Coming home for love - Annabelle Benn - E-Book

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Annabelle Benn

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Beschreibung

Der spritzige Sommerroman von der Bild-Bestseller-Autorin Annabelle Benn

Die Powerfrau Cassie kehrt in das ländliche Minnesota zurück, nachdem ihr Traum vom großen Erfolg in New York geplatzt ist. So groß die Wiedersehensfreude anfangs auch ist, so stark schmerzen die Niederlage und die Umstellung vom aufregenden Stadt- auf das idyllische Landleben. Apropos Idylle: Davon kann Cassie nur träumen, denn schneller als befürchtet steht ihre alte Highschool Liebe Nick vor ihr. Er hat sich mittlerweile zu einem attraktiven Geschäftsmann entwickelt und bietet ihr den dringend benötigten Job bei seinem aktuellen Bauvorhaben - dem Umbau eines großartigen Anwesens in ein exklusives Hotel. Sofort knistert es wieder zwischen den beiden, was Nicks eifersüchtiger und intriganter Freundin natürlich nicht entgeht.

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Inhaltsverzeichnis

1. CASSIE

2. NICK

3. CASSIE­­­­­­­­

4. NICK

5. CASSIE

6. NICK

7. CASSIE

8. RACHEL

9. CASSIE

10. RACHEL

11. CASSIE

12. RACHEL

20. CASSIE

21. NICK

22. CASSIE

23. RACHEL

24. NICK

25. CASSIE

28. CASSIE

29. NICK

30. RACHEL

31. CASSIE

EPILOG

„Das kleine Hotel in der Lagune“

1

2

3

Impressum

Auflage 1, Mai 2020

Copyright: Annabelle Benn, Deutschland

Cover: Sarah Paige, 2020

R.O.M Autorenclub, R.O.M. logicware, Pettenkoferstr. 16-18, 10247 Berlin

[email protected]

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung, auch auszugsweise, ist nur nach schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet. Alle Rechte liegen bei der Autorin.

Alle Personen und Handlungen dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1. CASSIE

Normalerweise bin ich kein "Sehen Sie es als Zeichen des Himmels"-Typ, aber selbst ich musste zugeben, dass die tosenden Gewitterwolken und der prasselnde Regen, durch den ich nun schon seit sieben Stunden fuhr, etwas Ominöses an sich hatten und alles andere als ein gutes Zeichen sein konnte. Dabei war es egal, dass ich in den letzten sechs Monaten täglich über diesen Schritt nachgedacht hatte. Ebenso unbedeutend war es, dass mein Therapeut, meine beste Freundin und der Portier meines ehemaligen New Yorker Appartementhauses sich darin einig waren, dass diese Entscheidung gut und richtig für mich war. Das Wetter und mein hämmerndes Herz hingegen waren beide davon überzeugt, dass ich einen großen, großen Fehler machte und augenblicklich umdrehen sollte.

Ich tat nichts dergleichen, sondern holte tief Luft und drückte weiterhin aufs Gaspedal des Leihautos. Dabei versuchte ich, nicht allzu viel darüber nachzudenken, was ich tun würde, wenn ich das Ziel meiner langen Fahrt erst einmal erreicht hätte. Denn ausnahmsweise hatte ich keine Ahnung.

Ich bin nämlich ein "Pack den Stier bei den Hörnern"-Mädchen. Ich verschaffe mir Möglichkeiten. Ich sage den Leuten direkt, was ich will; dann gehe ich hin und hole es mir. Zugegeben, ein Teil dieser Fähigkeit, mein Leben spielerisch nach meinen Vorstellungen zu erschaffen, war auf das himmlische Geschenk meines ziemlich auffälligen Aussehens zurückzuführen. Ich war groß und schlank, hatte glattes schwarzes Haar, eine reine, strahlende Haut und eigentümlich hellgrüne Augen. Mir war bewusst, dass mein Aussehen meiner Intelligenz und meinen Absichten mehrmals den Weg geebnet hatte. Aber New York City war voll von schönen Mädchen, die es nicht geschafft hatten, und ich hatte es geschafft. Zumindest eine Zeitlang. Oder wenigstens hatte ich das gedacht, bis vor etwa einem Jahr meine "Drittel-Lebens-Identitätskrise" über mich hereingebrochen war wie ein Tsunami. Weil ich mit einem Mal alles sinnlos fand, weil ich mir sicher war, dass mich nie ein Mann so lieben würde, wie ich wirklich war, und weil mich das ewige Gerenne um den nächsten Auftrag, die nächste Karrierestufe, das beste Outfit völlig kaputt gemacht hatten. Das, und noch so einiges mehr, worüber ich nicht gern nachdachte. Deswegen ließ ich gerade einen hart erkämpften Job mit Trainings und Sprachunterricht für hochrangige internationale Führungskräfte sowie ein Leben voller Action und Aufregung hinter mir – nur, um „mich selbst zu finden". Zu diesem Zweck hatte ich beschlossen, an den Ort zurückzukehren, von dem ich geschworen hatte, dass ich nie mehr einen Fuß daraufsetzen würde.

Mein Zuhause.

Bald wäre ich wieder da.

Allein der Gedanke daran, ließ mich nach dem Medikament gegen die Angstzustände, das mein Therapeut mir verschrieben hatte, Ausschau halten. Beruhigt stellte ich fest, dass die Flasche aus meiner Tasche auf dem Beifahrersitz gekullert war. Normalerweise neigte ich nicht dazu, Medikamente außerhalb ihres vorgesehenen Zwecks einzunehmen (was angesichts meines Freundeskreises an ein Wunder grenzte), aber heute war eben alles anders. Dennoch musste ich dem Drang widerstehen, eine Pille zu schlucken, da ich fahrtüchtig bleiben musste.

Es war nicht so, dass meine Heimat schlecht gewesen wäre. Wenn ich mich recht erinnere, war es sogar ein ziemlich idyllisches Städtchen in den Bergen, versteckt in einem hübschen Tal neben einem wunderschönen See, der dem Ort seinen Namen verlieh: Crystal Lake.

Ich wuchs hier draußen auf, eroberte die Stadt mit meinem Fahrrad und verbrachte die meisten Sommer klatschnass - aus den unterschiedlichsten Gründen. Crystal Lake war klein genug, dass man hier jeden kannte, aber weit genug entfernt von größeren Hauptverkehrsstraßen (oder sogar einer Stadt mit einem Walmart), sodass wir keine Angst vor Eindringlingen hatten. Ich war glücklich. Ich wurde geliebt. Mir stand eine rosige Zukunft bevor.

Umso mehr überraschte es jeden, mich selbst eingeschlossen, als ich völlig unvermittelt und ebenso überzeugt verkündete, dass ich Crystal Lake verlassen und nie wieder zurückkommen würde. Dabei war ich mir selbst nicht sicher, weshalb ich so eisern an meiner Entscheidung festhielt. Doch was auch immer der Grund war, es schien unglaublich wichtig, dass ich meine Ankündigung durchzog und so packte ich meine trendigsten Outfits zusammen, hüpfte in einen Bus und hoffte, dass Tante Meredith mich bei sich wohnen lassen würde, was sie zum Glück tat. Doch das war mehr als zehn Jahre her, und obwohl meine Trotzhaltung schon längst verschwunden war und ich eine ganz passable Beziehung zu meinen Eltern hatte, hielt ich mein Wort und kam nie wieder zurück, nicht einmal zu Thanksgiving oder Weihnachten.

Bis jetzt.

Ich erreichte gerade die Stadtgrenze, als meine Benzinlampe aufleuchtete. Also nahm ich den längeren Weg zum Haus meiner Eltern – die Hauptgeschäftsstraße der Stadt hinunter, vorbei an den verblichenen, aber sauberen Fassaden der zwei Dutzend örtlichen Geschäfte, die immer noch jeden Tag stolz ihre Türen öffneten, obwohl Amazon Prime sie hart getroffen haben musste. Eines musste man den Kleinstadtbewohnern lassen: Sie waren gut darin, sich um ihre eigenen Leute zu kümmern. Das Kino am Platz kündigte aktuelle Filme an, der Lebensmittelladen hatte einen Drive-in installiert, als hätte es jeder in dieser Stadt plötzlich eilig, irgendwo hinzukommen. Ich fuhr vorsichtig um die Schlaglöcher herum, die sich schon immer an der Einfahrt von der Tankstelle gebildet hatten - einer Tankstelle, die so oft den Besitzer wechselte, dass man nie sicher sein konnte, ob es gerade eine Quick Trip oder doch eine Kwik Fill war – und fing an zu tanken.

Mit einem tiefen Seufzer fuhr ich mir durchs Haar und drehte mich langsam im Kreis, um mein ehemaliges und zukünftiges Zuhause zu betrachten. Von hier aus konnte ich gerade noch das alte Hampton-Haus auf dem großen Hügel außerhalb der Stadt erspähen. Als Kind hatte ich davon geträumt, eines Tages in diesem prächtigen, weiß getünchten Herrenhaus zu wohnen, meine Diener anzuweisen, die Gärten zu bewässern und auf einem Schimmel über die hintere Weide zu galoppieren - große Träume eines kleinen Mädchens, das noch nicht wusste, wie groß die Welt wirklich war, und auch noch nicht, was es wirklich wollte. Natürlich hätte sich der Hampton-Clan nie von dem Haus getrennt. Schließlich war es seit mehr als einem Jahrhundert im Besitz der Familie. Und selbst wenn sie es getan hätten, hätte ich nicht das Geld gehabt, es zu kaufen. Vor ein paar Jahren vielleicht, aber ... nun ja ... seitdem war viel passiert. Selbst von Weitem sah es jedoch so aus, als wäre mit dem Haus eine Menge passiert, und zwar nicht unbedingt viel Gutes. Die Frage, was es wohl kosten würde, es wieder auf Vordermann zu bringen, schoss mir durch den Kopf.

„Entschuldigung!“ Eine Stimme wie aus weiter Ferne rüttelte mich aus meinem Tagtraum. „Ihr Tank ist jetzt voll. Und Sie stehen hier schon seit ...“

Als mein Blick auf den Sprecher fiel, durchfuhr mich einige Sekunden lang das bizarre Gefühl, buchstäblich die Kontrolle über meine Stimme und meine Gliedmaßen zu verlieren. Die Stimme gehörte zu einem Mann – groß, leicht abgerissen, mit genau dem welligen braunen Haar, durch das ich meine Finger gleiten lassen wollte. Er trug eine schmutzige, zerfledderte Levi's und ein ausgewaschenes Flanellhemd, weswegen er ein bisschen wie ein Holzfäller aussah. Der Typ von Holzfäller, dem man nach einem langen Tag im Wald beim Duschen helfen möchte. Er war heiß. So, so heiß. Und ich wusste genau, wer er war. Verdammt!

Ich stand wie angenagelt da und starrte ihn stumm an. Als er näherkam, bemerkte ich, dass er mich wiedererkannte.

Ein Tsunami an Erinnerungen und Emotionen brach über mir zusammen, von denen es kleine Teile an die Oberfläche meines Bewusstseins schafften: das Licht der Abendsonne am See, das Echo unseres Lachens, eine panikartige Mischung aus Sehnsucht, Reue, Schmerz und Verzweiflung. Wie festgefroren starrte ich ihn an, bis er vor mir stehen blieb.

„Cass?“, fragte er, wobei ein schmales Lächeln seine Lippen kräuselte und seine blauen Augen zum Leuchten brachte, ein Eindruck, der wie eine Feuerwand über mich hinwegfegte. Der krasse Gegensatz zu meinem schockgefrosteten Zustand war interessant, wenngleich nicht besonders angenehm.

„Nick, hi“, brachte ich schließlich hervor, aber meine Stimme brach, und ich musste mich räuspern. „Schön, dich zu sehen. Ist schon ´ne Weile her. Oh, und ich nenne mich jetzt Cassie.“

„Cassie“, er sprach meinen neuen Namen langsam aus, als wäre er ein Schluck teurer Wein, den er genüsslich in seinem Mund umherrollte, damit er sich entscheiden konnte, ob er ihm zusagte oder nicht. Bei dem Gedanken lief mir ein kleiner heißer Schauder über den Rücken. Es war nicht fair, dass seine Stimme noch tiefer und sein Gesicht noch markanter geworden war. Seitdem … nun, seitdem wir uns zuletzt gesehen hatten.

„Na, Wahnsinn“, fuhr er fort. „Wie lange ist das jetzt her? Fünf, sechs Jahre?“

„Zehn“, antwortete ich und versuchte vergeblich, mir nichts anmerken zu lassen. „Ich war zehn Jahre fort.“

„Lang her“, meinte er, während er einen Blick auf meine Kleidung und mein Auto warf. In dem Moment wünschte ich, ich hätte am Morgen die nötige Weitsicht gehabt, mir die Haare zu waschen und etwas anzuziehen, das zumindest den Anschein von Kurven hätte erwecken können. Stattdessen stand ich da, in weiten Hosen, Stiefeln und einem zerlumpten Sweater, der eher für jemanden gemacht war, der doppelt so breit, dafür aber nur halb so groß wie ich war.

Eigentlich war das ein ausgefallener Look, wenn meine Haare nicht an mir geklebt hätten. So aber sah ich aus, als hätte sich ein ganzer Second-Hand-Laden über mir erbrochen. Ich hatte vorgehabt, mich direkt zu meinen Eltern zu schleichen, ohne jemandem über den Weg zu laufen, den ich kannte, schon gar nicht einem Mann mit einer Stimme wie geschmolzener Honig und einer Kieferpartie, die ihrer eigenen Doppelseite in der Cosmopolitan würdig wäre. Also – definitiv nicht Nick.

„Und, warum bist du jetzt wieder hier?“, fragte er, als die Stille sich zu lange zog. „Nur für einen kurzen Besuch?“

Ich räusperte mich, um mich nicht an meinen eigenen Worten zu verschlucken. „Nein. Ich habe eigentlich vor, eine Weile zu bleiben. Ich wohne vorrübergehend wieder bei meinen Eltern. Karrierewechsel.“

„Na, so ein Zufall“, sagte er ohne eine Spur von Sarkasmus. „Ich nämlich auch, bin erst vor ein paar Wochen wiedergekommen. Ich habe vor, hier wieder heimisch zu werden.“

Ich war mir sicher, dass ich mich verhört haben musste und schüttelte den Kopf. Er kam noch näher. Ich rang nach Atem, während ich gleichzeitig versuchte, mich wieder in den Griff zu bekommen. War ich in all den Jahren in New York jemals so angespannt gewesen?

„Schön für dich“, sagte ich unüberlegt, „wir sollten mal zusammen abhängen, über alte Zeiten reden, so was in der Richtung.“

„Yeah, warum nicht. Klingt gut. Gibst du mir deine Nummer?”

Er sah mich an, sein Telefon schon in der Hand, und wartete. Wie durch ein kleines Wunder schaffte ich es, ihm ohne zu stottern zu antworten. Ich hörte es in meiner Tasche vibrieren, vermutlich, weil er mir ein „LG Nick” geschickt hatte. Mit einem Mal hielt ich es nicht mehr aus und hatte es eilig, seinem Blick zu entkommen. Ich murmelte etwas von wegen „meine Eltern warten auf mich“, was gelogen war, und griff nach der Autotür.

„Keine Sorgen, lass dich nicht aufhalten”, antwortete er und entfernte sich rückwärtsgehend langsam von mir. Dabei lächelte er auf eine Art, die mein Herz höher und schneller schlagen ließ. „Ich ruf dich mal an. Grüß deine Eltern von mir.”

„Mach ich”, versprach ich und schlug die Autotür zu. Den ganzen Heimweg über fragte ich mich, ob er sich wie ich mit alten, unwillkommenen Erinnerungen herumschlug, oder ob sie ihm mittlerweile nichts mehr bedeuteten.

2. NICK

Ganze fünf Minuten lang saß ich in meinem Pick-up und hielt das Lenkrad fest umklammert. Was zur Hölle war das denn, Nick? Du stellst dich an, als hättest du noch nie ein hübsches Gesicht gesehen.

Die Selbstvorwürfe hörten nicht auf, ebenso wenig wie die Versuche, mich vor mir selbst zu rechtfertigen. Yeah, aber sie hat doch mehr als nur ein hübsches Gesicht, oder etwa nicht?

Das Bild hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt: Wie sie so dastand, mit ihren hinreißend grünen Augen, die weit in die Ferne starrten. Mit dem Ausdruck einer Göttin trotz des „Rühr-mich-nicht-an“-Gehabes, das sie in den letzten zehn Jahren sicherlich perfektioniert hatte. Als sie sich schließlich bewegte, um sich die hüftlangen Haare hinter das Ohr zu streichen, sah ich genug von ihrem Bauch, um zu wissen, dass mir der Anblick unzählige schlaflose Nächte bescheren würde. Sie hatte sich zu einer Frau entwickelt, die sowohl in einem angesagten Yoga-Studio zu Hause war als auch zu einer Schaufel greifen und ordentlich mit anpacken konnte, wenn es sein musste.

Als sie mich erkannte, musste ich an den Waschbären denken, den ich letzte Woche in einer Falle gefunden hatte. Verängstigt, verletzlich, trotzdem bereit für einen harten Kampf. Obendrein war sie unglaublich niedlich, aber zugleich unglaublich scharfsinnig und intelligent. Zu meinem großen Entsetzen hatten zehn Jahre nicht genügt, um ihre Wirkung auf mich abzuschwächen. Eher im Gegenteil.

Ich stellte mir gerade äußerst lebhaft vor, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn all diese Kraft und Schönheit unter meinen Händen zu neuem Leben erwachen würde, als mein Handy vibrierte und eine Welle von Schuldgefühlen durch meinen Körper schickte.

Rachel.

Ich hätte sie Cass gegenüber erwähnen sollen – oder „Cassie“, wie sie jetzt genannt werden wollte. Warum hatte ich es nicht getan? Weil es komisch gewesen wäre? Unangebracht? Wie konnte ein Mann einer so attraktiven, aber möglicherweise gebrochenen Frau sagen, dass er kurz davor war zu heiraten? Und wie kam er auf die Idee, sie nach ihrer Telefonnummer zu fragen, als wäre es rein platonisch, so, als wolle er nur den Kontakt zu einem alten Freund auffrischen?

Meinst du mit „alter Freund“ das erste Mädchen, das du je geliebt hast? Das, das dir das Herz gebrochen hat und dann für immer verschwunden ist? Verstehst du das unter einem „alten Freund“?

Ich seufzte tief, fuhr mir mit den Händen durchs Haar und sagte meinem inneren Kritiker, dass er sich zum Teufel scheren solle. Dann tippte ich schnell eine Nachricht an Rachel, dass ich auf dem Nachhauseweg wäre und dass sie das Brathähnchen in den Ofen schieben könne. Ich legte den Rückwärtsgang ein und fuhr los. Falls ich ein kleines bisschen energischer schalten und ein kleines bisschen mehr Gas geben sollte, als ich es normalerweise tat … nun, dann ging das niemanden etwas an.

3. CASSIE­­­­­­­­

Das Haus meiner Eltern stand am Ende einer mit Bäumen gesäumten Sackgasse, die an einen kleinen, bewaldeten Park grenzte. Früher gefiel mir dieses übertriebene Maß an Privatsphäre überhaupt nicht. Damals lechzte ich nach der Energie und dem Trubel einer großen Stadt mit vielen Menschen. Doch jetzt, da ich mit eingeklemmtem Schwanz zwischen den Beinen nach Hause schlich, hätte ich dafür nicht dankbarer sein können. Mit einem leichten Quietschen meiner Bremsen, von dem ich wusste, dass mein Vater es bald beheben würde, bog ich in die Einfahrt ein, stellte den Motor ab und lehnte meinen Kopf an das Lenkrad. Zum ersten Mal seit einem halben Jahr überkam mich das Gefühl, als könnte ich endlich meine so sorgfältig aufrechterhaltene Kontrolle fallenlassen und losweinen. Ich überlegte gerade noch, welche therapeutischen und praktischen Vor- und Nachteile es hätte, meinen Tränen freien Lauf zu lassen, als die Tür aufging und meine Mutter (immer ein Energiebündel) die Vordertreppe herunterrannte. Sogar aus dem Auto heraus konnte ich ihre Freudentränen sehen. Daher drängte ich meine eigenen wieder zurück, so, wie ich es seit Langem tat. Es war wirklich nicht nötig, dass wir vor dem Haus um die Wette schluchzten, auch wenn weit und breit niemand wohnte.

Kaum hatte ich die Autotür aufgedrückt, da umfing sie mich schon mit der stärksten Umarmung, zu der ihr zarter Körper fähig war. Mit ihren 156 cm und ihrer zierlichen Figur war sie fast zwanzig Zentimeter kleiner als ich, obwohl ihre braune Lockenpracht diese Lücke ein wenig schloss. Die Größe hatte ich von meinem Vater, das Gesicht von meiner Mama. Je älter ich wurde, desto schockierender war es, sie anzusehen, denn dann wusste ich, wie ich in zwanzig Jahren aussehen würde.

Sie ließ mich los, um mich genauer zu betrachten. Dabei strahlte sie, als hätte sie soeben zwei Logenplätze für eine auf Jahre ausverkaufte Broadway-Show gewonnen.

„Mein Kind ist wieder da!“, juchzte sie mit ihrem leichten irischen Singsang, der am Telefon viel weniger auffiel als in echt.

Ich lachte leise und war froh, sie nach so langer Zeit wiederzusehen. In all den Jahren hatte sie mich nie gedrängt, wenn ich ihre Einladungen, an den Feiertagen auf einen Besuch zu kommen, ein ums andere Mal ausgeschlagen hatte. Sie musste unglaublich enttäuscht und traurig gewesen sein, aber sie ließ sich nie etwas anmerken, gab nicht auf und fragte immer wieder. Ein tiefes Schuldgefühl stieg in mir auf, ein Gefühl, das ich nicht kannte und das daher umso unangenehmer war. Ich schob es weg.

„Hallo, Mama“, sagte ich lächelnd. „Ich wollte eigentlich anrufen, dass es ein bisschen später wird, aber …“

„Ach, schon gut, macht doch nichts. Hauptsache, du bist wieder heil da,“ sagte sie nur überglücklich, nahm meine Hand und zog uns beide mit einer Kraft, die jeden überrascht hätte, der sie nicht kannte, ins Haus.

„Du kommst gerade richtig. Der Braten ist schon im Ofen, er braucht nur noch ein bisschen, derweil kann sich dein Vater um deine Sachen kümmern.“ Sie drehte sich zur Seite und rief: „John! Cassie ist da! Würdest du bitte ihr Gepäck aus dem Auto holen?“ Dann wandte sie sich wieder mir zu. „Wir beide können inzwischen einen Tee trinken und ein wenig plaudern. Oder Kaffee – ich habe so spät keinen mehr da, aber ich kann gern welchen aufbrühen, wenn du den lieber hättest …“

„Mama …“

„Und du weißt, dass du entweder im Gästezimmer oder in deinem alten Zimmer schlafen kannst, ganz egal, wo immer du dich wohler fühlst …“

„Mama!“

Sie hörte auf zu plappern und sah mich leicht verletzt an. Meine Schuldgefühle kamen zurück, doch dieses Mal konnte ich sie nicht unterdrücken. Trotzdem versuchte ich es.

„Entschuldige bitte. Das ist echt lieb von dir, aber ich würde am liebsten erstmal duschen und mir was Frisches anziehen.“

„Oh, ja, natürlich, mein Schatz, daran habe ich gar nicht gedacht“, sagte sie lächelnd, strich mir noch einmal über die Arme, ließ mich dann aber los, als mein Vater, der größte entfernt-asiatisch aussehende Mann, den ich kannte, zu uns kam. Er sah uns an und brummte etwas wie „Ich umarm dich später“ und ging weiter.

„Geh schon mal rauf und mach dich frisch. Hast du alles, was du brauchst?“, fragte meine Mutter und tätschelte mir sanft den Arm.

Ich nickte und entschied mich dafür, lieber nichts zu sagen, weil meine Kehle ganz eng von hinuntergeschluckten Tränen war. Dann stieg ich die Treppe hinauf und ging zu meinem alten Zimmer unter dem Dach. Als Kind hatte ich es geliebt, als Teenager gehasst. Ich sank auf das Doppelbett, auf dem noch immer meine Stofftiere saßen, und brach in Tränen aus.

Ein paar Tränen und eine erfrischende Dusche später, fühlte ich mich stark genug, um meinen Eltern zu zeigen, dass ich dankbar und glücklich war, wieder bei ihnen zu sein. Ich föhnte mein Haar und schlüpfte in ein einfaches graues Kleid, dann tappte ich nach unten, wo meine Mutter gerade den Tisch deckte. Nun endlich umarmten wir uns alle richtig, auch mein Dad.

„Schön, dich mal wiederzusehen“, sagte er mit einem seltenen Lächeln. Nur wenige wussten, dass mein Vater einen tollen Sinn für Humor und einen messerscharfen Verstand hatte, weil er in der Kategorie „stark und still“ in erster Reihe stand. Da ich es als seine Tochter natürlich wusste und bewunderte, hatte ich immer versucht, ihm ähnlich zu werden. Nun fragte ich mich, ob ich ihn genauso stark wie meine Mutter enttäuscht hatte.

Wenn dem so sein sollte, so ließ auch er sich nichts davon anmerken. Mom stellte einen köstlich riechenden, dampfenden Braten auf den Tisch und strahlte mich glücklich an, bevor wir die Hände falteten. Mit gesenktem Haupt und gesenkter Stimme sprach sie das Tischgebet: „Vater im Himmel, wir danken dir für unser tägliches Brot, diesen wunderbaren Braten und dafür, dass du uns Cassie zurückgebracht hast. Wir bitten um deinen Segen für dieses Essen und einen schönen Abend. Amen.“

Ich verkniff mir ein Grinsen. Bisher hatte ich meine Mutter nie für so beiläufige Dinge wie einen „schönen Abend“ beten hören. Andererseits schienen sie und Gott eine derart enge Verbundenheit zu haben, dass solche Belanglosigkeiten erlaubt schienen. Meine eigenen Gebete waren in letzter Zeit etwas spärlich ausgefallen und gingen eher in die „Jesus, hilf“-Richtung. Und schon wieder kamen die Schuldgefühle hoch. Verdammter Mist.

„Na, du bist sicherlich überrascht, wie sehr sich Crystal Lake verändert hat“, sagte meine Mutter, nachdem sie sich Erbsen auf den Teller gelegt und mir die Schüssel weitergereicht hatte. Ich bemühte mich, keine Miene zu verziehen, als ich sah, in welcher Unmenge an Butter sie schwammen. Die gute alte Hausmannskost, wie man sie kannte und verdrängt hatte. Die Gerichte, die sie, zumindest vor zehn Jahren, in ihrem Restaurant Hearthsong serviert hatte, waren ausgefeilter und anspruchsvoller als das hier, aber mein Vater bestand wohl immer noch auf seine tägliche Portion „Cholesterin und Diabetes, warm serviert.“

„Oh, ich befürchte, dass ich ein bisschen zu schnell gefahren sein muss, um die Veränderungen zu bemerken.“ Sofort schämte ich mich, weil ich merkte, wie schneidend meine Worte klangen. Meine Eltern brauchten nicht zu wissen, dass mir die „kleinen Veränderungen“ in der Stadt, die mich zehn Jahre lang nicht die Bohne interessiert hatte, egal waren und dass ich meinem Leben in New York nachtrauerte. Rasch wechselte ich das Thema, um die Harmonie nicht zu gefährden.

„Übrigens habe ich schon jemanden getroffen, den ich kenne“, sagte ich frisch und munter, während mein Messer fast von allein durch den butterweichen Braten sank.

„Ach, wirklich? Wen denn?“, fragte Mom.

„Nick Peterson. Erinnert ihr euch an ihn? Wir hatten mal was miteinander, als ich noch auf der Highschool war.“

„Als ob wir das nicht mitbekommen hätten“, murmelte mein Vater, lächelte mich aber an, woraufhin ich etwas verlegen zurückgrinste. Natürlich wussten sie, wer Nick war, schließlich war er oft bei uns gewesen, hatte mit uns gegessen – nun ja.

„Wo hast du ihn denn getroffen?“, wollte Mom wissen.

„An der Tankstelle. Ich soll euch schön von ihm grüßen. Er wollte gleich meine Nummer haben und so, alles Mögliche …“ Mit einem breiten Grinsen strich ich mein langes Haar über die Schulter. „Sieht so aus, als hätte sich nicht viel geändert.“

Ich bemerkte zu spät, dass meine Eltern still geworden waren und mich mit hochgezogenen Augenbrauen anstarrten, allerdings nicht aus Überraschung, sondern eher aus Besorgnis.

„Was? Was habt ihr denn? Ist jemand gestorben?“

„Oh, nein. Niemand ist gestorben, Schätzchen.“ Meine Mutter lachte und hüstelte nervös, dann sah sie meinen Vater von der Seite an. „Es ist nur so, dass … ähm, dass Nick, also … Er hat, nun, er ist …“

„Was?“, fragte ich ungeduldig, doch da klingelte mein Telefon. Als ich sah, wer es war, hüpfte ich hoch. „Wenn man vom Teufel spricht“, rief ich überrascht. Egal, was Mom und Dad vor mir verheimlichten, ich hoffte, dass es bis nach dem Telefonat warten konnte, und wischte über den Bildschirm, um den Anruf anzunehmen.

„Lange nichts mehr von dir gehört“, scherzte ich und hörte Nicks kehliges und unsagbar erotisches Lachen. Sogar am Telefon klang er wie ein warmes Zimtbrötchen mit Sahne. Was mich unweigerlich daran denken ließ, wie ich meine Zunge über seinen nackten Körper gleiten ließ. Doch das war ein viel zu heißer Gedanke, um ihn in unmittelbarer Nähe meiner Eltern zu denken.

„Hi Cassie, ja genau, sehr lang. Ich wollte dich nur zum Abendessen am Freitag einladen, wenn es dir recht ist.“

Ich konnte nicht anders, als von einem Ohr zum anderen zu grinsen. Egal, was Nick sonst noch war, auf alle Fälle war er heiß – und heiß auf mich. So wie es aussah, hatte sich in diesem kleinen Städtchen noch weniger geändert, als ich angenommen hatte.

„Sehr, gern, das klingt gut. Mein Terminkalender ist nicht gerade voll, also habe ich immer Zeit.“

Wieder lachte er, wieder mit dem gleichen Effekt. „Gut, dann erwarten wir dich so gegen 18:30 Uhr. Ich schreib dir die Adresse.“

„Super, ich freue mich. Aber Nick: Wer ist wir?“

„Sorry. Wir“, nun lachte er verlegen, „sind Rachel, meine Verlobte, und ich.“

Die Worte trafen mich wie ein Felsbrocken, der aus großer Höhe haarscharf an mir vorbei zu Boden fiel. Ich klammerte mich ans Telefon, murmelte ein Tschüss und sank wie ein begossener Pudel auf den Stuhl zurück.

4. NICK

Natürlich hätte mir die Enttäuschung in Cassies Stimme, als ich ihr sagte, dass ich verlobt war, keinen Kick geben dürfen. Aber es gab mir einen Kick, und was für einen. Sie stand noch immer auf mich. Wie geil war das denn! Trotz der laut schrillenden Alarmglocken in meinem Kopf, lächelte ich kurz. Allerdings nicht kurz genug. Rachel sah es, als sie ins Esszimmer zurückkam, um den Tisch abzuräumen. Sie hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt und sofort Ja gesagt, als ich sie gefragt hatte, ob ich einen „alten Freund aus der Highschool“ einladen könne und ob sie kochen würde. Nun allerdings schien sie ihre Meinung dazu zu ändern.

„Sorry, wer ist dieser Typ noch mal genau?", fragte sie und stapelte dabei das Geschirr auf ihre vorsichtige, ruhige Art übereinander.

Ich trank den letzten Schluck Wein - einen Pinot Noir mit viel zu wenig Körper für meinen Geschmack - und drehte mich zu ihr.

„Ein Mädchen, kein Typ. Sie heißt Cassie und war eine Klasse unter mir."

Rachel sah lauernd zu mir auf, wie immer darauf aus, sofort den kleinsten Hauch von Unwahrheit zu durchschauen. „Warst du mit ihr zusammen?"

Ich hielt ihrem Blick stand und schaffte es, kurz überrascht aufzulachen, als wäre dies eine völlig abwegige Vorstellung. „Cassie? Nein, sicher nicht. Sie ist nicht gerade das, was man beziehungsfähig nennen könnte."

„Was soll das heißen?“

„Dass sie zu den Mädchen gehört, die weglaufen, wenn ihnen jemand zu nahe kommt. Und du weißt, dass ich jemanden brauche, auf den ich mich verlassen kann."

Prompt huschte ein kleines Lächeln über Rachels Lippen. Sie neigte den Kopf, wobei ihr eine Strähne von ihrem langen blonden Haar ins Gesicht fiel. Es verwirrte mich, dass dies nicht denselben erotisierenden Effekt auf mich hatte, wie es normalerweise der Fall war. Früher hatte sich diese Erregung mit Zuneigung vermischt. Doch dieses Gefühl war schon lange verschwunden, wohl, weil zu viel passiert war. Ich fragte mich oft, ob ihre Eifersucht, ihre Nörgelei, ihre Unzufriedenheit wirklich nur an mir lagen. Ob ich mich so sehr auf die Arbeit konzentriert hatte, dass ich darüber die Verbindung zu Rachel verloren hatte. Aber da waren noch mehr Dinge, die mich an ihr störten, wie, dass sie keine Freunde hatte, was niemanden wundern dürfte, der wusste, wie schlecht sie über die meisten Frauen sprach, sobald sie ihr den Rücken zuwandten. Mich ausgenommen.

Abgesehen davon war sie ein echt heißer Fang. Sie war zierlich, hatte himmelblaue Augen, war mir gegenüber loyal, großzügig, humorvoll und konnte zudem aus dem schlimmsten Mischmasch von Zutaten ein wahres Schlemmermahl zaubern. Zudem war sie auch einer der diszipliniertesten und engagiertesten Menschen, die ich kannte, und hatte am College Vollzeit gearbeitet. Neben zwanzig Stunden Unterricht pro Woche leitete sie eine kleine Wohltätigkeitsorganisation, die sie von Grund auf aufgebaut hatte und mit der sie auch heute noch zusammenarbeitete. Sie konnte gut mit Kindern und Tieren umgehen und meine Mutter liebte sie wie eine ihrer eigenen Töchter. Ihre und meine Mutter waren vielleicht die einzigen Frauen, an denen sie ein gutes Haar ließ.

Was konnte ein Mann sich mehr wünschen?

Das überlegte ich mir, als mir schlagartig bewusst wurde, dass ich mich anhören musste, als wollte ich mir einreden, was für eine tolle Frau meine eigene Verlobte war. Was für ein Trottel ich doch war. Cassie war eine andere Kategorie Frau. Keine, die man heiratete. Entschlossen schob ich die Gedanken an Rachel und die an Cassie aus meinem Gehirn beiseite, stand auf und nahm Rachel fest in die Arme. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Liebling", flüsterte ich in ihr Haar und betete zu Gott, dass ich Recht behalten sollte.

5.

---ENDE DER LESEPROBE---