Schüler im Autismus-Spektrum - Nicole Schuster - E-Book

Schüler im Autismus-Spektrum E-Book

Nicole Schuster

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Beschreibung

Die Inklusion von Schülerinnen und Schülern im Autismus-Spektrum ist eine Herausforderung. Viele der Kinder leiden unter Lernproblemen, lassen sich kaum sozial eingliedern und weigern sich, Anweisungen zu befolgen. Wie sollen Lehrkräfte mit dem oft unberechenbaren Verhalten umgehen? Wie können sie die Kinder und Jugendlichen fachlich am besten fördern? Auch Eltern haben Fragen: Welche Unterstützungen gibt es? Hilft eine Schulbegleitung? Die Autorin betrachtet sowohl die Rahmenbedingungen an Schulen als auch die Innenwelt autistischer Schülerinnen und Schüler. Mit praxisorientierten Tipps gibt sie Lehrerinnen und Lehrern Anleitungen an die Hand, wie sie schwierige Situationen des Schulalltags meistern können. Die Lektüre hilft, das Schulkind mit Autismus besser zu verstehen. Die Autorin hat ihr Standardwerk überarbeitet und dabei aktuelle Entwicklungen und Erkenntnisse berücksichtigt.

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Inhalt

Cover

01_Schuster_Titelei

Zum Geleit

Geleitwort zur 1. Auflage

Geleitwort zur 1. Auflage

Vorwort zur 1. Auflage

1 Über Tobias

2 Was ist Autismus?

2.1 Kurzer historischer Abriss

2.2 Vergleich Asperger- und Kanner-Autismus, Begriff »Autismus-Spektrum«

2.3 Wie häufig ist Autismus?

2.4 Erklärungsansätze für das Phänomen »Autismus«

2.5 Autismus – Behinderung oder nicht?

2.6 Probleme in der Sensomotorik

2.6.1 Sensorische Störungen

2.6.2 Motorische Probleme

2.7 Wie macht sich Autismus im Verhalten bemerkbar?

2.7.1 Allgemeines Verhaltensbild

2.7.2 Kommunikationsmittel Sprache

2.7.3 Beziehung zu anderen/Freunden

2.7.4 Umgang mit Gefühlen

2.7.5 Spielverhalten

2.7.6 Spezialinteressen

2.7.7 Unruhe und übermäßige Aktivität

3 Gute Rahmenbedingungen schaffen

3.1 Was wissen Lehrer über Autismus?

3.2 Autismus und Inklusion

3.3 Voraussetzungen für Inklusion in der Schule

3.4 Tipps für Lehrer: Wie kann Inklusion gelingen?

3.5 Nachteilsausgleich: Wann, wie und warum?

3.5.1 Wie sieht ein Nachteilsausgleich aus?

3.5.2 Noch gut oder nur ausreichend? Die Frage nach den Noten

3.6 Allgemeine Probleme und Lösungen

3.6.1 Sitzordnung

3.6.2 Strukturierung der Pausen

3.6.3 Umgang mit Veränderungen

3.6.4 Klassenausflüge und Klassenreisen

3.7 Soziale Probleme

3.7.1 Mangelndes Verständnis für zwischenmenschliche »Spielregeln«

3.7.2 Gestik, Mimik und Co.: Nichts scheint zu passen

3.7.3 Merkwürdiger Blickkontakt

3.7.4 Gewalt

3.7.5 Soziale Eingliederung

3.7.6 Fantasie vs. mangelnde Kreativität

3.7.7 Zwanghafte Gesprächsthemen

3.8 Die Wichtigkeit von Regeln

3.9 Psychische Erkrankungen als Begleitstörungen

3.9.1 Essstörungen

3.9.2 Depressionen

3.9.3 Schlafstörungen

3.9.4 Angststörungen

3.10 Schulbegleiter: Die stille Begleitung

3.11 Probleme, sich zu organisieren

3.12 Schwankende Tagesform

4 Allgemeine Probleme

4.1 Verständnisschwierigkeiten

4.2 Probleme, den Kontext zu erkennen

4.3 Aufforderungen: Keine Reaktion

4.4 Brennpunkt Gruppenarbeit

4.5 Ärger mit der Handschrift

4.6 Der Frust mit den Buchstaben: Lese- und Rechtschreib-Schwäche

4.7 Mündliche Beteiligung

4.8 Zu große Klasse

4.9 Aufmerksamkeitsprobleme

4.10 Visuelles Denken

4.11 Zeitmangel

4.12 Depressive Störungen: Was tue ich, wenn das Kind nicht mehr leben will?

4.13 (Reiz-)‌Überflutung und »Overload«: Wie reagiere ich?

5 Fachspezifische Probleme

5.1 Mathematik/Naturwissenschaften

5.2 Deutschunterricht

5.3 Fremdsprachen

5.4 Geschichte

5.5 Gesellschaftswissenschaften/Soziologie

5.6 Religion

5.7 Musik

5.8 Sportunterricht

5.9 Befreiung von »ungeeigneten« Unterrichtsfächern?

6 Menschen im Autismus-Spektrum in der Klasse: Eine Herausforderung für alle

6.1 Peinliches Verhalten im Unterricht

6.2 Kein Respekt vor den Lehrkräften

6.3 Startschwierigkeiten

6.4 Die Konzentration geht auf Wanderschaft

6.5 Reaktionen auf Ablenkungen trainieren

6.6 Entspannung zum Ausgleich: Autogenes Training und Co.

6.7 Nicht immer dufte: Autismus und Körperhygiene

6.8 Die Sache mit der Liebe

6.9 Hochbegabung: Auch »Schlaubi« hat Probleme

7 Ausflug in die Arbeitswelt: Das Schülerbetriebspraktikum

8 Häufige Lehrerfragen und Antworten

9 Das Prinzip des Vertrauensvorschusses

Literaturempfehlungen: Fachbücher zum Autismus-Spektrum

Hilfreiche Webseiten

Tipps für Unterricht und Schule auf einen Blick

Kohlhammer

Die Autorin

Dr. rer. nat. Nicole Schuster, Medizinjournalistin und Apothekerin, klärt über das Autismus-Spektrum auf und setzt sich für ein vorurteilfreies Miteinander ein.

Nicole Schuster

Schüler im Autismus-Spektrum

Eine Innen- und Außenansicht mit praktischen Tipps für Lehrer, Psychologen und Eltern

Mit Geleitworten vonSven Bölte und Rüdiger Kißgen

6., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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6., aktualisierte Auflage 2024

Die 1. bis 5. Auflage dieses Werkes erschienen unter dem Buchtitel »Schüler mit Autismus-Spektrum-Störungen«.

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Umschlagabbildung und Illustrationen im Buch von Daphne Großmann

Print:ISBN 978-3-17-044147-7

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-044148-4epub: ISBN 978-3-17-044149-1

Zum Geleit

Geleitwort zur 1. Auflage

von Sven Bölte

Nach »Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing«, »... bis ich gelernt habe, einen Kussmund zu formen« und »Colines Welt hat tausend Rätsel« erscheint mit dem vorliegenden Werk ein weiteres wertvolles und anschauliches Buch von Nicole Schuster zum Phänomen Autismus. Schüler mit Autismus-Spektrum-Störungen: Eine Innen- und Außenansicht ist ein gleichermaßen engagierter wie praktischer Leitfaden für hilfreichen Umgang mit autistischen Menschen im schulischen Milieu. Erreichen möchte das Buch sowohl eine bessere und breitere Unterstützung der Entwicklung autistischer Menschen als auch ein harmonischeres Klassenleben für alle Beteiligten insgesamt. Auch wenn der Fokus des Buches auf dem schulischen Bereich liegt und insbesondere Lehrkräfte ansprechen möchte, können viele Inhalte einen deutlich weiteren Geltungsbereich beanspruchen, sodass ich die Lektüre auch Angehörigen, Experten und dem allgemein interessierten Leser ausdrücklich ans Herz legen kann.

Autismus kann mit schwerwiegenden Problemen der Alltagsbewältigung in allen Lebensbereichen einhergehen. Schule ist ein besonders wegweisender Lebensbereich und für Kinder oft der erste Schritt in den Ernst des Lebens. Leider ist für nicht wenige autistische Menschen der Schulbesuch eine Qual. Unter günstigen Bedingungen kann Schule aber auch als bereichernd erlebt werden und zur langfristig positiven Persönlichkeitsentwicklung beitragen. Auf Seiten der Lehrkräfte kommt es ebenfalls vor, dass autistische Schüler sowohl als belastend für den Unterricht erlebt als auch ihre Andersartigkeit und damit auch verbundenen Stärken geschätzt werden. Ich denke, die Verbreitung und Wirkung des vorliegenden Werkes kann wesentlich dazu beitragen, dass Schule für autistische Schüler ein positiv besetzter Ort wird und Lehrer ihren pädagogischen Auftrag mit autistischen Kindern gerne und effektiv durchführen.

Tobias ist der Protagonist des Buches, ein prototypischer autistischer Junge mit entsprechenden Schulproblemen. Er hat soziale Schwierigkeiten und solche der Sprache und Kommunikation, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Motorik. Er spielt nicht im eigentlichen Sinn, hat eingeschränkte Interessen, stereotypes Verhalten, ist unruhig und reagiert des Öfteren aggressiv, laut und unbeherrscht. Tobias' Verhalten stellt besondere Anforderungen an die Lehrkräfte. Aber was wissen Lehrer über Autismus? Was soll man tun, wenn er unkonzentriert, unmotiviert oder desinteressiert wirkt, den Unterricht und andere Kinder stört, aber auch gehänselt und gemobbt wird? Welche Art von Schule soll Tobias überhaupt besuchen: Regelschule, Förderschule? Macht ein Schulhelfer Sinn? Was macht autistischen Menschen in der Schule Kummer? Welche konkreten schulischen Momente bergen Zündstoff? Welche Schulfächer liegen Autisten, welche nicht? Was tun bei zusätzlicher Depression und Ängsten? Diese und viele andere Inhalte deckt das Buch ab und gibt vergleichbar einfach umsetzbare, effiziente Tipps: Sitzordnung gut verwalten, Pausen sinnvoll gestalten, Veränderungen transparent einführen, Klassenausflüge bewusst organisieren, Regeln stringent vermitteln, sozial schrittweise eingliedern, Aufforderungen verständlich setzen, Verständnisschwierigkeiten vermeiden, Klassengröße überdenken, visuelles Denken berücksichtigen, für Zeitmanagement kompensieren u. v. m.

Vieles am vorliegenden Buch überzeugt mich persönlich und als langjährig im Bereich Autismus tätigen Forscher und Kliniker. Zum Beispiel die Sachkenntnis und Bescheidenheit der Autorin. Ihre sachliche, nüchterne, unparteiische Art zu beschreiben, was autistische Menschen und sie Umgebende zum gegenseitigen Gewinn anstreben sollten. Ihre Fähigkeit zu »übersetzen«, was für autistische und nicht-autistische Menschen das jeweilige Handeln der anderen bedeutet, sodass es transparent und verstehbar wird. Ganz besonders aber das Prinzip »Vertrauensvorschuss«, welches Frau Schuster ihren Ausführungen zugrunde legt. Ihre eigene Biografie hat sie gelehrt, dass es für autistische Menschen immer Sinn macht, zu versuchen, sich nach ihren besten Möglichkeiten in die Gesellschaft zu integrieren, da sie dort letztlich irgendwann funktionieren müssen. Dafür bedarf es Mut und Anstrengungen autistischer Menschen und des Vertrauens anderer. Eltern und Bezugspersonen sollten nicht aus Sorge um jeden Preis versuchen, autistische Menschen in einem goldenen Käfig zu halten und bedingungslos zu schützen. Auch Mitleid der Umwelt ist fehl am Platz, dagegen sind Verständnis und Unterstützung zielführend. Ich schätze diese Grundhaltung des Buches im Sinne des Förderns und Forderns, besonders, weil sie von einer Person geäußert wird, welche die mit autistischem Verhalten einhergehenden Probleme exemplarisch gemeistert hat.

Schüler mit Autismus-Spektrum-Störungen: Eine Innen- und Außenansicht ist ein einprägsames Buch von hohem Aufforderungscharakter. Ich kann daher abschließend nur viele Leser und Auflagen wünschen.

Mannheim, im August 2009Prof. Dr. Sven BölteVorsitzender der Wissenschaftlichen Gesellschaft Autismus-Spektrum

Geleitwort zur 1. Auflage

von Rüdiger Kißgen

Menschen mit einer Störung des autistischen Spektrums sind nur dann miteinander vergleichbar, wenn man die Klassifikationskriterien der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation für die Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zugrunde legt. Für die dort u. a. vorfindbaren Diagnosen des Frühkindlichen Autismus und des Asperger-Syndroms gelten zum einen bestimmte Besonderheiten. Zum anderen aber verbindet Menschen mit diesen Diagnosen die Beeinträchtigung in sozialen Interaktionen, ihre Beeinträchtigung in Kommunikationsmustern sowie ein mehr oder weniger stark eingeschränktes, zuweilen stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten. Eine solch kategoriale Betrachtung autistischer Menschen ist aber insofern nicht unproblematisch, als sich autistische Menschen in der Realität natürlich erheblich voneinander unterscheiden. Autismus ist ein heterogenes, hoch individuelles Phänomen, bei dem sich – abgesehen von dem gesicherten Wissen um die genetische Verursachung des Syndroms – wenig verallgemeinern lässt. So gibt es nicht den einen autismusspezifischen Therapieansatz, eine immer wieder vorfindbare spezifische Symptomatik, den klassischen Entwicklungsweg eines autistischen Menschen, die typische Familienkonstellation oder ein vergleichbares Intelligenzprofil. All dies muss bei der Begegnung mit einem autistischen Menschen individuell erschlossen werden. Dies trifft auch zu, wenn ein autistisches Kind in die Schule kommt.

Die Ausgangslage für die Beschulung autistischer Kinder ist in Deutschland sehr heterogen. Dies liegt zum einen daran, dass – anders als beispielsweise im angloamerikanischen Sprachraum – kein Angebot an Spezialschulen besteht. Autistische Kinder und Jugendliche besuchen in Deutschland die bestehenden Regel- und Förderschulen. Diese unterliegen aufgrund der föderalistischen Strukturen bundeslandspezifischen Rahmenbedingungen, die mit einem gewissen Spielraum in den verschiedenen Regierungsbezirken umgesetzt werden. Die Schulen selbst entwickeln auf dieser Basis für die einzelnen Unterrichtsfächer ihre didaktischen Konzepte, die dann wiederum von den Lehrpersonen in den Klassen individuell interpretiert und angewendet werden. Das universitär verankerte Lehramtsstudium in Deutschland sieht in den jeweiligen Curricula für die unterschiedlichen Förderschultypen keine Lehrveranstaltungen zum Thema Autismus verpflichtend vor. Dies bedeutet für die Schullaufbahn eines autistischen Kindes, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, immer wieder auf Lehrpersonen zu treffen, die über die Komplexität autistischer Spektrumstörungen und die damit verbundenen individuellen Erfordernisse nicht informiert sind. Berücksichtigt man, dass die Institution Schule die einzige Institution ist, die autistische Kinder und Jugendliche durchlaufen müssen, dann werden unter den aktuellen Voraussetzungen jahrelang Chancen für eine kompetente professionelle Begleitung dieser Kinder und Jugendlichen vertan. Selbst wenn in einem Bundesland oder in einer Kommune die integrative Beschulung autistischer Kinder propagiert wird: Was nutzt dies, wenn Lehrpersonen oder Schulbegleitungen nicht angemessen über das Störungsbild informiert sind? Natürlich kann ein autistisches Kind mit etwas Glück auf eine Lehrperson treffen, die sich während ihres Studiums mit dem Thema Autismus beschäftigt hat und möglicherweise über Praxiserfahrungen mit betroffenen Kindern und ihren Familien verfügt. Dies aber ist nicht die Regel und rein zufällig bedingt. Wünschenswert wäre es, Informationen zu den Störungen des autistischen Spektrums in die Lehramtsstudiengänge verpflichtend aufzunehmen. Bereits bei nicht-autistischen Kindern kommt es hinsichtlich der schulischen Leistungen darauf an, ein ausgewogenes Maß zwischen einer Unter- und Überforderung zu finden, welches sich motivierend auf die Lernbereitschaft der Kinder auswirkt. Dies ist bei autistischen Kindern nicht anders. Anders als bei nicht-autistischen Kindern sind aber hier die besonderen störungsbedingten Probleme der Kinder sowie die resultierenden besonderen Anforderungen an die schulischen Rahmenbedingungen und die Lehrpersonen zusätzlich zu berücksichtigen.

Nicole Schuster setzt sich in ihrem Buch mit diesem Themenspektrum intensiv auseinander. Die Besonderheit in der Herangehensweise besteht darin, dass die Autorin aufgrund ihrer eigenen Geschichte mit der Diagnose des Asperger-Syndroms in der Lage ist, dem Leser eine Binnenperspektive über das Erleben schulischer Situationen durch autistische Kinder zu eröffnen. Dieser neue Blickwinkel auf die Institution Schule ermöglicht praxisrelevante Einsichten für all jene, die sich für den Lebensweg autistischer Menschen interessieren. Es ist dem Buch zu wünschen, dass es nicht nur im schulischen Kontext eine breite Resonanz findet.

Köln, im September 2009Prof. Dr. Rüdiger KißgenUniversität zu Köln, Humanwissenschaftliche Fakultät

Vorwort zur 1. Auflage

Das autistische Kind gibt es nicht. Jedes autistische Kind ist anders. Jedes autistische Kind ist eine neue Herausforderung für die Lehrkraft.

Autismus ist als eine tiefgreifende Entwicklungsstörung definiert. Die komplexen Störungen des Zentralnervensystems, die der Behinderung zugrunde liegen, wirken sich auf kognitive, sprachliche, motorische, emotionale und interaktionale Funktionen aus und führen zu Veränderungen im Bereich der Wahrnehmungsverarbeitung. Symptomatisch steht bei den Betroffenen eine in der Schwere unterschiedlich stark ausgeprägte Beziehungs- und Kommunikationsstörung im Zentrum. Das Verhalten von Autisten besitzt häufig einen repetitiven Charakter.

Bestimmte Merkmale autistischer Menschen finden sich auch in der normalen kindlichen Entwicklung wieder. Allerdings ist es so, dass die Verhaltensweisen bei nicht-autistischen Kindern meistens nur kurzzeitig auftreten und damit nur eine vorübergehende Entwicklungsstufe sind. Bei autistischen Kindern überdauern sie hingegen bis weit über den normalen Zeitpunkt hinaus. Ein Beispiel ist die Echolalie, das Nachsprechen von Wörtern oder Sätzen. Viele kleine Kinder durchlaufen diese Stufe beim Sprechenlernen. Autistische Kinder können hingegen teilweise noch als Neun- oder Zehnjährige durch echolalische Wiedergaben kommunizieren.

Bei Kindern mit Autismus treten typische Entwicklungsschritte der kindlichen Reifung oft erst verzögert auf. Die innere Reife und das Verhalten stehen im Widerspruch zu dem tatsächlichen Alter des Kindes. Es entsteht ein dem Alter nicht angemessenes Verhaltensbild.

In anderen Bereichen können autistische Kinder schon sehr viel weiter als die Gleichaltrigen sein, zum Beispiel wenn es um Faktenwissen oder um logisches Denken geht.

Diese und viele andere Symptome des autistischen Kindes machen es für Lehrkräfte schwierig, sich auf die Kinder einzustellen. In der Schule werden Kinder mit Auffälligkeiten aus dem Autismus-Spektrum entsprechend häufig zu einem Problemfall. Die vielen Fragen und manchmal auch die Hilflosigkeit der Lehrer, die nicht wissen, ob ihre Bemühungen die Kinder überhaupt erreichen, ob sie ihnen gerecht werden oder ob die Schüler einer ganz anderen Förderung – vielleicht auch gar keiner? – bedürfen, erlebe ich oft bei meinen Fortbildungsveranstaltungen für Lehrer. Mit diesem Buch möchte ich aus meiner Sicht Antworten geben – aus der Sicht einer jungen Frau, die ihren Autismus jetzt als weitgehend überwunden betrachtet, aber mit dieser Störung sowohl Schule als auch Studium durchlaufen musste.

Meine Ratschläge sind keine allgemeingültigen Handlungsanweisungen und können auch nicht für die individuellen Probleme eines jeden Kindes gleich gut geeignet sein. Dennoch hoffe ich, den Lesern mit diesem Buch hilfreiche Einblicke in die Innenwelt von Schülern mit Autismus geben zu können.

Holzkirchen, im August 2009Nicole Schuster

1 Über Tobias

Autistische Menschen teilen bestimmte Gemeinsamkeiten. Das sind vor allem solche, die durch die medizinischen Diagnosekriterien bedingt sind. Daneben gibt es Unmengen an individuellen Unterschieden, die Menschen im Autismus-Spektrum zu einer heterogenen Gruppe machen. Oft überwiegen die Unterschiede sogar die Gemeinsamkeiten. Daher ist es unmöglich, von »dem Autisten« schlechthin zu sprechen. Individuelle Berichte spiegeln immer nur die persönlichen Erfahrungen einer einzelnen Person mit der Krankheit und ihren Symptomen wider.

Um aber in diesem Buch autistische Schüler mit möglichst vielen Eigenschaften darzustellen, die in der Realität kaum eine einzelne Person in sich vereinigen kann, wurde eine fiktive Figur geschaffen. Der Junge mit Autismus-Spektrum-Störung, den wir in diesem Buch begleiten werden, ist »Tobias«. Diese fiktive Tobias ist in der Masse seiner Auffälligkeiten repräsentativ für ganz verschiedene Typen von autistischen Schülern.

Tobias ist 14 Jahre alt, hat als Spezialinteresse Comics, ist überaus wahrnehmungsempfindlich und hat in seiner Klasse keinen einzigen richtigen Freund.

Hier noch zwei Hinweise:

Im Buch wird überwiegend von Menschen im Autismus-Spektrum oder von autistischen Menschen gesprochen. Das Wort »Autist« wird indessen weitgehend gemieden, da es auch als Schimpfwort verwendet wird. Viele Menschen ziehen die Beschreibungen »Mensch im Autismus-Spektrum« oder »Mensch mit Autismus« vor, um zu zeigen, dass der Mensch an erster Stelle steht und der Autismus nur ein Teilaspekt von ihm ist. Andere Menschen hingegen möchten sich selbst als »Autist« bezeichnet sehen, da diese Ausprägung der neurologischen Diversität bestimmend für ihr Leben sei.

Dieses Buch ist im generischen Maskulinum verfasst. Auf ein Gendern wurde verzichtet, um die Lesbarkeit nicht zu beeinträchtigen. Wo nicht ausdrücklich anders bezeichnet, sind bei Personenbezeichnungen alle Geschlechter eingeschlossen.

2 Was ist Autismus?

2.1 Kurzer historischer Abriss

Der schweizerische Psychiater Eugen Bleuler (1857 – 1939) befasste sich mit der Schizophrenie. 1911 prägte er den Begriff »Autismus«. Bleuler verstand darunter kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern schlicht eine der Erscheinungen der Schizophrenie, die er unter »sekundären Symptomen« einordnete. Für ihn drückte sich Autismus in dem egozentrischen und rein auf sich selbst fixierten Denken und Verhalten schizophrener Menschen aus.

Autismus als die Entwicklungsstörung, die wir heute darunter verstehen, wurde in dieser Form erst zur Zeit des Zweiten Weltkriegs beschrieben. Der österreichisch-amerikanische Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner erwähnte 1938 Kinder, die im Bereich der Wahrnehmung, der Entwicklung sowie des sozialen und kommunikativen Verhaltens Störungen aufwiesen. 1943 diagnostizierte er bei elf Kindern eine »autistische Störung des affektiven Kontakts«. Später wurde dieser Kanner-Autismus auch als frühkindlicher Autismus bezeichnet.

Zu etwa derselben Zeit machte der Wiener Kinderarzt Hans Asperger völlig unabhängig von Kanner die gleiche Entdeckung. Er beschäftigte sich dabei mit Jungen. Im Gegensatz zu den Patienten von Kanner wiesen Aspergers Jungen alle eine entwickelte Sprache auf, die zu einem der Merkmale des sog. Asperger-Syndroms wurde.

Einige Menschen sehen in verschiedenen berühmten, bereits verstorbenen Persönlichkeiten Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung. Zu diesem Kreis zählen unter anderem Größen wie Albert Einstein, Isaac Newton und Wolfgang Amadeus Mozart. Genies sind unter den autistischen Menschen wie unter allen anderen Menschen jedoch die Ausnahme und nicht die Regel. Wichtig ist zu beachten, dass Autismus Erfolg nicht entgegenstehen muss. Und das wiederum ist eine große Herausforderung an die Schule: Autistische Schüler weisen oftmals große Potenziale auf. Diese zu erkennen und angemessen zu fördern, ist jedoch oft schwer, manchmal sogar unmöglich.

2.2 Vergleich Asperger- und Kanner-Autismus,Begriff »Autismus-Spektrum«

»Er ist ein politischer Autist«, »Der benimmt sich wie ein Autist« – diese und andere zeitweise höchst beliebten Redewendungen zeigen, wie wenig die Gesellschaft als Ganzes vom Autismus weiß. Gleichwohl ist der Begriff »Autist« bei vielen Menschen häufig im Munde.

Das so oft anzutreffende Halb- und Unwissen erklärt sich unter anderem sicherlich daraus, dass die verschiedenen Formen und Diagnosemöglichkeiten für eine sog. »Störung aus dem Autismus-Spektrum« selbst für Experten zunehmend schwer zu durchschauen sind. Wer ist Autist und wer nicht? Die Grenzen scheinen zu verschwimmen, mit dem Resultat, dass die Zahl der mit der »Modediagnose« Autismus versehenen Menschen weiter ansteigt. Autist ist dann längst nicht nur jemand, der starke Einschränkungen gemäß den einstigen Kanner-Kriterien erfüllt. Als Autist fühlt sich oft auch schon der angesprochen, der nur ein bisschen »anders« als die Allgemeinheit ist. Auch diese Menschen erhalten oft eine Autismus-Diagnose, sodass heute von einer großen, überaus heterogenen Gruppe von Menschen im Autismus-Spektrum ausgegangen werden kann.

Sinnvoll ist es daher, zunächst einmal zu den Wurzeln des Krankheitsbildes Autismus zurückzugehen. Der österreichisch-amerikanische Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner und der österreichische Kinderarzt Hans Asperger haben für die jeweils nach ihnen benannten Störungen die wichtigsten Merkmale beschrieben.

Kanner nannte in seinen Ausführungen zwei Grund- und vier Sekundärsymptome:

Grundmerkmale:

Erstes Auftreten in der frühesten Säuglingsentwicklung

Verzögerungen in der Sprachentwicklung

Sekundärmerkmale:

Positive Einstellung zu Gegenständen

Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten

Motorische Auffälligkeiten

Die Unfähigkeit, zu Menschen normale Beziehungen aufzunehmen

Autisten, die diese Kernsymptome aufweisen, bezeichnen Mediziner heute als Kanner-Autisten bzw. als Menschen mit frühkindlichem Autismus. Diese Betroffenen benötigen häufig ihr ganzes Leben lang Unterstützung, oft schon bei einfachen, alltäglichen Tätigkeiten wie dem Zähneputzen. Die Gruppe der Kanner-Autisten erscheint als eine verhältnismäßig kleine Subgruppe im autistischen Spektrum und macht nur etwa 0,13 – 0,22 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.

Hans Asperger stellte bei der von ihm beschriebenen »autistischen Psychopathie«, welche ab dem dritten Lebensjahr auftritt, folgende Symptome fest:

Hemmungen im emotional-affektiven Bereich

Tendenz zur Abkapselung und Selbstisolierung

Frühe Fähigkeiten im sprachschöpferischen Bereich, gleichzeitig aber Störungen in der Sprache als Kommunikationsmittel

Abweichen des Denkens vom praktischen Handeln

Motorische Stereotypien

Durchschnittliche bis überdurchschnittliche Intelligenz

Probleme im Trieb- und Gefühlsleben

1994 definierte die 10. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) den Kanner-Autismus (oder auch frühkindlichem Autismus), das Asperger-Syndrom und den atypischen Autismus als Störungen aus dem Autismus-Spektrum.

Tab. 2.1:Übersicht über die Symptome bei verschiedenen Autismus-Typen (nach ICD-10-GM Version 2023)

FrühkindlicherAutismus

Asperger-Syndrom

Atypischer Autismus

Synonyme

Autistische Störung,

FrühkindlichePsychose,

Infantiler Autismus,

Kanner-Syndrom

Autistische Psychopathie,

Schizoide Störung des Kindesalters

Atypische kindliche Psychose,

Intelligenzminderung mit autistischen Zügen

Auftreten erster Symptome

Vor dem 3. Lebensjahr

Möglicherweise erst nach dem 3. Lebensjahr

Abnorme Funktionen in denBereichen

Soziale Interaktion, Kommunikation, eingeschränktes stereotyp repetitives Verhalten

Soziale Interaktion, eingeschränktes stereotyp repetitives Verhalten

Diagnostische Kriterien möglicherweise nicht in allen Bereichen erfüllt

Entwicklung

Abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung

Fehlende allgemeine Entwicklungsverzögerung bzw. fehlender Entwicklungsrückstand der Sprache und der kognitiven Entwicklung

Sehr häufig bei schwer retardierten bzw. unter einer schweren rezeptiven Störung der Sprachentwicklung leidenden Patienten

Weitere Symptome

Unspezifische Probleme wie Phobien, Schlaf- und Essstörungen, Wutausbrüche und (autodestruktive) Aggression

Auffallende Ungeschicklichkeit

Charakteristische Abweichungen auf anderen Gebieten vorliegend

Seit Januar 2022 ist international die 11. Revision ICD-11 gültig. Diese Klassifikation fasst alle Ausprägungen des Autismus unter der Diagnose »Autismus-Spektrum-Störung« (ASS) und auf Englisch »autism spectrum disorder« (ASD) zusammen. Damit trägt die Wissenschaft der Erkenntnis Rechnung, dass die zuvor unterschiedenen Subtypen in der Praxis oft schwer unterscheidbar sind. In Deutschland kann das aktualisierte Kodiersystem bereits angewendet werden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) stellt den aktuellen Stand der Übersetzung auf seiner Website zur Verfügung.1

2.3 Wie häufig ist Autismus?

Es gibt nach wie vor wenige valide Daten zur Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen. Autismus Deutschland e. V. beruft sich auf Untersuchungen in Europa, den USA und Kanada und gibt darauf basierend an, dass etwa 6 bis 7 von 1.000 Personen an einer Störung aus dem Autismus-Spektrum leiden. Der Anteil der Jungen/Männer erweist sich in den meisten Untersuchungen als höher als der Anteil der Mädchen/Frauen. Schätzungen zufolge beträgt das Verhältnis männlich–weiblich etwa 2:1 bis 3:1.

Untersuchungen zeigen eine Steigung der Prävalenz in den letzten Jahrzehnten an. Ob diese Zunahme allein auf eine bessere und frühere Diagnostik zurückzuführen ist oder ob tatsächlich mehr Menschen betroffen sind, ist unklar.

Ärzte können eine Autismus-Spektrum-Störung an keinem objektiven Marker – etwa an einem bestimmten Laborwert – feststellen. Die Diagnose ist daher weniger objektiv als bei anderen Krankheiten. Eine Autismus-Spektrum-Störung machen Ärzte an Beobachtungen und Verhaltensauffälligkeiten fest. Fragebögen oder Testmethoden etwa am Computer können die Untersuchung ergänzen. Zudem muss der Arzt Krankheiten ausschließen, die eine ähnliche Symptomatik verursachen können. Weitere Untersuchungen wie etwa eine Bildgebung des Gehirns können vorgenommen werden, um andere Ursachen auszuschließen.

Es ist wegen der subjektiven Art der Diagnosestellung möglich, dass bei Menschen, die an einer Autismus-Spektrum-Störung leiden, diese nicht erkannt wird, und im gegenteiligen Fall, dass Ärzte beim Vorliegen einiger an Autismus erinnernder Symptome irrtümlich die Diagnose stellen. Manche dieser Patienten leiden vielleicht an einer ganz anderen Störung oder Krankheit. So können sich beispielsweise Verhaltensmerkmale und kognitive Auffälligkeiten bei Patienten mit Magersucht und dem Asperger-Syndrom ähneln. Fehldiagnosen können in beiden Fällen tragisch sein, wenn Betroffene dadurch keine adäquate therapeutische Hilfe bekommen.

2.4 Erklärungsansätze für das Phänomen »Autismus«

Bis heute ist nicht eindeutig geklärt, wodurch Autismus verursacht wird. Drei Faktoren scheinen bei der Entstehung des Störungsbildes eine Rolle zu spielen: Erbliche Grundlagen, neurologische Veränderungen und Umwelteinflüsse.

Als sicher erscheint, dass eine genetische Disposition beim Autismus vorliegt. Es gibt verschiedene Gene, die im Zusammenspiel zu Autismus-Spektrum-Störungen führen sollen. Je nachdem, welche und wie viele Gene betroffen sind, sollen die autistischen Symptome stärker oder schwächer ausgeprägt sein. Ein Indiz für Gene als Auslöser von Autismus finden Wissenschaftler in Familien- und Zwillingsstudien. Ebenfalls ein Hinweis darauf könnten Untersuchungen sein, die zeigen, dass ein älterer Vater einen Risikofaktor für Autismus beim Kind darstellt. Je älter Eltern sind, desto eher weist das Erbmaterial ihrer Keimzellen Defekte auf.

Genetische Veränderungen können Veränderungen im Gehirn zur Folge haben. Bei Autisten stehen neben der Kommunikation von Hirnregionen der Frontal- und Temporallappen auch das Kleinhirn sowie das limbische System im Fokus. Eine Theorie besagt, dass Menschen im Autismus-Spektrum einen veränderten Informationsfluss im Gehirn aufweisen. Untersuchungen zeigen zum Beispiel, dass die Korrelation der Aktivität verschiedener Hirnbereiche bei Menschen mit Autismus verändert ist. Wissenschaftler sprechen hier von Störungen in der Konnektivität, also im Verbindungsmuster. Eine vor wenigen Jahren populäre Erklärungsmöglichkeit ging auf die Entdeckung von Spiegelneuronen im Gehirn zurück. Diese Nervenzellen werden nicht nur dann aktiv, wenn man selbst handelt, sondern auch dann, wenn es ein anderer tut. Es hieß, dass Symptome von Autismus-Spektrum-Störungen auf Störungen im Bereich der Spiegelneuronen zurückgehen könnten. Heute schreiben die meisten Wissenschaftler den Spiegelneuronen zur Erklärung von Autismus keine wesentliche Rolle mehr zu.

Bestimmte Auslöser aus der Umwelt (»Trigger-Faktoren«) sind möglicherweise für den Ausbruch oder die Manifestation von Symptomen verantwortlich. In einigen Fällen wurde ein Zusammenhang mit einer Infektions- oder einer anderen Krankheit vermutet, von der das Kind in seinen ersten Lebensjahren oder aber die Mutter während der Schwangerschaft betroffen war. Beweise für diese These fehlen jedoch.

Einige Wissenschaftler führen autistische Symptome auf Veränderungen im hormonellen System, Autoimmunkrankheiten, Stoffwechselstörungen oder biochemische Besonderheiten im Botenstoffwechsel im Gehirn zurück. Hinweise auf einen möglichen Einfluss der Darmmikrobiota werden ebenfalls zur Erklärung herangezogen. Im Tierversuch wurde gezeigt, dass eine Änderung in der Darmflora zu einer Verhaltensänderung führen kann, die an Autismus erinnert. Verfechter der Theorie nehmen an, dass eine Ernährungsmodifikation die Darmflora verändern und dadurch eine Besserung des autistischen Verhaltens herbeiführen könnte. Einen ausreichenden wissenschaftlichen Nachweis gibt es dafür nicht.

Wie genau letzten Endes Autismus entsteht und welche Einflussfaktoren tatsächlich eine Rolle spielen, muss noch weiter erforscht werden. So gelten heute viele Ursachentheorien zum Autismus, die einst eine große Anhängerschaft hatten, als widerlegt. Wissenschaftler können mittlerweile bestätigen, dass quecksilberhaltige Impfstoffe mit Konservierungsmitteln wie Thiomersal keinen Autismus auslösen. Auch ist längst klar, dass eine Berufstätigkeit bei der Mutter (»Kühlschrankmutter«2) keinen Autismus bei einem gesund geborenen Kind auslöst.

Um die Entstehung der eigentlichen Symptome bei Betroffenen im autistischen Spektrum zu beschreiben, existieren ebenfalls verschiedene Theorien. Begriffe wie Theory of Mind, beeinträchtigte Exekutivfunktionen sowie schwache zentrale Kohärenz kommen hier immer wieder auf.

Der Begriff Theory of Mind beschreibt die Fähigkeit, einerseits eigene Gefühle und Gedanken auszudrücken und andererseits die Mimik, Gestik und Tonlage der anderen zu verstehen. Autisten verfügen nur eingeschränkt über diese Fähigkeiten, was zu ihren Problemen im zwischenmenschlichen Bereich beiträgt. Handlungen anderer können falsch interpretiert werden und unverständlich erscheinende Reaktionen auslösen.

Exekutivfunktionen sind alle jene Funktionen, die es einem Menschen ermöglichen, vorausschauend zu planen, Planungen umzusetzen und auf Veränderungen zu reagieren. Ein Beispiel ist das Decken eines Tisches. Für autistische Personen kann diese an sich alltägliche und simple Handlung eine immense Herausforderung sein. Exekutive Fähigkeiten brauchen Kinder auch zum Lernen. Bei mangelnden exekutiven Funktionen fällt das Lernen schwerer.

Die zentrale Kohärenz ermöglicht es einem Menschen, Einzelelemente zu einer Ganzheit zusammenzufügen und die Umwelt in ihrem Gesamtzusammenhang zu verstehen. Autistische Menschen nehmen ihre Umwelt hingegen in einzelnen Details wahr, erkennen aber weder deren Zusammenhänge noch das große Ganze. Der starke Fokus auf Details kann beispielsweise beim Lernen Vorteile verschaffen, in den meisten Fällen wirkt er sich aber als nachteilig aus, da Schulstoff zwar in kleinen Häppchen präsentiert wird, dann aber für Prüfungen oder zur Anwendung im Alltag zusammengefügt werden muss.

2.5 Autismus – Behinderung oder nicht?

Viele Asperger-Autisten wünschen sich eine Sonderbehandlung – etwa einen Nachteilsausgleich in der Schule –, wie sie auch Menschen mit Behinderungen zusteht.

Während Formen des frühkindlichen Autismus fast immer als Behinderung klassifiziert werden müssen, ist die Situation für Menschen, die Asperger-Autismus diagnostiziert bekommen haben, weniger eindeutig. Das Asperger-Syndrom wird zwar sozialrechtlich als Form der seelischen Behinderung eingeordnet. Viele Betroffene können sich damit aber nicht identifizieren und widersprechen dieser Einschätzung. In ihrem Selbstverständnis sehen sie sich als Menschen, die anders sind als die meisten anderen Menschen, und argumentieren weiter, dass »anders« auch wieder relativ sei, da jeder Mensch auf seine Weise anders sei. »Anders« wird demnach »normal«. Autismus als eine Normvariante der menschlichen Wesensart bzw. der Informationsverarbeitung stellt per se keine Behinderung dar. Die abweichende Informationsverarbeitung kann aber im Alltag und vor allem in Gesellschaft einschränken. Manche Asperger-Autisten gehen noch einen Schritt weiter, wenn sie ihre Wesensart bewerten. Sie fokussieren allein auf die Vorteile und betrachten den Asperger-Autismus als eine Art höhere Evolutionsstufe des Menschen. Sie sagen zum Beispiel, dass sie besser angepasst seien an die Erfordernisse einer technisierten Welt als die meisten anderen, vorrangig sozial orientierten Menschen. Während der COVID-19-Pandemie erschien es oft so, als hätten diese Menschen damit gar nicht so Unrecht.

Die Spannbreite zwischen einer gewissen Hilflosigkeit der Betroffenen im Alltag und einem teils überzogenen Stolz auf die eigene Wesensart zeigt die Schwierigkeit dieser Diskussion.

Auch wenn verständlich ist, dass die Frage, ob Autismus eine Behinderung ist oder nicht, gerade für die Betroffenen sehr emotional ist, ist es doch allein schon aus sozialrechtlichen Gründen wichtig, sich der Diskussion nicht von vorneherein zu verschließen. Sinnvoller ist es, erst einmal die Fakten zu betrachten, was eine Behinderung überhaupt ausmacht. Menschen mit Behinderung erleben bestimmte Situationen als schwerer als andere Menschen. Es spielt hier zunächst keine Rolle, ob die Behinderung durch äußere Faktoren (zum Beispiel fehlender Fahrstuhl) oder innere Faktoren (zum Beispiel angeborene Gehörlosigkeit) bedingt ist. Entscheidend ist die Erschwernis im Alltag, durch die den betroffenen Menschen ein Nachteil entsteht, den es auszugleichen gilt. Unter dieses Verständnis von Behinderung und Nachteilsausgleich fallen auch viele Menschen mit Asperger-Autismus. Ihnen können ihre besondere Wahrnehmung und ihre Einschränkungen im Sozialverhalten im Alltag Steine in den Weg legen. Wie sehr sich ein autistischer Mensch behindert fühlen muss, hängt zum einen von seiner Umwelt, zum anderen aber auch von seinem inneren Empfinden ab. Sobald ihm aber Nachteile welcher Art auch immer aus seiner Form der neurologischen Diversität erwachsen, sollte er ein Recht auf ausgleichende Maßnahmen haben.

Auch wenn sich Menschen speziell mit der klassisch als Asperger-Autismus beschriebenen Autismus-Ausprägung nicht generell als behindert empfinden müssen, so gilt das oft speziell für Situationen, in denen diese Menschen für sich allein sind. In Gesellschaft, in der Schule bzw. im Beruf stoßen sie häufig auf Hindernisse und Barrieren, die sie behindern. Durch sie stoßen sie in vielen Situationen an ihre Grenzen, in denen andere Menschen noch längst nicht am Limit sind.