Colines Welt hat neue Rätsel - Nicole Schuster - E-Book

Colines Welt hat neue Rätsel E-Book

Nicole Schuster

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Beschreibung

Coline ist erwachsen und steht vor neuen Herausforderungen. Sie zieht von zu Hause aus, beginnt ein Studium und lernt, wie man selbstständig lebt. Dabei stößt die junge Frau mit Autismus-Spektrum-Störung immer wieder an ihre Grenzen. Sie lernt aber, dass sie viel erreichen kann, wenn sie an sich glaubt, und dass es für fast jedes Problem eine Lösung gibt. Bei Unsicherheiten steht Coline ihre Therapeutin Frau Hilfreich zur Seite. Colines Erlebnisse in Form von Tagebucheinträgen dienen in diesem Buch dazu, beispielhaft typische Schwierigkeiten junger Erwachsener mit Asperger-Autismus aufzuzeigen. Im Anschluss daran erklärt die Autorin, wie Betroffene mit den dargestellten Herausforderungen umgehen können und welche Hilfsmöglichkeiten es gibt. Angehörige erhalten Tipps, wie sie dabei unterstützen können. Der Ratgeber begleitet Betroffene und Angehörige auf ihrem Weg und ist zugleich ein unterhaltsames Lesebuch.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

1 Coline macht den Führerschein

Führerschein trotz Autismus?

Hilfreiche Links im Internet

2 Coline und die Abiturprüfung

Achtung, Ausnahmezustand: Prüfungen stehen an

Checkliste: Fit für Prüfungen und Co.

Hilfreiche Links im Internet

3 Das Experiment: Coline zieht aus

Auf in ein eigenes Leben: Asperger-autistische Menschen ziehen aus

Alleine-Wohnen

Betreutes Wohnen

Hilfreiche Links im Internet: Wohnprojekte für und von autistischen Menschen

4 Der erste Tag an der Uni

Noch wichtiger als Lernen? Der soziale Aspekt beim Studium

Hilfreiche Links im Internet: Was das Leben einem Studenten zu bieten hat

5 Coline beim Einwohnermeldeamt

Umzug & Co.: Die Sache mit den Ämtern

Checkliste: Meldepflicht

6 Soll ich einen Schwerbehindertenausweis beantragen?

Das bedeutet »behindert«?

Bin ich autistisch und/oder behindert?

Hilfreiche Links im Internet

7 Coline lernt putzen

Der Dreck muss weg: Wie putzt man seine Wohnung?

Hilfreiche Links im Internet

8 Hilfe! Coline bekommt Besuch

Gute Gäste, schlechte Gäste

Checkliste: So wird der Besuch zum Erfolg

Tipps für Gäste von Autisten

9 Wie erkläre ich den Kommilitonen Asperger? Die Autisten-Ausweis-Karte

Outing – ja oder nein? Und wenn ja, wie, wann und vor wem?

Wie führe ich ein »Outing-Gespäch«?

Checkliste: Tipps für ein gutes Gespräch mit der Familie

Wie können andere reagieren?

10 Die leeren Kaufhaus-Regale

Was ist an »Hamstern« schlecht?

Muss man immer schon im Vorhinein eine Lösung wissen?

Hilfreiche Links im Internet: Vorratshaltung

11 Lauter Pärchen! Coline gerät ins Grübeln

Endlich verliebt: Der Druck, einen Partner zu haben

Warum sich Menschen einen Partner suchen

Wie findet man einen passenden Partner?

Checkliste: Möglichkeiten, einen Partner zu finden

12 Colines Freundin Maja

Autisten – treue Freunde oder erbitterte Feinde?

Autismus – was tun? Für und Wider Behindertenwerkstatt

Hilfreiche Links im Internet

13 Coline und der Nebenjob: Erfahrungen beim Kellnern

Leben kostet – wenn ein Job her muss

Checkliste: Tipps für die Suche nach einem Nebenjob

14 Coline und die dünnen Tussis

Autismus und Essen – eine Hassliebe

Das ABC der Essstörungen

Was tun, wenn das Essen die Kontrolle übernimmt?

Hilfreiche Links im Internet

15 Benny und die FC – Facilitated Communication

Colines Interview zur Facilitated Communication

Checkliste: Facts rund um die FC

Hilfreiche Links im Internet

16 Auf Wiederhören! Was hilft bei einer Telefon-Phobie?

Freund oder Feind? Das Telefon

Checkliste: Reden am Telefon

Tipps zum Telefonieren

Hilfreiche Links im Internet

17 Coline beim Friseur

Friseurbesuch: Wer schön sein will, muss leiden

Checkliste: Haarige Zeiten und ihre Lösungen

18 Coline und der Röckchen-Parkplatz: Unfall vorm Supermarkt

Unfall – was nun?

Hilfreiche Links im Internet

19 Advent, Advent: Coline bereitet sich auf Weihnachten vor

Weihnachten: Warum Traditionen so wichtig sind

Checkliste: Tipps für gute Geschenke

Hilfreiche Links im Internet: Traditionen und Bräuche rund um eine der schönsten Zeiten im Jahr

20 Coline ist krank

Bei Kranksein: Arzt

Was ist ein Rezept?

Hilfreiche Links im Internet: Behinderte und Gesundheitswesen

21 Coline kommt auf den Hund

Tiere und Autisten – ein gutes Team

Hilfreiche Links im Internet: tierische Therapeuten

22 Coline und die Internetsucht

Online ohne Ende – eine neue Abhängigkeitskrankheit?

Hilfreiche Links im Internet: Internetsucht

23 Neuer Stress mit neuen Medien

Was sind soziale Medien und was ist gefährlich daran?

Braucht man das neue Produkt XY, um erfolgreich/fit/schön/gesund zu sein?

Checkliste: Soziale Medien sinnvoll nutzen

24 Silvester: Coline zieht Resümee und fasst neue Vorsätze

Literatur

Hilfreiche Weblinks

Die Autorin

Dr. Nicole Schuster, Medizinjournalistin und Apothekerin, möchte über Autismus-Spektrum-Störungen aufklären und setzt sich für ein vorurteilfreies Miteinander ein.

Nicole Schuster

Colines Welt hat neue Rätsel

Alltagsgeschichten und praktische Hinweise für junge Erwachsene mit Asperger-Syndrom

Mit Illustrationen von Daphne Großmann2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Umschlagabbildung und Illustrationen im Buch von Daphne Großmann

Print:ISBN 978-3-17-041396-2

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-043826-2epub: ISBN 978-3-17-043827-9

Vorwort

Erwachsen werden – das ist für jeden schwer. Für einen jungen Menschen mit Asperger-Autismus oft besonders. Durch ihre Behinderung weisen Asperger-Autisten Defizite vor allem im sozialen und kommunikativen Bereich auf. Ihr Denken und Handeln ist von einer anderen Logik geprägt und es fällt ihnen schwer, sich in das Denken, Fühlen und Handeln ihrer Mitmenschen hineinzuversetzen.

Beim Übergang vom Kind zum Erwachsenen spüren viele Asperger-Autisten ihre Behinderung so stark wie nie zuvor. Ihre mangelnde Selbstständigkeit, ihre Hilflosigkeit in vielen Alltagsituationen und das Angewiesensein auf fremde Hilfe fallen in einem Alter, in dem die meisten Gleichaltrigen immer selbstständiger werden, verstärkt auf. Einige junge Menschen mit Autismus merken jetzt, dass sie wahrscheinlich ihr Leben lang Unterstützung brauchen werden und sie manche Ziele nie erreichen können. Manche geben resigniert auf und fügen sich in ein Leben geprägt von Abhängigkeit, Arbeitslosigkeit oder -unfähigkeit und Selbstmitleid. Andere Autisten wollen das »dennoch« wagen und stürzen sich voller Elan in ein eigenes Leben. Das kann zum Scheitern führen, manchmal auch zum Erfolg. In jedem Fall ist es ein schwerer Weg, der viel Kraft erfordert und bei dem Rückschläge auf der Tagesordnung stehen.

Eine erste große Herausforderung steht an, wenn sich der junge Asperger-Autist in die Berufswelt eingliedern möchte oder ein Studium bzw. eine Ausbildung beginnt. In seinem neuen Umfeld tun sich für ihn viele Fragen auf: Soll/Muss ich den Kollegen vom Autismus erzählen? Und wenn ja, wie? Auch der erste eigene Haushalt bedeutet, neues zu erlernen und eigene Grenzen der Selbstorganisation kennen zu lernen. Die Ziele sollten dabei nie zu hoch gesteckt sein. Niemand ist vom ersten Tag an eine perfekte Hausfrau bzw. ein perfekter Hausmann. Es gilt, Geduld mit sich selbst zu haben und Rückschläge nicht als Niederlage zu sehen, sondern als Zwischenstopp auf dem Weg nach oben.

Die junge Asperger-Autistin Coline versucht dieses Lebensmotto umzusetzen. Sie ist nun erwachsen, hat ihr Abitur und ihren Führerschein erfolgreich gemacht und den Kopf voller Pläne für die Zukunft. Um ihr Ziel, eine erfolgreiche Forscherin zu werden, zu verwirklichen, muss Coline von zu Hause ausziehen und in einer fernen Stadt ihr Studium beginnen. Dort ist sie größtenteils auf sich allein gestellt. Zwar sind ihr Opa und ihre Mutter immer noch für die junge Frau da, aber die räumliche Distanz zwingt Coline an vielen Stellen zu mehr Selbstständigkeit. Vielleicht sogar zu mehr, als sie sich selbst zugetraut hätte. Unterstützend und beratend an ihre Seite tritt nun immer häufiger die Therapeutin Frau Hilfreich. Coline hört oft auf ihre Tipps und vertraut ihr Probleme, Ängste und Sorgen an.

Die erwachsene Coline geht mit Mut und Zuversicht ihr neues Leben an. Sie hat das feste Ziel vor Augen, Spuren zu hinterlassen. Das können viele andere Menschen mit Autismus auch. Sie müssen sich nur trauen und bereit sein, für Träume zu kämpfen.

Nicole Schuster

1 Coline macht den Führerschein

Liebes Tagebuch,

heute war ein besonderer Tag. Heute saß ich das erste Mal in einem richtigen Auto am Steuer. Natürlich nicht alleine aber auch nicht mit meinem Fahrlehrer. Nein, mit Opa. Und das war wirklich toll. Zumindest fand ich es super, Opa wohl eher weniger. Aber der Reihe nach. Ich bin schon seit Wochen regelmäßig zum theoretischen Fahrunterricht gegangen. Sehr spannend ist dieser Unterricht nicht. Da lernt man fast nur so Dinge wie Straßenregeln, zum Beispiel »rechts vor links«, die ich schon längst alle kenne. Wo aber das Gaspedal und wo die Bremse ist und wie so ein rätselhaftes Ding namens Kupplung zu bedienen ist, lernt man dort nicht.

Unser Fahrlehrer Olli meinte, es sei nun bald an der Zeit, dass ich das erste Mal mit ihm Autofahren übe. Die meisten Fahrschüler freuen sich darauf. Ich nicht. Ich war sicher, dass ich mich schrecklich blamieren würde, da ich überhaupt nichts darüber wusste, wie man ein Auto bedient.

Damit ich mich bei meiner ersten Fahrstunde mit Olli nicht zu dumm anstellen würde, schlug Opa vor, davor etwas zu üben.

»Wie soll denn das gehen?«, fragte ich. »Ich darf doch ohne Führerschein noch gar nicht fahren.«

»Auf der Straße natürlich nicht. Aber ich weiß, wo es trotzdem geht.« Opa zwinkerte mir zu. »Wir fahren zu einem Verkehrsübungsplatz.«

»Was ist denn das?«

Opa erklärte, dass das ein Gelände sei, auf dem man, wenn man sich zuvor angemeldet und Geld bezahlt habe, auch fahren dürfe, wenn man noch keinen Führerschein besäße.

Am nächsten Samstag fuhren Opa und ich zu einem solchen Verkehrsübungsplatz. Opa fiel das Autofahren zunehmend schwerer.

Er ist ja auch schon alt und kann nicht mehr so gut sehen und hören und seine Reaktionsfähigkeit hat auch nachgelassen. Trotzdem kriegte er es einigermaßen hin, uns heil zu unserem Ziel zu bringen. Ich musste ihn unterwegs nur zwei Mal an eine rote Ampel erinnern, die er sonst nicht beachtet hätte, und nur einmal warnen, als ein Kind genau vor uns über die Straße lief.

Als wir endlich auf einen Platz einbogen, der mit »Verkehrsübungsplatz« überschrieben war, wischte Opa sich den Schweiß von der Stirn. Dann meldete er uns an, stöhnte dabei leise vor sich hin (das macht er immer, wenn er angestrengt ist) und endlich war es so weit: Opa und ich tauschten die Plätze. Und da saß ich nun. Drei komische Pedale an meinen Füßen, rechts neben mir dieses Rührteil, das man Schaltknüppel nennt und vor mir das Lenkrad mit jeweils einem Stab an jeder Seite. Die Stäbe haben irgendetwas mit Licht und Scheibenwischern zu tun.

»Das ist richtig«, sagte Opa und dann zeige er mir, wie man mit dem linken Hebel blinken kann. Blinken ist immer dann wichtig, wenn man abbiegen will. Das wusste ich aus der Fahrschule. Dann zu den Pedalen. Opa zeigte mir, welches das Gaspedal ist, wo die Bremse und wo die Kupplung ist.

»Erst auskuppeln, dann in einen anderen Gang schalten, dann wieder einkuppeln«, sagte Opa.

»Aus- um-‍, ein-‍, was bitte?«, ich verstand gar nichts mehr. In was für einer komischen Sprache redete Opa denn da plötzlich?

Opa wiederholte dieses Kauderwelsch und sagte noch einiges anderes, das ich nicht verstand. Dann meinte er:

»Am besten lernt man das sowieso beim Fahren. Also los, versuch es einfach mal.«

»Wirklich? Jetzt, gleich, sofort?« fragte ich.

»Kann doch nichts passieren«, sagte Opa. Es klang so zuversichtlich wie damals, als er sagte, dass Nairobi irgendwo in Asien liege. Dabei weiß doch jeder, dass das die Hauptstadt von Kenia ist, also in Afrika liegt.

Mit der rechten Hand krallte sich Opa am Griff an der Innenseite der Tür fest. Opa atmete tief durch, ich atmete tief durch. Wie war das noch mal? Kupplung ein-‍, um-‍, aus, ach, egal, jedenfalls drauftreten, dann starten, Gas geben? Oder umgekehrt? Ich sah zu Opa. Der aber starrte geradeaus, sein Unterkiefer vibrierte gegen seinen Oberkiefer.

Ich drehte jetzt einfach den Zündschlüssel rum, trat mit dem Fuß auf die Kupplung und das Gaspedal durch. Mit einem Satz rasten wir nach vorne, Opa schrie »Bremsen!«. Bremsen wollte ich ja gerne, doch wie? Wo, verflixt, war noch mal die Bremse? Rechts, links in der Mitte? In wilder Panik probierte ich alle Pedale durch. Es knarrte und peitschte, aber ich hatte anscheinend das richtige Pedal erwischt, jedenfalls standen wir.

»Wow«, sagte ich. Einfach nur toll hatte sich das angefühlt: Coline hatte ganz alleine ein Auto zum Fahren gebracht. Und wir waren sogar ein bisschen gehüpft! Das hatte Opa noch nie fertig gebracht.

Warum war es aber auf einmal so dunkel? Ich hob den Kopf von unter dem Lenkrad hervor, da ich auf die Pedale geschaut hatte, und sah jetzt durch die Frontscheibe raus. Und da sah ich nur Äste, Zweige und Blätter.

»Wo sind wir?« fragte ich Opa.

»In einem Holunderstrauch«, sagte Opa.

»Coline, warum hast du nicht gebremst? Habe ich dir nicht gesagt, dass du dich sofort an all meine Anweisungen halten musst?«

Ja, das hatte Opa gesagt. Er hatte aber nicht gesagt, wie schwer es ist, das richtige Pedal zu finden. Es steht schließlich nicht drauf geschrieben »hier Bremse«, »hier Gas«.

»Darf ich noch mal? Wie funktioniert der Rückwärtsgang?«, fragte ich.

»Coline, für heute reicht es. Lass mich wieder ans Steuer.«

»Ach bitte, Opi. Es macht gerade so viel Spaß.«

»Es reicht. Ich kann nicht mehr.«

Opa war im Gesicht fast so beige-blass wie das Sitzpolster. Seine Haare standen wild in alle Richtungen. Opa versuchte auszusteigen, aber die Äste ließen ihm nicht genug Platz.

»Coline, klettre bitte nach hinten auf die Rückbank, damit ich mich auf den Fahrersitz setzen kann.«

Ich war mit zwei Sätzen hinten, Opa aber brauchte ewig, bis er über den Schaltknüppel in der Mitte geklettert war und sich auf den Fahrersitz fallen lassen konnte.

Opa fuhr uns aus dem Holunderstrauch raus. Draußen stand ein Kreis voller Leute, die sofort durch die Scheibe riefen, ob alles in Ordnung sei. Opa nickte.

»Alles klar. Nur ein kleines Missgeschick.«

Opa hielt erst wieder an, als wir ein Stück vom Übungsgelände entfernt waren. Dann humpelte er – richtig gehen kann Opi nicht mehr – um das Auto herum, wischte mit dem Finger hier und da über einen Kratzer von den Ästen und murmelte vor sich hin.

»Na, deine Mutter wird sich freuen«, sagte er, als er sich wieder neben mich ins Auto setzte.

»Ja? Worüber denn?«, fragte ich. »Dass ich so fein gehüpft bin mit dem Auto?«

»Das war ironisch gemeint«, fauchte Opa.

Ach so. Es bedeutete also, dass Mama alles andere als erfreut sein würde. Und wirklich. Mama war ziemlich wütend, als sie die Kratzer und Flecken von grünen Blättern und Ästen an ihrem Auto sah.

»Mit meinem Auto fährst du mir nicht mehr«, sagte sie. »Du hast dich ja angestellt wie der erste Mensch. Jeder Idiot fährt spielend seine erste Runden und du? Verwechselst die Pedale! Meine Güte, Coline!«

»Das kann doch jedem mal passieren!«

»Dir passiert so etwas aber ständig. Du musst dich mehr konzentrieren.«

Jetzt wurde mir alles zu viel. Mama war ja so ungerecht. Immer verglich sie mich mit anderen, mit gesunden, nicht-autistischen Menschen.

»Was kann ich denn dafür, wenn ich zu behindert bin, um Auto fahren zu können? Das hättet ihr vorher wissen müssen.«

Ich rannte in mein Zimmer. Ach, liebes Tagebuch, ich habe mir, seit ich denken kann, gewünscht, Auto fahren zu können. Nie mehr mit dem stinkenden Bus fahren, nie mehr eingepfercht zwischen ekligen Körpern Bahn fahren. Auto fahren ist Freiheit, Unabhängigkeit, ist Leben. Aber bin ich fürs Auto fahren gemacht? Oder bin ich zu ungeschickt dafür? Vielleicht auch zu blöd? Jeder kann die Pedale richtig bedienen. Sogar ein Idiot kann das besser als ich. Sagt Mama.

Ich war ganz verzweifelt.

Es war einige Tage später, draußen war es schon leicht dunkel und ich saß lustlos in meinem Zimmer herum. Seit dem missglückten ersten Fahrversuch war ich nur noch unglücklich. Da kam Mama zu mir.

»Coline, gehst du heute nicht zur Fahrschule? Der Kurs fängt gleich an.«

»Warum soll ich denn da noch hingehen? Hat doch eh keinen Zweck. Ich werde nie Auto fahren können.«

»Aber Coline, nun sag doch so was nicht! Jeder kann Auto fahren lernen. Bei manchen dauert es nur etwas länger.«

»Ich bin dann eben ein Sonderfall. Du hast selbst gesagt, dass jeder Idiot das besser kann als ich. Ich bin einfach zu blöd dazu. Jawohl.«

»Nichts jawohl! Ich hab einen Fehler gemacht. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Das war fies von mir.«

»Wirklich?«

»Ja. Ich habe total überreagiert. Hatte Stress auf der Arbeit und dann auch noch einen unangenehmen Anruf vom Steuerberater. Es war falsch und gemein von mir, das an dir auszulassen.«

»Ist schon gut«, sagte ich.

Mama schwieg. Dann fragte sie grinsend:

»Soll ich dir mal was erzählen? Als ich das erste Mal im Auto saß, weißt du, was da passiert ist?«

»Natürlich nicht. Ich war ja nicht dabei.«

»Also, ich sollte losfahren, vor mir stand in einigen Metern Abstand ein parkendes Auto. Leider hatte ich zu viel Gas gegeben und wir sausten nach vorne direkt auf das andere Auto zu.«

»Und dann hat es ,rumms' gemacht?« fragte ich.

»Nein. Der Fahrlehrer trat ganz kräftig auf die Bremse und wir kamen zum Stehen. Zum Glück. Im Fahrschulauto hat es eben schon seinen Sinn, dass auch der Fahrlehrer Pedale hat. Jedenfalls ist nichts passiert. Aber ich habe trotzdem gedacht, dass ich das mit dem Auto fahren nie lernen werde.«

»Aber es hat doch geklappt. Jetzt hast du doch den Führerschein.«

»Ja. Weil ich nicht aufgegeben habe. Ich habe mich wieder und wieder hinters Steuer gesetzt, weiter geübt und es hat immer besser geklappt. Richtig sicher habe ich mich aber erst gefühlt, nachdem ich Jahre lang Auto gefahren bin.«

Ich holte tief Luft.

»Also meinst du, dass selbst bei mir noch Hoffnung besteht?«

»Aber auf jeden Fall! Und daher ziehst du dir jetzt sofort etwas Anständiges an und gehst zum Unterricht.«

In der Theoriestunde sprachen wir heute über Straßenzeichen und Straßenmarkierungen.

»Was bedeutet das?« fragte Olli.

»Das ist ein Zebrastreifen«, antwortete Kai-Simon. Das war richtig.

»Und was heißt das für uns?«

»Dass man hier Leute die Straße überqueren lassen sollte«, sagte Miri.

»Nein«, sagte ich.

»Nein?«, fragte Olli und zog die Augenbrauen hoch. Einige kicherten.

»Was heißt es denn dann?«, fragte Kai-Simon.

Ich stand auf und sagte das, was ich aus meinen Unterlagen gelernt hatte.

»Ein Zebrastreifen, also ein Fußgängerüberweg, ist wie eine rote Ampel, wenn Personen am Straßenrand stehen und ihn erkennbar nutzen wollen. Man sollte nicht nur anhalten, man MUSS anhalten.«

»Oh, Mann, bist du aber oberschlau«, murmelte Kai-Simon. Olli aber nickte mehrmals.

»Sehr richtig, Coline hat völlig Recht. Und sie hat es schön erklärt. Coline, du wärst eine ideale Polizistin.«

»Ich will aber nicht Polizistin werden. Ich werde Biologin«, erklärte ich. »Und dann erforsche ich Moose. Mein erstes Ziel wird sein, mehr Lebensraum für Moose zu schaffen. Hättet ihr gedacht, dass bestimmte Moosarten sogar an der Autobahn wachsen können? Trotz der vielen Abgase?«

»Äh nein, wussten wir noch nicht. Und bevor du uns das jetzt ausführlich erklärst, machen wir schnell weiter mit unseren Verkehrszeichen«, sagte Olli.

Nach der Stunde kam Olli auf mich zu.

»Coline, wann willst du denn endlich das erste Mal Auto fahren? Hier im theoretischen Unterricht kann ich dir schon lange nichts mehr beibringen.

»Ich bin doch schon längst Auto gefahren!«, rief ich. »Besser gesagt gehüpft. In einen Holunderstrauch hinein.«

»Uhi«, sagte Olli. »Dann kann es das nächste Mal ja nur besser werden. Vielleicht ein Brombeerstrauch?«

Ich zuckte mit den Schultern. Das macht man so, wenn man nicht weiß, was der andere eigentlich meint.

»Was ist mit morgen? 16 Uhr? Ich hole dich ab.«

Bevor ich etwas sagen konnte, hielt Olli mir den erhobenen Daumen hin und verschwand. Das bedeutet »Alles klar«, »Abgemacht«, dabei war für mich nichts klar und ich hatte auch nichts abmachen wollen.

Liebes Tagebuch, mit ganz weichen Knien ging ich nach Hause. Morgen schon sollte ich wieder im Auto sitzen. Und dann auch noch auf einer richtigen Straße. Ich hatte Angst. Ich kann doch gar nicht Auto fahren.

Am nächsten Tag in der Schule konnte ich an nichts anderes als an den furchtbaren Nachmittag denken. 16 Uhr war ja auch so eine doofe Zeit. Da machte ich doch eigentlich Hausaufgaben. Und um Viertel vor fünf musste ich unbedingt zurück zu Hause sein. Denn um 17 Uhr esse ich Käsekuchen.

Ich würde heute also erst um halb sechs Hausaufgaben machen können. Dann hätte ich aber nur noch anderthalb Stunden Zeit für die Hausaufgaben, bis um sieben Uhr meine Lieblingssendung »Lebe leichter« im Fernsehen kommt. Ich überlegte und überlegte. Dann hatte ich mir einen Plan zurechtgelegt. Ich wiederholte ihn immer wieder in Gedanken, damit er sich festsetzen würde und ich ihn heute Nachmittag ohne viel nachdenken zu müssen befolgen konnte.

»Coline!«, rief da der Lehrer. »Du bist dran. Hausaufgaben vortragen.«

Ich schreckte hoch und rasselte schnell runter, was in meinem Kopf war.

»Heute 14 Uhr Mittagessen. Um 14:30 Uhr Erholung, dabei einen Riegel Schokolade essen. Um 15 Uhr eine halbe Stunde Hausaufgaben machen. Um 15:30 Uhr Entspannungsübungen machen. Um 16 Uhr Fahrstunde, aber nicht länger als bis 16:45 Uhr. Um 17 Uhr muss ich Käsekuchen essen und Tee trinken. Bis halb sechs. Von halb sechs bis 19 Uhr habe ich Zeit für die Hausaufgaben. Ich muss in dieser Zeit unbedingt alles schaffen. Um 19 Uhr gucke ich nämlich »Lebe leichter« und...« plötzlich merkte ich, was ich da erzählte. Alle lachten.

»Nett, Coline. Magst du uns auch etwas aus Goethes Faust vortragen? Das interessiert uns nämlich noch mehr als dein Tagesplan.«

Pünktlich um 16 Uhr kam mich Olli abholen. Er erklärte mir noch mal in aller Ruhe, was die ganzen Pedale, Knöpfe, Hebel und Schalter bedeuten. Dann ging es los. Ich sollte ganz langsam die Straße entlang fahren. Da wir in einer einsamen Spielstraße wohnen, brauchte ich das Auto nur rollen zu lassen. Danach fuhr ich noch ganz langsam in ein paar Nachbarstraßen. Und schon das war furchtbar anstrengend. Schweißperlen sammelten sich auf meiner Stirn und ich versuchte krampfhaft, das Lenkrad gerade und ruhig zu halten. So sehr wie meine Hände und Arme vor Aufregung zitterten, war das aber gar nicht so leicht. Aber es klappte.

Olli ließ mich schließlich anhalten.

»Gut gemacht«, lobte er. »Und jetzt fahren wir auf eine Straße, wo du etwas schneller fahren darfst als Schrittgeschwindigkeit. Und denk immer daran: Ich habe auch eine Bremse, es kann nichts passieren.«

Olli wies keines der typischen Zeichen wie an der Tür festkrallen auf, das darauf schließen lassen könnte, dass er nervös war. Anscheinend war er wirklich ganz ruhig und sorglos. Das gab mir Selbstvertrauen und siehe da – es klappte immer besser! Ich war ganz fasziniert, als ich mit 50 km/h eine Straße entlangfuhr und sogar rechtzeitig vor einer roten Ampel das Bremspedal fand. Nur beim Starten versagte ich. Als die Ampel grün wurde, war Ende. Der doofe Motor ging immer wieder aus. Na ja, nach drei weiteren Ampelphasen und begleitet von einem lauten Hupkonzert durch die lange Autokette hinter mir kamen wir schließlich doch vom Fleck und rollten langsam über die Kreuzung.

Dann war die erste Fahrstunde auch schon vorbei. Die Zeit war nur so dahin gerast, genauso wie wir über die Landstraße. Olli brachte mich zurück nach Hause und ich war mächtig stolz auf mich. Und das Beste war: Es war genau Viertel vor fünf. Ich hatte also meinen Tagesplan perfekt einhalten können.

Liebes Tagebuch, es sind jetzt viele Wochen vergangen, seit ich das erste Mal in einem Auto gesessen habe. Und heute war ein sehr großer Tag für mich. Ich habe heute mit Opa zusammen eine kleine grüne Karte beim Straßenverkehrsamt abgeholt. Diese kleine grüne Karte nennt man Führerschein. Führerschein ist eigentlich ein komischer Name. Manche Menschen sagen auch Fahrerlaubnis für das Führen von Kraftfahrzeugen dazu. Das passt besser.

Aber weißt du, was noch besser passt? PuLBE. Wofür das steht?

Na, für Pedal- und Lenkrad-Bedien-Erlaubnis. Genial, oder?

Mit meiner grünen PuLBE darf ich jetzt Auto fahren. Überall. Vor ein paar Wochen hätte ich nicht gedacht, dass ich das jemals schaffe. Und was lernt man daraus? Manche Dinge brauchen einfach Zeit. Und: Opas sind keine guten Fahrlehrer, sie sind zu alt und sie haben keine Pedale zum Bremsen. Das allerwichtigste aber ist und gilt für alle Lebenslagen: Man darf nie die Hoffnung aufgeben!

Führerschein trotz Autismus?

Eine milde Form des Autismus wie das Asperger-Syndrom steht an sich dem Erwerb einer Fahrerlaubnis nicht entgegen. Allerdings ist zu beachten, dass gerade Asperger-autistische Menschen häufig unter Koordinations- und Bewegungsstörungen leiden. Dies kann das Bedienen eines Autos erheblich erschweren. Des Weiteren gilt zu beachten, dass autistische Menschen eine veränderte Wahrnehmung haben können. Schwierigkeiten im Straßenverkehr können dann eintreten, wenn die visuelle oder auditive Wahrnehmung nicht richtig funktioniert. Abstände können unter Umständen nicht richtig eingeschätzt und herannahende Autos akustisch falsch eingeordnet werden. Gerade Situationen, die ein gutes Augenmaß erfordern, wie Einparken oder Fahren im dicht gedrängten Stadtverkehr, können zu Herausforderungen werden. Ohnehin bedeutet der Stadtverkehr mit all seiner Hektik, den unerwarteten Ereignissen wie plötzlich auf die Straße tretenden Menschen, ausparkenden Autos und dem Spurwechsel anderer Autos für jeden Autofahrer und mehr noch für einen autistischen Fahrer Herausforderungen. Autisten verlieren nicht nur allgemein schneller den Überblick, sie brauchen auch oft mehr Zeit zum Reagieren, was in einigen Situationen im Straßenverkehr durchaus gefährlich werden kann.

Das bedeutet aber nicht, dass autistische Menschen, mit Wahrnehmungs- oder Koordinationsschwierigkeiten darauf verzichten sollten, ein Auto zu fahren. Ihrer eigenen Sicherheit und die der anderen Verkehrsteilnehmer zuliebe sollten sie aber ihre Grenzen kennen und ihnen Rechnung tragen. Lieber einmal zu oft nach links und rechts geschaut oder freiwillig auf die eigene Vorfahrt verzichtet, als einen Unfall bauen. Hilfreich ist es weiterhin, sich an Tipps wie diesen zu orientieren:

·

Vor dem ersten Autofahren kann es helfen, sich theoretisch mit der Bedienung des Autos zu beschäftigen

·

»Trockenübungen« sind sinnvoll, d. h. ohne zu starten die Bewegungsabläufe im Auto trainieren

·

Lieber ein paar Fahrstunden mehr nehmen, bis man sich richtig sicher fühlt, als zu früh zu viel von sich zu verlangen

·

Bei motorischen Einschränkungen können Autos mit Automatik-Schaltung helfen

·

Um das Stresslevel gering zu halten, besser – sofern möglich – die Rush Hour in Städten und den Berufsverkehr auf der Autobahn meiden

·

Sich von anderen Autofahrern nicht provozieren lassen! In der Ruhe liegt die Kraft

·

Berücksichtigen, dass Multitasking zum Scheitern verurteilt ist. Beim Autofahren also weder telefonieren noch essen und am besten auch keine Unterhaltung führen

Hilfreiche Links im Internet

Informationen zu Verkehrsübungsplätzen in Deutschland:www.verkehrsuebungsplatz-info.de

Regeln für Fahranfänger:https://www.fuehrerscheine.de/fuehrerschein/fahranfaenger/

Alles rund um die theoretische und praktische Ausbildung für den Erwerb des Führerscheins inklusive Forum:www.fahrschule.de

Informationen zur Verkehrssicherheit vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR):https://www.dvr.de/

Tipps zum Autofahren mit Behinderung vom TÜV Rheinland:https://www.tuv.com/germany/de/f%C3%BChrerschein-f%C3%BCr-menschen-mit-behinderung.html

2 Coline und die Abiturprüfung

Liebes Tagebuch,

kannst du dir vorstellen, was mir heute passiert ist? Ich habe in der schriftlichen Abiturprüfung in Biologie absolut versagt. Ausgerechnet in Biologie, meinem aller-‍, allerliebsten Lieblingsfach.

Wie es dazu gekommen ist? Das ist eine lange Geschichte. Dabei war ich doch so gut vorbereitet. Schon am letzten Schultag, als alle meines Jahrgangs den »Abistreich« durchgeführt haben und sehr zum Vergnügen der anderen Schüler die Lehrer verulkt haben, habe ich angefangen zu lernen. Dieser Abistreich wäre eh nichts für mich gewesen. Grässliches läuft da ab. Schon morgens ist nur Chaos. Die Schule ist abgesperrt und alles mit weiß-roten Absperrbändern zugehängt. Nur ein kleiner Eingang ist offen, da müssen sich alle Schüler und Lehrer durchquetschen. In dem engen Durchgang werden sie von den Abiturienten mit Wasserpistolen beschossen und mit Wasserbomben beworfen. Wer Pech hat und von einem Abiturienten gefasst wird, dem malen sie »ABI 10« auf die Wangen.

Auf dem Schulhof läuft am Abistreich-Tag fürchterlich laute Musik. Die Abiturienten sind alle betrunken. Das kommt daher, weil die meisten von ihnen schon die ganze Nacht Party gemacht haben. Jetzt holen sie einige Lehrer nach vorne auf eine Bühne, stellen ihnen respektlose Fragen, lassen sie an dämlichen Spielchen teilnehmen oder zwingen sie, Karaoke zu singen. Abscheulich und entwürdigend. Für die Lehrer, die auch noch freiwillig mitmachen, für die Abiturienten, die so betrunken sind, dass ihr Verstand aussetzt, und für die schaulustigen Schüler, die sich das ansehen und durch ihren Applaus Einverständnis signalisieren. Selbst die ganz jungen Kinder aus den unteren Stufen machen fleißig mit und lachen, tanzen und finden das alles »total cool«.

Nein, danke. Meine Vorstellung von »total cool« ist eindeutig eine andere. Ich habe mich an besagtem Tag entschuldigt und mit Magenschmerzen vom Unterricht, falls denn dieser überhaupt noch stattgefunden hat, befreit. Seit ich 18 bin, darf ich meine Entschuldigungen nämlich selbst schreiben, was sehr praktisch ist. Und gelogen war das mit den Magenbeschwerden auch nicht: Beim bloßen Gedanken an das, was an jenem Tag in der Schule ablaufen würde, wurde mir übel.

Ich verbrachte den Tag also zu Hause mit Lernen. Am Morgen stellte ich als erstes einen Lernplan auf. Dazu nahm ich ein Din-A3 Blatt, teilte es in 50 Tabellenkästchen, wobei jedes Kästchen für einen Lerntag stand. In jedes Kästchen trug ich das Pensum ein, das für den Tag zu erfüllen war. Das fertige Kalender-Poster hängte ich über meinem Schreibtisch an die Wand. Danach ging ich runter zum Frühstück. Opa las gerade in der Tageszeitung.

»Steht etwas interessantes drin?«, fragte ich.

»Ja«, sagte Opa. »Jede Menge.«

»Zum Beispiel?«

»Unsere Kanzlerin ist zur Politikerin des Jahrzehnts gewählt worden, der Ölpreis steigt mal wieder und der FC Fußballfreunde hat gewonnen.«

»Ich meinte etwas Interessantes«, sagte ich.

»Am Wochenende ist Zeitumstellung«, sagte Opa.

»Die ist doch jedes Jahr«, sagte ich und köpfte ein Frühstücksei. Das Ei war genau perfekt, im richtigen Zustand zwischen flüssig und fest. Ich tunkte etwas Brötchen in das Eigelb, salzte ordentlich und trank einen Schluck Kakao hinterher. Danach nahm ich mir die Seite vom Lokalteil. Und hier stand doch etwas Interessantes. Der Bürgermeister plante einen neuen Stadtpark. Warum hatte Opa das nicht gleich gesagt? Dort würden sie bestimmt auch Moospflänzchen anbauen.

Ich wollte mich bei Opa gerade beschweren, weil er mir das wichtigste verheimlichen wollte, da atmete er plötzlich ganz schwer. Er hatte in letzter Zeit öfter solche Anfälle von Luftnot. Irgendwas war mit seiner Lunge nicht in Ordnung. Opa war deswegen auch schon mehrmals im Krankenhaus gewesen, einmal vor ein paar Jahren sogar sehr lange. Damals hat man ihn operiert, genaueres weiß ich aber nicht. Opa mag nicht darüber sprechen.

Ich besah mir Opas Gesicht, die tiefen Falten, die dünnen, weißen Strähnen, die ihm ins Gesicht hingen, ich sah runter auf seine großen, knittrigen und zitternden Händen. Es stand außer Frage: Opa war alt geworden. Das tat weh. Es durfte nicht sein. Opa war immer da gewesen, hatte jeden Spaß mitgemacht und das, solange ich denken kann. Und jetzt war er plötzlich alt. Und irgendwann würde er gar nicht mehr sein. Leben ist vergänglich. So wie auch eine Moospflanze nicht ewig lebt. Irgendwann vergeht sie und macht Platz für neue Moospflänzchen, für neues Leben.

Ich wollte nicht länger darüber nachdenken und stand auf, um Opas Anblick zu entkommen, der mich sofort wieder an diese furchtbare Vergänglichkeit erinnern würde.

»Coline«, hustete Opa mir hinterher. »Du hast ja noch gar nicht aufgegessen.«

Ich konnte nicht mehr essen. Nicht, wenn Opa so fürchterlich alt neben mir saß.

Ich flüchtete in mein Zimmer und tat das, was immer bei Traurigkeit hilft: Arbeiten. Lernen hat schon immer bei doofen Dingen geholfen, zum Beispiel auch damals, als Mama ihren neuen Freund kennen gelernt hatte, diesen Gerhard, bei dem sie jetzt ständig ist. Aber nicht an Gerhard denken! Gerhard ist noch übler als Opas Greisenhaftigkeit. Ich schlug das Biologiebuch auf und begann zu lernen.

Pünktlich um elf Uhr machte ich Pause. Ich ging runter, hörte, wie Opa in seinem Lieblingssessel laut schnarchend schlief, und machte mir in der Küche ein Brot mit Schoko-Nuss-Aufstrich. Ich nahm es mit in mein Zimmer, setzte mich aufs Bett und las in meinem neuen Krimi, während ich aß. Danach fuhr ich noch eine halbe Stunde auf meinem Heimtrainer, um den Kopf frei zu bekommen und danach ging es weiter mit dem Lernen.

Um halb zwei kam Mama von der Arbeit nach Hause. Sie wärmte das gestern Abend vorgekochte Essen für sich und Opa auf und ich machte mir Nudeln mit Ketchy's Ketschup, mein Lieblingsgericht. Beim Essen erzählte ich Mama von meinem Lernplan.

»Ist Opa alt?«, fragte ich, nachdem Opa vom Tisch aufgestanden war.

Mama zog die Augenbrauen hoch.

»88 Jahre ist er, Coline. Das ist alt.«

»Meinst du, er lebt noch lange?«, fragte ich mit zitternder Stimme.

Ich hatte Angst vor der Antwort.

»Bestimmt!«, sagte Mama. »Das wollen wir doch schwer hoffen.« Ich war erleichtert.

»Und warum atmet er so schwer? Und warum schnarcht er so röchelnd? Und warum tränen seine Augen immerzu und warum schnieft er so?«

»Na, weil Opas Allergie wieder angefangen hat! Es ist doch jetzt die Jahreszeit dafür. Die Pollen fliegen. Das sollte meine kleine Biologin eigentlich wissen.«

»Natürlich weiß ich, dass die Pollen fliegen. Aber ich wusste nicht, dass Opa deswegen so röchelt.«

Ich war beruhigt. Mein Arbeitspensum am Nachmittag erfüllte ich mit leichteren Gedanken.