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Nach Jahren in den aufregendsten Metropolen der Welt kehrt die Karrierefrau Bettina Rehrl ungewollt in ihr oberbayerisches Heimatdorf zurück, um ihr Erbe anzutreten. Da sie dort viele nahestehende Menschen verletzt hat, fällt ihr die Rückkehr schwer. Somit steht für sie von vorneherein fest, dass sie das Elternhaus umgehend veräußern wird, um sich weiter voll und ganz auf ihre internationale Karriere zu konzentrieren. Dass ihr Leben einer Flucht, nicht zuletzt vor sich selbst, gleicht, wird ihr bewusst, als sie ihrer Jugendliebe Felix begegnet. Denn in seiner Gegenwart beginnen die Eisberge, die ihr Herz einschließen, zu schmelzen und alte Gefühle blühen wieder auf. Eine bewegende und heitere Geschichte über Zugehörigkeit und innige Liebe
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Seitenzahl: 115
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Himmelblau und Rosarot
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Der vierte Brief
Blumenau ist ein fiktiver Ort im Berchtesgadener Land, zwischen Traunstein und Salzburg gelegen. Die Stadt Rennen ist ein Synonym und Pseudonym einer reell existierenden Stadt. Da alle Personen und Handlungen ebenfalls frei erfunden sind, bietet sich ein Pseudonym an.
Blumenau, Juni 2010
Es war warm, still und dunkel. Die Scheinwerfer des Taxis entfernten sich immer weiter, bis sie um die Kurve verschwanden. Nur hoch oben am Himmel leuchteten der Mond und die Sterne, und selbst die sahen hier anders aus als in China.
Erschöpft zog sie ihren Koffer die leicht ansteigende Auffahrt zum Rosenweg 3 hinauf. Laut ratterte er über die Pflasterfugen, ansonsten war nach wie vor nichts, aber auch gar nichts zu hören. Es war so unwirklich still, dass die Stille einen eigenen Klang annahm. Bettina blieb stehen, um diese wohltuende Ruhe zu genießen. Nach einer Weile machte sie den nächsten Schritt Richtung Haustür. Da sprang der Bewegungsmelder an und gab den Blick frei auf die zahlreichen Blumentöpfe, in denen blaue, weiße und rosarote Hortensien in ihrer ganzen Pracht blühten.
Tante Toni musste sich auch nach Omas Tod darum gekümmert haben.
Unter einem dieser Töpfe mit einer blauen Blume sollte der Schlüssel liegen, hatte in dem Brief gestanden, aufgrund dessen sie hierher zurückgekommen war. Der Schlüssel ihrer Oma, nahm sie an; denn ihren hatte sie vor fünfzehn Jahren mit dem Schwur, nie mehr hierher zu kommen, in die Isar geworfen.
Leider waren die Blumen frisch gegossen. Die Töpfe waren schwer wie Elefantenfüße und Bettina brauchte all ihre Kraft zum Anheben. Sie war sportlich und gut trainiert, aber nach der über 24-stündigen Reise und 36 Stunden ohne Schlaf war sie am Rande der Erschöpfung.
Anders als vor fünfzehn Jahren war ihr das Glück hold, denn unter dem dritten Topf lag der Schlüssel. Sie hob ihn auf und schluckte schwer. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie würde den Schlüssel ins Schloss stecken, umdrehen und das Haus ihrer Kindheit und Jugend zum ersten Mal seitdem alles kaputt gegangen war, betreten. Hoffentlich erwartete sie darin nicht das heillose Chaos! Denn, soweit sie wusste, hatte in dem Haupthaus seitdem niemand mehr gewohnt. Vielleicht hatte Oma einen so großen Bogen darum gemacht, wie sie es von ihrer Einliegerwohnung aus nur machen konnte.
Bettina musste so lange still gestanden und gezögert haben, dass der Bewegungsmelder wieder ausging und nur der Mond und die zahllosen Sterne die Nacht erhellten. Unweigerlich blickte sie nach rechts. Ein unheilvoller Schauer lief ihr über den Rücken.
Scham. Ein schlechtes Gewissen. Und – noch etwas.
Schnell sah sie wieder zu der massiven Eichentür und trat in das große, bei Tageslicht helle, Haus. Andernorts hätte man es vielleicht als Villa bezeichnet, hier jedoch war es einfach ein durchschnittlich großes Haus. Ohne nachzudenken, streckte sie die Hand nach links und schaltete das Licht an. Sie schnupperte. Es roch herrlich frisch und rein nach Lavendel, ganz und gar nicht muffig.
Sie ließ ihr Gepäck in dem großen Eingangsbereich fallen, holte ihren Kulturbeutel, Pyjama und handgroßen Teddy heraus und machte sich auf den Weg in den ersten Stock, in dem ihr Mädchenzimmer lag.
Im Treppenhaus hingen Fotos und Bilder aus einer anderen, aus einer heilen Zeit.
Hastig ging sie daran vorbei. Doch sie konnte den Erinnerungen nicht entkommen; auch nicht, als sie in ihr früheres Badezimmer trat, in dem frische Handtücher, Seife und weitere grundlegende Kosmetikartikel für sie bereit lagen. So, als hätte das Haus nur auf ihre Rückkehr gewartet …
Ein müdes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den Wasserhahn aufdrehte. Er war mit azurblauem Kunststoff überzogen. Ihre Finger fuhren die Unterseite entlang und über das verschmorte Plastik … Mit sechzehn oder siebzehn hatte sie hier einen Liebesbrief, oder eher eine schriftliche Erklärung für sein Verhalten, verbrannt. Die Flammen hatten die Armaturen versengt. Warum hatte sie sich über den Brief so geärgert? Weil sie zornig gewesen war. Zornig auf die Situation, auf seinen Widerwillen, etwas daran zu ändern, auf seinen unterstellten Mangel an Liebe. Aber, immerhin: Ein echter Liebesbrief, aus Papier und Tinte. Denn viele Liebesbriefe, ob nun auf Papier oder auf einem Bildschirm, hatte sie seit seinen nicht mehr bekommen. Eigentlich so gut wie – gar keine.
Unweigerlich wanderte ihr Blick wieder nach rechts, zu dem Bauernhof, der hundert Meter hinter den Mauern des Hauses lag. Nein, jetzt nicht daran denken! Nicht jetzt und nie mehr. Man musste die Vergangenheit ruhen lassen.
Sie drehte das warme Wasser an und wusch sich die restlichen Partikel der Großstadtluft Shanghais und des Flugzeuges aus ihrem braunen, langen Haar und von ihrer Haut. Dann schleppte sie sich in ihr altes Mädchenzimmer. Sie erstarrte. An den Wänden hingen noch immer Poster von U2, Slash und River Phoenix. Helden ihrer Jugend. River Phoenix war inzwischen tot, U2 machten mittlerweile grässliche Musik und Slash war – alles andere als für ihren heutigen Geschmack attraktiv. Schlichtweg widerwärtig! Mit ein paar flinken Gesten riss sie die verblichenen Bilder von der Wand und fiel in ihr Bett. Dort erwartete sie das nächste Relikt der 90er Jahre: eine Zudecke, auf der hinter einem dunkelblauen Palmenstrand blutrot die Sonne unterging. Doch das war jetzt egal, denn es duftete herrlich nach Tannenwald.
Schwer wie ein Stein kuschelte sie sich hinein und schlief tief und fest.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, tastete sie nach dem Lichtschalter, fand ihn jedoch nicht. Verwundert und ein wenig verärgert richtete sie sich auf. Wo war sie? Warum war es so dunkel?
Da fiel es ihr wieder ein. Sie seufzte und ließ sich zurück ins Bett fallen, rollte nach rechts und ertastete die Nachttischlampe in ihrem alten Mädchenzimmer.
Sie befand sich zu Hause, daheim, weil ihre Oma vor zwei Wochen gestorben war und sie in ihrem Testament erwähnt hatte. Nachdem ihr Projekt zur Markteinführung eines Blutdrucksenkungsmedikaments vorgestern erfolgreich abgeschlossen worden war, war sie der notariellen Nachricht gefolgt. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie das große Haus mitsamt der Ländereien erben, denn sie stand an erster Stelle in der Erbfolge. Für Bettina stand fest, dass sie das Haus nicht behalten würde. Der Notartermin war für morgen um 10:00 Uhr angesetzt. Hoffentlich hatte sie die weite Reise nicht umsonst gemacht!
Sie verlor mindestens eine ganze Woche. Eine Woche, in der ihre Kollegen und Konkurrenten, denn das waren sie trotz all des Getues und Geredes von Teamwork, einen erheblichen Vorsprung erlangen konnten. Seit Jahren hatte sie keinen Urlaub genommen und von den Ländern, in denen sie stationiert war, wenig mehr als ihren Arbeitsweg und die wichtigsten Ausflugsziele in unmittelbarer Nähe gesehen.
Aber das störte sie nicht. Sie lebte, seitdem alles anders geworden war, nur noch für die Arbeit und ihren beruflichen Erfolg.
Entschlossen schwang sie die Beine aus dem Bett, öffnete die Fensterläden und starrte direkt auf den verbotenen, geheimnisvollen Kern-Bauernhof, in den sie nie einen Fuß gesetzt hatte, obwohl sie alle anderen Höfe des Dorfes in- und auswendig kannte. Nur der, ausgerechnet der, war ihr immer verschlossen gewesen. Und das, obwohl –
Verdammt! Sie wollte nicht an Felix denken.
Felix: der, mit dem alles begann und alles endete.
In all den Jahren hatte sie es geschafft, ihn aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. Doch jetzt, bei all der räumlichen Nähe, drohten alle Mauern aufzubrechen. Wo er jetzt wohl war? Sicher war auch er nicht hier geblieben. Bei all seinen Träumen und Zielen … bei all den Träumen, die sie … ach, das war zu lange her. Kinder! Teenager!
Das helle, beinahe grelle Licht der Sonne blendete sie. Sie kniff die Augen zusammen und ging zunächst ins Bad.
Anschließend trat auf die Südterrasse. Wann hatte sie zuletzt so viel klares Sonnenlicht und so einen strahlend blauen Himmel gesehen? Nicht in Shanghai, nicht in Sao Paolo und schon gar nicht in Mexiko Stadt, ihren Auslandsstation, wo sie für ein großes Pharmaunternehmen jeweils rund vier Jahre lang tätig war. Vielleicht noch in München, wo sie in Höchstgeschwindigkeit studiert hatte.
Bienen und Schmetterlinge flogen fröhlich umher, ein paar Vöglein zwitscherten munter ihr Lied, am Nachbarhof krähte der Hahn und ein Schaf blökte. In der Ferne hörte sie einen Mähdrescher fahren. Es roch nach Sommer. Nach Gras, nach Blumen, nach Erde. Tief sog sie den satten, würzigen Duft des Landlebens ein.
In diesem Moment begannen die Kirchturmglocken zu läuten. Schon zwölf!
Abrupt drehte sie sich um und tapste in die große, helle Küche, deren Boden mattblau gefliest war. Die Möbel waren nach wie vor weiß und die Geräte noch dieselben wie vor fünfzehn Jahren.
In der Hoffnung, dass die gute Fee, Tante Toni, die die Blumen gegossen und das Haus geputzt hatte, auch den Kühlschrank befüllt hätte, öffnete sie ihn. Ihre Hoffnung erfüllte sich. Einerseits war er zwar voll, andererseits jedoch fand sie darin nur Milchprodukte, Eier, Schinken, Käse und Marmelade. Wer aß denn heutzutage noch so etwas? Kein Soja, keine Magerstufe, kein glutenfreies Brot? Immerhin stand ein Glasschälchen mit frischen Himbeeren dabei.
Ihr Magen knurrte laut bei dem Anblick verbotenen Köstlichkeiten. Sie ging nicht davon aus, dass in diesem verschlafenen Dorf inzwischen ein veganer Coffeeshop eröffnet hatte. So nahm sie einen blau verpackten Himbeerjoghurt auf Rahmstufe, das Schälchen mit den frischen Himbeeren und schaltete den uralten, aber funktionstüchtigen Kaffeevollautomaten ein.
Erst da fiel ihr Blick auf einen ordentlich geschriebenen himmelblauen Zettel, der auf der Ablage lag:
Liebe Betty,
willkommen daheim!
Ich hoffe, Du findest alles, was du brauchst und fühlst Dich wohl.
Komm einfach bei mir vorbei, du weißt ja, wo ich wohne.
Herzliche Grüße,
Deine Tante Toni
Sie stellte ihr Frühstück auf ein Tablett und setzte sich auf die große Terrasse, die von einem prächtigen Blumengarten umgeben war. Hinter dem Zaun verlief die kleine Straße, die zum Kern-Hof führte. Hinter dieser Straße begannen die Getreidefelder. Im Garten war auch ein kleiner Weiher, in den just ein Frosch mit einem lauten Platsch hüpfte.
Eine milde Brise wehte und über den hellblauen Himmel flog ein Sportflugzeug. Die friedliche Ruhe legte sich um ihre Seele und ließ sie alle Anstrengung der vergangenen Jahre vergessen. . Wie lange hatte sie das nicht mehr gespürt?
Ihr war, als wäre sie keinen einzigen Tag und doch ein ganzes Leben fortgewesen.
Alles war so vertraut und doch so fremd.
Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle und ihre Augen wurden feucht. Schnell sprang sie auf und lief zum Weiher, um nachzusehen, ob noch Fische darin herumschwammen.
Gerade als sie sich über den Rand beugte und tatsächlich große Goldfische sah, hörte sie ein Auto herankommen. Es beschleunigte zunächst stark, bremste dann jedoch direkt vor ihrem Garten ab, wahrscheinlich, um sich zu vergewissern, dass von links nicht gerade ein Traktor des Weges kam.
Doch da wurde der Motor abgestellt, die Tür aufgerissen und eine tiefe, warme Männerstimme rief neugierig: „Hallo?“
Ihr Herz setzte drei Schläge aus.
Wie in Zeitlupe drehte sie sich um und starrte entgeistert den beinahe zwei Meter großen, braun gebrannten Mann an.
Oh nein!
Seine Haare waren heller als in ihrer Erinnerung, sein Gesicht war im Laufe der Jahre markanter geworden. Aber immer noch: absolute Symmetrie.
„Jaaaa?“, antwortete sie gedehnt. Beinahe hätte ihre Stimme versagt.
„Betty?“
Betty? Wie lange hatte sie niemand mehr Betty genannt?
„Ja?“ Ihr Blick wanderte über seinen muskulösen Körper. 192 cm, erinnerte sie sich. Er trug ein hellblaues T-Shirt zu einer dunkelblauen Shorts. Seine Arme und Beine waren durchtrainiert, goldblonde Haare schimmerten im Sonnenlicht darauf. Gott, was war passiert? Dieser Körper, das war - er war … Perfektion in Reinform. Alles Blut rauschte in Sekundenschnelle von ihrem Kopf in ihre Füße und zurück. Ihre Wangen nahmen einen dezenten Rotton an, während tausend Marienkäfer über ihre Haut zu marschieren schienen.
Sie schluckte schwer und zwang sich, ihm ins Gesicht zu sehen. Seine meerblauen Augen strahlten sie an.
„Felix?“
„Betty!“, rief er, riss die Augen weit auf, die Hände in die Luft und sprang mit einem Satz über den Zaun.
Dann stand er vor ihr und für sie stand die Welt still.
„Mein Gott, bist du groß geworden!“, stieß sie unintelligenterweise hervor und um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, starrte sie auf seinen Oberkörper, der sich unter dem T-Shirt so unsagbar verlockend abzeichnete.
„Groß? Du bist auch groß geworden“, lachte er sein helles, offenes Lachen.
Alt, nicht groß! „Tssss“, machte sie nur verlegen.
„Betty, Mensch! Dass wir uns mal wiedersehen! Bist du wegen deiner Oma hier? Mein Beileid, übrigens. Und wie lange bleibst du?“
Wie konnte er nur so freundlich und unbeschwert sein?
Ihr Herz schlug so laut, dass er es hören musste. Ihr Gesicht glühte dunkelrot und am liebsten wäre sie sofort im Erdboden versunken oder zumindest in dem Fischteich untergetaucht, doch sie blieb wie angewurzelt stehen; unfähig, sich von ihm zu entfernen. Er war wie ein Magnet, nach wie vor … wie damals …
Er schien sich zu freuen sie zu sehen! Aber wie konnte das sein? So, wie sie ihn behandelt hatte? Damals hatte sie ihn nach ihrer Rückkehr von dem Summer College in San Diego einfach sitzen lassen, Knall auf Fall. Er – das fiel ihr wieder ein. Er hatte sie erst beknien müssen, sich mit ihm zu treffen, damit sie Schluss machen konnten, als sie erst Wochen nach dem ursprünglich geplanten Ankunftsdatum zurückkam. Todtraurig und tränenüberströmt, wegen einer heißen Urlaubsliebe servierte sie ihn nach drei gemeinsamen Jahren lieblos ab. Die Szenen, in denen er verzweifelt versuchte, sie zu halten, einfach nicht glauben wollte, was sie ihm da mitteilte und immer wieder fassungslos fragte: „Hast du denn meinen Brief nicht bekommen? Den vierten Brief?!“