Spielzug leidenschaftlich aus. Da an Schlafen in dieser Höllenmaschine auch ohne den Lärm der Kerle nicht zu denken war, zog Jan seinen Laptop aus der weichen, ledernen Hülle. Zum Glück hatte er diese gleich beim Einsteigen auf dem freien Platz neben sich deponiert. Ein wenig Arbeit pflegte ihn immer abzulenken, wenn sein Gedankenkarussell ihn zu übermannen drohte.

„Ey, rutsch mal in die Mitte.“ Jan sah irritiert auf und zog die Augenbrauen zusammen. Einer der muskulösen Sportler stand im Gang neben ihm und starrte ihn auffordernd an. Für einen Muskelprotz war der Mann mit dem dunkelbraunen, kinnlang geschnittenen Haar und dem kleinen Kinnbart erstaunlich gut aussehend. Honigbraune Augen blitzten ihn voll von unterdrücktem Amüsement an.

Jan holte Luft und spürte, wie sein Nacken schmerzte. Ein schiefer Blick auf die Uhr am Bildschirmrand zeigte ihm an, dass er bereits seit Stunden arbeitete. Der Kerl hob auffordernd eine Augenbraue und Jan beschloss, nachzugeben. Er rutschte auf den Platz in der Mitte der Dreierreihe und versuchte dabei, die beleibte Dame, die am Fenster selig schlummerte, nicht zu wecken.

Der Muskelmann ließ sich ächzend in die enge Reihe sinken und reichte Jan eine suppentellergroße Pranke.

„Ich bin John. John Wallenburg.“

„Doktor Janus Schlingmann.“ John nickte.

„Ich brauche mal ein wenig Ruhe vor denen da vorn.“ Er deutete mit dem Kopf zu seinen Kollegen, die inzwischen dazu übergegangen waren, sich gegenseitig mit den Smartphones zu filmen.

„Und außerdem werde ich während der nächsten Woche an dir kleben wie eine Klette am Hundearsch.“

Wie bitte? Jan spürte, wie er die Augen aufriss und die Kinnlade fallen ließ. Irgendwie musste er da gerade etwas ganz gewaltig missverstanden haben. Der Muskelprotz grinste ihn frech an.

„Nun guck nicht so, Hänfling. Hast du etwa geglaubt, dass Brigid Vibora dich einfach so durch den Dschungel marschieren lässt? Bei deinem Hang zu Unfällen?“ Jetzt blieb ihm auch noch die Spucke weg.

„Was? Was bilden Sie sich ein, wer Sie sind?“ Dieser John kicherte.

„Ich sagte doch bereits, dass mein Name John Wallenburg ist und ich dich höchstpersönlich bei der Frau Professor abliefern werde. Du darfst mich gerne duzen. Dort vorn, “ er deutete auf seine blödelnden Kumpane, „sitzt eine Gruppe Männer, denen du jederzeit dein Leben anvertrauen kannst. Wir haben sowieso in der Gegend zu tun und da war es doch nur natürlich, Brigids Auftrag anzunehmen.“

Brigids Auftrag. Jan verschluckte sich, hustete und musste es sich gefallen lassen, dass John Wallenburg ihm gut gelaunt auf den Rücken klopfte. Kaum war er wieder in der Lage zu atmen, fuhr er herum.

„Ich pfeife auf ihren Schutz. Du kannst dich gleich auf den eigentlichen Grund deiner Reise konzentrieren. Auf mich wartet ein Team am Flughafen in der Nähe der Ausgrabungsstelle. Ich werde ja wohl noch in der Lage sein, in einen Geländewagen zu steigen, ohne mein Leben zu verlieren. Ihr könnt Frau Professor Vibora am besten gleich mitteilen, dass alles, was in ihrem Namen geschieht, unerwünscht ist.“ John lächelte nun nicht mehr, als er sich mit bedrohlich funkelnden Blicken über ihm aufbaute. Irgendwie schien der Hüne nun noch größer zu sein. Blanke Wut troff ihm aus allen Poren.

„Ich will dir mal was sagen, du Hänfling. Brigid Vibora ist eine der engsten Freundinnen meiner Frau. Und wenn Brigid meint, dass du Hilfe benötigst, dann bekommst du die auch. Du kannst sie annehmen und mir danken, oder musst akzeptieren, dass ich dich notfalls über die Schulter werfe und so bei ihr abliefere. Sie haben die Wahl, Herr Doktor.“

Jan ließ sich in seinen Sitz zurücksinken. Was zu Teufel hatte das nun wieder zu bedeuten?

Erst entschied der Forschungsrat in seiner Abwesenheit, ihn in diesen verhassten Urwald zu senden und jetzt verpasste die Vibora ihm auch noch eine Horde Steinzeitmenschen als Aufpasser? Konnte sein Leben denn eigentlich noch mehr den Bach heruntergehen? Jan atmete tief ein und schloss die Augen. Nur, weil in die einzige tiefe Pfütze auf dem gesamten Gelände gestolpert war, hatte er umkehren und sich umziehen müssen, als die Entscheidung des Rates gefallen war.

Vermutlich war es den hohen Herren nur zu klar gewesen, dass Jan sich geweigert hätte, den Auftrag zu übernehmen.

Wussten diese doch ganz genau, dass er in einigen Wochen zum jährlichen Kongress der sogenannten „Schlangenverrückten“ eingeladen war, um seine Forschungen zu den Mythen der Schlangenmenschen in den verschiedenen antiken Kulturen zu referieren. Diese Zwitterwesen, die, halb Mensch halb Schlange, in vielen Kulturen einen sagenhaften Stammplatz besaßen.

Irgendwie hatte es die aalglatte Professorin geschafft, ihn mit einer, vermutlich gefälschten, Darstellung eines Ouroboroi, einer Lebensschlange, die sich selber in den Schwanz biss, in den Dschungel zu locken. Na ja, vermutlich hatten ihm die Kollegen sogar einen Gefallen tun wollen, da sie über seine Leidenschaft zu dem Thema bestens im Bilde waren. Wie auch immer, nun musste er sich nicht nur mit der ungeliebten Feldarbeit in schweißtreibendem Klima, sondern auch noch dem Muskelberg neben ihm auseinandersetzen. Von der sehr wahrscheinlichen Anwesenheit der Vibora an der Grabungsstelle einmal abgesehen.

Jan beschloss, zumindest diesen John vorerst weitgehend zu ignorieren und einfach wortlos zu arbeiten bis es an der Zeit war, den Flieger zu verlassen.

3.

Das Leben war manchmal wirklich Mist. Jan fragte sich, womit er sich das alles verdient hatte. Sein Karma konnte doch nicht wirklich so eine Zicke sein. Wie gesagt, sie waren derzeit wirklich nicht befreundet. Also, sein Karma und er.

Warum sonst musste der geplante Anschlussflug von Lima nach Iquitos ausgerechnet wegen unerwarteter Regenfälle ausfallen? Nun saß er mit acht bis an die Zähne bewaffneten Kerlen in einem schäbigen Hotel am Rand der Stadt fest. John zog ihn an einen langen Tisch und zwang Jan allein mit Blicken, sich neben ihn zu setzen.

„Mach dir nichts draus Hänfling, Maria macht die besten Steaks der weiteren Umgebung.“ Während es Jan schlecht wurde, hieb ihm der Kerl, der sich ihm als Conrad vorgestellt hatte und die Gruppe offenbar anführte, zur Bestätigung kräftig auf den Rücken. „Iss was, du kannst es gebrauchen.“

Ja klar. Steaks.

Wenn möglich noch schön blutig? Jan verdrehte die Augen und schüttelte sich. Dem ach so männlichen Drang, Unmengen halbrohes Rind in sich hineinzuschieben, versuchte er bereits Zeit seines Lebens zu entgehen.

Die ältere Wirtin mit dem verwitterten, faltenreichen Gesicht reichte lächelnd einige laminierte, schmuddelige Karten an den Kreis der Männer. Nach nur einem Blick darauf drehte sich Jan der Magen um.

Fleisch. Noch mehr Fleisch.

Eigenartige Gemüsegerichte mit Fleischeinlage.

Suppen mit Fleisch.

Gesottenes Fleisch.

Jan drehte das Blatt um und atmete erleichtert auf. Die Rückseite der Speisekarte enthielt überwiegend simple Eierspeisen und sogar Geflügelgerichte. Er fuhr mit dem Finger die Zeilen hinab und deutete auf die frittierten Tauben.

Die Wirtin nickte und rief etwas in die Richtung der Küche, worauf eine mürrische Bedienung einfach einen großen Krug mit trübem Bier in die Mitte des Tisches schob und einige Becher aus unglasierter, aber farbenfroh bemalter, Keramik daneben stellte.

Bier.

Noch so eine Sache, mit der Jan nicht viel anfangen konnte. Sein Gaumen war schon sein Leben lang recht empfindlich gewesen und hatte ihn gezwungen, nur dünne oder gewürzte Biere zu trinken. Also vermied er das Zeug normalerweise.

Hier schien ihm aber keine andere Möglichkeit zu bleiben, denn John goss bereits alle Becher voll und schob diese schwungvoll seinen Freunden zu.

Noch bevor einer dieser vor Jan zum Halten kommen konnte, reichte die Wirtin ihm flink einen kleineren Krug, aus welchem es verführerisch duftete. Die alte Frau nickte ihm erwartungsvoll zu, als er ein wenig des heißen Trankes in seinen Becher füllte und probierte. Der reichhaltige, warme Eierpunsch ummantelte seine trockene Kehle wie eine Schicht aus feinstem Samt. Oder so ähnlich.

Verwundert schaute er sich um. Keiner seiner erzwungenen Begleiter schien sich an seinem Getränk zu stören. Sie bedienten sich selbstverständlich am Bier und scherzten laut. Irgendwie schienen sie sehr vertraut miteinander zu sein, ganz so, als wären sie eine große Familie. Da Jan vermutete, dass es sich um eine Gruppe Söldner handelte, war er sich sicher, dass die Männer wohl bereits einige Kämpfe miteinander überstanden haben mussten, um so eng miteinander verbunden zu wirken. Oder sie waren eben wirklich verwandt. Jan musterte die allesamt gut gebauten Kerle. Drei von ihnen wiesen wahrhaftig Ähnlichkeiten in den Gesichtszügen auf, konnten also wirklich Brüder oder eventuell Cousins sein. Aber dann waren da noch drei eindeutig arabisch wirkende Männer mit tiefschwarzen Haaren und Glutaugen sowie jeweils ein chinesisch stämmiger und afrikanischer Mann. Die letzten beiden Hünen waren wiederum eindeutig europäischer Abstammung, aber den drei Brüdern in ihren Zügen nicht ähnlich.

Die Wirtin stellte geschickt die bis zum Rand gefüllten Teller vor ihnen ab.

Jan hatte es ja so was von gewusst.

Riesige Steaks. Blutig. Ganz ohne Beilagen.

Einzig vor einem der Teller stand ein Tellerchen mit duftender Kräuterbutter, von welcher ein Kerl namens Clemens inzwischen ein großes Stück auf seinem Fleisch verteilte und schmelzen ließ.

Aber dann erschien endlich auch sein Teller vor ihm und das Wasser troff ihm förmlich in den Mund. Das im Öl frittierte Fleisch duftete verführerisch und statt Gemüse oder Brot beizulegen, hatte man ihm zusätzlich einige kleine Eier serviert. Jan griff zur Gabel und schob sich den ersten Bissen in den Mund.

Während er das butterzarte Fleisch genoss, schaute er sich um. Sie saßen an einem langen Tisch, der auf einer großen, überdachten Veranda stand, die von einem Geländer aus Treibholz begrenzt wurde. Der Regen rauschte draußen zur Erde, während unter dem Blechdach gespeist wurde. Außer der gestrandeten Gruppe Reisender hatten es sich auch einige Einheimische an der Tafel bequem gemacht und verputzten die verschiedensten Speisen.

Jan musste zugeben, dass seine Begleiter die Unterkunft nicht unklug gewählt hatten. Er hatte erst angezweifelt, dass es sehr schlau wäre, so weit vom Flughafen entfernt in ein einfaches Wirtshaus zu ziehen, aber dieses hier wies viele Vorteile auf.

Die Zimmer waren zwar klein, aber sauber und von außen zugänglich. Wie er selber schienen die Männer Wert darauf zu legen, jederzeit an die Luft zu können. Das Essen hatte sich als prima erwiesen und seit sehr langer Zeit hatte er erstmals wieder das Gefühl, sich wohl in seiner Haut zu fühlen. Hier war niemand steif und auf Äußerlichkeiten bedacht. Es interessierte keinen, dass er gerade einige Stellen von diesem hässlichen roten Ausschlag im Gesicht hatte, der regelmäßig dafür sorgte, dass sich seine Haut einige Tage später in Fetzen löste. Im Augenblick sah man zwar kaum etwas davon, aber oft war sich Jan der Blicke anderer nur zu bewusst. Kaum war sein Teller leer, erschien ein Schälchen vor seiner Nase, in welchem es wunderbar nach einer Eiercreme mit Vanille duftete. Irgendwie wurde der Abend zu einem der schönsten, den er seit langem hatte erleben dürfen.

Der Punsch, von dem er einige Becher getrunken hatte, war köstlich gewesen und sorgte nun für eine angenehme Bettschwere.

Jan zog sich in das kleine Doppelzimmer zurück.

John würde sich später zu ihm in das schmale Zimmerchen gesellen, aber vorerst leerten die Söldner noch einen weiteren Bierkrug und sangen schief, aber laut.

Akribisch wie immer sortierte er seine Sachen und genoss danach ausführlich das warme Wasser, welches aus dem Duschkopf in der engen Kabine kam.

4.

Die Welt schien in sich zusammenzufallen.

Wenn das kein Albtraum war, dann wusste er auch nicht weiter.

Jan schreckte hoch und griff nach der Wand, da sein Bett sich auch im wachen Zustand zu bewegen schien. Aber diese war verschwunden. Also, die Wand.

Das Bett befand sich nämlich plötzlich in der Mitte der Kammer, gleich neben dem Lager Johns. Jan richtete sich auf. Nicht nur seine Lagerstätte, die ganze Welt rüttelte sich und schwankte bedenklich. Ein lautes Knirschen zeigte an, dass er wohl schleunigst von hier verschwinden sollte.

Ein Erdbeben. Obermist.

Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Eine Explosion presste ihn zurück in die Kissen. Dreck rieselte auf ihn herab und er konnte plötzlich weder hören noch sehen. Staub drang in seine Lungen. Jan hustete und rieb seine Augen. Er versuchte, aus dem Bett zu krabbeln, fand sich aber nur zwischen Trümmern und von absoluter Dunkelheit umgeben, wieder. Dann sah er gleich neben sich zwei schwache Lichtpunkte glimmen und hörte es angriffslustig knurren. Ach herrje.

Ein riesiger Hund sprang auf ihn zu, biss ihm in den Arm und zerrte ihn aus den Überresten der Pension ins Freie.

Ein weiterer Erdstoß sorgte dafür, dass der Hund stolperte und der Kiefer nachgab. Jan verlor jeglichen Halt und stürzte einen Hang hinab.

Es ging weit hinunter.

Er hätte nie geglaubt, dass er in der Lage wäre, sich so eng zusammenzurollen, wie er es nun tat. Den Kopf so weit wie nur möglich vom Körper geschützt, ergab Janus sich seinem Schicksal. Irgendwie war er im verkehrten Film gelandet. Erst tauchten diese eigenartigen Bewacher auf, dann brach auch noch ein Erdbeben über genau diese Gegend herein.

Irgendwann spürte er, dass sein Körper zur Ruhe kam und sogar relativ sanft landete.

„Lebt er noch?“ Jemand schnüffelte an seinem Hinterteil. Hallo? An seinem Hintern gab es nichts zu schnuppern. Niemals.

Ein Hund knurrte und Jan fühlte, wie ihm zwei Finger an die Halsschlagader gedrückt wurden. Dann klatschte es und seine Wange brannte wie Feuer.

„Mach die Augen auf, Hänfling, wir müssen hier schleunigst verschwinden!“ Da konnte er nur zustimmen, fühlte sich allerdings nicht wirklich in der Lage, dem Befehl Johns Folge zu leisten.

„Los, mach schon!“ Jan vernahm aufgeregte Stimmen, die sich näherten und schlug mühsam die Augen auf. Drei der Muskelmänner standen über ihn gebeugt da und einige große Hunde umkreisten die Gruppe knurrend.

„Steh schon auf, beeil dich, wenn dir dein Dasein lieb ist.“ John zog Jan eilig auf die Füße und rannte los. Da dieser seine Hand fest um Jans Handgelenk geschlungen hatte, blieb diesem nichts anderes übrig, als ihm schnellen Schrittes zu folgen. Sie liefen durch die Dunkelheit, vorbei an schreienden Menschen und einstürzenden Häusern. Überall krachte und knirschte es beängstigend.

Einmal drohte sogar ein führerloses Auto sie zu überrollen, aber John zog Jan mit atemberaubender Geschwindigkeit auf die Seite. Irgendwann erreichten sie endlich unbebautes Land. Während auf einer Seite ihres Weges in der Ferne der aufgewühlte Ozean seine Gischt über die Felsen sprühte, stiegen auf der anderen Seite die Ausläufer der Anden steil an. Die rissige Straße wurde zunehmend schmaler und nach einer Biegung verengte diese sich zu einem Schotterweg, der sich zwischen Felsen und niedrigen Bäumen den Hang hinauf wandte. Der Morgen dämmerte bereits, als John endlich anhielt und sich vornüberbeugte, um nach Luft zu schnappen. Jan ließ sich gleich auf den Boden fallen. Er war sich sicher, niemals wieder aufstehen zu können. Geschweige denn zu atmen.

„Lass uns reingehen und um etwas zu trinken bitten, Hänfling.“ Wie John schon wieder in der Lage zu sprechen sein konnte, war Jan schleierhaft, aber er schaute erstmals auf und nahm das baufällige Gebäude direkt am Wegrand wahr.

Auch hier lag alles, was nicht niet- und nagelfest war, durcheinander herum. Ein aus Brettern gezimmerter Schuppen war zur Hälfte eingestürzt und einige Ziegen sprangen frohgemut frei umher. Das Türchen des zierlichen Vogelgatters, welches am Boden vor Jan lag, stand offen und ein leuchtend gelber Kanarienvogel hopste daneben sichtlich erfreut über die neue Freiheit, durch den Staub.

Noch bevor John die Haustür erreicht hatte flog diese auf und ein alter Mann mit einem dichten Wust an schlohweißem Haar, dass er zu einem unordentlichen Zopf gebunden hatte, stieß ihm die Mündung einer Schrotflinte vor die Nase.

Jan hielt, von reinstem Entsetzen gepackt, die Luft an. John hingegen schob einfach den Lauf beiseite und trat auf den Alten zu, dessen Augen sich verblüfft weiteten.

„Johannes! Was machst du denn hier? Solltest du nicht daheim bei der holden Syri sitzen und die Kinderschar hüten?“ John lachte laut auf, als er in eine feste Umarmung gezogen wurde.

„Schön wäre es, aber ich muss den Hänfling da, “ er deutete auf Jan, „zu Brigid Vibora bringen.“ Der Fremde blickte hinunter zu Jan und zog die Augenbrauen hoch, bis diese den Ansatz seiner wirren Haare erreichten. Dann löste er sich von John, trat zu Jan und hielt diesem breit grinsend eine schwielige Hand hin.

„Wenn der ungehobelte Hund es nicht tut, dann muss ich mich wohl selber vorstellen. Ich bin Pedro Yuraq. Das bedeutet der Weiße.“ „Janus Schlingmann.“

„Ah, der mit den zwei Gesichtern.“ Jan verdrehte die Augen. Nicht schon wieder. Er verfluchte seine ihm unbekannten Eltern zum wiederholten Male, das diese auf den Namen bestanden hatten, als sie ihn der Fürsorge überantwortet hatten.

„Kommt erst einmal vom Weg herunter. Nehmt mir das Durcheinander nicht übel, aber das Erdbeben hat ein wenig umgeräumt.“

Der große Raum, in welchen Pedro seine Gäste führte, wirkte sortierter, als zu erwarten gewesen war. Entweder war das Beben hier nicht so stark gewesen, oder der Indio hatte bereits gehörig aufgeräumt. Pedro bedeutete ihnen, sich am steinernen Spülstein den Staub aus den Gesichtern zu waschen und deckte währenddessen den Tisch.

„Trinkt etwas und berichtet dann. Sieht es schlimm aus?“ John ließ sich auf einen der aus rohen Ästen zusammengenagelten Stühle fallen und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas.

„Es schaut wirklich übel aus. Inwieweit Lima an sich betroffen ist, weiß ich noch nicht, aber Marias Cantina und das angrenzende Dorf sind so ziemlich hinüber.“

„Gibt es Tote zu beklagen?“ John zuckte mit den Schultern.

„Wir haben versucht zu retten, wen wir konnten, aber es steht leider zu vermuten, dass eine Menge Leute verschüttet worden ist.“ Pedro erhob sich und zog einen bunten, gewebten Poncho vom Haken hinter der Haustür.

„Gut. Dann werden sie jede helfende Hand benötigen. Entschuldigt mich, ich werde mich sofort den Helfern anschließen. Nehmt den Jeep und grüßt Brigid von mir.“ Pedro schenkte John ein schmallippiges Lächeln und nickte Jan zu. Dann verschwandt er eilends durch die Tür.

„Er überlässt uns sein Auto?“ John nickte.

„Hier ist es normal, einander zu helfen.“ Jan runzelte die Stirn.

„Und wie kommt er nun ins Dorf?“

„Mach dir darüber keine Gedanken, Hänfling. Mit dem Wagen käme er nicht weit, dazu ist zu viel Dreck auf die Straßen gerutscht. Außerdem bevorzugt Pedro seinen Klepper. Den Jeep hat er sowieso nur, um Futter für seinen Zoo anzuschleppen.“ In aller Seelenruhe ging John zu einem der chaotischen, aber aufrecht stehenden Bücherregale und zog eine der zerfledderten Schwarten heraus. Das Buch war ausgehöhlt worden und barg unter anderem den Schlüssel für den schwarzen, mit einer dicken Dreckkruste überzogenen Geländewagen vor dem Haus.

John bedeutete Jan, seinen Hintern zum Wagen zu begeben und einzusteigen. Er selber nahm auf dem Fahrersitz Platz und programmierte das erstaunlich moderne Navigationssystem. Jan hob erstaunt die Augenbrauen an. So etwas hätte er dem langhaarigen Indio nicht zugetraut. Eher einen altersschwachen Kompass und handgezeichnete Karten. Vielleicht.

„Sei immer schön vorsichtig bei dem, was du von anderen denkst, Hänfling. Der gute Pedro heißt nicht umsonst „Yuraq“, der Weiße. Kennst du die weißen Bildschirme?“ Es dauerte einen Augenblick, ehe Jan begriff.

„Pedro ist der Weiße? Der Hacker?“ Jeder kannte diese verflixten weißen Bildschirme, deren kaum ein Computergenie Herr wurde. An seiner Uni gab es eine einzige Frau, welche in diesem speziellen Notfall zu helfen im Stande war. Die gute Ida benötigte allerdings auch mindestens eine Nacht, um alle Daten wieder zugänglich zu machen. Und selbst dann blieben fast immer Reste der eingeschleusten Schadsoftware auf den Rechnern zurück. Was allerdings der Sinn der weißen Attacken war, darüber redeten die Experten sich seit Jahren die Köpfe heiß. Und dieser Indio sollte dafür verantwortlich zeichnen? Und warum genau weihte John ihn ausgerechnet in das Geheimnis Pedros ein? Jan versank in seinen Grübeleien. Als er aufsah, lief es ihm eiskalt über den Rücken.

„Warte, John. Da geht es nicht zurück nach Lima! Du fährst in die verkehrte Richtung!“ John gluckste.

„Was hast du denn geglaubt, Hänfling? Dass ich dich zurück ins Erdbebengebiet bringe?“ Ja, das hatte er sich eingebildet.

Immerhin befanden sich dort seine geliebten Aluminiumkisten mit der Ausrüstung und ohne seinen Rechner ging er sowieso nirgendwo hin. John zuckte mit den Schultern und lenkte den Jeep weiter ruhig den holprigen Weg entlang.

„Deinen Krempel kannst du nach dem Beben sowieso vergessen. Was nicht verschüttet wurde, ist vermutlich schon lange gestohlen. Aber Pedro hat dir etwas auf dem Rücksitz hinterlassen.“ Jan drehte den Kopf und entdeckte einen Laptop der neuesten Generation, sowie ein kleines Tablet. Er beugte sich zurück, schob den kleinen Computer beiseite und zog den matt glänzenden Laptop auf seinen Schoß. Schon beim Öffnen kam es ihm eigenartig vor, dass der Hintergrund sein eigener war. Das Bild der goldenen Schlange, die sich in die eigene Schwanzspitze biss, hatte er bei der Vorbereitung einer Vortragsreihe in einer der Öffentlichkeit unzugänglichen Sammlung aufgenommen. Als er sich durch die Ikons klickte stellte Jan zu seinem Erstaunen fest, dass alles da war. Sogar die Dateien, welche er im Flieger bearbeitet und noch gar nicht in den Cloudspeicher hochgeladen hatte. Dieser Pedro schien wirklich das Genie zu sein, vor dem sich die halbe Welt fürchtete.

„Woher wusste er, dass wir kommen?“ John schmunzelte, behielt aber die holprige Straße im Blick.

„Ich nehme an, dass Conrad ihm Bescheid gegeben hat, als er uns zu ihm schickte.“ Conrad? Ach ja, der Muskelprotz, dem sie augenscheinlich alle blind gehorchten. Offenbar hatten die Männer im Gegensatz zu Jan den Überblick behalten. Widerwillig gestand er ihnen ein gewisses Maß an Bewunderung zu.

„Wohin sind wir eigentlich jetzt unterwegs? Hat das dieser Conrad auch fest gelegt? Oder fahren wir einfach nur weg?“ John schien sich köstlich über ihn zu amüsieren.

„Du warst auf dem Weg zu Brigid und dahin werde ich dich auch bringen.“ „Mit dem Auto?“

„Was glaubst du denn. Die Flughäfen werden in den nächsten Tagen allerhöchstens für Hilfsflüge geöffnet. Denen dürfte ein einzelner Archäologe völlig egal sein. Oder was glaubst du, bist du mehr wert als peruanische Menschenleben?“ Jan sank in seinem Sitz zusammen. Soweit hatte er noch gar nicht gedacht.

„Also gut, wie ist der Plan?“ John hatte im Gegensatz zu ihm offenbar den Spaß seines Lebens.

„Plan? Der Plan ist, deinen schmalen Hintern schnellstmöglich über die Anden zu schaffen.“

5.

Die kleine Satellitenschüssel schwankte unaufhörlich im ziemlich böigen Wind und sorgte damit dafür, dass die Bilder auf dem kleinen Fernseher in der Cantina abwechselnd erschienen und im Rauschen des Universums verschwanden.

Die Nachrichtensendung drohte zur Zerreißprobe für die Nerven von Frau Professor Brigid Vibora zu werden. In dem schnellen Kauderwelsch der Requaindianer flogen Worte über den Tresen. Der lang gewachsene Junge, welcher gerade dabei war, die Plastikdecke auf einem der Tische abzuwischen, verschwandt murrend über die Veranda.

„Gleich wird’s besser, Professor. Jorge befestigt die Antenne neu.“ Hieß, er wickelte noch mehr Klebeband um die rostige Eisenstange, welche die altersschwache Satellitenschüssel an Ort und Stelle hielt.

Die Sprecherin der Sendung erschien wieder, dieses Mal sogar in Farbe und mit Ton. Nicht, dass Brigid es nicht gelernt hatte, Menschen von den Lippen zu lesen, aber es war doch immer besser, zu hören. Und dieses permanente Rauschen aus den Lautsprechern bereitete ihr außerdem Zahnschmerzen.

Das Erbeben, welches die Hauptstadt Perus fast völlig dem Erdboden gleich gemacht hatte, war das stärkste seiner Art gewesen, dass den Andenstaat seit mehreren Jahrhunderten erwischt hatte. Hochhäuser sowie Hütten lagen, zusammengefallen wie schlichte Kartenhäuser, am Boden.

Nicht einmal die sonst als so stabil geltende erdbebensichere Bauweise der Neuzeit hatte den Erdstößen stand gehalten. Jedenfalls nicht so, wie sie sollte. An manchen Stellen ragten schon noch fast intakte Gebäude über die Trümmer hinaus, aber vor allem die Häuser der einfachen Menschen und die Sozialbauten hatte es ziemlich heftig erwischt.

Brigid konzentrierte sich nun, da sie die Erklärungen der Sprecherin hören konnte, vollständig auf die Bilder. Mit ganz viel Glück hoffte sie, zwischen all den verzweifelten Menschen einen von Conrads Männern zu entdecken. Zum tausendsten Mal ging sie im Geiste die Flugdaten und alle eventuellen Reiserouten durch.

Die Gruppe war einige Stunden vor dem Beben gelandet. Die App der Fluggesellschaft hatte sie automatisch benachrichtigt, als der Flieger in Lima angekommen war.

Per Messenger hatte John sie dann kurze Zeit später darüber informiert, dass der Anschlussflug wegen des immer noch anhaltenden Sauwetters gecancelt worden war. Die ganze Gruppe wollte daher zu Maria, einer ortsansässigen Wissenden, in die Cantina aufbrechen und plante, dort die Nacht zu verbringen.

Seitdem herrschte eine gespenstisch anmutende Ruhe.

Also, zumindest im technischen Sinne. Der Sturm wütete weiter laut pfeifend, aber die Mobilfunkmasten hatten die Arbeit ebenso eingestellt, wie die örtliche Stromversorgung. Das störte hier allerdings eigentlich keinen. Öffentliche Orte wie die Cantina des Dorfes besaßen fast immer Dieselgeneratoren oder Solarmodule und gekocht wurde sowieso meistens über dem traditionellen mit Holz befeuerten Herd.

Davon abgesehen war Brigid die Letzte, die auf fortschrittlicher Technik beharrte. Sie genoss es, auf den Expeditionen immer wieder einmal auf das ursprüngliche Leben zurückgeworfen zu werden.

Aber dieses Mal war alles anders. Sie zweifelte nicht daran, dass die Jungs auf sich aufpassen konnten, aber John hatte, hoffentlich nach wie vor, Janus Schlingmann im Schlepptau. Und so lange Janus nicht wusste, wer ihnen auf den Fersen war, musste es John einfach gelingen, ihn in Sicherheit zu bringen.

Auch wenn Janus sie derzeit hasste wie die Pest, durfte ihm einfach nichts zustoßen. Nicht nach all dem, was sie auf die Beine gestellt hatten, um ihn am Leben zu halten. Eigentlich war es Brigids Plan, Janus während der Arbeit hier im Regenwald an ihre gemeinsame, ihre eigentliche, Natur heranzuführen. Hier war es einfacher, da die Menschen noch im Einklang mit ihrem Umfeld lebten und dieses Leben auch das mythische Erbe einschloss. Aber es stand zu befürchten, dass es dazu wohl nicht mehr kommen würde.

Immerhin waren bereits zweieinhalb Tage vergangen, ohne dass es Nachrichten von John und Janus gegeben hätte. Einige Stunden zuvor hatte Brigid Johns Frau Syri per Satellitentelefon erreicht. Aber auch diese hatte keinerlei Nachrichten erhalten und verging beinahe vor Sorge um ihren Mann.

Brigid winkte dem Wirt und ließ sich einen großen Schnaps eingießen. Sie nahm das Glas und kippte das scharfe Zeug schwungvoll in ihre Kehle.

Es war an der Zeit, etwas zu unternehmen, sonst würde sie noch durchdrehen. Es machte keinen Sinn, sich hier auf der Stelle zu drehen, es galt, endlich zu handeln.

Sobald die Sonne wieder aufgegangen wäre, würde sie aufbrechen und auf der einzig logischen Route nach den beiden suchen.

„Nathaniel, wir nehmen das Boot. Lade genügend Proviant ein und informiere den Stamm, dass wir flussaufwärts fahren werden. Sie sollen alle Uferbewohner informieren, dass wir ihre Gebiete queren werden.“ Die Requa hatten genügend Einfluss bei den Anwohnern des oberen Amazonasgebietes, um Brigid und ihrem jahrelangen Assistenten Nat eine sichere Durchfahrt zu ermöglichen. Nicht bei allen Stämmen waren die Schlangenleute, zu denen sie sich zählte, wohl gelitten. Der uralte Stamm der Requa allerdings war anders. Sie lebten in Einklang mit den Schlangen der Wasser und des Regenwaldes. Ihr Stammestier war eine gewaltige Anakonda, der in schöner Regelmäßigkeit ganze Ziegen geopfert wurden. Im Gegenzug hatte der Stamm seit Jahrhunderten kein Kind mehr an Krokodile oder gar Piranhas verloren.

Brigid hatte Jorge, den Sohn des Cantinenwirts, vor einigen Jahren bei einer Forschungsreise durch das Amazonasgebiet kennengelernt. Sie hatte sich mit seiner Familie angefreundet und sich daher nicht gewundert, dass man gerade sie informiert hatte, als ein Erdrutsch die Ruinen eines vergessenen Außenpostens der hier nicht wirklich beliebten Inka freigelegt hatte. Vermutlich hätten die Requa einfach nur mit den Schultern gezuckt und die Bauwerke einfach wieder dem Dschungel überlassen, wenn ihnen nicht einige der Reliefs und Malereien eigenartig vorgekommen wären. Die außergewöhnlich detailreichen Darstellungen von Reptilien aller Art und deren Mischwesen hatte den Requa zu denken gegeben. Gehörten jene Bildnisse doch eher in ihre eigene Darstellungsweise und passte in dieser Form nicht zu den als protzig empfundenen Bauwerken der Inka.

Der Stammesrat hatte daher beschlossen, vorerst Brigid zu informieren und dieser die Entscheidung, wen sie mit den Ausgrabungen betrauen würde, zu übertragen.

Für Brigid selber, war für diese Aufgabe von vorn herein nur einer in Frage gekommen.

Janus Schlingmann hatte sich vor einigen Jahren bereits als einer der führenden Experten für derlei Darstellungen herausgestellt. Sein Wissen überstieg sogar das der meisten älteren Kollegen um Längen. Dieses, aber ebenso seine Art sich zu bewegen und jederzeit in Schwierigkeiten zu manövrieren, hatte ihn dann zusätzlich noch in den Fokus einer Gruppe von Fanatikern geraten lassen. Obwohl diese nur vermuteten, wen sie da verfolgten, ließen sie sich leider weder abschütteln noch in die Irre führen.

Somit war es ihr als die beste Lösung erschienen, ihn zu den eigentlich vermutlich unbedeutenden Ruinen in den Dschungel der Amazonasregion zu verfrachten.

Brigid durchquerte nachdenklich das Lager, welches ihre Assistenten bereits am Beginn des Pfades, der zu den Ruinen führte, errichtet hatten und bückte sich, um in ihr Zelt zu kriechen. Egal, wie alt sie wurde, sie benutzte immer noch ihr uraltes Zweimannzelt aus den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Gerade jungen Kollegen schien dieses oftmals peinlich zu sein, kamen diese doch zumeist mit der modernsten und funktionalsten Ausrüstung zu den Expeditionen. Brigid genoss deren teilweise mitleidige Blicke, wenn sie ihr Zeltchen abfällig musterten.

Aber diese waren eben auch nur einfache Menschen mit einem beschränkten Erfahrungsschatz.

Brigid hockte sich auf den Boden im Zelt, sammelte etwas Kleidung in einen Rucksack und packte eine Tüte ihrer Lieblingsknabbereien oben auf. In einem wasserfesten Fach verstaute sie dann ihre Papiere und ein wenig Geld, bevor sie ihre liebste Neuerwerbung an sich nahm. Der kleine, handliche Fotoapparat war eigentlich für Taucher konzipiert worden, hatte sich aber in den feuchten Gebieten des Regenwaldes als Glücksgriff erwiesen. Egal, ob sie schwimmen ging oder auf einem schlammigen Pfad ins Stolpern geriet, der wasserdichten, stoßfesten kleinen Kamera passierte nichts. Brigid strich ihrem Schätzchen vorsichtig ein wenig angetrockneten Matsch vom Gehäuse und machte sich daran, Nat zu suchen.

6.

Wäre nicht die Sorge um John und Janus gewesen, Brigid hätte sich im Glück gesuhlt. Sie lag rücklings auf dem Boden des kleinen Bootes mit dem schnurrenden Außenbordmotor und beobachtete die watteweißen Wölkchen am tiefblauen Himmel über ihr. Nur hin und wieder kreuzten einige Gruppen bunter Vögel laut kreischend ihr Blickfeld.