Ein Highlander Zum - Annabelle Benn - E-Book

Ein Highlander Zum E-Book

Annabelle Benn

0,0

Beschreibung

Nach ihrer zermürbenden Scheidung möchte Sienna weg von der Hektik und dem Gerede Londons. Am liebten würde sie an einem idyllischen Ort einen Luxusspa eröffnen. Ein Besuch bei den Highland Games in Lochcarron verändert ihr Leben: Denn zum einen ist da dieser ruppige Schotte im Kilt, dessen durchdringender Blick sie bis in ihre Träume verfolgt. Zum anderen soll in dem abgeschiedenen Dörfchen Balnavaiag auf der Isle of Skye eine alte Kirche zum Verkauf stehen., die wie geschaffen für ihr Vorhaben. Munter beginnt sie bereits, Pläne zu schmieden. Leider hat sie die Rechnung jedoch ohne den Besitzer gemacht. Dieser ist nämlich alles andere als gewillt, die Kirche an eine "Londoner Tussi" zu verkaufen und Horden von Ihresgleichen durch das beschauliche Fischerörtchen trampeln zu lassen. Als sie dem attraktiven Hinterwäldler wiederbegegnet, ist er, bis auf das Dorffest und den leidenschaftlichen Kuss, weiterhin mürrisch, ruppig und eigenbrötlerisch. Sienna wird aus ihm nicht schlau und macht sich daran, sein Geheimnis zu erforschen. Leserstimmen: "Die Highlands sind so anschaulich beschrieben, dass ich dachte, ich sei dort." (Corinna Z.) "Überzeugende Charaktere." (Monika N.)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 279

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Ein Highlander zum …

 

 

 

Vorbemerkungen:

"Posh" ist englischer Slang und bedeutet "vornehm, piekfein", wobei, anders als im Deutschen, immer die starke Abneigung des Sprechers gegenüber dem Adressaten mitschwingt. Da ich das nicht mit einem Wort wiedergeben könnte, habe ich mich entschieden, das Wort einzudeutschen: posch.

Portbeg und Balnavaig sind zwei frei erfundene Orte, die jedoch so, wie sie in der Geschichte beschrieben sind, in den nordwestlichen Highlands vor der Isle of Skye liegen könnten.

Lass ist die schottische Bezeichnung für Mädel.      

Bhalaich ist schottisch und bedeutet Junge.

Jeder Klan hat ein eigenes "Schottenmuster" (auf Englisch Tartan).

Marmite ist ein brauner, vegetarischer Brotaufstrich, den, meiner Meinung nach, niemand verzehren kann, der nicht in Großbritannien geboren ist. Deswegen heißt der Werbeslogan wohl auch "Love it or hate it."

 

 

Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23

 

Kapitel 1

 

Lochcarron, West Highlands, Juli 2015

Die lilafarbenen Wolken hingen schwer über dem weitläufigen Gelände und schienen die Berge zu küssen. Tief atmete Sienna ein; der Geruch von Gras, Schlamm und gebratenem Fleisch strömte ihr in die Nase und der feine Nieselregen besprühte ihre Haut. Die Highland Games: Eine Welt für sich, und mit Sicherheit eine ganz andere als ihre alte in dem edlen Londoner Stadtteil Chelsea. Warum sie sich hier so wohl und auch nach zwei Tagen schon wie zuhause fühlte, konnte sie nicht genau sagen, jedoch schien alles sie zu verzaubern. Auch der Dudelsack, den sie aus der Ferne vernahm.

Allein, aber glücklich stand sie mitten in der heiteren Menschenmenge und sah den großen, starken Männern bei ihren eigentümlichen Wettkämpfen zu. Natürlich trugen alle einen Kilt und viele dazu ein T-Shirt oder Rugby-Shirt. Gerade stapfte wieder einer mit kräftigen Schritten zu etwas, das wie ein entwurzelter Telefonmast aussah. Dieser wurde von zwei Helfern in aufrechter Position gehalten. Der Wettkämpfer schlang seine Arme um das Holz, beugte sich nach vorne und stemmte das untere Ende in seinen Bauch. Dann hob er den Mast mit animalischen Lauten ganz an und rannte nach vorne. Seine Schultern wölbten sich unter der Anstrengung und sein bärtiges Gesicht war schmerzverzerrt. Plötzlich schleuderte er das Ding mit einem lauten Schrei in die Luft. Es flog ein paar Meter, bevor es mit einem dumpfen Schlag in dem schlammigen Erdreich landete. Ein eher höflicher Applaus folgte, woraus Sienna schloss, dass der Wurf verhältnismäßig bescheiden ausgefallen sein musste.

"Ach, ich würde ja so gerne sehen, wie einer dieser kernigen Kerle einen Baumstamm wirft!", seufzte neben ihr eine plumpe Amerikanerin, die pausenlos Fotos schoss.

Der Schiedsrichter markierte die Aufschlagstelle, notierte die Entfernung und schon war der nächste Werfer an der Reihe.

Sienna lächelte und stimmte der Fremden zu: "Ja, so ein Mann im Kilt hat schon was …"

"Das liegt an den schlammigen Knien!", kicherte die Amerikanerin und knipste weiter. "Ich muss da mal näher ran, entschuldigen Sie mich bitte!" Und schon quetschte sie sich durch die Menge und war aus Siennas Sicht verschwunden, da gerade ein Pulk herumalbernder Teenager vorbeikam.

Schon seit einer Stunde stand Sienna wie gebannt bei den Schwergewicht-Wettkämpfen, denn ganz sicher wusste sie, dass auch sie nicht nach Hause gehen würde, ohne das Baumstammwerfen miterlebt zu haben. Seit Jahren schon träumte sie von dieser rauen Urgewalt, die sich in den Highlandern Bahn brach und die so gar nichts mit den beinahe verweiblichten und immer top gestylten Londoner Männern zu tun hatte.

Trotzdem war es rein dem Zufall geschuldet, dass sie bei diesen Highland Games zuschaute. Nichts ahnend hatte sie in ihrem Hotel in Lochcarron eingecheckt und dabei einen Flyer gesehen. Vor Begeisterung hatte sie leise gequiekt, so wenig konnte sie ihr Glück fassen, denn auf dem Flyer stand schwarz auf weiß, dass die hiesigen Spiele tatsächlich genau an diesem Wochenende stattfinden sollten! Vielleicht war das Schicksal, dachte sie versonnen.

Der ursprüngliche Zweck ihrer Reise in diesen im Nordwesten gelegenen Teil Schottlands war geschäftlicher Natur. Denn nach der zermürbenden Scheidung von ihrem (nun ehemaligen) Upper-Class Gatten Otis Wilson wollte sie ihre siebenstellige Abfindung hier investieren und ein neues Leben beginnen – fernab von bösen Zungen, schmerzenden Erinnerungen, verpesteter Luft, horrend hohen Mieten und allen anderen Unannehmlichkeiten, die das Leben in einer modernen Großstadt prägten.

Viel hatte sie von diesem sagenumwobenen Teil Schottlands gehört: die Spiele, die Highlands, Männer in Röcken. Doch bis vor Kurzem hätte sie jedoch nicht gedacht, dass sie eines Tages leibhaftig dabei sein würde!

Gerade schleuderte ein besonders bärig aussehender Mann mit einem gepressten Stöhnen doch tatsächlich einen ganzen Baumstamm (ohne Äste) durch die Luft und in diesem kurzen Moment, der wie in Zeitlupe an ihr vorüberzog, war ihre Welt vollkommen.

Sienna war so glücklich, dass sie sich innerlich selbst umarmte und die Augen zusammenkniff. Fröhlich seufzte sie auf und hätte die ganze Welt umarmen mögen. Das laute Knurren ihres Magens erinnerte sie zum einen an drei hungrige Bärenkinder, zum anderen daran, dass sie seit dem üppigen Frühstück mit pochierten Eiern, Toast und Orangenmarmelade nichts mehr zu sich genommen hatte. Folglich machte sie sich gut gelaunt auf den Weg zu den zahlreichen Essensständen.

Von Gewürzen und Fett geschwängerter Grillrauch waberte durch die ansonsten herrlich frische Luft. Obwohl sie seit mehr als einem Jahr kein Fleisch aß, lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Doch so schnell wollte sie ihre gesunde Lebensweise nicht aufgeben und so bahnte sie sich, hungrig und immer wieder Entschuldigungen murmelnd, ihren Weg durch unzählige Menschen, die zwischen den weißen Zelten herumstanden und - liefen. An einem wurde Spanferkel mit Apfelsauce angeboten, an dem nächsten Hotdogs. Aber im Jahr 2015 musste es doch sogar hier fleischloses Essen geben, überlegte sie und suchte heißhungrig weiter. Unschlüssig blieb sie bei einem Stand mit handgemachten Seifen stehen. Sie fühlte sich bereits so schwach, dass sie überlegte, einfach das Nächstbeste zu essen, einfach nur, um überhaupt etwas zu sich zu nehmen! Schon mehr als einmal hatte sie Unterzuckerung gehabt und darauf konnte sie gerne verzichten, besonders heute. Neben dem Seifenstand befand sich ein ortsansässiger Konditor und daran anschließend ein Käsehersteller von der Isle of Eigg. Natürlich gab es auch in London vergleichbare Bauernmärkte. Allerdings fühlte es sich dort angeberisch und hipster-mäßig an, während es hier ursprünglich und natürlich wirkte. Hier gehörte es eben einfach dazu. Von der Seite her reichte ihr jemand ein kleines Plastikglas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die sie auf ex kippte.

"Hui, mach mal lieber langsam!", lachte der Standbesitzer, von dem ihr nur seine zerzausten Haare und stechenden Augen auffielen. "Wenn du den Whisky so schnell hinunterkippst, entgehen dir ja die ganzen feinen Geschmacksnuancen! Hast du überhaupt den Torf herausgeschmeckt?"

"Ja, sicher! Köstlich! Wirklich", hustete sie mit vor Tränen verschwommenen Augen, weil ihr der unverdünnte Alkohol die Kehle in Flammen steckte. "Ich trinke Whisky immer so. Dann knallt er erst richtig gut!" Ihr wurde schwindelig. Schnell hielt sie sich an einem Zeltpfosten fest und reichte dem entsetzt dreinblickenden Mann das kleine Plastikglas. "Entschuldigung – ich habe gerade gefunden, wonach ich gesucht habe", nuschelte sie mit kratziger Stimme und eilte zu einem Falafel-Stand.

Falafel! Ihre Rettung! Nicht nur vegetarisch, sondern auch noch vegan! Und: fettig. Sättigend. Genau das Richtige also. Die Entdeckung dieser modernen Ernährungs-Errungenschaft krönte die Highland Games zu ihrem persönlichen Paradies auf Erden. Vorsichtig biss sie ein Stück nach dem anderen von der Rolle ab, denn unter allen Umständen wollte sie vermeiden, dass die köstliche Mangosoße auf ihre perfekt sitzende dunkelblaue Barbour-Jacke tropfte. Diese passte hervorragend zu ihrer beigefarbenen, enganliegenden Cordhose und ihren braunen Gummistiefeln der einzig akzeptablen Marke, nämlich Hunter. Ein schickes Halstuch vervollständigte den Look der erfolgreich geschiedenen Sloane Rangerin, einer Angehörigen der englischen Upper-Class ohne adeligen Hintergrund.

"Hey, Lady, stört's dich eh nicht, wenn wir uns dazusetzen? Hier kriegt ja keine Sau mehr Platz, so gerammelt voll ist es hier. Irre, oder?"

Perplex sah sie auf. Vor ihr standen drei junge Männer in Kilts, die völlig überdimensionale Burger in den Händen hielten und sie vielsagend angrinsten.

"Ja, selbstverständlich! Hier, bitte!", antwortete sie automatisch und rutschte ein Stück, um Platz für die drei zu machen.

"Du bist aber nicht alleine hier, oder?", fragte einer mit leicht rötlichem Haar, einem struwweligen Bart und einem Metallica-T-Shirt. Er sprach mit einem leichten schottischen Akzent, wie es typisch für die Highlands war.

"Doch", murmelte Sienna und biss erneut in ihren Falafelwrap, unsicher, ob sie sich auf eine Unterhaltung mit wildfremden Halbwilden einlassen sollte.

"Hatte dein Freund keinen Bock auf die Games?", bohrte ein zweiter mit einem AC/ DC T-Shirt weiter.

"Ich habe keinen Freund", antwortete sie und hob missbilligend eine Augenbraue. Natürlich pfiffen die drei sofort durch die Zähne, bevor sie ebendiese in ihren ungesunden Kalorienbomben versenkten.

"Und ihr? Seid ihr von hier?", fragte sie hastig, denn schließlich wollte sie nicht unhöflich wirken.

"Ja, wir machen auch bei den Highland Games mit!", antwortete der Dritte mit vollem Mund und wischte sich mit dem Handrücken Soße von den Lippen.

"Schwergewicht?", fragte Sienna und bereitete sich innerlich darauf vor, schwer beeindruckt zu werden, denn die drei Jungs kamen nicht annähernd an die Kerle heran, die sie vorher beim Baumstammwerfen gesehen hatte. Oder vielleicht war es der starke Alkohol auf nüchternen Magen, der sie nun doch in Flirtstimmung versetzte.

Die drei lachten belustigt. "Ach komm, nie im Leben! Wettrennen. So hundert Meter und so", nuschelte der Erste mit vollem Mund und Ketchup floss aus dem Burger über seine Finger. Schnell schleckte er es ab.

"Und woher kommst du? Ganz offenkundig nicht von hier!", scherzte Typ Drei, dessen Haut über und über mit Sommersprossen bedeckt war.

"Ich bin aus London. Hasst ihr mich jetzt?", fragte Sienna und meinte es tatsächlich halb ernst.

"Ah, London … The big smoke …", antwortete Sommersprosse. "Und warum genau sollen wir dich jetzt hassen?"

"Nun, ich dachte, alle hier hassen Londoners."

"Na, ich glaub, es kommt schon auch noch darauf an, ob der Londoner ein arroganter Arsch ist oder nicht", warf der mit dem Metallica-Shirt ein.

"Aye, mach dir mal keine Sorgen, du kommst ganz okay rüber", beruhigte AC/DC sie.

"Na, das kannst du doch noch gar nicht wissen!", gab Sienna mit einem Lachen zurück.

Dann verstummte das Gespräch, denn eine knarzige Lautsprecherdurchsage führte dazu, dass die drei in Windeseile ihre Riesenburger wie ausgehungerte Wölfe hinunterschlangen.

"Als Nächstes sind wir dran!", riefen sie. "Schaust du uns zu?"

Keiner von ihnen wartete die Antwort ab, denn schon stürmten sie durch den Schlamm davon.

"Die wollen doch nicht allen Ernstes mit dem Kilo Burger im Magen ein Rennen laufen?", staunte Sienna und beschloss dann, sich hier über gar nichts mehr zu wundern. Hier galten einfach andere Regeln und Gesetze, und das gefiel ihr soweit ja ganz gut. So gut sogar, dass sie sich innerlich schon wieder umarmte. Baumstammwerfen und ihre eigene Dreiergang von Highlandern im Kilt … Zugegeben, sie fühlte sich ein bisschen schuldig, dass sie mit den Jungs geflirtet hatte. Was wenn …

Entgeistert hielt sie inne. Da gab es nichts mehr, weswegen sie sich hätte schuldig fühlen müssen. Kein Ring mehr am Finger, nicht mal mehr der Abdruck; selbst der gehörte schon der Vergangenheit an. Kein schrecklicher Otis mehr, der ihr mit seinen verschrobenen Ansichten, seinen perversen Neigungen und seiner erdrückenden Art das Leben zur Hölle machte. Sie war frei und konnte flirten, mit wem sie wollte. Überhaupt konnte sie tun und lassen, was sie wollte! Und das würde sie jetzt auch, beschloss sie und aß ihren Veggie-Wrap auf.

Das Wochenende war auf dem besten Weg, perfekt zu werden. Wenn es nur nicht so feucht gewesen wäre! Sie holte einen Taschenspiegel aus ihrer Burberry-Tasche, um Frisur und Make-up zu überprüfen. Selbstverständlich hatte sie am Morgen vor dem Aufbruch in die Wildnis viel Zeit damit verbracht, einen möglichst natürlichen Look hinzubekommen. So hatte sie ihre hell-braunen Locken mit einem teuren Glätteisen gebändigt, aber aufgrund des konstanten Nieselregens krausten sie sich schon wieder ganz schrecklich. Auch das sorgfältig aufgetragene Make-up war um die Augen herum unansehnlich verwischt. Mit einem Anflug von Panik knüllte sie die Serviette zusammen und warf sie mit dem Pappteller in den nächsten Abfalleimer, bevor sie den Toilettenwagen aufsuchte um ihr Erscheinungsbild zu retten. Außerdem musste sie ihre Gummistiefel dringend von der dicken Schlammschicht befreien!

 

Nachdem sie ihr Aussehen aufgefrischt hatte, hatte sie sich lange bei einem Highland Tanzwettbewerb aufhalten lassen. Nun ärgerte sie sich maßlos, dass sie deswegen das Rennen ihrer Dreier-Gang verpasst hatte. Aber die stämmigen Mütter mit ihren Töchter, die alle bunte Kleider mit Schottenmustern trugen und ihre Haare zu strengen Knoten gesteckt hatten, hatten sie fasziniert. Vor Aufregung hatten die Mädchen ihre Gesichter zu Grimassen verzogen, als sie stocksteif dastanden und auf den ersten Ton eines Dudelsack-Solisten warteten. Bei seinem Einsatz hoben sie die Arme über ihre Köpfe und hüpften von einem Fuß auf den anderen. Man musste von Highland-Tänzen nicht viel verstehen, um zu begreifen, wie groß der Druck war, der auf den jungen Dingern lastete. Verzaubert schaute Sienna so lange zu, bis ihr einfiel, dass sie gerade das Wettrennen verpasste. Sie rannte los und bemerkte viel zu spät, dass sie sich so bis zu den Hüften mit Schlamm bespritzte. Leicht genervt kam sie bei der Bahn an, konnte die Jungs jedoch nirgends mehr erblicken. Wie schade, dachte sie, ich hätte sie so gern gesehen und jetzt sind sie weg!

"Hey, London!", schrie da eine bekannte Stimme über den Platz und noch ehe sie sich umdrehen konnte, legte ihr schon jemand einen starken Arm um die Schulter. "Hast du das gesehen?! Wir haben gewonnen!", jubelte Sommersprosse. Voller Stolz hob er ihr die goldene Medaille, die um seinen Hals hing, entgegen und küsste sie. Die Medaille, nicht Sienna. Die war darüber ein wenig enttäuscht und verkniff sich die Frage, wie man nach einem so schweren Mahl einen so großen Wettbewerb gewinnen konnte.

"Komm mit! Die Drinks gehen auf uns!", johlte Metallica und führte sie zu einem Zelt auf der anderen Seite des Feldes. "Komm, jetzt zeigen wir dir mal, was echte Highland Gastfreundschaft ist!"

Die Bar war stickig und zum Bersten voll.

"Vier Pints Tennent!", brüllte Sommersprosse alias Ewen der Bedienung zu und Sienna wurde zusammen mit den anderen beiden in die letzte freie Nische gedrängt. Metallica hieß mit bürgerlichem Namen Kirk und der dritte Aidan. Es war so voll, dass niemand mehr den Schlamm auf ihren Gummistiefeln sehen konnte. Sie war dankbar, so festes Schuhwerk zu tragen, da es sie vor den wild umherstampfenden Füßen einigermaßen schützte. Ein Ganzkörperschutz wäre allerdings auch nicht schlecht, dachte sie, denn alle halbe Minute wurde sie jäh gerempelt und geschubst. Anders als in London entschuldigte sich hier niemand pausenlos. Dort entschuldigte man sich ja sogar schon, bevor der unbeabsichtigte Körperkontakt überhaupt zustande gekommen war!

Jäh wurde sie aus ihren Tagträumen gerissen. Nicht so sehr, weil der aktuelle Rempler besonders heftig gewesen wäre, sondern weil die Stimme des verursachenden Körpers sehr tief und sehr männlich tatsächlich ein "Sorry, love", murmelte.

"Nichts passiert", antwortete Sienna automatisch und rieb sich heimlich die schmerzende Stelle an ihrer Hüfte. Gleichzeitig versuchte sie, sich so lässig wie möglich an den Tresen zu lehnen. Der Hüne trottete seines Weges, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.

"Also bist du auf Urlaub hier?", brüllte Aidan.

"Ah, nur eine kleine Auszeit von London!", schrie sie zurück. "Ich bin eigentlich auf der Suche nach einem Grundstück oder altem Haus."

"Mann, ist das voll hier!", unterbrach Ewen schimpfend. Er kam gerade mit vier randvollen Pints, die er gefährlich zwischen seinen Händen balancierte, zurück. "Sobald die Tombola verlost wird, wird es ruhiger", lachte er und Sienna war sich nicht sicher, ob das ein Witz war oder ob es tatsächlich eine Tombola gab. "Hier, bitte, für dich", sagte er und reichte ihr ein Glas.

Sienna war über das Gewicht des Glases erstaunt, denn in London tranken Frauen aus ihren Kreisen kein Bier. Doch was sollte das alles! Hier kannte niemand Sienna Atherton, hier war sie frei und so, wie sie die Sachlage beurteilte, war ihre Zugehörigkeit zur Londoner Upper Class ohnehin bereits vom Zeitlichen gesegnet. Schon hoben ihre drei Schotten die Gläser und schmetterten ein lautstarkes "Prost!" in die Luft. Sienna tat es ihnen gleich, grinste und nippte an dem säuerlichen Bier. Ihr war ein guter Gin & Tonic bei Weitem lieber, aber um sich nicht als arrogante Londoner Schnepfe zu outen, wollte sie bei Tennant bleiben.

"Also, du willst hier ein Haus kaufen?", hakte Aidan nach und nahm einen großen Schluck, von dem ihm Schaum an den Lippen hängen blieb, den er mit dem Handrücken wegwischte.

Sienna errötete, denn sie hatte bislang mit so gut wie niemandem über ihre Pläne gesprochen.

"Nicht nur ein Haus, ein Objekt! Eine Immobilie! Was Großes!", schrie sie. "Etwas, wo ich ein Yogastudio eröffnen kann."

"Ein – was?", fragte Aidan, runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen und lehnte sich näher zu ihr.

Um sie herum setzte sich die Menge in Gang und drohte, sie mit wegzuschwemmen.

"Die Tombola beginnt sicher gleich", meinte Kirk und sah den Menschenmassen, die aus dem Zelt trieben, nach. "Was ist, gehen wir nicht hin?"

"Nah", lehnte Ewen ab. "Ich brauch mal eine Pause. Das Pint hab' ich mir echt verdient!" Dabei zwinkerte er Sienna zu, die ihn anlächelte. Hatten die Jungs gerade beschlossen, bei ihr zu bleiben und sich weiter mit ihr zu unterhalten, anstatt der Verlosung zuzusehen?

"Puh, jetzt krieg ich endlich mal richtig Luft!", seufzte sie und fächelte sich mit der Hand Luft zu, als das Zelt beinahe leer war. Nur ein paar wenige waren zurückgeblieben. Darunter ein großer, kräftiger Mann mit braunem, zerzaustem Haar, der mit einem Arm auf dem Tresen lehnte und sein Möglichstes versuchte, um die Aufmerksamkeit der Bedienung auf sich zu ziehen. In dieser Position spannte sein Rugby-Shirt, sodass die Muskeln seines breiten Rückens und seiner Arme deutlich zu sehen waren. Unendlich sexy sah das aus … So heiß, dass Sienna auf der Stelle darüberstreichen wollte. Dazu trug er einen grün-weiß gemusterten Kilt. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, dennoch kam er ihr irgendwie bekannt vor. Waren sie sich schon einmal begegnet? Als er sich im Raum umsah, schickte sie ein Lächeln in seine Richtung, doch er reagierte nicht darauf. Den Bart hatte er bestimmt vor vier Tagen das letzte Mal rasiert, dachte sie, als ein beiläufiger Blick aus seinen tiefblauen Augen sie streifte und ihr kurz den Atem stocken ließ.

Wo hatte sie ihn nur schon einmal gesehen?

"So, jetzt noch mal in Ruhe. Was hast du gesagt willst du kaufen? Joghurt?", fragte Ewen.

"Haha", entgegnete sie und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. "Ich will ein YOGA Studio aufmachen!"

"Was, so ein Weltverbesserer-Gutmensch-Dingens?"

Sienna, die ihren Blick nicht von dem Hünen wenden konnte, entging nicht, dass er ihnen angespannt zuhörte. Mit einem Mal wurde sie verlegen und fühlte sich gehemmt.

"Nein, doch kein Weltverbesserer-Gutmensch-Dingens! Eher ein exklusiver Spa mit Verwöhnprogramm. Eine Art Auszeit-Zentrum für Menschen, die einfach mal aus der Stadt raus- und vollkommen abschalten müssen. Die Ruhe brauchen!", rief sie begeistert.

"Also Schicki-Micki", murmelten die Jungs und nahmen einen weiteren Schluck.

"Nein, gar nicht! Ach, der Ort hier ist einfach wie geschaffen dafür! Besser könnte es gar nicht passen! Dem Dorf fehlt so etwas doch geradezu!"

"Ein Spa für reiche Londoner ist das Letzte, was der Ort hier braucht!", donnerte da die tiefe Stimme des Mannes von der Bar zu ihr. Vor Schreck sprang Sienna beinahe aus ihrer Haut und starrte den jetzt sehr grimmig dreinblickenden Schotten an. In dem Moment stellte die Bedienung fünf Gläser vor ihm ab. "Was wir hier wirklich dringend brauchen ist, Unterstützung für unsere Gemeinden! Die müssen wir am Leben erhalten, und nicht stinkreichen, überpriviligerten Londonern das Leben versüßen!", fauchte er und war so in Rage, dass er beinahe spuckte.

"Das ist – das stimmt doch gar nicht!", versuchte sie schwach zu protestieren.

"Ach, ignorier den Kerl am besten einfach!", tröstete Kirk sie, tätschelte ihr die Schulter und drehte sie von dem wütenden Stierblick des Fremden weg. "Den kennen wir schon. Der hat seinen eigenen Haufen Sch --- und deswegen ist er ständig so mies drauf."

Offensichtlich verriet Siennas gekränkter Gesichtsausdruck ihre wahren Gefühle, denn auch Ewen versuchte, sie zu beruhigen: "Mach dir um den mal keine Sorgen, Süße. Für mich klingt das nach einer echt guten Geschäftsidee!"

"Meinst du das ernst?", fragte Sienna und bemerkte, dass ihre Wangen immer noch oder schon wieder glühten.

"Ja, klar!", versicherte Aidan und hieb mit der Faust auf den Tisch. "Gut von dir, Lass! Was wir brauchen sind echt innovative Geschäftsideen in den Highlands!"

Dass er sie mit dem schottischen Wort für Mädel, nämlich Lass, bezeichnet hatte, trug nicht zu ihrem Erblassen bei. "Echt?", fragte sie geschmeichelt und fühlte neue Hoffnung in sich aufsteigen. Sie wusste nicht viel über den Ort und wie die Einheimischen zu reichen Londonern standen.

"Hah!", schnaubte der Mann an der Bar, würdigte sie keines weiteren Blickes und fischte in seiner Felltasche, dem Sporran, nach Geld, um seine Getränke zu bezahlen.

"Also, im Ernst, ich weiß, was für dich wie geschaffen wäre!", meldete Ewen sich mit einem Zwinkern und mit lauter Stimme zu Wort. "Hast du schon mal von einem winzigen Dorf mit dem hübschen Namen Balnavaig gehört?"

"Bal- was? Nein, wo ist das denn? Warte, eine Sekunde!", rief sie aufgeregt und holte ihr Handy heraus, um sich Notizen zu machen.

"Also, ich glaub, der Ort ist für deinen Plan einfach perfekt!", fuhr Ewen fort. Der Mann an der Bar schnaubte noch einmal unüberhörbar abfällig und marschierte dann mit einem verächtlichen Blick auf die Gruppe zu dem Tisch, an dem seine Freunde saßen und bereits auf die Getränke warteten. Dort stellte er die Gläser so laut ab, dass das Klirren Sienna zusammenzucken ließ. Dann leerte er fast sein ganzes Pint in einem einzigen Zug.

"Ja, auf alle Fälle! Balnavaig musst du dir unbedingt anschauen! Eine Halbinsel auf der Isle of Skye", bekräftigte nun auch Kirk. "Es ist total abgelegen. Und super idyllisch. Auf der Insel wohnen nur ungefähr 120 Menschen und man kommt nur mit dem Boot hin oder wenn du 15 Minuten zu Fuß, von der letzten Straße, die dorthin führt, gehst."

"Oh mein Gott! Das ist es! Das ist es!", kreischte Sienna in den höchsten Tönen und klatschte in die Hände. "Das klingt wirklich PERFEKT!"

"Yep, bestimmt. Wenn reiche, verwöhnte Stadtmenschen sich in Ruhe erholen und ausspannen wollen, dann ist das absolut der richtige Ort dafür! Und ganz unter uns", flüsterte nun auch Kirk verschmitzt und lehnte sich nah an Sienna heran. "Die Landschaft ist wirklich einzigartig!"

"Malerisch!", warf Ewen ein.

"Bezaubernd!", flötete Aidan gespielt affektiert und prustete los.

"Oh. Mein. Gott. Ich bin ja so froh, dass ich euch getroffen habe!", juchzte Sienna. "Von dem Ort hätte ich sonst sicherlich nie etwas erfahren!"

"Schau's dir am besten mal im Internet an", meinte Ewen mit einem maliziösen Blitzen in den Augen. Die anderen warfen dem Mann mit dem ausgeblichenen Kilt einen vielsagenden Blick zu. Der jedoch war schon wieder in ein Gespräch mit seinen Freunden vertieft und schien sie nicht zu bemerken. Doch plötzlich drehte er sich um und blickte ihr direkt in die Augen. Entsetzt wandte sie den Blick ab und das Blut schoss ihr in die Wangen, als ihr bewusst wurde, dass sie ihn die ganze Zeit über angestarrt hatte. Trotz seines ungestümen Aussehens war er bei Weitem der attraktivste Mann im Raum. Er hatte hohe Wangenknochen, wie man sie für gewöhnlich nur von Russen und Filmstars kannte und seine rauen Hände machten den Eindruck, als würden sie den ganzen Tag unter freiem Himmel im Erdreich graben. Und diese struwweligen Haare auf seinen kräftigen Beinen … Die Amerikanerin hatte recht gehabt. Die nackten Knie eines Mannes sehen zu können hatte wirklich etwas höchst Verbotenes, etwas Verlockendes an sich. Sein Kilt war ihm beim Sitzen bis auf die Oberschenkel hochgerutscht und klaffte über seinem rechten Bein auseinander. Wenn sein rotbrauner Sporran (war er aus Fuchs?) ihn nicht auf der einen Seite nach unten gezogen hätte, könnte sie mehr sehen …

Entsetzt riss sie sich aus ihren Tagträumen und bemerkte, dass ihre drei Tischnachbarn auf eine Antwort von ihr warteten.

"Bitte?", fragte sie noch immer leicht geistesabwesend.

"Wo schaust du dich denn sonst noch um?", wiederholte Kirk seine Frage.

Sienna setzte ein Lächeln auf und schaltete ihren Charme wieder an. Die drei Jungs waren nichts im Vergleich zu dem grummeligen Fremden, der am anderen Ende des Raumes saß und von dem sie ihren Blick nicht lösen konnte. Dennoch fühlte es sich gut an, die uneingeschränkte Aufmerksamkeit von gleich drei Männern, die noch dazu allesamt in Kilts steckten, zu genießen. Zudem waren sie doch so etwas wie Local Heroes, denn schließlich hatten sie ein wichtiges Wettrennen gewonnen.

Was konnte es also Besseres geben?

 

Kapitel 2

 

Ein letztes Mal streckte Sienna sich in den Sonnengruß und blickte dabei aus dem Fenster, hinter dem sich statt der Sonne heute graue Wolken zeigten. Sie war schon spät dran fürs Frühstück, und wusste, dass sie ohne mindestens eine halbe Stunde Yoga und Meditation am Morgen keinen guten Tag vor sich hätte. Denn ohne diese besinnliche Zeit, die nur ihr gehörte, würde die Angst sie übermannen und sie den Tag als ein kleines, wimmerndes Häuflein Elend auf ihrem Bett verbringen. Mitten in dem ganzen Mist, der in ihrem Leben immer noch ablief, war Yoga der einzig verlässliche Anker, der sie bei klarem Verstand hielt. Ohne diese Routine hätte sie das letzte Jahr gewiss nicht überlebt.

In dem kleinen Speisesaal, dessen Wände in einem warmen Burgunderrot gehalten waren, wurden ihr köstliche Eier Benedikt auf warmem Toast serviert. "Diese Eier kommen von dem kleinen Bauernhof dort unten, vielleicht haben Sie ihn schon gesehen?", begann die nette Bedienung ein Gespräch.

"Tatsächlich? Das ist ja wunderbar! Haben die Hühner also freien Auslauf?"

"Ja, selbstverständlich! Sie picken den ganzen Tag nach Körnern, Würmern und Schnecken. Alles ganz natürlich! Ich bin gespannt, ob Sie den Unterschied schmecken."

Vorsichtig schnitt Sienna in das pochierte Ei und nahm einen kleinen Bissen. Es schmeckte viel intensiver und das Eigelb war in der Tat gelb, nicht orange. "Köstlich, ganz ausgezeichnet! Vielen Dank", lobte sie und nahm einen kleinen Schluck grünen Tee aus einer zarten Porzellantasse, die mit feinen rosaroten Rosen verziert war. Ein jäher Schmerz fuhr ihr durch den Kopf und sie verfluchte sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag dafür, am Vorabend vielleicht ein bisschen zu viel getrunken zu haben. Natürlich nicht viel zu viel, denn dass das nie wieder passieren durfte, hatte sie sich nach jenem unheilvollen Abend, der ihr soziales Aus nach sich gezogen hatte, hoch und heilig geschworen.

Gerade überlegte sie, ob sie eine zweite Kanne Tee bestellen sollte, aber die Uhr auf ihrem Handy ermahnte sie, dass die Zeit knapp wurde. Für heute standen mehrere Besichtigungstermine für infrage kommende Objekte an. Der kleine Speisesaal war ohnehin schon beinahe leer und so genoss sie den letzten Schluck und den Rest des köstlichen Toasts mit Zitronenmarmelade. Von ihrem Fensterplatz aus hatte sie einen bezaubernden Ausblick auf das noch vom Morgennebel beinahe mystisch verschleierte Loch. Doch gerade brachen die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolken und der Nebel begann, sich zu lichten.

Am gegenüberliegenden Ufer des Sees befand sich das Gelände, auf dem gestern die Highland Games stattgefunden hatten. Auf dem Hügel dahinter spitzten das Dach und Türme des ehemaligen Herrenhauses durch die Baumwipfel. Oh, wenn sie nur daran dachte, dass auch sie in einem so großartigen Haus hätte wohnen können … Aber es hatte keinen Sinn, Gedanken an die Vergangenheit und an "Was-Wenns" zu vergeuden. Man musste im Hier und Jetzt leben.

Schnell wischte sie ihre Fantasien beiseite und tippte stattdessen entschlossen Duncrae Farm in das Navi ihres Handys ein. Dort hatte sie den ersten Besichtigungstermin und der Makler hatte durchblicken lassen, dass die Eigentümer ein wenig eigenartig seien. Aber welche Duncrae Farm? Natürlich die in Wester Ross! Sie erinnerte sich gut daran, dass sie laut aufgelacht hatte, als sie den Ort gestern zum ersten Mal hörte. War das nicht ein Königreich in dieser einen Fernsehserie? Egal, das Navi fand Wester Ross, sodass sie sich auf den Weg zu ihrem Auto machen konnte.

Der kühle Wind biss in ihre nackten Beine und ließ sie an ihrem optimistischen weißen Prada Sommerkleid zweifeln. Juli in Schottland war eben doch etwas Anderes als Juli in London! In ihrem Mietauto steckte sie zuerst das Handy in die Halterung und schaltete dann Motor und Heizung an. Nun konnte die Fahrt beginnen!

"Bitte rechts abbiegen", befahl die weibliche Navi-Stimme und führte sie an einer Reihe weiß gekalkter Häuser den See entlang. So nahe am Wasser zu leben hätte schon etwas für sich … etwas Reines und Spirituelles, sann sie ihren Gedanken nach. Es reinigt die Seele … Seele? Seele war schön und gut, doch die wenigsten Menschen sahen diese! Und wenn überhaupt, nicht auf den ersten Blick! Besorgt warf sie einen Blick in den Rückspiegel. Heute war nicht viel Zeit für ihr Make-up geblieben und ihr Haar war noch ein bisschen feucht, sodass es sich erneut leicht kräuselte. Inständig hoffte sie, dass sie keinen allzu schlechten Eindruck machen und sich die Chancen auf dieses perfekt geeignete Anwesen verderben würde. Der Gedanke, nach London zurückzukehren, ließ sie trotz der wärmenden Heizung schaudern. Hoffentlich war Duncrae Farm das Richtige und hoffentlich würde der Verkauf zügig vonstatten gehen!

"Mist!", fluchte sie keine Sekunde später und trat auf die Bremse.

"Bitte wenden", quäkte die mechanische Stimme aus ihrem Navi. Wie lange schallte das schon in den Wagen? Die rote Linie auf dem Display verriet ihr, dass es sehr lange sein musste. So ein Mist! Sie würde heillos zu spät kommen!

Innerlich verfluchte sie sich selbst und machte damit die in ihrer Yoga-Meditation aufgebaute positive Energie zunichte. Auf der Landkarte hatte sie doch gesehen, dass der Bauernhof in dieser und nicht jener Richtung lag, also, warum sollte sie von dem See wegfahren? Aber dann war die Straße einfach zu Ende gewesen und eine Abzweigung hatte sie über kleine Sträßchen und Wegelchen tief in die Wildnis geschickt. So würde sie ihr Ziel nie erreichen, und das in zweifacher Hinsicht! Sie hatte keinen blassen Schimmer, wo sie war. Verzweifelt versuchte sie, sich mit tief ein- tief ausatmen und einem Mantra zu beruhigen. "Alles ist gut", wiederholte sie ein ums andere Mal. "Alles ist gut. Die Leute müssen sich hier ja ständig verfahren. Die werden das schon verstehen. Und wenn nicht, gibt es ja noch andere Objekte. Vielleicht ist dieses einfach ja auch nicht für mich bestimmt."

Dieses Argument konnte sie beinahe überzeugen und infolgedessen beruhigen. Nach ein paar weiteren tiefen Atemzügen programmierte sie das Navi neu. Nun war der Ort vollkommen unauffindbar. Kein Netz – Sch*** Technik! Hätte sie doch nur das teurere Mietauto mit dem eingebauten Navi genommen! Es war ja nicht so, dass sie es sich nicht hätte leisten können! Wie so oft hatte sie, in falscher Bescheidenheit, am falschen Ende gespart. Aber vielleicht befand sich ja eine veraltete Straßenkarte im Handschuhfach? In dieser gottverlassenen Gegend war das nicht ganz abwegig und tatsächlich hatte sie Glück. Nun, das war doch ein erstes gutes Zeichen! Vielleicht war das hier ja auch der langersehnte Weg zurück zu den guten alten Zeiten! Sollte sie tatsächlich hier im hohen Norden ihre Zelte aufschlagen, würde sie die moderne Technik wahrscheinlich vergessen müssen, oder können, je nachdem, wie man es sah. Vielleicht hätte auch das etwas Befreiendes, etwas Reinigendes. Natürlich. Keinen Handy- und allzeit-erreichbar- und- XYZ-hat-dies- und – hat -das-kommentiert Terror mehr!

Sie fand den Weg und legte die Landkarte mit einem Schwung auf den Beifahrersitz. Dann ließ sie den Motor wieder an und legte den Rückwärtsgang ein. Wenn man hier eine Panne hatte, wäre man ganz schön verloren, überlegte sie. Kein Handynetz und fast kein Verkehr. Nichts außer Seen, Hügeln und Schafen. Nur mit viel Glück würde jemand zufällig des Weges und einem zur Hilfe kommen können.

Die über und über mit leuchtend lila Erika bewachsenen Hügel ragten steil auf. Noch immer strichen Wolken um die Gipfel … Eine Landschaft wie aus dem Bilderbuch, die zum Träumen einlud …

Zum Träumen: Sienna sah sich in ihrem weißen Sommerkleid neben ihrem liegengebliebenen Auto stehen. Sie spürte den leichten Wind und die Sonnenstrahlen, die ihre Arme und Beine wärmten, während sie die Motorhaube öffnete. Doch bevor sie selbst herausfinden musste, wo das Problem lag, sah sie eine Gestalt über den Bergkamm näherkommen. Zunächst konnte sie ihn nur verschwommen erkennen, doch bald schon zeichnete sich die hünenhafte Gestalt deutlicher ab. Sie erkannte den Kilt und die nackten Waden, um die die Erika und hohen Gräser strichen. Sie winkte und hoffte, dass er sie sah. Vor Aufregung war sie so erregt, dass ihre Hände schwitzten.

In ihrer Fantasie vertrieb die Sonne die Wolken vollkommen, während der Highlander mit einem verwundeten Schaf über den Schultern immer näherkam. Er musste die arme Kreatur gerettet haben. Schon konnte sie sein Gesicht ausmachen und erkannte mit blankem Entsetzen den grantigen Kerl von den Highland Games! Der mit den unglaublich blauen Augen und dem Sandpapier-Bart. Als er nahe genug für einen Gruß war, legte er das leise blökende Schäfchen mit dem rosa Schnäuzchen behutsam im Moos ab. Ein Mann von wenigen Worten. Kurz sah er sich den Motor an und beschmutzte dabei seine kräftigen Arme und Hände mit Motoröl. Sexy sah das aus …

Zufällig strich sein Arm an ihrem, während sie ebenfalls einen Blick unter die offene Motorhaube warf. Tief atmete sie seinen herben, männlichen Duft ein. Er roch nach Schweiß und Gras, nach einem Hauch von Moschus, und etwas, das sie nicht identifizieren konnte. Er stand ihr so nahe und war doch zugleich unerreichbar.