Cowboysommer - Hansjörg Schertenleib - E-Book

Cowboysommer E-Book

Hansjörg Schertenleib

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Beschreibung

Ein großer poetischer Erzähler

»Freundschaft kann man genauso wenig erklären wie Liebe.« »Die Zeit stand still, das gehörte zur Jugend wie das Warten.« »Ich wollte mir vorstellen können, für immer unterwegs zu sein, bereit, durch jede Tür zu gehen, die sich öffnete.« Kühn und warmherzig zugleich erzählt Hansjörg Schertenleib vom Zauber und vom schmerz des Erwachsenwerdens, von seinen Geheimnissen, Wahrheiten und Schrecken. ein tiefes emotionales Buch über eine große Freundschaft, die bis in den Tod reicht – und darüber hinaus. »Er würde mir das Gefühl geben, da zu sein, am Leben zu sein, wirklich und immer, jede Sekunde.« Als Hanspeter, der Erzähler, Boyroth trifft, ahnt er sofort, dass zwischen ihnen eine tiefe Freundschaft entstehen wird. Boyroth ist anders als die anderen Siebzehnjährigen: Er weiß, was er will, spielt großartig Fußball, hört die richtige Musik, und die Mädchen umschwärmen ihn. Gemeinsam mit Boyroth möchte Hanspeter dem engen Zürich der Siebziger entfliehen. Doch dann geschieht das Unglück, das beide für ihr Leben zeichnet. Mit virtuoser Sprachmacht begegnet Hansjörg Schertenleib großen menschlichen Themen:

»Wir sterben nur einmal. Aber das gilt auch für das Leben. Wir wissen es und wissen es doch nicht, denn es ist nicht auszuhalten.«

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Seitenzahl: 266

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Hansjörg Schertenleib

Cowboysommer

Roman

Impressum

ISBN E-Pub 978-3-8412-0002-0ISBN PDF 978-3-8412-2002-8ISBN Printausgabe 978-3-351-03321-7

Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, August 2010© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2010

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung capa, Anke Fesel unter Verwendung eines Motivs von © plainpicture/Arne Landwehr

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

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Innentitel

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Impressum

Inhaltsübersicht

Winter 2010

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Sommer 1974

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Herbst 1980

1

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Frühling 2010

1

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3

4

5

BOYROTHS PLATTENSAMMLUNG

Für Werner R.,

Claudio C.

und für Hanna, my love.

Der Autor bedankt sich

bei Landis & Gyr für das

großzügige Berlin-Stipendium

Die Geschichte, die ich in diesem Buch erzähle, ist tatsächlich passiert, allerdings ganz anders. Da ich mich auf meine Erinnerungen verlassen musste, ist sie ohnehin erfunden. Und auch die Menschen, die auftreten, hat es so nie gegeben – höchstens in meiner Vorstellung.

»Wieder das sein

was ich nie war

aber immer sein werde.«

Gerhard Altenbourg

Winter 2010

1

Wäre ich ein Mädchen, ich würde mich auf der Stelle in dich verlieben. Der Satz war plötzlich in meinem Kopf, und mit ihm die erste Erinnerung an Boyroth, die sich vor die Szene schob, die ich gerade vorlas, ohne wirklich darauf zu achten, so oft hatte ich sie schon vorgetragen. Ich las immer noch gerne an Schulen, obwohl ich die arroganten, gelangweilten oder offen feindseligen Blicke der Jugendlichen nicht mehr sehen und ihre Fragen, die sie meist nur stellten, um eine lästige Pflicht zu erfüllen, nicht mehr hören konnte.

Wäre ich ein Mädchen, ich würde mich auf der Stelle in dich verlieben! Ich hatte den Satz schon einmal gedacht, vor über dreißig Jahren auf einem Nebenplatz des Letzigrund-Stadions, bei meinem ersten Training für die B-Junioren des FC Blue Stars.

Nach der Lesung lud mich die Lehrerin zu einer Tasse Kaffee im Lehrerzimmer ein, aber ich erzählte ihr, dass ich kaum geschlafen habe und mich vor der nächsten Lesung hinlegen wolle.

Als ich kurz vor vier Uhr morgens erwacht und ans Fenster des Hotelzimmers getreten war, hatte es geschneit. Ein Streuwagen fuhr durch die Straße, sein Warnlicht, das alle paar Augenblicke über mein Bett sprang, hatte mich wohl geweckt. Der Motor des Lastwagens war jedenfalls genauso wenig zu hören gewesen wie die Stimmen der drei Männer, die ausgelassen wie Schuljungen über den Gehsteig hüpften. Waren sie betrunken? Oder freuten sie sich über das Schneetreiben und den Wind, der die Flocken zwischen die Häuser trieb und die Wannen der Straßenleuchten tanzen ließ, weshalb die Lichter, die immer wieder in andere Richtungen strahlten, gespenstische Bewegung in das Gestöber brachten? Ich hatte dem Schneefall eine Weile zugesehen und mich dann wieder hingelegt, um vielleicht doch noch zu etwas Schlaf zu kommen. Und jetzt war ich müde.

Der Pausenplatz und die Sportwiese der Kantonsschule waren mit Schnee bedeckt, der Himmel hing tief, aber es schneite nicht. Ein paar der Schüler, denen ich aus meinem Buch vorgelesen hatte, hockten im Foyer und sahen zu, wortlos und ohne zu grüßen, wie ich ins Freie trat und wegging. Über dem Vierwaldstätter See stand Nebel, der sich wohl erst gegen Mittag auflösen würde, wenn die Sonne über die Berge fiel und Dächer und Zinnen aufgleißen ließ, bevor ihr Licht den Fluss und endlich auch die Gassen der Luzerner Altstadt erreichte.

Die nächste Lesung begann in zwei Stunden. Reichte die Zeit, um mich im Hotel auf der anderen Seite des Seebeckens hinzulegen? Oder sollte ich in der Mensa der Kantonsschule etwas essen und mich dann auf die Suche nach dem nächsten Klassenzimmer und den nächsten Schülern machen?

Ich ging stadteinwärts, ohne Boyroth aus dem Kopf zu bringen, der den Satz, den ich damals sofort verdrängte, ausgelöst hatte. Was wohl aus ihm geworden war? Der Weg führte am Seeufer und an einem Park entlang und später auf einer Fußgängerbrücke über einen Teil des Hafens hinweg. Passagierschiffe lagen dort vertäut, darunter der Raddampfer, mit dem ich vor vielen Jahren eine Rundfahrt gemacht hatte. Auf dem Dach des Dampfers staksten Möwen herum, als sie mich hörten, stiegen sie in die Höhe. Arbeiter waren dabei, die Ladung eines Lastschiffes zu löschen; die faustgroßen Steine, erstaunlich rund und mit Kappen aus Schnee, gelangten über ein Förderband auf die Ladefläche eines Lastwagens, wo die Männer sie mit Schaufeln gleichmäßig verteilten.

Den Imbissstand hinter dem Bahnhof hatte ich bisher übersehen; bepflanzte Betonkästen begrenzten ein Karree mit Plastiktischen, an denen jetzt natürlich keiner saß. Drei Männer standen am Tresen unter dem glühenden Heizstrahler, ein Mann hielt sich abseits, hatte aber wie die anderen eine große Flasche Bier in der Hand. Wir hatten uns vor dreißig Jahren das letzte Mal gesehen, aber ich erkannte ihn sofort: Boyroth. Er hatte einen zotteligen Bart mit Silbersträhnen und schulterlange Haare, trug Jeans und einen grünen Parka. Ein gefleckter Hund lag so dicht neben ihm, dass ihn Boyroths Arbeitsstiefel berührten.

Ich stellte mich neben ihn, ohne etwas zu sagen, doch er reagierte nicht. Es stank nach ranzigem Fett, die Haut der Bratwürste auf dem Grill war verkohlt und aufgeplatzt, eine Currywurst auf die Länge eines Fingers zusammengeschrumpelt. Die Sauce des Kartoffelsalates in der Auslage war geronnen, daneben türmten sich Zwiebelringe. Die Frau im Innern der Bude hob das Sieb mit den Pommes frites aus dem siedenden Öl, dann rührte sie in einem Topf; sie war um die fünfzig, hatte kupferrote, hochtoupierte Haare und geschminkte Lippen, ihr Lidschatten war himmelblau. Die Plastikbahn, in deren Schutz die Trinker standen, knatterte in den Windböen, festgezurrt am Stand.

Nach einer Weile drehte Boyroth den Kopf und blickte mich eindringlich, aber ausdruckslos an. Trotzdem sah ich, er hatte mich ebenfalls erkannt. Er nahm das Zündholz, an dem er kaute, aus dem Mund.

»Schau an, der Dichter!«

Seine Stimme klang müde, aber auch sie hätte ich erkannt, aus tausend anderen Stimmen sofort erkannt. Er breitete grinsend die Arme aus und drückte mich an sich. In der kurzen Umarmung spürte ich, dass er Gewicht zugelegt hatte. Der Hund sprang auf die Beine, japste und drehte sich im Kreis, als wisse er nicht, wohin mit sich selbst. Boyroth fuhr ihm mit der Hand zart über den Kopf, und der Hund legte sich wieder hin.

»Brav, Zappa, brav.«

Boyroth roch nach Bier, Schmierfett und kaltem Rauch. Der rechte Ärmel seines Parkas war rostverschmiert.

»Ich hab heute an dich gedacht«, sagte ich, »verrückt, nicht?«, und wusste im selben Augenblick, er glaubte mir nicht.

»Sag ich doch: Ihr Dichter lügt. Und nachher behauptet ihr, es sei erfunden! Oder wahr!«

»Ohne Scheiß. Ich hab grad eben an dich gedacht.«

»Ha, ha! Ich auch«, sagte er und steckte sich das Zündholz wieder in den Mund.

»An mich?«

»An dich? Blödsinn! An mich! Mach ich eigentlich die ganze Zeit, an mich denken. Leider.«

»Und was machst du hier?«

Der anklagende Unterton in meiner Stimme störte mich selbst. Warum sollte er um elf Uhr morgens nicht hier stehen und Bier trinken, statt zu arbeiten?

»Pause. Das wirst du kennen«, sagte er und spuckte das Zündholz auf die Straße, »als Dichter.«

»Wohnst du in Luzern?«

»Fast. Und du?«

Er warf mir einen spöttischen Blick zu, dann fuhr er sich, wie schon vor fast vierzig Jahren, blitzschnell mit dem ausgestreckten Zeigefinger über die Oberlippe, zweimal, um die Hand mit erstauntem, fast angewidertem Gesichtsausdruck zu schütteln, wie damals.

»Sind das nicht alles Betonköpfe dort oben in den Bergen?«, sagte er, bevor ich antworten konnte.

Er wusste also, wo ich lebte. Ich war vor sechs Jahren in das Dorf Tavanasa in der Surselva gezogen, eine knappe Zugstunde von Chur entfernt.

»Alle nicht«, sagte ich, »nein. Nur die meisten.«

»Genau wie überall.«

»Wie überall, genau.«

»Rauchst du immer noch nicht?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. Boyroths Hände sahen abgearbeitet aus, unter den Nägeln war Dreck.

»Hätte mich auch gewundert. Ich schon. Eine Schachtel am Tag. Mindestens. Und was ist mit Fußball?«

»Was soll mit Fußball sein?«

»Spielst du noch?«

»Dafür bin ich zu langsam«, sagte ich.

»Das warst du früher schon. Und trotzdem hast du gespielt.«

Boyroth schüttelte die Bierflasche. Wir sahen zu, wie der Schaum hochstieg, dann trank er sie in einem Zug leer und rülpste leise.

»Ich hab sie übrigens endlich gefunden«, sagte er.

»Wen jetzt?«

»Die Platte, die wir so lange gesucht haben.«

Wenn ich jetzt nicht wusste, von welcher LP er redete, war ich verloren. Dann war ich nichts anderes gewesen als ein weiterer Freund von ihm, einer von vielen. Der beste Freund dagegen vergisst nicht, nach welcher Platte man wie besessen gesucht hat. Und ich erinnerte mich tatsächlich, sah plötzlich die Hunderte, nein Aberhunderte von Plattenkisten vor mir, durch die wir uns gewühlt, sah all die Flohmärkte vor mir, die wir abgegrast hatten.

»Canned Heat«, sagte ich schnell, fast hätte ich mich verhaspelt, »Live at Topanga Corral.«

»Genau die«, sagte Boyroth und schloss genüsslich die Augen, »aufgenommen im Topanga Canyon in Kalifornien.«

»1966 und 1967.«

»In den Vereinigten Staaten von A-ha-merika«, sagte er leise.

Wann hatte ich die USA zuletzt so genannt, wie wir sie immer genannt hatten? Vor dreißig Jahren. Auf einer TRIUMPH 650, bei 150 Stundenkilometern, ohne Helm, in T-Shirt und Jeansjacke, an Boyroth geklammert, ein Ziehen in der Magengrube. »Das ist ja wie in A-ha-merika!«, hatte ich ihm ins Ohr geschrien, vor uns die schnurgerade, von Bäumen gesäumte Straße nach Birmensdorf.

»Willst du sie hören?«, fragte er und schnitt das Gesicht, mit dem er mich schon vor so vielen Jahren dazu gebracht hatte, Dinge zu tun, die ich sonst niemals getan hätte, weil sie entweder verboten oder gefährlich waren und ich mich fürchtete.

Ich nickte, Boyroth packte die Bierflasche am Hals, langte über den Tresen und stellte sie neben einen Stapel Pappteller. Die Frau, sie schnippelte mit der Schere eine Pepperoncini in den Topf und las dabei in einer Illustrierten, blickte hoch und lächelte.

»Wart schnell, Walti«, sagte sie und sah ihn zärtlich an. »Was sagst du zu meinem Chili?«

Er ließ sich den Löffel mit geschlossenen Augen in den Mund schieben; bevor seine Lippen ihn wieder freigaben, schmatzte er theatralisch und seufzte.

»Wie immer, Rita«, sagte er, »besser als beim Mexikaner.«

»Scharf genug?«, fragte sie und leckte den Löffel ab.

»Für die Bürobubis ist es zu scharf. Für mich ist es genau richtig. Wir gehen, Zappa. Ciao, Rita.«

Er hatte Sauce an der Unterlippe, auch das hatte sich also nicht geändert: Wenn er aß, hatte er Krümel an der Backe, Brotreste zwischen den Zähnen, Eis am Kinn. Boyroth klebte Sauce an der Lippe, und ich wischte mir, wie damals, den Mund.

»Du hast da was«, sagte Rita, lehnte sich aus ihrer Bude und strich ihm mit dem Zeigefinger über den Mund.

»Nur für dich, Rita, nur für dich.«

Sie blies ihm einen Kuss zu, aber er hatte sich bereits gebückt, um die Leine am Halsband seines Hundes einzuklinken. Die Frau bekam einen harten Zug um den Mund, leckte sich den Daumen ab und blätterte um. Boyroth erhob sich und ging weg, ohne sich noch einmal umzusehen.

»Wo wohnst du eigentlich?«, fragte ich und ging ihm nach. »Das wirst du bald sehen, Hansi.«

Wann hatte zum letzten Mal jemand diesen Namen genannt, den ich über alles hasste? Hansi. Meine Mutter. Sie hatte mich bis zu ihrem Tod so genannt; das Theater, das ich deswegen jedes Mal machte, war gespielt, das wusste sie, ich liebte es, wenn sie mich so nannte. Hansi.

2

Boyroth arbeitete für einen Schausteller, dem mehrere Bahnen gehörten. Während der Fahrsaison war er für die Geisterbahn zuständig, im Winterquartier machte er Reparaturen, für die unterwegs keine Zeit geblieben war.

Der frühere Bauernhof, auf dem die Bahnen untergestellt waren, lag am Rand von Kriens; Boyroth bezahlte den Taxifahrer mit einer Hunderternote aus einem dicken Packen Geldscheine, auch das kannte ich von früher. Er hatte immer Geld, Bündel von Noten, die er achtlos in seine Hosentaschen stopfte, Berge von Münzen, die seine Jackentaschen ausbeulten. Der Taxifahrer hatte sich erst geweigert, den Hund mitzunehmen, aber dann erzählte ihm Boyroth, er sei eben beim Tierarzt gewesen, und es sei wohl die letzte Fahrt für das Tier, Krebs. Die verspiegelte Sonnenbrille kreiste in der Hand des Fahrers, während er besorgt zusah, wie wir ausstiegen. Das Rauschen der nahen Autobahn war zu laut, um zu verstehen, was Boyroth zu mir sagte. Er deutete auf den Pilatus, der vor uns in den Himmel wuchs; seine Felskanzel lag bereits in der Sonne. Die Kabine der Luftseilbahn, die schnell in die Tiefe glitt, blitzte auf wie ein Diamant an einer unsichtbaren Kette.

»Hat er wirklich Krebs?«, fragte ich, als wir auf den Bauernhof zugingen.

»Hast du Krebs, Zappa?«

Der Hund bellte zwei Mal, ganz kurz nur, es klang, als schnappe er nach Luft. Boyroth klinkte die Leine aus, und Zappa lief über den Kiesplatz am Hof vorbei und verschwand hinter der Scheune.

»Aber wer weiß schon, was nicht alles in uns schlummert, was?«, sagte Boyroth und steckte sich eine Zigarette an. »Vielleicht hast du Krebs und weißt es nur nicht. Oder ich.«

Seine kleine Wohnung lag im ehemaligen Stall, in dem nun einige der Bahnen überwinterten. Früher hatte bestimmt der Knecht in den zwei Zimmern gewohnt, durch ein Fenster in der Küche konnte man jedenfalls in den Stall hinübersehen. Das andere Fenster ging auf Brachland hinaus, begrenzt von einer Reihe Tannen, dahinter zog die Autobahn Richtung Süden. Aus der Schneedecke, durch die Vogelspuren liefen, ragten gefrorene Erdschollen. Das Licht war seltsam fahl, als leuchte der Schnee.

Am Küchentisch, über und über bedeckt mit dreckigem Geschirr, leeren Bierflaschen, Werkzeugen, Schrauben, öligen Putzlappen und überquellenden Aschenbechern, standen nur ein Stuhl sowie ein Sessel aus braunem Kord mit einem Riss auf der Rückenlehne, aus dem das Futter quoll. Dort schlief der Hund: Die Wolldecke war voller Haare. An einem Drahtbügel hinter der Tür hingen ein schmutziger Overall, TRIUMPH, und ein gelber Bauhelm.

Boyroth öffnete den Kühlschrank, nahm eine Bierdose heraus und drückte sie sich gegen die Stirn.

»Dir ist es ja zu früh für ein Bier.«

Damit hatte er mich, das wusste er genauso gut wie ich. Er zögerte einen Tick, bevor er den Kühlschrank wieder aufmachte, ich sollte aussprechen, dass ich ihm immer noch gefallen wollte.

»Gib mir auch eins«, sagte ich.

Wir rissen die Laschen auf, prosteten uns zu und tranken. Auf dem Tisch, das sah ich jetzt, lagen mehrere Bildbände und Bücher über Tiger.

»Interessierst du dich für Tiger?«, fragte ich.

»Du nicht? Willst du die Platte jetzt hören oder nicht?«

»Die erste von Brainbox hast du aber nicht auch noch gefunden?«, gab ich zurück, sicher, dass er sich nicht mehr an die LP erinnerte, nach der wir ebenfalls Jahre gesucht hatten.

»Die mit Jan Akkerman an der Gitarre«, sagte er ruhig, »1969 erschienen?«

»Genau die.«

»Doch. Aber ich hab sie schon lang wieder verkauft. Abgesehen von Dark Rose war sie Mist. Willst du Canned Heat jetzt hören oder nicht?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, öffnete er die Tür neben der Küchenzeile und bedeutete mir, ihm zu folgen. Das Zimmer sah aus wie sein Jungenzimmer, nur das Bett war breiter. Ich wusste nicht, wohin ich meine Füße setzen sollte: Kleider, Weinflaschen, Bierdosen, Schuhe, zerdrückte Pizzaschachteln und DVD-Hüllen bedeckten den Teppichboden. Es stank nach Zigaretten, Hund und verschüttetem Bier. Aus den offenstehenden Schubladen der Kommode in der Ecke quollen Socken und Unterwäsche. An der Decke hing eine dieser billigen Papierkugeln als Lampe, wie wir sie früher alle gehabt hatten.

»Setz dich«, sagte er und zeigte auf einen Ledersessel.

Meine Arme lagen in Schulterhöhe auf den abgewetzten Lehnen, ich versank regelrecht in dem durchgesessenen Fauteuil. Unter dem Bett lag eine Hantel neben Fußballschuhen, zwischen deren Stollen Erde klebte. Die Anlage mit dem Plattenspieler stand neben dem Bett, Boyroth erreichte sie, ohne aufstehen zu müssen. Er nahm ein Batiktuch von einem Bierkasten, zog ohne Zögern eine LP heraus, legte sie auf und warf mir die Klapphülle zu. Ich hatte Tausende von Schallplatten erwartet, eine Wohnung voll. In dem Bierkasten waren keine hundert Platten.

»Das hättest du jetzt nicht erwartet, was!«

»Das sind ja keine hundert LPs«, sagte ich verdattert und klappte das Album von Canned Heat auf.

»Siebzig. Es sind genau siebzig. In der Kürze liegt die Würze. Das haben wir Idioten früher nur nicht geschnallt.«

»Musst du heute nicht arbeiten?«, fragte ich.

»Gabathuler kann mich mal. Er zahlt sowieso zu wenig. Nimmst du auch noch eins?«

Er knüllte seine Bierdose zusammen, ließ sie zu Boden fallen und stand auf. Ich nickte, machte die Augen zu und versuchte mich auf Canned Heat zu konzentrieren.

Wir hörten den ganzen Nachmittag Musik, Langspielplatte nach Langspielplatte. Boyroth gefiel sich in der Rolle des DJs, spielte von dieser Platte einen Titel, von jener zwei, aber fast nie eine ganze Seite. Er hielt mir Hülle um Hülle vor die Nase, genoss meine Begeisterung und freute sich selber über die Songs, die er auflegte und die uns Jahrzehnte zurücktrugen. Viele der Platten hatte ich früher auch gehabt, aber irgendwie waren sie eine nach der anderen aus meinem Leben verschwunden.

Erst tranken wir Bier, später stellte Boyroth eine fast volle Flasche Four Roses und zwei Gläser auf den Boden. Irgendwann fielen mir die Schullesungen ein, Woher nehmen Sie Ihre Einfälle?, ich hatte sie vergessen, Ist das alles erfunden?, die Jugendlichen konnten sich auch ohne mich langweilen, Warum schreiben Sie?

Boyroth lag mit den Arbeitsstiefeln auf dem Bett, ausgestreckt auf dem Rücken, irgendwann war er zu müde oder zu betrunken, um immer wieder aufzustehen und die Seiten zu wechseln, darum hatte er den Plattenspieler auf Repeat gestellt. Wir hörten Miles Davis’ A Tribute To Jack Johnson, nickten im Rhythmus, die Arme in der Luft, als müssten wir Miles’ Soli dirigieren.

»Denkst du manchmal an die beiden?«

Hatte ich die Frage wirklich gestellt? Ich öffnete die Augen, das Zimmer drehte sich. Draußen war es dunkel, die Scheinwerfer der Autos auf der Autobahn strichen wieder und wieder über die drei Tannen vor dem Fenster, Farbe, die einfach nicht auf den Stämmen haften wollte.

»Jeden Tag«, sagte er, »du nicht?«

»Jeden Tag nicht, nein. Aber oft.«

»Dabei hat er nie mit einer Frau geschlafen.«

Der Satz hatte mir damals schon Tränen in die Augen getrieben. Boyroth schlug mit der Faust gegen die Wand.

»Kein einziges Mal«, sagte er.

»Wie er wohl aussehen würde?«, fragte ich.

»Dick. Er wäre todsicher dick. Fett nicht, aber dick.«

Wo war eigentlich Zappa, der Hund? Eine Weile hatte er auf dem Boden geschlafen, die Vorderpfoten in einer Pizzaschachtel, aber ausgerechnet als Boyroth Frank Zappas Zomby Woof von Over-Nite Sensation spielte, war er aufgesprungen und hatte sich davongemacht. Es dauerte, bis ich begriff, dass Boyroth den Plattenspieler ausgeschaltet hatte. Nun hörte ich das Rauschen der Autobahn. Schneite es?

»Schneit es?«, fragte ich.

»Was dagegen? Hast du damals wirklich nicht mit ihr geschlafen?«

»Nein. Leider nicht«, sagte ich.

»Zum Glück. Du gehörst sicher auch zu den Schisshasen, die sich in keine Geisterbahn trauen.«

»Ich liebe Geisterbahnen«, log ich und stand auf.

3

Unter dem Satteldach verlief eine Fensterzeile, schmal wie eine Schießscharte, durch die das milchige Licht der Lampe fiel, die den Stallvorplatz beleuchtete.

Eisen- und Metallträger der demontierten Bahnen lehnten an den Wänden, ausgebaute Einzel-, Doppel- und Dreiersessel standen in einer langen Reihe nebeneinander. Mehrere große Teile waren mit Plachen abgedeckt. Es roch nach Maschinenfett, Benzin und Eisen. Der Hund lief ausgelassen durch den großen dunklen Raum; nur das Kratzen seiner Krallen verriet, wo er sich herumtrieb. Boyroth führte mich an die hintere Querwand des Stalles, dort war die Front der Geisterbahn mit den Ein- und Ausfahrtstoren aufgebaut. Auf der Schienenstrecke, die davor verlegt war, keine fünf Meter lang, stand ein Karren in Form einer Ratte.

»Hier mach ich Gabathulers Geister fit«, sagte Boyroth und deutete auf eine Werkbank mit ordentlich aufgehängten Werkzeugen. Auf dem Tisch daneben standen ein Elektrokocher mit zwei Platten, eine Tischlampe, eine Tasse und ein Glas Pulverkaffee. Boyroth setzte sich, zog den zweiten Stuhl vor und klopfte auf die Lehne. Ich blieb stehen, auch das war wie früher: Indem ich unwichtigen Aufforderungen von ihm nicht nachkam, bewahrte ich mir die Lüge, er habe mich nicht in der Hand.

Das rote Kunstleder der Sitzfläche des Karrens war mit Flecken übersät. Ich ließ mich auf den Sitz gleiten und streckte meine Beine in die Schnauze der Blechratte. Boyroth machte die Tischlampe an, im gleichen Augenblick kam Zappa aus der Dunkelheit geschossen und drängte sich an ihn. Der Hund ließ sich eine Weile streicheln, bevor er sich auf einer Wolldecke neben der Werkbank zusammenrollte.

»Schreibst du eigentlich auch über dich?«

»Manchmal.«

»Über Sachen, die passiert sind? Richtig passiert?«

»Logisch«, sagte ich.

Boyroth trat an den Karren, in dem ich saß, und schloss den Sicherungsbügel. Dann fing er an, die Ratte sachte in der Schiene hin und her zu schieben.

»Aber über uns hast du nie geschrieben?«

»Nein.«

»Bin ich dir nicht wichtig genug«, fragte er, »als Held?«

»Arschloch! Das Buch würde ja nicht nur von dir handeln.«

»Sondern auch von Fabio. Und von Yolanda.«

»Und von mir«, sagte ich.

»Und von dir, stimmt. Das ist natürlich ein Problem.«

»Das ist ein Problem. Allerdings.«

Neben dem Eingang der Geisterbahn mit den Filzportieren stand ein offener Sarg, in dem eine nackte Mädchenfigur saß, bleich und hager, mit schulterlangen rotblonden Locken und spitzen Brüsten.

»Ihr Mechanismus klemmt. Wenn man an ihr vorbeifährt, muss sie aus der Liege- in die Sitzposition klappen und schreien. So.«

Er bewegte einen Eisenhebel, der aus dem Boden des Sarges ragte, und löste einen Frauenschrei aus.

»Das Band wird von den Wagen ausgelöst, wenn sie über einen Kontakt fahren. Aber Constanze klappt nicht mehr richtig hoch.«

»Vielleicht ist sie müde!«

»Ich werd sie schon wach kriegen.«

Boyroth nahm einen Schraubenschlüssel und fing an, im offenen Rücken des Mädchens herumzuschrauben.

»Hast du auch schon mal darüber nachgedacht, wie du sterben möchtest?«

Er stellte also immer noch Fragen, die man nicht hören wollte, die einem aber lange nachgingen.

»Wie ich sterben will?«

»Das hast du dir noch nicht überlegt, stimmt’s? Solltest du aber.«

»Wahrscheinlich möglichst schnell. Herzschlag. Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht mal, wie ich leben soll.«

»Lernt man das nicht beim Bücherschreiben?«

»Und du?«, fragte ich.

»Ich hab drüber nachgedacht. Schon früher«, sagte er, »schon damals.«

»Und?«

»Früher wollte ich … Vergiss es.«

»Und heute?«

»Heute möchte ich von einem Tiger gefressen werden«, sagte er und legte den Schraubenschlüssel auf die Werkbank.

»Witzbold!«

»Nein, witzig ist das bestimmt nicht. Willst du einen?«

Er hob das Kaffeeglas in die Höhe und schwenkte es hin und her, gleichzeitig zog er die Schublade des Tisches heraus. Ich schüttelte zwar den Kopf, er schraubte den Deckel des Glases aber trotzdem auf und fing an, den festgebackenen Rest Pulverkaffe mit einem Messer zu lockern.

»Ich hab jedenfalls im Sinn, in den Himmel zu sehen, wenn es so weit ist«, sagte er.

»Wenn es so weit ist?«

»Wenn ich abkratze. Dann will ich in den Himmel sehen.«

Er stellte das Glas mit dem Kaffee weg und schraubte den Deckel darauf; das Messer warf er in die Schublade zurück.

»Ich muss los«, sagte er und machte das Licht aus, »ich nehm ein Taxi zum Bahnhof in Luzern. Willst du mitfahren?«

Die Tätowierung bedeckte Boyroths ganzen Rücken. Das Blut, das aus Jesus’ durchschlagenen Handgelenken und Füßen tropfte, war so rot, als sei es nachgestochen worden, das Kreuz wirkte wie eine Last, an der auch Boyroth zu tragen hatte. Jesus war mit tiefen schwarzen Strichen gezeichnet, wirkte aber trotzdem nicht grob, sondern zart und feingliedrig. Aber das lag vielleicht auch daran, dass Boyroth im obersten Regal des Schrankes nach etwas suchte: Die Muskelstränge unter seiner Haut bewegten Jesus, als gebe er mir heimlich Zeichen, als brauche er sich bloß etwas mehr anzustrengen, um vom Kreuz steigen zu können.

»Bist du religiös geworden?«

Meine Stimme klang schärfer, als ich beabsichtigt hatte. Boyroth erstarrte, drehte sich aber nicht nach mir um.

»Halt einfach die Fresse, ja!«

Er zog einen Pullover über und ging aus dem Zimmer, ohne sich um mich zu kümmern. Bis ich in der Küche war, die Haustür stand sperrangelweit offen, hatte Boyroth seine Wohnung verlassen. Er redete auf dem Vorplatz mit einem Jungen, der einen Lederball unter dem Arm trug. Der Junge lachte, ließ den Ball fallen und nahm ihn, ans andere Ende des Platzes laufend, mit dem rechten Fuß mit. Ich trat aus dem Haus und machte die Tür hinter mir zu.

»Seit sie gestorben sind, habe ich darauf gewartet, dass Gott in mein Leben tritt. Ist er aber nicht.«

Boyroth sah an mir vorbei, während er redete. Er war ganz auf den Jungen konzentriert, der den Ball sorgfältig hinlegte, wohl um eine Flanke zu schlagen.

»Gott weiß bestimmt, was geschieht, aber verhindern, verhindern kann er es nicht«, sagte Boyroth und lief dem Pass entgegen, den ihm der Junge viel zu hoch zuspielte.

Boyroth sprang in die Höhe und ließ den Ball, die Arme starr nach hinten abgewinkelt, den Oberkörper nach vorne gereckt, auf seiner Brust abtropfen, um ihn dann mit beiden Füßen zu jonglieren, hin und her, auf und ab, spielerisch und ohne die kleinste Mühe, links, rechts, links, rechts, während er grinsend auf mich zukam.

»Und«, rief er mir zu, »machst du mit oder nicht?«

Dann spielte er mir den Ball zu, ohne eine Antwort abzuwarten, und es blieb mir nichts anderes übrig, als ihn anzunehmen und zurückzupassen. Freundschaft kann man genauso wenig erklären wie Liebe; doch was wären wir, wenn wir es nicht versuchten?

»Genau wie früher«, rief Boyroth und spielte mir den Ball sofort wieder zu. »Weißt du noch? Genau wie früher! Die Ärsche spielen wir doch mit links an die Wand!«

Sommer 1974

1

Der Wind hatte den frisch gestreuten Kalk der Torlinie bereits wieder verweht, doch das schien den Mann, der die Linien nachzog, nicht zu stören. Er nickte mir lächelnd zu, und als ich ihn fragte, wo die B-Junioren des FC Blue Stars trainierten, deutete er mit dem Kinn auf den Strafraum am anderen Ende des Platzes.

Ich war zu spät, die Polizei hatte mich angehalten, das zweite Mal diesen Sommer, weil die Vorderradgabel meines Mofas verlängert und natürlich nicht zugelassen war. Die Gabel hatte die beiden Beamten so fasziniert, dass sie nicht einmal auf die Idee kamen, den Zylinderkopf zu überprüfen. Die vier Tage, die sie mir gaben, um das Mofa mit der erlaubten Teleskopgabel vorzuführen, reichte, um den ausgebohrten Kolben durch den zu ersetzen, den ich nach dem Kauf des Mofas ausgebaut und in einer Kiste unter dem Bett verstaut hatte.

Der Wind griff mir in die schulterlangen Haare, während ich so langsam wie möglich über den Platz ging; ich fühlte mich nicht wohl in Gruppen, und die Vorstellung, zu spät zu fünfzehn oder sechzehn Jungen dazuzukommen, die sich alle kannten, brachte mich fast dazu, umzudrehen und wieder nach Hause zu fahren. An den Nebenplatz des Letzigrund-Stadions, auf dem die verschiedenen Mannschaften des FC Blue Stars trainierten und ihre Heimspiele austrugen, grenzten mehrere offene Bocciabahnen, gedeckt von einem Flachdach. Die verhaltenen Zurufe der italienischen Gastarbeiter, die bestimmt Schicht arbeiteten und darum an einem Mittwochabend Boccia spielen konnten, ihre leise verwehte Akkordeonmusik und das Klacken der Kugeln, die gegeneinanderstießen, ließen mich genauso weitergehen wie der Junge, der sich aus der Gruppe gelöst hatte und mir entgegenlief, beidfüßig einen Lederball jonglierend. Als er vielleicht noch zwanzig Meter von mir entfernt war, kickte er den Ball hoch über seinen Kopf hinaus. Der Ball drehte sich, schien aber gleichzeitig für Sekunden festgefroren in der Luft zu stehen, bevor er wie ein Stein aus dem Himmel fiel. Der Junge nahm ihn volley und ohne ihn anzusehen, weil er mich nicht aus den Augen ließ. Ich weiß bis heute nicht, wie es mir gelang, den scharfen Ball zu stoppen. Er klebte auf jeden Fall an meinem rechten Fuß, als gehöre er dort hin. Ich ließ ihn einen Augenblick ruhen, bevor ich ihn flach zurückgab.

»Endlich einer, der Fußball spielen kann«, rief der Junge, nahm den Ball an, jonglierte kurz mit ihm und passte ihn zu mir zurück, während er strahlend auf mich zukam.

»Und die richtigen Schuhe hast du auch!«

Ich trug nicht nur Puma wie er, wir hatten das gleiche Modell. Mit 1 Meter 86 war ich der Größte der mehr als zwanzig Setzerlehrlinge in der Druckerei, keine dreihundert Meter vom Stadion entfernt, in der ich seit April zum Bleisetzer ausgebildet wurde: Der Junge war einen halben Kopf größer als ich. Seine blonden Haare waren dünn und glatt wie meine, reichten ihm jedoch bis in die Mitte des Rückens. Er war knochig, fast hager, aber gleichzeitig so muskulös, dass ich nicht gern gegen ihn gespielt hätte.

»Ich heiße Boyroth«, sagte der Junge.

»Hanspeter.«

»Etwas dagegen, wenn ich dich Gönggi nenne?«

Ich schüttelte den Kopf. Gönggi? Er trug eine geflochtene Schnur am rechten Handgelenk und eine silberne Kette um den Hals.

»Mach dir keine Sorgen. Die Ärsche«, er deutete mit dem Daumen auf den Rest der Mannschaft, »spielen wir mit links an die Wand.«

In diesem Moment wurde er mein Freund. Mit siebzehn war ich zwar aus dem Alter heraus, in dem etwas nur stattfand, wenn man es nicht allein erlebt hatte, sondern teilen und damit mitteilen konnte, aber einen Verbündeten brauchte ich dennoch. Einen Verbündeten gegen Lehrer und Vorgesetzte, gegen Eltern und Erwachsene überhaupt. Ich habe damals immer ausgesehen, als sei ich beleidigt, weil man mich verstoßen hat. Dabei war ich es, der sich abseits hielt und nichts mit den anderen zu tun haben wollte. Diese selbstgewählte Einsamkeit, unter der ich eben auch litt, hätte ich gerne mit einem Freund geteilt, mit einem Mädchen nicht, das kam erst später, mit einem Freund, der sich ebenfalls bewusst am Rand hielt. Boyroth war dieser Freund, das spürte ich sofort. Er war etwas Besonderes. Er würde mir das Gefühl geben, da zu sein, am Leben zu sein, wirklich und immer, jede Sekunde, jemand, der nicht in der Menge untergeht und doch nicht allein ist. Er hatte, das sah ich, die schwierige Aufgabe, er selbst zu werden, bereits geschafft. Mit ihm konnte ich üben, ein anderer zu sein, bis ich wirklich ein anderer war. Er war mir voraus, weit voraus. Und nicht nur mir. Boyroth gehörte nicht zu den Menschen, die alles daransetzen, Träume nicht wahr werden zu lassen, um sie sich zu bewahren. Er tat alles dafür, seine Träume zu erfüllen. Er würde mich größer machen als ich war, älter auch. Erwachsener nicht, sogar das spürte ich, aber älter und weniger ängstlich. Und was tust du für ihn? Diese Frage fiel mir erst viele Jahre später ein. Was es für ein Geschenk war, den größten und schwierigsten Abschied, den Abschied von der Kindheit nämlich, ausgerechnet mit ihm erleben zu dürfen, konnte ich damals natürlich nicht sehen.

Die erschreckende Erkenntnis, »Wenn ich ein Mädchen wäre, würde ich mich auf der Stelle in dich verlieben«, verdrängte ich mit der Vermutung »Der hat vor gar nichts Angst«. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Gestank aus dem nahen Schlachthof an diesem Mittwoch wieder besonders schlimm war. An manchen Tagen konnten wir die Fenster der Bleisetzerei nicht öffnen, weil uns der faulige Geruch nach Fleisch, oder war es Blut?, den Atem verschlug und weil wir die Schreie der Schweine, Kühe und Kälber, die zur Schlachtbank geführt wurden, und das aufgeregte Gebrüll der Metzger nicht länger ertrugen.

»Wer da nicht zum Vegetarier wird, gehört geschlachtet«, sagte Boyroth und deutete mit dem Kinn über die Straße. Aus dem Kamin des Schlachthofes stieg Rauch, eine kerzengerade Säule von hellem Grau.

»Also ich esse Fleisch«, sagte ich.

»Nicht mehr lange. Alkohol trinkst du auch?«

»Du nicht?«

»Seh ich so aus?«

Er grinste spöttisch und tat so, als hebe er mit der rechten Hand einen Humpen an die Lippen, den er, kaum war er leer getrunken, in weitem Bogen wegwarf.

»Seh ich so aus?«, fragte er noch einmal.