Das Glitzern in der Lagune - Annabelle Benn - E-Book
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Das Glitzern in der Lagune E-Book

Annabelle Benn

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Beschreibung

„Das Leben ist es wert, dass man alles dafür riskiert.“

Ein lukrativer Auftrag soll die von Abstiegs- und Existenzängsten geplagte Innenarchitektin Ines in das glamouröse Dubai führen und ihr damit den finanziellen Befreiungsschlag bescheren. Als der Auslandsaufenthalt in letzter Sekunde unter mysteriösen Umständen abgesagt wird, findet sie sich kurze Zeit später in dem beschaulichen Badeort Grado an der italienischen Adria wieder, wo sie die „Villa“ eines exzentrischen Ehepaars einrichten soll. Doch nicht nur berufliche Aufgaben bescheren ihr einen turbulenten Sommer, denn auch ihr Herz sendet nach Jahren im Schneckenhaus überraschenderweise Lebenssignale. Dass ausgerechnet der schillernde Tennistrainer Otto mit seinem Pudel Zorro diese verursacht, lässt bei ihr zwar alle Alarmglocken schrillen, vermindert aber dennoch kein Fünkchen der Anziehungskraft. Da sie dem aufregenden Prickeln und der wohligen Nähe nicht lange widerstehen kann, redet sie sich ein, dass ein Sommerflirt nicht schaden kann. Was hat sie schon zu verlieren? Nun, mehr als gedacht. Nämlich alles. Aber wie heißt es so schön? Wenn du in der dunkelsten Grube ganz unten sitzt: Nutz die Chance und grab das Gold aus!

*** Der Band kann unabhängig von "Das kleine Hotel in der Lagune" gelesen werden!

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Inhaltsverzeichnis

Das Glitzern in der Lagune

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Anstelle eines Epilogs

 

 

 

 

Das Glitzern in der Lagune

 

von Annabelle Benn, Anja Richter

 

 

 

 

 

Das Glitzern in der Lagune

 

 

 

Von Annabelle Benn, Anja Richter

 

 

 

1. Auflage, 2021

© Juni Alle Rechte vorbehalten.

R.O.M logicware, Pettenkoferstr. 16-18, 10247 Berlin,

[email protected]

 

 

„Das Glitzern in der Lagune“ ist ein sogenannter Spin-Off zu „Das kleine Hotel in der Lagune“. Das bedeutet, dass zwar mehrere vertraute Orte und Personen vorkommen, die Geschichte jedoch eigenständig und in sich abgeschlossen ist.

 

1. Kapitel

 

Wie anders alles war, wenn man Zeit hatte! Man konnte länger schlafen, in Ruhe Kaffee trinken, aus dem Fenster schauen und vor sich hinträumen. Und staunen, wie schön die Welt war, wenn man mal richtig hinschauen konnte. Wie zum Beispiel das Sonnenlicht, das durch das hellgrün sprießende Laub der alten Linde auf den Wohnzimmerboden fiel. Es zauberte Tupfer auf das Parkett, die immer, wenn ein Windstoß durch die Zweige und Blätter fuhr, lustig hin und her tanzten. Ines lächelte. Sie hätte das Schauspiel gern noch länger betrachtet, doch so viel Zeit hatte sie nun auch wieder nicht, denn bald würde es klingeln.

Auf Zehenspitzen und mit den Armen über dem Kopf drehte sie sich kichernd um die eigene Achse. Glücklich und stolz, aber auch leicht wehmütig betrachtete sie ihr Wohnzimmer. Die Rückwand war in einem satten Tannengrün gestrichen, was im Kontrast zu der großen Fensterfläche sehr beruhigend wirkte. Die cremefarbenen Sockelleisten und Stuckaturen erweckten den Eindruck, als würde die Wand schweben. Vorgetäuschte Leichtigkeit, dachte sie vergnügt, dann wurde sie plötzlich ernst.Das Bild hing noch da. Sollte sie es vielleicht doch abnehmen? Zwar freute sie sich jedes Mal, wenn sie es sah, aber was würden Fremde darüber denken?

Natürlich hatte sie es für sich selbst gebastelt. Sie hatte einen schmalen, aber ausreichenden tiefen Holzrahmen mattgolden lackiert und dann die mit üppig grünen Blättern und bunten Sittichen bedruckte Tapete eingespannt. Das wortwörtliche Highlight allerdings waren die winzigen Dioden, die auf Knopfdruck zwischen all dem Grün funkelten und glitzerten und dabei das Lichtspiel von dem Fenster aufgriffen. Zusammen mit der ausgeklügelten Beleuchtung der Boden- und Deckenfluter ließ sich die Atmosphäre des Raumes so wunderbar nach Belieben verändern. Vorausgesetzt, sie war allein. Aber das war sie meistens.

Bei derartigen Spielereien ging Ines das Herz auf, obwohl sie wusste, wie kindisch das Bild war und dass es nicht zum Rest der Einrichtung – zu ihr – passte. Hin- und hergerissen betrachtete sie es. Ohne diesen Farbtupfer wirkte nicht nur die Wand, sondern der gesamte Raum kühler und leerer, das wusste sie. Ohne die Blätter, Vögel und Lichtlein erinnerte der mächtige Esstisch davor allzu schmerzlich daran, dass an den meisten Tagen ein Stuhl genügte. Betrübt strich sie über das glatte, kühle Holz. Ein paar Mal, ja, aber bei Weitem nicht oft genug hatte sie ihre Freunde zu liebevoll zubereiteten Menüs an die aufwendig dekorierte Tafel eingeladen. Auch der alleinstehende Mann, dessen gleichmäßige Schritte sie gerade durch die Decke hörte, war bei jedem geselligen Abend dabei gewesen. Jedes Mal hatte er sich prächtig amüsiert, jedes Mal war er als Letzter die Treppe hinaufgewankt. Aber genau so zuverlässig, wie er ihre Einladungen annahm, genauso vorhersagbar zog er sich bis zum nächsten Fest wieder in sein Reich zurück.

Ines seufzte, denn wie der Nachbar verhielt sich auch der Rest ihrer Freunde, deren Kalender ähnlich voll waren wie ihrer. Der eklatante Unterschied bestand allein darin, dass Ines zusagte, wann immer sich jemand mit ihr treffen wollte. Lediglich unaufschiebbare Geschäftstermine oder kostbare Konzertkarten bildeten eine Ausnahme, doch die kollidierten nur alle Schaltjahre mit Verabredungswünschen, die nicht von ihr ausgingen. Vermutlich lag das daran, dass sie keine Kinder hatte, Bergsport verabscheute und Dauersingle war. Nun ja, so war das eben, nichts davon ließ sich ändern. Trotzdem ging es ihr nicht schlecht. Manchmal war sie sogar richtig glücklich.

Eine Kirchturmuhr schlug halb zehn.Normalerweise war sie um diese Zeit längst im Büro, auf Baustellen oder bei Kunden, heute jedoch erwartete sie wichtigen Besuch. Sie war aufgeregt und fragte sich ständig, ob sie einander wohl sympathisch wären. Das Paar musste jeden Moment klingeln. Aufgeregt ging sie in die Diele, um ihr Aussehen im Spiegel zu überprüfen. Bei jedem Schritt knarzte der Parkettboden. Sie liebte den Klang und das glatte Holz unter ihren nackten Füßen, beides wirkte erhaben und beruhigend. An der Schwelle der weißen Jugendstiltür blieb sie erneut stehen und sah sich ein letztes Mal um. Die lachsfarbenen Kissenbezüge, gegen die sie die weinroten noch ausgetauscht hatte, passten wunderbar zu der dunkelgrauen Couch und dem runden Messing-Sofatisch. Sie wirkten so viel freundlicher.

Eine alte, leicht abgewandelte Lebensweisheit lautete: „Sag mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist“, und wollte man Ines’ Persönlichkeit aus der Einrichtung ablesen, so würden einem sofort Adjektive wie schnörkellos, geradlinig und elegant einfallen. Ihr hätte das geschmeichelt, denn so sah sie sich, und so wollte sie von anderen gesehen werden. Wie eine Frau, die man ernstnehmen musste, die etwas zu sagen hatte und die fest im Leben stand. Daher zweifelte sie auch an dem Bild. Es war kitschig. Aber wenn es ihr doch so gut gefiel!

Ohne das Bild hätte der Raum als Musterbeispiel für den so angesagten reduzierten Stil in einer Wohnzeitschrift dienen können. Mit dem Bild wirkte er lächerlich. Mit einem Griff hängte sie es ab.

Die Wohnung musste den Interessenten schließlich so gut gefallen, dass sie den Zwischenmietvertrag unterschrieben. Es ging nicht um Ines’ Faibles, sondern um ihren Kontostand. Aber war sie wirklich bereit, ihr Reich Fremden zu überlassen? Wie so oft stritten Kopf und Bauch, aber fast immer gewann der Kopf um Nasenlänge. Sie war schließlich ein vernünftiger Mensch, und das war auch besser so, besonders wenn man alles allein entscheiden und sich nur auf sich selbst verlassen konnte.

Sie hoffte so sehr, dass das Paar sympathisch war und sie nicht weitersuchen musste und überhaupt untervermieten konnte. Die nächsten drei Monate würde sie in Dubai verbringen. Für diese Chance hatte sie jahrelang geschuftet. Da durfte sie jetzt nicht sentimental werden!

Mit den Mieteinnahmen und der Provision, die sie aus dem Auftrag in dem Wüstenstaat erwartete, würde sie einen Großteil des Kredits zurückbezahlen können, der ihr so zu schaffen machte. Sie hatte die traumhafte Altbauwohnung in einer ruhigen Schwabinger Seitenstraße von ihrer Oma geerbt, aber aufgrund der ins Astronomische gestiegenen Münchner Immobilienpreise und der damit zusammenhängenden Erbschaftssteuer hatte das Finanzamt eine derart schwindelerregende Summe gefordert, dass Ines mehrere Bankangestellte hatte bezirzen müssen, um ihr Erbe überhaupt antreten zu können. Und da ein „Rohdiamant“ wie eine seit 1970 unveränderte Wohnung geschliffen, sprich adäquat renoviert und eingerichtet gehörte, hatte sie zusätzlich Geld aufgenommen. Zwar bescherten ihr die Schulden vom ersten Tag an Bauchschmerzen, dennoch hätte sie sich nur über ihre Leiche endgültig wieder von ihrem Stück heile Welt getrennt. Hier war sie sicher, hier hatte sie das Sagen, hier herrschte Schönheit. All das Leid blieb draußen vor der Tür. Was für ein Segen.

Angesichts der angespannten Wirtschaftslage war es ohnehin unglaublich, dass fremde Leute auf ihrem Sofa sitzen, in ihrer Wanne baden und in ihrem Bett schlafen wollten. Hoffentlich waren sie nett. Ines’ Magen zog sich zusammen. Jeden Moment würde es klingeln. Aufmunternd lächelte sie sich in dem hohen Spiegel an und strich mit beiden Händen über die blaue Hose. Sie trug nur Unifarbenes, denn das war elegant und zeitlos, sodass sie es jahrelang tragen und mit Tüchern und Ketten aufpeppen konnte. Eigentlich ein Jammer. Es gab so schöne Farben und Muster! Aber man konnte nicht alles haben, besonders dann nicht, wenn man mit einem winzigen Budget zumindest optisch mithalten musste. „Vorgetäuschter Reichtum“, dachte Ines traurig und schüttelte den Kopf.

Wo blieben die Bagshawes nur? Fanden sie keinen Parkplatz?

Ach ja, das liebe Geld ... Ihre Freunde und Bekannten hätten den Kredit sicherlich mit links abbezahlt, aber nicht sie, denn bei ihr war fast alles anders. Sie war 42 und erst seit knapp drei Jahren Innenarchitektin. Sie bereute nichts oder nur wenig und auch das, wenn überhaupt, nur selten. An schlechten Tagen wünschte sie allerdings, dass sie einige Entscheidungen früher getroffen hätte. Wie zum Beispiel die, sich von Mark zu trennen. Oder nicht 15 Jahre in einer PR-Agentur zu vertrödeln, in der sie nur gelandet war, weil sie mit ihrem Magister in Kunstgeschichte, interkultureller Kommunikation und Italienisch während der Dotcomkrise nichts anderes fand. Als der Albtraum mit Mark nach Jahren des schmerzvollen Selbstbetrugs endlich vorbei war, war von ihr innerlich und auch äußerlich so wenig übrig, dass ihr gesamtes Hab und Gut in einen Koffer und zwei Kisten passte. Damals wurde ihr klar, dass sie Platz, Zeit und Ruhe für sich selbst brauchte und dass sie sich nur entfalten konnte, wenn sie ihre Umwelt gestalten und sich mit Schönem umgeben konnte. Sie wollte, nein, sie musste ihre so lange unterdrückte Sehnsucht zu ihrem Beruf machen.

Eisern entschlossen schrieb sie sich mit Mitte dreißig für Innenarchitektur ein. Ein paar Scheine wurden ihr von früher anerkannt, dennoch studierte sie neun Semester nebenberuflich. Bis zum Bachelorabschluss hielt sie in der PR-Agentur weiterhin das Image der ihr zugeteilten Produkte schadenfrei, danach heuerte sie mit fast vierzig als Werkstudentin (mit fast 40, aber bitte ...) bei einem kleinen Inneneinrichtungsbüro an. Vor rund zwei Jahren kam sie dann zu Liv Lifestyle Ltd., einem international renommierten Unternehmen mit Dependancen in Madrid, London, Basel und demnächst auch Dubai. Oft fragte sie sich, warum sie in ihrem Alter dort genommen worden war. Es grenzte, trotz ihrer sehr guten Mappe und ebensolcher Referenzen, an ein Wunder. Gut, die Firma hatte wenig zu verlieren, denn sie bezahlte ein Fixum, das so klein war, dass man es auf dem Kontoauszug mit der Lupe suchen musste. Provisionen auf verkaufte Entwürfe und Einrichtungsgegenstände sollten es aufstocken. Wenn das ohnehin schon ein riskantes Unterfangen war, so war es während der letzten, gerade erst ausklingenden Wirtschaftskrise geradezu ruinös. Irgendwie kämpfte Ines sich aber immer durch. Vermutlich würden ihr einige „Jammern auf hohem Niveau“ vorwerfen, aber warum durfte man das eigentlich nicht, wenn man Angst hatte, das mühsam Erschaffene wieder zu verlieren? Man wollte seinen Standard doch halten! Abstiegsängste waren doch nicht umsonst ein so häufiges Problem!

Aber Ines hielt sich tapfer und – es klingelte.

Hektisch schlüpfte sie in ihre Ballerinas, holte tief Luft und bediente die Gegensprechanlage. „Mrs und Mr Bagshawe? Dritte Etage, bitte.“ Der Aufzug rumste und ruckelte, und als wenig später die Lifttüren aufgingen, wartete sie mit einem breiten, aber ängstlich starren Lächeln in der Wohnungstür. Endlich stand das kanadische Ehepaar mit indischen Wurzeln vor ihr. Auch sie lächelten, die Frau gluckste sogar vergnügt und beide streckten ihr die Hände entgegen.

„Hello, I’m Taj, and this is my wife Puja, pleasure to meet you.“ Erleichtert aufatmend bat Ines das Paar herein. Beide waren ihr auf Anhieb sympathisch. Puja trug ein mit unzähligen Vergissmeinnicht bedrucktes Kleid, von dem Ines ganz schwindelig wurde. Der knuffigen Frau mit den Pausbäckchen stand es jedoch ausgezeichnet. Sobald die beiden die Wohnung betreten hatten, wechselten sie immer wieder begeisterte Blicke.

Ines wusste, dass damit eigentlich alles klar war, dennoch wollte sie die zwei noch näher kennenlernen. „Bitte, ich zeige Ihnen erst einmal in Ruhe alles. Das hier ist die Diele mit einer kleinen Abstellkammer für Schuhe, Bügelbrett etc.“ Es folgte die Küche mit den Hightechgeräten und dem Schachbrettboden, darauf das Bad mit der freistehenden Badewanne und den goldfarbenen Armaturen im neuen Art-déco-Stil. Dem schloss sich das in Burgund und Gold gehaltene Schlafzimmer an. Puja bemühte sich längst nicht mehr, ihre Begeisterung zu verbergen, sondern juchzte bei jedem Raum und jedem Detail, auf das Ines ihre Aufmerksamkeit lenkte. Auch Ines fühlte sich wohl, denn sie war sich sicher, dass das kinderlose Paar ihr Reich gut behandeln würde. Sie spürte, dass die beiden auf ihre Zusage warteten, doch die würde sie ihnen erst auf dem Balkon geben, wo sie eine kleine Erfrischung vorbereitet hatte.

Schwungvoll öffnete sie die letzte Tür. „Und dann hätten wir hier noch das Ar....“ Ihre Stimme versagte. Helmut! Wieso um Gottes willen hatte sie ihn nicht weggebracht? Ihr Gesicht glühte. Hoffentlich schöpfte das Paar keinen Verdacht.

„Das Arbeitszimmer. Der Hamster gehört meiner Nichte. Er ist nur vorübergehend hier und wird natürlich nicht mitvermietet.“ Sie giggelte nervös.

„Oh, ich hätte nichts gegen ein Haustier!“ Puja stellte sich nah an den beinahe raumhohen handgefertigten Käfig, in dem sich ein wahres Hamsterparadies mit Pflanzen, Laufrädern, Schaukeln, Leitern und sogar einem kleinen See befand. Ines merkte selbst, wie unglaubwürdig ihre Notlüge klang, denn diesen Palast zog man nicht eben einfach so um. Also legte sie noch eins drauf. „Ihr Bruder ist leider allergisch, aber da sie nur ein paar Straßen weiter wohnen, habe ich ihr angeboten, ihn bei mir aufzunehmen, damit sie ihn besuchen kann.“ Ines’ Puls raste, sie wollte nur weg, hinaus auf den Balkon, frische Luft schnappen, das Thema wechseln und nicht mehr schwindeln müssen. Wenn es nur nicht so peinlich gewesen wäre!

„Ach, das ist aber lieb! So eine Tante hätte ich auch gern gehabt“, seufzte Puja und streckte den Finger nach Helmut aus. Dann drehte sie sich lächelnd zu ihrem Mann. „Wenn es mit dem Baby nicht klappt? Aber von einem Hamster hat man ja recht wenig, nicht wahr?“

Ines erschrak, denn Bilder von den beiden in Aktion, in ihrem Bett, ihrem Bad, auf dem Küchentisch und der Waschmaschine trieben ihr erneut die Schamesröte ins Gesicht. Natürlich. Sex. Paare hatten Sex! Alle hatten Sex, nur sie nicht.

„Wie bitte?“, hustete sie erschrocken.

„Nichts, entschuldigen Sie, ich meinte nur, dass ein Hamster ja nachtaktiv und selbstgenügsam ist, nicht wahr?“

„Oh ja, das ist er. Er ist ideal für Menschen, die selten zu Hause sind!“ Ines lachte angespannt und war bestrebter denn je, endlich das Thema zu wechseln. Schnell ging sie voran aus dem Raum. „Wollen wir draußen alles besprechen? Bitte.“ Sie wies zum Balkon, auf dem sie den Tisch mit Ranunkeln liebevoll gedeckt hatte. Nachdem sie die cappuccini gebracht, Wasser eingeschenkt und die Tartelettes mit frischen Himbeeren und Brombeeren zur Selbstbedienung angeboten hatte, erfuhr sie, dass Taj die nächsten fünf Jahre bei BMW in der Entwicklung tätig sein würde. Puja designte derweil Kissen. Die Firma bezahlte die Miete für den gesamten Aufenthalt, und bis sie etwas Richtiges gefunden hatten, wollten sie lieber möbliert als in einem Hotel wohnen. „Ab Juli oder August sind schöne Wohnungen frei, das passt gut, denn bis dahin sind auch die Container mit unserem Hausstand hier“, erklärte Taj.

August – wie weit weg das klang.

„Und Sie? Warum gehen Sie aus München weg?“, fragte Puja zwischen zwei winzigen Törtchen.

„Ich habe beruflich in Dubai zu tun. Zum einen eröffnen wir dort eine Niederlassung, zum anderen bin ich für den Großteil der Innenausstattung eines neuen Hotels zuständig.“

„Sie sind Innenarchitektin? Aber natürlich!“, schwärmte Puja. „Das hätte ich mir ja denken können! Ich bewundere Ihren Einrichtungs- und Kleidungsstil. Alles ist so geschmackvoll, unaufdringlich elegant und passt perfekt zueinander. Da haben Sie ja wirklich den idealen Beruf.“

Ines errötete unter den ungewohnten Schmeicheleien. „Danke“, stammelte sie und machte Puja ein Kompliment für das Kleid.

„Ich und Stil? Oh nein, ich doch nicht. Ich ziehe immer das an, was mir gefällt, egal wie ich darin aussehe. Inmitten der unzähligen Blümchen wirke ich wie die dicke Brummel-Hummel.“ Sie kicherte, Taj tätschelte ihre Hand und beide sahen sich verliebt an. Wie schön musste so eine Liebe sein, dachte Ines, aber Puja fuhr schon fort: „Genau so ist es auch mit dem Einrichten und Dekorieren. Unsere Wohnung in Kanada war viel zu voll und viel zu bunt. Ihre Schlichtheit, die matten Farben, die Abwesenheit von jedem Firlefanz ist so elegant! Es wirkt so, so – beruhigend und befreiend. Vielleicht hätten Sie nach Ihrer Rückkehr ja für uns Zeit?“

Wieder wechselte das Paar einen Blick, Taj nickte zustimmend, und damit war endgültig alles gesagt. Ines lachte erleichtert, und als sie wenig später den Vertrag unterschrieben, war sie sich sicher, das Richtige zu tun. Sie vereinbarten den Übergabetermin, informierten den Relocation Service, der sich um alle Formalitäten kümmern würde, und als sich das Ehepaar schließlich verabschiedete, war eine Stunde vergangen und Ines in Eile. Sie wollte um halb zwölf im Büro sein und davor noch bei einer Baustelle vorbeischauen. Wie immer war die Zeit knapp.

 

Wenig später radelte Ines durch den Englischen Garten. Das Gras wuchs saftig grün, die Bäume blühten weiß und rosarot, und der Eisbach floss friedlich plätschernd mitten durch die wohltuende Weite. Auf einem Ohr hörte sie ihren Arabischkurs, mit dem anderen achtete sie auf die Geräusche um sich herum. Wie lustig der Kies unter den Rädern knirschte! Ob es in Dubai auch Kieswege gab? Wohl eher nicht.

„Schukraan“, sagte die Stimme in ihrem Programm. „Danke“, übersetzte Ines. „Saba:hu alkhayr.“ – „Guten Morgen.“, „Asi:f.“ – „Entschuldigung.“ Sie lernte nur die Aussprache, nicht die Schrift. Selbstverständlich beherrschten dort alle hervorragend Englisch, doch zum einen faszinierten Sprachen Ines schon immer, zum anderen konnte man mit ein paar Wörtern und Sätzen in der Landessprache nicht nur leicht punkten, sondern mit ein wenig Glück auch Anschluss finden. Zumindest hoffte sie das. In Dubai gab es eine große Expats-Gemeinde; sie wäre dort sicherlich weniger allein als hier. Allerdings wollte sie furchtbar gern auch Kontakte mit Einheimischen knüpfen und so ein paar Einblicke in deren Alltag erhaschen. Schon oft hatte sie gehört, dass die Frauen dort viel herzlicher miteinander umgingen als im Westen. Wenn sie den Auftrag zu voller Zufriedenheit abwickelte, was sie selbstverständlich vorhatte, dann folgten hoffentlich viele ähnliche. Sie würde endlich mehr von der Welt sehen und viel erleben!

Noch einmal ging Ines in Gedanken ein paar Posten für das Millionenprojekt in der Wüste durch. Ob die blau-schwarze glänzende Tapete in dem Steakhaus nicht doch schöner aussähe als die vollständig matte? Und die hohen, bauchigen Vasen in dem Waschbereich der Toiletten verkleinerten den Raum optisch. Hier durfte sie nicht lockerlassen und sollte noch einmal versuchen, die zuständige Dame von schlankeren Modellen zu überzeugen. Allerdings würden die Accessoires erst bestellt werden, wenn sie in Dubai war. Es eilte nicht. Wie so oft war sie unendlich dankbar für ihren Beruf.

Sie konnte es kaum erwarten, endlich in Dubai zu beginnen. Wie sehr sie sich freute!

Nur leider ein bisschen zu früh.

 

 

2. Kapitel

 

„Da bist du ja!“, rief Barbara Fischinger und fasste sich in einer dramatischen Geste ans Herz, als Ines um kurz vor zwölf das imposante Büro am Gärtnerplatz betrat. Die platinblonde, fast dürre Endvierzigerin stand von ihrem Drehstuhl auf und stöckelte um den halbrunden Empfangstresen herum. „Ich dachte schon, dir ist etwas passiert, und wollte gerade anrufen. Aber zum Glück bist du ja jetzt da und alles ist okay.“ Sie legte die Hand auf Ines’ Unterarm und wisperte: „Es ist doch alles in Ordnung, oder?“

„Wie bitte? Ja, natürlich! Was soll denn nicht in Ordnung sein?“ Ines lachte nervös und trat zur Seite. Barbara war ja wirklich nett, aber ofteinfach too much. „Im Kalender steht doch, dass ich heute später komme. Wegen der Wohnung, und dann war ich noch bei Sakkaris in der Bar.“

„Ach so, wegen der Wohnung ... Das wusste ich nicht.“

„Nein? Es steht im Kalender.“

Fischinger verzog ihre roten Lippen zu einer Schnute. „Nein, im Kalender steht nichts.“

Warum stellte sich die Frau nur so blöd an? Statt einer Antwort kniff Ines die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.

„Na, macht ja nichts, du bist ja jetzt da.“ Barbara lachte besänftigend. „Vielleicht hast du dich ja im Datum geirrt. Erinnerst du dich noch, wie diese Praktikantin, wie hieß sie gleich wieder? Emily? Nein, Leonie, ja genau, wie Leonie alle Termine auf das Jahr 2024 gelegt hat? Das war vielleicht was! Zum Glück hat Nina den Fehler damals gefunden!“ Nina war Barbaras 23-jährige Nichte, die mittlerweile als Werkstudentin fest angestellt war und ihre Abschlussarbeit bei Liv Lifestyle schrieb. Sie war jung, sah bombastisch aus und verdrehte allen Männern und Ramona, der lesbischen Mitarbeiterin, gnadenlos den Kopf. Das hatte sie für ihren Erfolg jedoch gar nicht nötig, denn sie war gut und würde es weit bringen. Das erkannte Ines neidlos an.

Barbara legte ihr derweil die Hand auf den Rücken und wollte sie zur Kaffeeküche führen. Doch dahin wollte Ines nicht. Sie murmelte eine Entschuldigung und ging zu ihrem Schreibtisch, wo sie den Computer hochfuhr und das, was Barbara behauptete und was sie nicht glauben konnte, schwarz auf weiß sah, beziehungsweise eben nicht sah: Der Termin, den sie garantiert eingetragen hatte, war nirgends zu finden. Auch nicht im Jahr 24, 25 oder 19. Wie konnte das sein? Sie zitterte, die Konturen um sie herum verschwammen. Das war unmöglich. Sie machte keine Flüchtigkeitsfehler mehr, schon lange nicht! Sie war nicht mehr das Schusselchen von früher, sondern eine zuverlässige Geschäftsfrau! Sie wusste doch genau, dass sie den Termin eingetragen hatte. Aber wieso war er nicht da? Sie musste vergessen haben, ihn abzuspeichern, das war die einzige Möglichkeit. So ein Mist! Wie konnte ihr das nur passieren? War sie überlastet? Oder schon hochmütig, bevor es überhaupt richtig losging? Sie schloss die Augen, holte tief Luft und schwor sich, von nun an noch gewissenhafter zu sein.

Nervös machte sie sich an die Arbeit. Die Partner in Dubai hatten ein paar Fragen und Alternativvorschläge. Nachdem sie die E-Mails beantwortet hatte, druckte sie den Schriftverkehr aus und schob die Blätter in ihre private Mappe. Mehrere Kollegen hatten diese angebliche Papierverschwendung so heftig kritisiert, dass sie ihre analoge Ablage mittlerweile heimlich machte. Sie war lieber vorsichtig, denn was tat man, wenn das System von Viren zerfressen, gehackt oder sonst was wurde? Die sollten hinterrücks über sie reden, was sie wollten, das war ihr egal, schließlich wäre sie im Falle eines Falles auf der sicheren Seite.

Bis zum späten Nachmittag arbeitete Ines ohne weitere Zwischenfälle, dann polterte der Inhaber, Herr Reiter, herein. Sofort gaben sich alle noch eifriger, als sie es ohnehin schon waren. Reiters Tobsuchtsanfälle waren so häufig wie gefürchtet. Und mit dem Kerl sollte Ines nach Dubai? Alle, die sie restlos beneideten, waren gleichzeitig heilfroh, dass sie nicht monatelang den Launen des Cholerikers schonungslos ausgeliefert sein würden. Glücklicherweise hatte Ines im Lauf der Jahre ein dickes Fell bekommen. Sie wusste, dass Reiters Jähzorn so schnell verflog, wie er ausbrach. Ohnehin würde er nur sporadisch in Dubai vorbeikommen, um sicherzustellen, dass alles nach Plan lief. Ines war das recht, denn so lastete nicht die volle Verantwortung auf ihr.

Angesichts der Rage, mit der er heute wütete, zog allerdings auch sie erst mal den Kopf ein.Wie so oft regte er sich tierisch darüber auf, dass Leistung nicht mehr geschätzt werde und alles immer noch billiger sein müsse. Es sei zum Aus-der-Haut-fahren und er habe genug von dem armseligen Pack, das von nichts eine Ahnung hätte.

„Zieht euch warm an!“, dröhnte es durchs Büro. „Das wird ein Hacken und ein Stechen, denn das Eine sag ich euch: So schnell werden die Zeiten nicht besser!“ Er stapfte in sein Büro und schlug die Tür so fest zu, dass die Regale wackelten und die Zartbesaiteten vor Angst zitterten.

„Das Gute ist“, dachte Ines, „dass jetzt wieder ein paar Tage lang Ruhe herrscht.“

Es war fast 20 Uhr, als Ines die Wohnungstür hinter sich zudrückte und sich zwei, drei Atemzüge lang erschöpft dagegenlehnte. Dabei ließ sie die letzten leeren Umzugskartons, die sie soeben aus dem Keller geholt hatte, einfach aus der Hand gleiten. Vor Hunger war ihr ganz flau, aber bevor sie aß und mit der Arbeit begann, musste sie ihre Nichte anrufen. Die hatte keineswegs einen auf Nagetiere allergischen Bruder, sondern war das nach etlichen kostspieligen Versuchen gezeugte Einzelkind ihrer Schwester Judith. Auch wohnte Helena nicht ein paar Straßen weiter, sondern südlich von Salzburg. Das Mädchen hatte jahrelang vergeblich um ein Haustier gebettelt, und dass sie Helmut nun in Obhut nehmen durfte, war für sie wie Ostern und Weihnachten zusammen.

„Macht es ihm echt nichts aus, wenn ich ihn aufwecke? Weil, wenn er in der Nacht wach ist, schlafe ich ja und dann habe ich nichts von ihm ... Was frisst er am liebsten? ... Eeerd-nüsseeee.“ Ines sah förmlich, wie Helena sich Notizen machte. „Die zum Selberknacken? ... Oh, hihi, fliegt alles raus? Egal, ich putze jeden Morgen, damit Mama nicht schimpft ... Auf keinen Fall Brokkoli, Bohnen oder so ... Nichts, worauf man stinkt ... Verstehe ...“ Vergnügt kicherte sie vor sich hin. Sie freute sich so unbändig und nahm die Aufgabe so ernst, dass Ines mulmig zumute wurde.

„Liebling, gibst du mir bitte noch mal deine Mama?“, bat sie deswegen zerknirscht und schilderte Judith die Lage: „Helmut ist schon 15 Monate alt, und die wenigsten seiner Art werden älter als eineinhalb Jahre.“

„Ja, und?“

„Na, ich bin doch drei Monate weg, da ist die Gefahr groß, dass er in der Zwischenzeit ...“ „Krepiert?“

„Nun, ja ...“ Obwohl Judith schon immer so direkt war, zuckte Ines zusammen. „Dass er stirbt.“

Judith schnaubte. „Warum sagst du nicht gleich, dass er von uns geht? Schönfärberei hat noch niemandem geholfen. Kinder brauchen die Begegnung mit dem Tod. Lena ist schon zehn, und das Tier ist nur ein Hamster. Einen besseren Einstieg kann man sich gar nicht wünschen! Also, her damit!“

Ines schauderte. Selbst wenn Judith Recht haben sollte, war ihr persönlich Schönfärberei wesentlich lieber als dieser brutale Pragmatismus. Nicht zum ersten Mal tat Helena ihr schrecklich leid.

Dann endlich konnte sie essen. Schnell wärmte sie sich einen Teller Suppe auf, toastete zwei Scheiben Brot und bereitete sich eine Tasse Tee zu. Danach machte sie sich an die Arbeit. Sie packte alles ein, was sie im Nahen Osten nicht brauchen würde und was ihr für fremde Augen zu persönlich oder kostbar war. Den größten Teil davon schleppte sie in den Keller, den anderen, wertvolleren und wichtigeren ins Auto. Ihre Unterlagen, Dokumente und das bisschen Schmuck, den sie besaß, würde sie bei ihrer Mutter einlagern, die sie am Wochenende besuchen wollte.

 

Am nächsten Morgen radelte Ines wieder fröhlich vor sich hinsummend durch den Englischen Garten, in einem Ohr den Arabischkurs, im anderen das Gezwitscher der Vögel. Mitten in ihre Tagträume hinein klingelte das Handy. Schnell hielt Ines an. Es war Doris, ihre Mutter.

„Ja, Mama?“

Doris kam schnell zum Punkt: „Was möchtest du essen?“

Ines grinste. Seit einiger Zeit ärgerte sie sich nicht mehr über die Bemutterung, sondern freute sich auf das gute Essen. „Das fragst du? Fleischpflanzerl mit Kartoffelbrei und Endiviensalat! Und frische Forellen vom Königssee! Ich freu mich schon und melde mich, wenn ich losfahre.“

Doris wünschte ihr noch einen schönen Arbeitstag, dann schwang Ines sich wieder aufs Rad und fuhr ins Büro.

Früher als vereinbart rief sie Doris wieder an, und das kam so:

„Na endlich, da bist du ja!“ Beinahe routinemäßig sprang Barbara Fischinger hinter ihrem Empfangstresen auf und schlug die Hände vor der Nase zusammen, sodass Ines nicht anders konnte, als zu bemerken, dass die glänzenden Nägel in dem gleichen Rot wie das Brillengestell lackiert waren. Dann tänzelte sie dicht an Ines heran, die einfach kein diplomatisches Mittel gegen diesen Zirkus fand. „Noch sechs Tage, dann sehe ich sie drei Monate lang nicht“, dachte Ines tapfer lächelnd. Sie wurde einfach nicht schlau aus der Frau, die nun verschwörerisch wisperte: „Es ist etwas ganz Großartiges passiert! Das glaubst du nicht! Hör zu: Ich hab ein echtes Zuckerl für dich. Bekannte von uns ... Du sprichst doch Italienisch, nicht wahr?“

„Ja, warum?“

„Pass auf, es geht um die Gestaltung einer wirklich grandiosen Villa am Meer. Das Ehepaar Mucci, ganz liebe Leute, hat es eilig, damit alles für die Sommersaison fertig wird, und Sie lieben deinen Stil!“

„Diesen Sommer?“ Fassungslos schüttelte Ines den Kopf. „Das geht nie und nimmer. Es ist Mitte April, ich bin bald in Dubai. Du kennst die Lieferzeiten.“

„Natürlich.“ Beschwichtigend legte Barbara ihre Hand erneut auf Ines’ Arm. „Jeder weiß das, aber ... Nun, du kannst es ihnen ja schonend beibringen, wenn sie zugeschnappt haben. Und das werden sie! Wir kennen sie, sie wollen das unbedingt mit uns machen, und du passt wie die Faust aufs Auge zu ihnen!“

Vorsichtig zog Ines den Arm weg. „Also gar nicht“, murmelte sie.

„Was, wieso nicht? Die Faust passt doch perfekt aufs Auge!“ Auch Barbara zog die Brille vor und sah Ines über den Rand missbilligend an.

„So kann man das natürlich auch sehen“, dachte Ines mit wachsender Ratlosigkeit. Wie konnte sie aus der Nummer wieder rauskommen?

„Also, lassen wir das. Lange Rede, kurzer Sinn: Du fährst morgen hin und gestaltest den beiden ihr ganz persönliches Paradies auf Erden!“, flötete Barbara wimpernklimpernd. „Wenn du willst, kannst du das Wochenende ja noch dranhängen und dich ein bisschen erholen, bevor es in Dubai heiß hergeht.“

„Wie bitte? Wohin überhaupt?“

„Na, nach Grado natürlich!“

Barbara strahlte, Ines nicht.

„Grado? Friaul? Adria?“

„Ja, selbstverständlich, wo denn sonst? Deshalb ja auch du, wegen der Sprachkenntnisse!“

Ines rang um Fassung. „Barbara, alles, was schön und recht ist, es freut und ehrt mich sehr, dass du an mich denkst, aber noch mal: Ich fliege nächste Woche für drei Monate nach Dubai! Bis dahin habe ich noch irre viel zu tun und außerdem kann ich das Projekt nicht betreuen!“

Barbara winkte ab. „Das weiß ich doch. Du sollst den Auftrag ja auch nur an Land ziehen, den Rest machst du entweder von Dubai aus oder wir übernehmen ihn von hier. Ein Privathaus ist doch ein Klacks für dich, verglichen mit einem 2000-Zimmer-Hotel. Außerdem …“ Sie lehnte sich so nah an Ines, dass diese Herzrasen bekam. „Außerdem ist das Budget der Muccis nach oben offen, du kannst dich austoben! Das können wir uns wirklich nicht entgehen lassen, du weißt doch, wie die Dinge stehen ...“

Natürlich wusste Ines das. Dennoch passte es ihr nicht. „Aber ich mache doch gar keine Privathäuser!“

„Also, jetzt mach aber mal einen Punkt! Wo ist denn da der Unterschied? Das kannst du doch mit links!“

Ines wand sich. „Selbst wenn, ich habe am Wochenende schon was vor. So leid es mir tut, ich kann nicht. Frag doch Nina, das wäre doch das ideale Projekt für ihre Abschlussarbeit!“

„Unfug.“ Barbara machte eine wegwerfende Handbewegung, dann wisperte sie geheimnistuerisch: „Die Muccis wollen nur das Beste! Denen können wir niemanden schicken, der keinen Abschluss in der Tasche hat! Sie haben Fotos von deinen bisherigen Projekten gesehen und wollen explizit nur dich!“ Abwartend grinste sie sie an, dann sagte sie lauter: „Ein Organisationstalent wie du schafft das doch mit links. In fünf Stunden bist du dort. Du machst das Ding klar und fährst wieder zurück. Es ist einfach ein etwas längerer Arbeitstag. Morgen um 15 Uhr trefft ihr euch, außer du willst doch übernachten, dann geht auch am Samstag.“

Ines sah ihre Felle davonschwimmen und keinen Ausweg. Abgesehen von dem Stress hörte es sich wirklich nach schnell verdientem Geld an. Das Wochenende hätte sie ohnehin nicht in München verbracht, sondern bei ihrer Mutter in Marzoll. Warum also nicht? Die Provision konnte sie mehr als gut gebrauchen. Man musste seine Chancen nutzen, von denen bekanntlich die wenigsten auf den ersten Blick golden glänzten. „Also gut. Es gelten die üblichen Konditionen?“

„Sogar besser als sonst.“ Barbara lächelte.

„Oh, das ist ja was! Danke!“ Freudig überrascht sah Ines die Kollegin an. „Machst du mir den Termin bitte gleich für morgen Nachmittag aus?“

„Ich wusste, dass auf dich Verlass ist! Gemeinsam retten wir das Büro! Clemens, ähm, Herr Reiter, wird dir den Einsatz nie vergessen! Ich bereite gleich alles für dich vor! Danke, meine Liebe, danke!“

Ines nickte und lief hinaus auf die Straße, das Handy bereit zum Anruf. „Mama? Hallo? Bist du schon beim Einkaufen? Nein, noch nicht? Sehr gut. Hör zu: Bleib daheim und pack den Koffer, wir fahren übers Wochenende nach Grado!“

„Wie bitte? Sag das noch mal! Was ist denn los, und wieso so plötzlich?“

Nach ihrer Erklärung jubelte Doris über den unverhofften Ausflug ans Meer. „Grado! Dass ich da noch mal hinkomme! Wir waren früher oft dort, mit Papa, als du noch nicht auf der Welt warst. Ach, das waren noch Zeiten ...“

Endlich lachte auch Ines. Sie freute sich mittlerweile richtig auf den kleinen Urlaub und darüber, dass sie ihrer Mutter eine Freude machen konnte.

„Nur Jutta wird traurig sein, dass sie dich nicht sieht“, wandte Doris ein. Jutta war ihre Busenfreundin und wie eine Tante für Ines.

„Wieso nicht? Warum nehmen wir sie und Fifi nicht einfach mit? Sie hat doch bestimmt nichts vor!“

„Im Ernst? Die würde ausflippen, das sag ich dir! Du bist ein Engel, weißt du das? Ich frag sie gleich, sie sagt bestimmt nicht Nein! Außerdem arbeitet ihre Nichte doch im Reisebüro. Die könnte nachschauen, ob es das kleine Hotel noch gibt, in dem wir früher immer gewohnt haben. Falls es dir nichts ausmacht.“ Doris lachte wehmütig.

„Fragt ruhig! Warum nicht? Solange es nicht komplett heruntergekommen oder schweineteuer ist, soll es mir recht sein. Ich sage Frau Fischinger gleich, dass sie mir keine Unterkunft suchen muss. Allora, ciao mamma, a domani!“

Doris, die – natürlich zusammen mit Jutta – seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten – bei der VHS Italienisch lernte, erwiderte den Gruß erstaunlich flüssig und fast akzentfrei.

Ines freute sich auf domani, also den morgigen Tag in Italien und das bevorstehende Treffen mit ihrer besten Freundin Martina.

 

Es nieselte leicht, als sie nach Feierabend mit eingezogenem Kopf über den Opernplatz radelte. Sie wollte gerade ihr Rad abstellen und anschließen, als Martinas quarzitgraumetallicfarbener (sie hatte sich die genaue Bezeichnung aus beruflichen Gründen gemerkt) Porsche unweit vor ihr einparkte. Sie hielt an und wartete darauf, dass ihre Freundin ausstieg. Die Tür öffnete sich, und zuerst tauchte glänzendes, teuer blondiertes Haar auf.

„Hallo, Martina! So ein Zufall“, rief Ines winkend.

Daraufhin drehte sich der Kopf um und zwei blaue Augen blitzten auf, als sie Ines entdeckten. Die beiden Frauen kannten sich aus dem Studentenwohnheim Biederstein, in dem sie vor zwei Jahrzehnten in winzigen Zimmern gehaust und die beste Zeit ihres Lebens verbracht hatten. Seitdem hatte sich fast alles geändert, eins jedoch war geblieben: ihre Freundschaft. Bis zu Martinas Heirat hatten sie die wildesten Dinge miteinander unternommen, doch seit dem Jawort trafen sie sich nur noch donnerstags zum Afterwork, vorausgesetzt, beide weilten in der Stadt. Also etwa alle drei Wochen.

Martina trug ein mit überdimensionalen Pfingstrosen bedrucktes Etuikleid, das an den meisten Frauen billig gewirkt hätte. Nicht so an Martina, denn die strahlte eine Klasse aus, um die Ines sie seit je beneidete. Abgesehen davon stammte alles, was Martina trug, von Escada oder einem anderen exklusiven Label; Preisklassen, von denen Ines nicht einmal noch träumte. Trotz des großen Gefälles waren sie nach wie vor befreundet, und dass das so war, bedeutete Ines viel. Wenn sie mit Martina zusammen war, fühlte sie sich erfolgreicher. Ihr war dann, als ob von Martinas Glanz etwas auf sie abfärben würde, denn anders als sie hatte Martina nicht nur einen erfolgreichen, wenngleich schrecklich arroganten Manager geehelicht, sondern die eigene Karriere als Anwältin von Anfang an zielstrebig verfolgt und vorangetrieben. Im ersten Semester, am Küchentisch des Wohnheims, hatten sie sich kringelig gelacht, weil sie beide das gleiche Kleid für 20 Mark trugen, doch das war längst anders geworden. „Du siehst wie immer toll aus!“, rief Ines.

„Danke, danke. Aber huch, ist das ein Wind!“ Grazil schritt Martina um ihr Auto herum und umarmte Ines mit den obligatorischen Wangenküsschen. „Zwei Wochen sind eine Ewigkeit! Und bald bist du weg. Komm, ich muss dir so viel erzählen! Du glaubst ja nicht, was alles passiert ist!“

„Ich dir auch! Und ja, du wirst mir fürchterlich fehlen.“

„Zum Glück gibt es Handys!“ Martina drückte den Mantel, in den sie gerade geschlüpft war und den der Wind aufbauschte, an ihre Schenkel. „Komm, gehen wir!“ Dann fiel ihr Blick auf Ines’ Fahrradkorb. „Nimmst du den Ordner mit oder willst du ihn nicht lieber im Auto lassen?“

„Ich lass ihn gern da, dann geht er nicht verloren.“ Flink warf Ines die Tasche ins Auto, dann huschten die beiden geduckt in ihr Lieblingsbistro. Wie in letzter Zeit üblich, bestellten sie nur eine Suppe, weil die abends am bekömmlichsten war. Aufgeregt erzählte Ines von der spontanen Fahrt nach Grado.

„Super! Dann hat die Fischinger also doch nichts gegen dich.“

„Scheint so.“ Ines zuckte mit den Schultern. „Ich muss mich in ihr getäuscht haben. Ich sag ja, aus der Frau werd ich nicht schlau. Mir ist das Getue oft einfach zu süß.“

„Manche Menschen sind halt so. Was ist, trinkst du zur Feier auch ein Glas Wein?“

Ines winkte ab. „Heute noch nicht, nächste Woche dann.“

Martina musterte sie naserümpfend. „Du lebst ja ganz schön asketisch. Meinst du nicht, du übertreibst es ein wenig?“

„Es nervt mich doch selber! Aber schau, ich mach das doch nicht freiwillig! Ich nehme nur morgen die letzte Tablette.“

„Immer noch gegen den Nagelpilz?“, rief Martina schrill.

„Martina, bitte!“ Ines lief dunkelrot an und zog den Kopf ein.

„Keine Sorge, niemand hört uns, es ist viel zu laut.“

„Hoffen wir’s!“, brummte Ines.

„Wie lange nimmst du die jetzt? Ein halbes Jahr? Krass.“

„Unsinn. Zwei Wochen!“, verteidigte Ines sich beschämt. Warum begriff Martina nicht, dass ihr das Thema peinlich war? Nicht zum ersten Mal wünschte sie, sie hätte ihr nie davon erzählt. „Ich muss ab jetzt ein halbes Jahr einmal wöchentlich eine nehmen.“

„Okay, okay. Aber weißt du, was ich gestern gelesen habe? Ich habe gelesen, dass Nagelpilz darauf hinweist, dass man sich von etwas Altem nicht trennen kann.“

„So ein Schwachsinn. Können wir jetzt bitte das Thema wechseln? Mir vergeht sonst der Appetit.“

„Gleich! Da stand auch, dass der Ekel davor damit zu tun hat, dass man etwas an sich nicht wahrhaben will.“

„Martina, bitte! Sprich leiser!“ Verärgert sah sie sich um. „Was soll das?“

Vielsagend hob Martina die Augenbrauen. „Ich meine dein Verschanzen. Deinen Rückzug von der ...“ Sie ahmte mit den Fingern eine Glocke nach. „Der Männerwelt.“

Ines ärgerte sich allmählich wirklich. So hatte sie sich den Abend nicht vorgestellt! „Hör mal, ich bin seit sieben Jahren Single und war noch nie so glücklich und frei! Ich bin erfolgreicher und selbstständiger denn je! Ich trauere nicht, ich leide nicht, ich grolle nicht! Ich koste das Leben aus! Können wir jetzt bitte das Thema wechseln? Wir wollen den Abend doch genießen, oder nicht?“

„Das tun wir gleich. Versprich mir vorher, dass du dich in Dubai damit auseinandersetzt.“ Mahnend hob sie den Zeigefinger, an dem ein goldener Ring mit einem enormen Saphir prangte. Ines kniff die Augen zu und schüttelte genervt den Kopf, doch Martina ließ nicht locker. „Versteckst du dich vielleicht vor deiner Angst?“

Hätte Martina dabei nicht gelächelt, wäre Ines beleidigt gewesen, aber Martina meinte es gut mit ihr. Dabei war ihre Fürsorge völlig umsonst, denn Ines wollte und brauchte keinen Mann. Nie wieder. Das Leben war wesentlich einfacher ohne jemanden, dem man ständig schöntun, von dem man sich gängeln und fertigmachen lassen musste.

„Genug jetzt, okay? Prost!“ Ines hob ihr Glas hoch.

Während sie die Bärlauchsuppe löffelten, rühmten und verrissen sie Prominente, Ausstellungen und Konzerte, die sie besucht oder von denen sie gehört hatten. Martina geriet über die neueste Glanzleistung ihrer Lieblingstennisspieler derart in Verzückung, dass Ines aus Versehen das gesamte Brot allein aufaß. Und das, wo sie doch auf ihre Figur achten wollte! Martina war der größte Tennisfan, den Ines kannte. Zu ihrem zehnten Hochzeitstag hatte ihr Mann ihr eine Woche Wimbledon geschenkt, samt Erdbeeren und Champagner, obwohl er selbst mit dem Sport kaum etwas anfangen konnte. Das war die Liebe, von der andere, weniger vom Glück geküsste Menschen nicht einmal träumten.

„Sag mal, wo schaust du eigentlich die ganze Zeit hin?“, fragte Ines nach einer Weile irritiert. Sie erzählte schon zum zweiten Mal von der Ballettschule, die sie in Dubai aufgetan hatte, aber Martina reagierte einfach nicht. Als Ines sich umsah, entdeckte sie einen attraktiven Mittfünfziger. Er saß schräg hinter ihnen und hatte offensichtlich ein Auge auf Martina geworfen. Natürlich. Sie sah ja auch spitze aus. Trotzdem! „Du bist verheiratet, schon vergessen?“, raunte Ines.

Martina wandte sich selbstsicher grinsend zu ihr. „Man wird ja wohl noch schauen dürfen! Und der ist doch echt nicht von schlechten Eltern!“

„Die liegen längst im Altenheim, wenn nicht schon woanders“, brummte Ines verdrossen. Jetzt ging das Geflirte wieder los! Dabei hatte sie sich so auf eine gute Unterhaltung gefreut.

„Ines! Du bist ja schlimmer als deine Mutter und Schwester zusammen!“

„Sorry. Ist mir so rausgerutscht. Aber wie kannst du mit dem flirten, wenn Robert daheim auf dich wartet?“

„Na, hör mal! Appetit kann man sich ja wohl holen, solange man – zumindest ohne gegenseitiges Einverständnis zu mehr – brav zu Hause isst!“, gab Martina ungerührt zurück und schickte einen weiteren schmachtenden Blick in Richtung Jackett.

„Sag mal, willst du etwa eine offene Ehe?“

„Nein, das nicht, aber ich will wahrnehmen dürfen, wenn etwas oder jemand schön ist! Und der Mann ist schön, das musst du doch zugeben!“

Das war er nicht. Er sah schleimig und selbstverliebt aus. Und kam in diesem Moment zu ihnen herüber.

„Guten Abend, die Damen, darf ich Sie auf ein Glas einladen?“, fragte er selbstsicher grinsend.

Kokett lächelnd ergriff Martina das Wort. „Im Grunde sehr gern, allerdings möchte ich Sie lieber gleich darauf hinweisen, dass ich Sie lediglich attraktiv finde und gern flirte, ansonsten aber glücklich verheiratet bin. Und meine Freundin hier hat den Männern seit Jahren abgeschworen.“

„Ein herber Verlust“, erwiderte er vor den Kopf gestoßen. Es blieb unklar, was genau er damit meinte. „Danke für die Ehrlichkeit, die findet man selten.“

„Bitte, gerne, das Bedauern ist ganz meinerseits“, antwortete Martina mit einem lasziven Augenaufschlag. Als sich die beiden mit zwei affektierten Küsschen auf die Wangen verabschiedet hatten, schnappte Ines nach Luft.

„Na, du bist ja direkt! So kenn ich dich ja gar nicht!“

„Direkt ja, aber nicht unhöflich, oder?“

„Nein, das nicht. Aber woher willst du wissen, dass er was von dir wollte?“

„Na, weil er mich angeschaut und auf ein Getränk eingeladen hat.“

„Vielleicht wollte er nur nett sein!“

„Bitte? Sehe ich aus, als könnte ich mir das Glas Wein nicht selber leisten? Oder als wäre ich auf der Suche nach einem neuen besten Freund? Im Ernst, Ines, aber mein Selbstwert und meine Menschenkenntnis sind intakt.“

Ines schwieg gekränkt. Wollte Martina damit sagen, dass es bei ihr nicht der Fall war?

„Ines, komm, was ist denn so schlimm daran, wenn mir ein gut aussehender Mann auffällt? Du siehst doch auch weiterhin schöne Möbel, obwohl du vollständig eingerichtet bist!“

„Ein Mann ist doch kein Schrank!“

„Wie man es nimmt!“ Sie lachte. „Aber was ärgerst du dich über mich? Robert weiß, dass ich mit offenen Augen durchs Leben gehe. Meinst du, ihm fallen schöne Frauen nicht auf?“

Seufzend schüttelte Ines den Kopf. „Wozu ist man denn zusammen, wenn man sich nicht genügt?“

Martina schlug mit den Fingern auf die Tischkante. „Ines, es reicht. Robert und ich sind glücklich! Schau dich doch mal um, hier wimmelt es nur so von attraktiven Männern! Du müsstest nur mit den Fingern schnippen, und schon wärst du endlich nicht mehr Single!“

„Damit er in einem unbeaufsichtigten Moment losrennt und andere Frauen auf ein Glas Wein einlädt? Mit ihr in Urlaub fährt? Nein, danke, einmal reicht. Außerdem schauen sie dich an, nicht mich.“

Da Ines sich nicht streiten wollte, ging sie spontan auf die Toilette. Manchmal war Martina einfach unerträglich, sie schien dann alles, was Ines passiert war, zu vergessen. Eine Horrorbeziehung reichte schließlich wirklich. Mit Schaudern dachte sie daran, wie schäbig Mark sie behandelt hatte, wenn sie beispielsweise danach fragte, wie sein Abend gewesen sei. „Wie du schon wieder klingst!“, hatte er jedes Mal geschnaubt. „Du tust, als würde ich weiß Gott was anstellen! Dein Misstrauen und deine Eifersucht machen mich wahnsinnig und unsere Beziehung kaputt!“ Ines hatte sich daraufhin immer kleinlaut verkrochen. Dabei war sie anfangs gar nicht misstrauisch oder eifersüchtig, sondern ehrlich interessiert gewesen. Als sie später wirklich misstrauisch geworden war, traute sie sich selbst nicht mehr und glaubte lieber seinen Lügen als ihrer Intuition. Das war, neben vielen anderen, rückblickend der größte Fehler gewesen, denn wenn man sich selbst nicht mehr traute, fing man an, sich zu hassen. Martina hatte doch mitbekommen, wie schlecht es ihr gegangen war!

Immer noch enttäuscht, wechselte sie nach ihrer Rückkehr an den Tisch gleich das Thema. „Was machst du denn am Wochenende?“

 

 

 

3. Kapitel

 

Am frühen Freitagmorgen, als im Haus und auf den Straßen noch alles ruhig war, öffnete Ines das untere Türchen des 5-Sterne-Hamster-Resorts und steckte eine behandschuhte Hand hinein. Helmut war wahrscheinlich gerade erst eingeschlafen. Er wurde nicht gern geweckt, und leider biss er oft zu, wenn ihm etwas nicht passte. Wo schlief das Kerlchen heute nur? So toll Ines den Käfig mit seinen vielen Verstecken auch fand, so störend war er, wenn sie den Nager herausholen wollte. Hier unten in der Almhütte schlief er schon mal nicht.

Ines hatte die Anlage für Herbert gebaut, ihren ersten Nager. Auch Hermann und Hubert hatten sich darin pudelwohl gefühlt. Ein Nager reihte sich nahtlos an den anderen, denn bei der kurzen Lebensdauer kam es unweigerlich zu einem regelrechten Hamster-Verschleiß. Wo steckte er bloß? Sie tastete und klopfte vorsichtig herum, bis sie ihn endlich ganz oben in seinem Baumhaus fand.

„Da bist du ja! Guten Morgen!“ Sie schloss die Faust um ihn, sodass nur noch sein Köpfchen herauslugte. Zärtlich streichelte sie es mit einem Finger. „Na, mein Kleiner, gleich geht’s auf große Fahrt. Ich bin bald eine Zeitlang weg. So lange passt Helena auf dich auf. Bei ihr wird es dir gut gehen. Sie freut sich schon riesig auf dich. Aber hey, wir verabschieden uns besser jetzt schon voneinander.“ Sie hob ihn an ihre Wange und strich sanft über das weiche Fell. „Ich hoffe, wir sehen uns noch mal wieder. Halt durch, bis ich wiederkomme, mein alter Knacker, hörst du?“

Helmut sah Ines aus seinen pechschwarzen Äuglein so viel- und damit im Grunde auch wieder nichtssagend an, wie er es immer tat. Natürlich verstand er sie nicht, und wahrscheinlich war es ihm auch egal, wer ihn fütterte. Man sollte sein Herz nicht an einen Hamster hängen. Trotzdem hatte sie ihn gern. Nach ein paar weiteren Streicheleinheiten setzte sie ihn in den Reisekäfig, zerlegte seinen Palast in die Einzelteile, verstaute alles im Kofferraum und brauste wenig später über die A8 in den Süden. Dunkle Wälder und sattgrüne Wiesen flogen an ihr vorbei, Jonas Kaufmann schmetterte zur Einstimmung eine italienische Arie nach der anderen, bis Eros Ramazotti und Gianna Nannini übernahmen und für ordentlich Stimmung sorgten.

Als sie eine gute Stunde später auf das Mehrfamilienhaus mit den bunt bepflanzten Holzbalkonen in Marzoll zurollte, warteten ihre beiden Begleiterinnen schon in der Auffahrt. Sie trugen Sonnenhüte, winkten mit beiden Händen und ihre blumigen Sommerkleider wehten im Frühlingswind.

„Mensch, ihr seht ja aus wie richtige Sommerfrischler. Guten Morgen!“, rief Ines in bester Laune, und reihum umarmten sich alle. „Schön, dass du mitkommst“, sagte sie zu Jutta, die immer da gewesen war, in guten wie in schlechten Zeiten. Sie und Doris gehörten zusammen wie Eiweiß und Dotter, und waren in einigen Punkten genauso unterschiedlich. Denn dort, wo Doris nüchtern und schnell entschied, wägte Jutta mit viel Herz ab.

„Vielen Dank für die Einladung! Du bist ein Schatz! Natürlich komme ich mit, so was lass ich mir doch nicht entgehen! Endlich ist mal was los!“, rief Jutta und lachte dabei so heftig, dass ihre gemütlichen Rundungen wackelten. „Ach, ich freu mich ja so!“

„Ich mich auch, ganz narrisch!“, stimmte Doris ein. „Aber lasst uns keine Zeit verschwenden! Ines, stell deine Sachen, die bei mir bleiben, erst mal ins Schlafzimmer. Ich verräume sie später. Wir packen solange schon mal um, okay?“

Schwer beladen ging Ines ins Haus. Als sie wieder herauskam, blickte sie in belustigte Gesichter.

„Kommt der Hamster etwa auch mit?“, gluckste Jutta. „Ich hoffe, Fifi schnabuliert ihn nicht weg! Kann er in den Kofferraum oder wird ihm da schlecht?“

„Untersteh dich, Fifi! Und nein, Helmut steigt in Anif aus. Helena passt auf ihn auf, bis ich ... wiederkomme.“ Ines räusperte sich.

„Liegt er dir so am Herzen?“, fragte Jutta leise.

„Wie bitte? Nein, ach nein, das ist es nicht. Er ist nur schon so alt und ich befürchte, dass er stirbt, während ich weg bin. Die arme Helena.“

„Oh.“ Jutta sah sie betrübt an.

„Ach, komm. Leni ist stark, sie packt das locker. Der Tod gehört zum Leben! Ich habe mit Judith schon darüber gesprochen. Es ist für die Entwicklung gar nicht gut, wenn Kinder nicht mit dem Tod konfrontiert werden.“

Jutta und Ines hielten die Luft an, dann schüttelte Ines den Kopf, als könnte sie so die Emotionen loswerden. Sie hätte gern gewusst, was aus ihr geworden wäre, wenn ihr Vater nicht auf dem Untersberg ausgerutscht und tausend Meter in die Tiefe gestürzt wäre. Sie war an jenem sonnigen Maisonntag sechs gewesen,Judith zwölf, und danach hatte sich alles anders geändert. Die übrig gebliebene Familie zog von dem Reihenhaus in eine winzige, dunkle Wohnung. Doris schlief im Wohnzimmer, Judith und sie teilten sich in einem Stockbett das Kinderzimmer. Beide bekamen einen Schlüssel und sahen ihre Mutter nur noch am Morgen und am Abend. Das Essen schmeckte nicht mehr, Doris sprach nicht mehr, es war, als hätte die Welt ihre Farben verloren. Erst als Doris Horst kennenlernte und kurz darauf heiratete, wurde es besser. Mit zehn hatte Ines wieder ein eigenes Zimmer, kurz wähnte sie sich in Sicherheit und glaubte daran, dass Mutters Versprechen, jetzt werde alles gut, wahr werden würde. Doch das wurde es nicht. Denn wo früher dröhnende Ruhe geherrscht hatte, explodierte Horst nun täglich in cholerischen Anfällen. Nach fünf Minuten waren sie zwar immer wieder vorbei und für ihn und Doris herrschte dann wieder eitel Sonnenschein. Doch Ines brauchte für ihre Erholung von dem Tsunami an negativer Energie länger, als ihr bis zum nächsten Ausbruch blieb. Und so wurde zwar einiges, aber längst nicht alles gut.

Judith war damals schon fast erwachsen und kaum noch zu Hause gewesen, was Ines nicht störte, denn so schikanierte sie sie wenigstens nicht mehr. Der Altersunterschied war deswegen so groß, weil Doris zwischen ihnen drei Fehlgeburten erlitten hatte. Wie so oft fragte Ines sich auch jetzt, ob Doris aufgrund der Schicksalsschläge so hart und nüchtern geworden war. Was wäre wohl aus ihr, aus ihnen allen geworden, wenn Vater nicht mit seinem Spez’l auf den Berg, sondern mit zum Baden an den See gegangen wäre? Und würde sie selbst überhaupt leben, wenn die anderen vor ihr gelebt hätten?

Hör schon auf! Unwirsch beendete sie das sinnlose Gedankenkreisen. Sie konnte es ja doch nicht ändern. So war ihr Leben nun mal. Jeder hatte seinen Rucksack zu tragen. Aus, Ende, fertig.

„Also, kommt, los geht’s!“, rief Jutta fröhlich. „Hier hast du den Schlüssel!“ Sie stiegen ein und Fifi sprang neben Jutta auf die Rückbank, wo er sich nach etlichen durchhechelten Kilometern schließlich zufrieden schnaufend zusammenrollte, bis sie in Anif hielten.

Da um die Uhrzeit niemand zu Hause war, stellte Ines Helmut auf die wind- und sonnengeschützte Seite der Terrasse. Obwohl die anderen im Auto warteten, holte sie ihn ein letztes Mal auf die Hand und streichelte ihn sanft. Diesmal war sie sicher, dass er ihre Traurigkeit spürte. „Mach’s gut, Kleiner. Es war schön, dass es dich gegeben hat. Ich hoffe wirklich, wir sehen uns wieder. Ohne dich wäre es manchmal ganz schön einsam gewesen, weißt du? Am liebsten würde ich dich freilassen, damit du noch was vom Leben hast und über die saftig grünen Wiesen tollen kannst. Schau, da sind die Berge, die sind schön, gell?“ Sie lachte traurig. „Was ist? Soll ich dein Türchen einen Spalt weit offen lassen? Das tu ich, dann kannst du abhauen, wenn du willst. Aber wenn du dich in der großen weiten Welt doch fürchtest, dann rennst du einfach zurück in den Käfig und Helena kümmert sich um dich, ja?“ Helmut mümmelte vor sich hin. „Gut, dann machen wir es so. Also, dann, leb wohl.“

Helmut huschte von ihrer Hand und hinein in sein Häuschen. Hamster waren wirklich schrecklich bindungsunfähig.

„Sagt mal, was habt ihr eigentlich alles dabei?“, fragte sie betont heiter, als sie weiterfuhren. „Das sieht ja aus, als würdet ihr zwei Monate und nicht zwei Tage bleiben!“

Die beiden Seniorinnen schauten sich an. „Wir gehen lieber auf Nummer sicher. Wenn es uns dort gefällt, bleiben wir vielleicht ein bisschen länger.“

„Ach so, gut. Aber wie komme ich dann heim?“

„Na, mit dem Auto natürlich! Du stellst meins bei Doris ab und fährst mit deinem weiter. Geht gut mit der Automatik, nicht wahr?“, fragte Jutta kichernd.

Ines nickte wenig überzeugt. „Aber was macht ihr?“

„Wir?“ Jutta zwinkerte Doris zu. „Wir kommen schon irgendwie heim! Es gibt Züge, oder jemand holt uns.“

„Jemand holt euch.“ Ines fasste sich an den Kopf. Was hatte sie sich da nur aufgehalst? Diese zwei 70-Jährigen waren alberner als Teenager!

„Wir wohnen übrigens wieder im Il Sole!“, verkündete Doris begeistert. „Die liebe Emily hat für uns reserviert. Die Besitzer haben gewechselt, aber das Haus gibt es noch! Stellt euch das mal vor, seit 60 Jahren, ist das nicht sagenhaft? Es ist sehr gut bewertet, aber sollte es uns nicht gefallen, dann ziehen wir einfach um. Vorausgesetzt, Grado gefällt uns überhaupt noch. Man weiß ja nie ...“

„Ach, bestimmt!“, rief Jutta voller Elan. „Aber haltet euch mit dem Gebäck zurück, wir wollen doch gleich zu Mittag essen!“

So ging es, bis sie durch die erste italienische Mautstation rollten, die Berge unvermittelt aufhörten und ein neues Land begann. Die Luft war milder, das Licht sanfter, es roch nach Süden. Die Äcker und Felder schimmerten unter einem matten Goldschleier. Sie kamen zum Meer und fuhren auf die lange Dammstraße, Grado schon vor Augen.

---ENDE DER LESEPROBE---