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Niemanden würde Casper Arbenz' Affäre mit Juliette Noirot interessieren. Wäre er nicht 55 und sie 19. Wäre er nicht Dozent an der Jazzschule, an der sie Gesang studiert. Hätten Casper und Juliette nicht während eines Konzerts in einem Probenraum Sex gehabt. Gäbe es davon nicht ein Video, das jetzt in den sozialen Medien kursiert. Die Schulleitung, die ganze Stadt ist entsetzt. Wellen der Empörung schlagen Casper und Juliette entgegen, Schuldzuweisungen, Hass und Hetze stellen ihr Leben auf den Kopf. Was darf noch privat sein, was gehört in den öffentlichen Diskurs? Und wird es den beiden gelingen, sich von den Meinungen anderer zu befreien und die Katastrophe als Chance für einen Neuanfang zu nutzen? Hansjörg Schertenleib urteilt nicht, erzählt nüchtern alternierend aus der Perspektive seiner beiden Figuren und legt das Gebaren einer manipulativen Gesellschaft offen, die sich aufgeklärter gibt, als sie in Tat und Wahrheit ist, und die keine Grautöne mehr kennt.
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Seitenzahl: 259
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Hansjörg Schertenleib
Offene Fenster, offene Türen
Roman
Kampa
Für Brigitte.
Love, life, wife.
»Zerlegt mich sacht.«
W.S. Graham
Kendrick Lamar: DNA
Joni Mitchell: Edith and the Kingpin
Tinashe: All Hands on Deck
Lianne La Havas: Is Your Love Big Enough
Prince: Kiss
Takuya Kuroda: Rising Son
Black Pumas: Colors
Hiatus Kajyote: Jekyll
Jehnny Beth: To Love Is To Live
Miles Davis: Bitches Brew
Manu Katché: Neighbourhood
Jean-Luc Ponty: Sunday Walk
Prince: Parade
Das Licht, das zwischen den erst vor wenigen Wochen fertiggestellten Wohnblöcken schwebt, als ließe es sich anfassen, hat einen Blaustich; es regnet, regnet dicht und regelmäßig, und für einen Augenblick stellt Casper Arbenz sich vor, es schneie, schneie dicht und regelmäßig, wie den ganzen Winter nicht. Als Kind hat er Schnee geliebt. Wo ist der Holzschlitten abgeblieben, den sein Vater ihm zum zehnten Geburtstag geschenkt hat? Casper zog den hölzernen Einsitzer mit den blitzenden Kufen nicht wie die anderen ihre Schlitten und Plastikbobs an Seilen den Hang hoch, er schlüpfte mit den Armen zwischen Kufenbogen und Sitzlatten und trug ihn wie einen Rucksack. Denkt er an den Davoser, streicht er unweigerlich mit dem Zeigefinger über die sichelförmige kurze Narbe über seiner Oberlippe; dreizehnjährig ist er in einen mit Stacheldraht umwickelten Zaunpfosten gerast, weil er den anderen beweisen wollte, dass man präziser steuern kann, wenn man sich bäuchlings auf den Schlitten legt, statt wie ein Mädchen darauf zu sitzen.
Ihr kleiner Garten ist rettungslos verwahrlost, Windstöße greifen in die Äste der sieben Birken, in die er Futtersäckchen für die Vögel gehängt hat, die er durchs Fenster seines Übungsraumes im Blick hat. Auf der Lampe über dem Fahrradunterstand für die Familien, die in den Wohnblocks mit den großen Fensterfronten wohnen, hockt eine Krähe, krächzt und schlägt mit den Flügeln, ohne sich in die Luft zu erheben.
Er schlüpft in seine alte Motorradjacke und tritt trotz des Regens in den Garten hinaus, um die kühle Luft zu genießen. Seit ein paar Wochen erwacht er Nacht für Nacht ungefähr zur gleichen Zeit: Kurz nach drei Uhr streicht, selbst bei geschlossenem Fenster, plötzlich Zugluft durch ihr Schlafzimmer. In der Zeit des Tiefschlafs und des langsamen Pulses wird er angerührt vom Atem aus dem Reich auf der anderen Seite, ein Atem, der keinen Geruch hat, bis auf die Knochen geht und plötzlich mit leisem Seufzen aufhört. In den ersten Nächten ist er aufgestanden und hat erfolglos nach dem Ursprung des Luftzuges gesucht. Er kann sich nicht erklären, woher er kommt, er löst unangenehme Gedanken aus, die ihn oft so lange wachhalten, bis er ein Schlafmittel nimmt.
Seine Frau Bettina ist gegen zwei Uhr früh nach einem erbitterten, kalt geführten Streit, der über eine Stunde gedauert hat, ausgezogen. Dass sie, anders als sonst, nicht laut wurde, sondern beherrscht und emotionslos geblieben ist, versteht er als Beweis, dass es ihr diesmal ernst ist und sie ihn tatsächlich verlassen hat und sich scheiden lassen will. Bisher war ihr sein taktisches Schweigen unerträglich, heute Früh schwieg sie eisern zurück, ohne seinen Blick freizugeben. ›Dieser Fick‹, hat sie leise gesagt und wie immer, wenn sie gegen Empörung kämpft, innen an der Wange genagt, ›ist einer zu viel‹. An ihrer Schläfe war der Abdruck ihrer Lesebrille zu erahnen, bestimmt hat sie gelesen, während er mit einer Schülerin der Jazzschule, an der er unterrichtet, Sex hatte. Bettina wird bei Katharina untergekommen sein, die sich ebenfalls von ihrem Mann getrennt hat. In der Haustür drehte Bettina sich um, trat an den Esstisch, zog ihren Ehering vom Finger, legte ihn mit herausfordernd erhobenem Kinn auf die Tischplatte, seufzte, als kämpfte sie gegen einen Weinkrampf an, und ging wortlos aus dem Haus. Als die Tür hinter ihr zufiel, wurde Caspers Kehle so trocken, dass er kaum schlucken konnte; sein Kiefer zitterte, doch er weinte nicht.
Die Frage, von wem Bettina von der Sache mit Juliette erfahren hat, lässt ihm keine Ruhe; soweit er weiß, kennt sie keine Schülerinnen und Schüler der Schule, andere Lehrer nicht mal eine Handvoll. Wer hat ihn verpfiffen? Werden sich Musiker oder vielleicht gar Bandmates von ihm abwenden wegen der Vorwürfe gegen ihn, werden Privatschüler abspringen? Seine eigene Band Torso, ein Quartett mit Elektropiano, Sopransaxofon, Bass und Schlagzeug, geht erst im Herbst auf Tour, bis dann haben sich die Wogen sicherlich geglättet. Mitleid darf er so wenig erwarten wie Gnade. Juliette Noirot ist die Schülerin, er der Lehrer. Der Fall ist klar, das Urteil wird schnell gefällt werden. Sie ist neunzehn, er fünfundfünfzig. Opfer, Täter. Wird man ihm offen Vorwürfe machen oder fehlt ihnen dazu Mut und Unverfrorenheit? Soll er versuchen, sich zu erklären, oder hört sich seine Version der Geschichte unweigerlich wie eine Rechtfertigung und damit ein Schuldeingeständnis an? Verschonen ihn wenigstens die Lehrer, die ihm wohlgesinnt sind? Wie werden ihm die Schülerinnen begegnen? Was sagt die Erleichterung, die er darüber empfindet, dass seinen verstorbenen Eltern der Skandal erspart bleibt, über ihn, über einen Mann in seinem Alter aus?
Er betrachtet die Wohnblöcke, die ihren Garten sogar im Sommer bereits am frühen Nachmittag in Schatten tauchen und an Felsmassive erinnern. Als die Bagger vorfuhren und das Areal der Gärtnerei Heer-Raeber dem Erdboden gleichmachten, fing Bettina nach über vier Jahren wieder an zu rauchen. Das Knirschen zersplitternder Treibhausscheiben unter den Baggerraupen ging ihr so nahe, dass sie ein Valium nahm und sich im Schlafzimmer verkroch. Obwohl sie die im Gemeindehaus ausgelegten Baupläne studiert und die Bauausschreibung gelesen hatten, trauten sie ihren Augen nicht, als die Überbauung ausgesteckt war. Die Bauherrschaft, eine Versicherungsanstalt, die ihr Kapital in Immobilien anlegt, nutzte jeden Meter der Bauzone: Von nun an, das wurde ihnen gnadenlos vor Augen geführt, leben sie im Schatten und müssen neben dem Kreischen der Kinder auf dem Spielplatz, der ausgerechnet an ihren Garten grenzt, auch das Gelächter und die Musik der Paare aushalten, die auf ihren Balkonen grillieren, sooft es das Wetter erlaubt, selten auf einem Kugelgrill, sondern auf einem dieser Gasungetüme, an denen in der Regel Männer in Grillschürzen stehen, die zu laut reden. Auf allen Balkonen stehen teure Tontöpfe mit Pflanzen, die gehegt und gepflegt werden, trotzdem regelmäßig eingehen und sofort durch neue ersetzt werden. Ein Kreislauf, über den sich umliegende Gartencenter freuen. Das Zierschilf, das Bettina gepflanzt hat, bietet Sichtschutz, hilft aber wenig gegen die Lärmbelästigung, die an Wochenenden oft erst im Morgengrauen aufhört. Aus ihrem Paradies ist eine Hölle geworden.
Auf einem der Balkone sitzt seit einiger Zeit jeden Mittag ein Mann im Bademantel, dieser Uniform der Aussortierten, und raucht Kette. Zu diesem Mann, er wird in seinem Alter sein, keine Verbindung zu spüren, ist Casper nahezu unmöglich. Hat er seine Stelle verloren? Arbeitet er Schicht? Kümmert er sich um den Haushalt, und seine Frau verdient das Geld? Wieso sieht er ihn nie morgens oder abends auf seinem Balkon? Ist er Single? Sitzt der Mann auf dem Balkon, um ihm seine Zukunft als stumme Warnung vor Augen zu führen? Er sieht das Fitnesscenter beim Bahnhof vor sich, ein modernes, rundum verglastes Gebäude, das ihn nach Anbruch der Dunkelheit an ein Aquarium erinnert. Der Anblick der Frauen und Männer, die in Sportkleidung auf Laufbändern in einer Reihe unermüdlich auf die Scheibe zu rennen, ohne ihr je einen Schritt näher zu kommen, vereint im Wunsch, fit zu sein, wobei doch jeder für sich ist, beängstigt und belustigt ihn zugleich.
Casper geht ums Haus, um die Schäden an der Verkleidung aus Fichte zu begutachten, die ihnen das Architektenduo Hausmann & Hug mit dem Argument und Versprechen ans Herz gelegt hat, Fichtenholz sei optisch ansprechend, witterungsresistent und halte ›ein Leben lang‹. Wie oft hat er Bettina auf die angefaulten Bretter hingewiesen, weil sie seine Bedenken gegen die Vorschläge spießig fand? Über Verkaufssprüche in der Art von ›unser offenes und variables Raumkonzept ermöglicht vielfältige Raumbezüge‹ der beiden Männer, die mit ihren schwarzen Rollkragenpullis, rahmengenähten Schuhen, Hornbrillen, wuchtigen Armbanduhren und kahlrasierten Köpfen tatsächlich wie das Architektenklischee aussahen, hatten sie noch gemeinsam gelacht, doch während er immer skeptischer wurde, reagierte Bettina nach kurzer Zeit mit uneingeschränkter Begeisterung auf die Vorschläge. Wie unpraktisch ihr Haus aufgrund seines variablen und offenen Konzepts mit verschiebbaren Wänden aus Spanplatten für ein Paar ist, das Freiräume dringend braucht, haben sie schmerzlich erfahren müssen. Es ist ringhörig, bietet nicht wirklich die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, das Bad ist dunkel und feucht, der Treppenaufgang eng. Über das Haus wurde in Architekturzeitschriften berichtet, aber es ist eine Fehlplanung, die Idee selbstverliebter und ambitionierter Architekten, die sich als Künstler verstehen, kein Haus, um darin zu leben und zu arbeiten. Die Vorstellung, es im Zuge einer denkbaren Scheidung verkaufen zu müssen, um Bettina ihre Hälfte auszahlen zu können, bereitet Casper keine Mühe, sondern Freude. Das Haus mag zu ihr passen, zu ihm passt es nicht.
Während er auf der kleinen bekiesten Fläche steht, die er vor drei Jahren als Sitzplatz angelegt hat, die Hand auf dem nassen Blechtisch, packt ihn die Angst, dass er seine Frau verloren hat und sein altes Leben in Schutt und Asche liegt. Die Furcht trifft ihn wie eine mächtige Strömung, die ihn fortzuschwemmen droht. Die Seelenverwandtschaft, das Fundament ihrer Liebe und ihrer Ehe, soll nicht mehr existieren, weil er mit einer Schülerin Sex hatte? Will Bettina wirklich die Scheidung? Werden sie sich danach versöhnen? Wird er sich für den Umgang mit ihr ein Fell zulegen müssen, das dick genug ist für ihre spitzen Bemerkungen und Verletzungen? Wird er sich jetzt, da Bettina ausgezogen ist, beim Pinkeln hinsetzen? Dass sie von seinen Seitensprüngen wusste, begriff er, als sie es ihm heute früh ins Gesicht sagte: ›Ich hab mich ja fast daran gewöhnt, Casper! Aber eine Schülerin! Gott im Himmel, wie jämmerlich! Ich hab in der ganzen Zeit nur mit zwei anderen gevögelt. Mit zwei! Wie viele Weiber waren es bei dir? Zwanzig?‹ Siebzehn, hat er gedacht, aber den Mund gehalten und sich geschämt, weil ihn das Eingeständnis ihrer Untreue beinahe zerriss und er fieberhaft darüber nachdachte, wer die beiden Männer sein könnten. Dass Juliette in seinen Rhythmikstunden offen mit ihm flirtete und ihm Blicke zuwarf, die ihn in der Erinnerung daran noch Tage später aus der Ruhe brachten, hat er Bettina ebenso verschwiegen wie ihre zwei Begegnungen außerhalb der Schule. Das erste Mal liefen sie sich Ende Februar vor dem Albani zufällig über den Weg, tranken Kaffee und redeten zwei Stunden über die Schule, Jazz, Lieblingsbands, Lieblingssängerinnen, Leidenschaften, Träume und Ängste. Vier Tage später verabredeten sie sich zu einem Spaziergang im Stadtgarten, wo sie auf einer Parkbank knutschten, um die aufgeladene Spannung, die zwischen ihnen in der Luft lag, zumindest bis zu einem gewissen Punkt abzubauen. In den darauffolgenden Tagen hat er nicht an Juliette gedacht hat, sondern an ihre Knutscherei und ihre Art, mit weit offenem Mund zu küssen und dabei laut zu stöhnen; er muss sich eingestehen, nicht ernsthaft daran interessiert zu sein, was sie denkt und was für ein Mensch sie ist. Er wird nicht schlau aus ihrem Charakter, ist sich unsicher, ob er sie sympathisch findet; er wollte mit ihr schlafen, das war sein Ziel, auch wenn er nichts dafür tat, es zu erreichen. Er wartete ab, hat sie nicht angerufen, nicht bedrängt. Zwischen ihrer Schmuserei im Stadtgarten und dem Dienstagskonzert der Jazzschule haben sie sich nicht gesehen, Juliette erschien nicht zum Rhythmikunterricht; um sie nicht in Schwierigkeiten zu bringen, hat er ihre unentschuldigte Abwesenheit nicht vermerkt.
Nachmittags soll der Regen nachlassen und schließlich aufhören, hat er im Radio gehört. Als er in der offenen Haustür aus den Gartenschuhen schlüpft, stolpert er und kann nur mit Mühe verhindern hinzufallen. Obwohl es im hohen Wohnzimmer angenehm warm ist, legt er noch ein Birkenscheit in den Kamin, um den er nicht nur mit den Architekten, sondern auch mit Bettina lange gekämpft hat. Dann legt er Bitches Brew von Miles Davis auf, die Platte, die dazu beitrug, dass er unbedingt Schlagzeuger werden wollte. Auf seiner Armbanduhr, Bettinas Geschenk zu seinem Fünfundfünfzigsten, sieht er, es ist 12 Uhr, Zeit, eine Stunde Tai Chi zu praktizieren, sich aufzuwärmen, Körper-, Atem- und Koordinationsübungen sowie gut strukturierte Warm-ups zu machen, bevor er sich ans Schlagzeug setzt. Bei ihrer zweiten Begegnung, fünfunddreißig Jahre ist es her, warf er seine Armbanduhr in hohem Bogen in den Zürichsee, weil Bettina sich verspätet hatte und er es nicht lassen konnte, demonstrativ auf die Uhr zu schauen und sie damit verärgerte. Die Erinnerung an ihr erstauntes Gesicht bringt ihn noch heute in jeder Situation zum Schmunzeln. Er denkt an den blassen Streifen am linken Handgelenk, der damals nur allmählich verschwand, und wie lange er die Uhr vermisste.
Juliette Noirot fährt aus dem Schlaf, aufgeschreckt durch ein Geräusch, wie sie annimmt: Sie hat geträumt, kann sich aber an keine Handlung erinnern. Stand sie allein auf einer Bühne und sang? Sie war kurz nach zwölf aufgewühlt nach Hause gekommen, hatte in der Küche ein Glas Wasser getrunken, sich ins Bett gelegt und leise Jehnny Beth gehört. Wer alles mitgekriegt hat, was zwischen ihr und Arbenz gelaufen ist, weiß sie nicht; Schulleiterin Flury hat sie jedenfalls im Foyer abgefangen und ihr nahegelegt, nicht zum Unterricht zu erscheinen, bis geklärt sei, welche Konsequenzen gezogen würden. Später hörte sie Ayse und Hisham im Treppenhaus giggeln und lachen; sie waren ebenfalls beim Dienstagskonzert der Jazzschule gewesen, bei dem Severin mit seiner Band Stablemates spielte. Obwohl Ayse und Hisham in der Küche Black Pumas hörten, war Juliette irgendwann eingeschlafen.
In ihrem Zimmer ist der Regen deutlicher zu hören als in den anderen Zimmern der WG, ihr Fenster befindet sich direkt über dem Flachdach des Velohändlers, bei dem sie ihr altmodisches Damenfahrrad gekauft hat, für das sie nicht nur an der Jazzschule bewundernde Blicke erntet; der Regen klopft einen Rhythmus auf das Blech, den sie sich als Beat für ihre Stimme ausmalt, ein Teppich, der sie trägt. Die Lavalampe neben ihrem Bett gurgelt, eine große, giftgelbe Blase steigt in die Höhe, platzt in lauter erbsenkleine Kugeln, die nach unten sinken und sich wieder zu einer Blase zusammensetzen. Es regnet in Strömen, das Licht vor dem Fenster ist grau; sie braucht dringend einen starken Kaffee, schlüpft in den flauschigen Morgenmantel, der Hisham gehört, und betrachtet ihren Teddy, bevor sie auf den Gang tritt: Er hockt nach rechts geneigt neben dem Bett, weil ihr Bruder Claudio ihm vor Jahren mit der Schere das linke Ohr abgeschnitten hat. Das Bauchfell des Bären ist fadenscheinig, so oft hat sie ihn gestreichelt.
Ayse sitzt in T-Shirt und Shorts am Küchentisch und isst ein gebuttertes Knäckebrot, die leeren Alubehälter, dreckigen Gabeln, Messer und Gläser ihres Abendessens hat sie zur Seite geschoben. Es riecht nach Bier, Gras, Zigarettenrauch und Curry. Eigentlich hatten Juliette und Ayse gestern Abend versprochen zu kochen, dann aber beim Vietnamesen Take-away geholt, Reisnudelsuppe und Tofucurry in Kokosmilch und zehn Saigon Beer, bezahlt von Hisham, dessen Vater vermögend ist und in einer Villa am Zugersee residiert, wenn er sich in Europa aufhält. Hisham erzählte ausführlich und melodramatisch vom Land seiner Eltern, und Juliette hat irgendwann aufgehört zuzuhören; am längsten redete Hisham von Gaddafis Kopfbedeckung, die ihn offensichtlich fasziniert. Liegt Tripolis im Libanon, in Syrien oder Libyen? In welchem Land hat Gaddafi geherrscht? Manchmal stört es Juliette, dass sie so leicht abzulenken ist, und sie wünscht sich, älter zu sein, dabei liebt sie es, jung zu sein und das Leben mit all seinen Verheißungen vor sich zu haben, genießt es, begehrt, bewundert und beneidet zu werden. Könnte sie sich, fragt sie sich, in Hisham verlieben? In eine Frau wie Ayse?
»Hisham schnarcht«, sagt Ayse lächelnd.
Es ist nicht das erste Mal, dass sie mit demselben Mann schlafen, und trotzdem muss Juliette sich beherrschen, um sich nicht anmerken zu lassen, dass sie die Bemerkung verletzt. Ein Problem für ihre Freundschaft gäbe es erst, wenn sie sich in denselben Mann verlieben würden. Juliette hat sich geschworen, sich nicht auf den gut aussehenden Mann aus Tripolis einzulassen, der vor drei Wochen Lydias Zimmer übernommen hat, nachdem sie nach Graz zurückkehrt ist, und trotzdem mit ihm geschlafen. Seine Haut ist olivfarben, seine schwarzen Haare sind widerspenstig wie Stahlwolle, seine Lippen weich und voll, er ist ein rücksichtsvoller und zärtlicher Liebhaber, was sie anstachelte, sich umso wilder und leidenschaftlicher zu verhalten, als verlange der Liebesakt mit ihr nach Gewalt. Wann hat sie das letzte Mal einen Männerkörper ohne Tattoo und mit unrasiertem Intimbereich gesehen? ›Mach ich es richtig‹, hat Hisham immer wieder leise gefragt, während er sich vorsichtig in ihr bewegte. Junge Männer sind in der Regel leicht zu manipulieren, einfach in die Richtung zu steuern, die ihr passt.
»Dafür zahlt er seine Miete pünktlich und kauft öfter ein als Lydia«, sagt Juliette ruhig.
Lydia war unordentlich und chaotisch, ihr Zimmer schmutzig und zugemüllt wie die Behausung eines Messis. Jetzt ist es penibel aufgeräumt und wirkt unpersönlich wie ein unbewohntes Hotelzimmer. Das Zimmer erzählt wenig über Hisham, findet Juliette, oder ist sie blind für Zeichen und Hinweise, weil er aus einer anderen Kultur stammt und andere, ihr unbekannte Signale setzt? Sein Tenorsaxofon, eine SA-80-Black-Edition, ist so teuer wie das Korg-Keyboard, auf dem Hisham selten spielt. Er hat allein in einer schicken Maisonettewohnung im Zürcher Seefeld gewohnt und ist nur zu ihnen nach Winterthur gezogen, weil er sich an der Jazzschule isoliert fühlt und darauf hofft, endlich in einem der zahlreichen Projekte mitspielen zu dürfen. Hat er nie daran gedacht, dass ihn keiner in seiner Band haben will, weil er zwar ein technisch guter Saxofonist ist, aber kalt und ohne Feeling spielt? Neben seinem Futon steht eine Zimmerbanane, die einen erdig-buttrigen Geruch verströmt.
Juliette tritt ans Spülbecken, dreht den Kaltwasserhahn auf und trinkt aus der hohlen Hand. Die bodenlose Angst fällt ihr ein, die sie empfand, als Ayse die Aufnahmeprüfung zur Schauspielschule nicht bestand und mehrere Wochen niedergeschlagen war, eine Angst, die ihr vor Augen führte, dass sie ebenfalls scheitern könnte.
»Hast du wirklich mit Arbenz geschlafen?«
»Ach komm, Aysi!«
»Er ist doch bestimmt sechzig!«
»Arbenz ist fünfundfünfzig!«
Ayse grinst und fährt sich zärtlich durch die Haare. Um ihre dichten gewellten Haare hat Juliette ihre Freundin immer beneidet und findet es daneben, wenn Ayse sich über eben diese Haare beschwert, was sie sehr häufig tut, vielleicht, um Komplimente zu bekommen.
»Musst du nicht arbeiten?«
»Mittwoch hab ich frei. Und du? Kein Unterricht?«
»Die Flury findet, ich soll diese Woche zu Hause bleiben.«
»Du bist suspendiert?«
»Suspendiert? Ich glaub nicht, nein. Meinst du?«
»Ist er nicht dein Lehrer?«, fragt Ayse, zieht beide Knie an die Brust und legt ihre Hände über die Kniekappen, als wolle sie sie schützen.
»Nur in der Rhythmik.«
»Wolltest du mit ihm schlafen? Oder hat er …«
»Hallo!« unterbricht Juliette Ayse.
Sie nimmt die Caffettiera aus dem Schrank, füllt Wasser in das Fußteil, löffelt Kaffee in den Filter, schraubt sie zu und stellt sie auf den Herd. Das Fauchen des ausströmenden Gases löst wie üblich einen wohligen Schauer aus, den sie sich nicht erklären kann, aber genießt, weshalb sie das brennende Streichholz nie sofort an den Ring aus Eisen hält, um das Gas zu entzünden, obwohl ihr auch der Anblick des blauen Feuerrings gefällt, der sich flackernd aufbaut.
»Die Seuche aus China macht mir Angst, Aysi. Dir nicht?«
»Es ist keine Seuche, sondern ein Virus. Die WHO hat es jedenfalls zur Pandemie erklärt. Im Tessin sind die Grenzen dicht. Kopfweh?«
»Du nicht?«
Ayse zuckt mit den Schultern. Zu Freundinnen wurden sie im vorletzten Jahr des Gymnasiums, als Ayse sich weigerte, Rainer Maria Rilkes Gedicht Leda auswendig zu lernen, weil es sexistisch sei, und Juliette sich mit ihr verbündete, ohne wirklich zu verstehen, dass Rilkes Gedicht vom griechischen Gott Zeus handelt, der mit Leda schlafen will und sich, da Leda sein Verlangen nicht teilt, in einen Schwan verwandelt und sie vergewaltigt. Was der Vers ›halsend durch die immer schwächre Hand‹ bedeutete, verstand auch Ayse nicht. Ihre Weigerung entfachte in den sozialen Medien einen Sturm der Entrüstung, wurde von Zeitungen und einem Lokalradio verbreitet und sorgte letztlich für die Entlassung des Lehrers, der sich an einem im Tumult endenden Elternabend weigerte, Rilkes Gedicht als sexistisch zu betrachten, und es vortrug, ohne sich durch Buhrufe beirren zu lassen. Der Aufstand, den Juliette und Ayse nur zwei Monate später im Fach Bildnerisches Gestalten anzetteln wollten, indem sie protestierten, das Gemälde Reflective Flesh der britischen Künstlerin Jenny Saville zeige die Frau als pornografisches Objekt, verlief im Sand, schweißte sie aber, ebenso wie der Entschluss, das Gymnasium abzubrechen, noch stärker zusammen.
»Habt ihr schon länger was?«
»Wir haben uns zwei Mal gesehen.«
»Hat er keine Frau?«
»Weiß nicht!«
»Verheiratet?«
»Aysi! Bitte!«
»Ist er in dich verliebt?«
»Ach komm!«
»Und du? Verliebt?«
»In einen Lehrer? Nimmst du auch einen?«, fragt Juliette und deutet auf die Caffettiera, die leise blubbert.
Ayse nickt gähnend; der Lack am Nagel ihres großen rechten Zehs ist abgeblättert, über den Spann ihres Fußes läuft ein roter Strich, als hätte sie sich verletzt.
»Was hast du heute vor?«
»Ich treff mich später mit Sebastian.«
»Hast du nicht gesagt, das ist vorbei?«
»Wir sehen uns, o.k.? Mehr nicht.«
»Wegen Hisham haben wir aber keinen Stress, o.k.?«, fragt Ayse.
»Ich glaub eher nicht, dass er der Typ für eine offene Beziehung ist.«
»Das sind Typen selten.«
»Komisch! Regieren die Welt, haben aber keine Ahnung, wie man Spaß hat. Wird Zeit, dass wir Mädels an den Drücker kommen.«
»Sind wir doch«, sagt Ayse und steht auf.
»Ein Typ, der kein Teufel ist, ist ein Langweiler!«
»Richtig! Engel sind wir schließlich selber.«
Juliette nickt erst nach einer theatralisch langen Pause, die sie genießt, dann fallen sie sich lachend in die Arme und drehen sich im Kreis, bis Juliettes Handy eine eingegangene Nachricht anzeigt und sie sich blitzschnell voneinander lösen.
Die WhatsApp ist von Juliettes älterem Bruder Claudio, sie hat nicht das Bedürfnis, sie zu lesen, er wird sie mit Fragen bedrängen, vielleicht auch beschimpfen.
»Ärger?«
Ayse isst ein weiteres Knäckebrot, stapelt leere Aluschälchen ineinander und massiert sich den rechten Fuß.
»Claudio. Unwichtig.«
Juliette hasst WG-Tage, an denen sie wenig geschlafen hat, wünscht sich, sie würde noch zu Hause wohnen und von ihrer Mutter Edith verwöhnt werden, stattdessen muss sie endlich ihre Wäsche erledigen.
»Sieht er eure Mutter öfter als du?«
»Claudio?«
Ayse nickt, zündet sich eine Zigarette an und zieht so heftig daran, dass der Tabak knistert. In vielen Nächten steht der Rauch in ihrer Küche so dicht, dass Juliette sich vornimmt, mit dem Rauchen aufzuhören, obwohl sie genau weiß, dass sie das nicht tun wird, noch nicht. Sie gefällt sich mit einer Zigarette in der Hand oder zwischen den geschminkten Lippen, liebt es, sie anzuzünden, den Rauch leise stöhnend zu inhalieren und die Augen zuzukneifen, während sie ihn genüsslich aus den Nasenlöchern strömen lässt.
»Wohnt noch zu Hause. Hab ich dir aber erzählt.«
»Wie alt ist er? Älter als du, oder?«
»Ja. Dreiundzwanzig.«
»Mein Bruder ist fünfundzwanzig und wohnt auch noch zu Hause. Fatih kann sich einfach nicht von der Kindheit verabschieden.«
Juliettes Reich der Kindheit liegt im Burgund, in Lucenay-l’Evêque, dem Geburtsort ihres Vaters Vincent, und im Weiler Usseau, wo der Hof ihrer Tante Fabienne und ihres Onkels Yves stand, der mit den blauen Läden am Ende des Ligusterwegs. In Lucenay-l’Evêque kaufte ihr Vater nach der Scheidung vor fünf Jahren das Hotel La Belle Etoile, das er mit seiner neuen Partnerin Claire führt. Der Himmel im Burgund ist höher, weiter, das Licht heller, die Sonne heißer, die Luft süß wie im Paradies, dachte sie, als sie noch an Gott glaubte, das Reich, in dem sie sich den Hintern mit Zeitungspapier abwischte, das die Finger schwarz färbte, das Paradies, in dem sie mit Tieren und Pflanzen redete, Eier aus dem Hühnerstall holte, Wasser aus dem Brunnen trank, Bett und Kissen nach Lavendel dufteten, Hunde nächtelang heulten, Blitze in Bäume schlugen und in Brand setzten, die Erde nach Gewittern dampfte, Fledermäuse durch die Dunkelheit segelten, Esel mit ihren kuschelweichen Ohren wackelten, der Regen warm und weich war und jedes Essen ein Fest, selbst wenn es nur aus einem Kanten Brot und einem Stück Époisses bestand. Und doch ist sie hier in Winterthur zu Hause, hier besucht sie die Jazzschule, spielt in Bands, hier hat sie ihre Freundinnen und Freunde, ihr Leben.
»Hast du mit Hisham geschlafen, Ayse?«
»Und du?«
»Hast du?«
»Er gehört dir nicht, Julie.«
»Dir auch nicht. Frauen, die sich amüsieren, machen ihm Angst.«
»Das gilt für die meisten Männer.«
Juliette hat die starke beruhigende Empfindung, sich in der Sicherheit ihres eigenen jungen Körpers zu befinden, in ihrer eigenen Obhut, und unverletzlich zu sein.
»Es gefällt ihm nicht, dass er schwach ist«, sagt sie.
»Deinem Lehrer?«
»Gleichzeitig will er nicht von einer Frau dominiert werden.«
»Der Lehrer?«
»Hisham!«
»Ich hab mich nie für etwas wirklich angestrengt. Furchtbar, nicht?«
»Doch. Hast du, Aysi. Es hat leider nur nicht geklappt. Aber du hast dich angestrengt.«
»Hast du den ersten Schritt gemacht?«
Juliette nickt, ohne nachzufragen, ob Ayse von Hisham oder von Arbenz redet. Sie hat in beiden Fällen die Initiative ergriffen, berauscht vom Gefühl der Macht.
»Hilflosigkeit ist ebenfalls ein Instrument, um Macht auszuüben«, sagt Ayse, als könnte sie ihre Gedanken lesen.
Auf das Gesicht, stolz, am Leben, unnahbar und teuflisch schön, das Ayse aufsetzte, wenn sie Verse von Sylvia Plath vortrug, die zum Vorsprechen für die Schauspielprüfung gehörten, war Juliette neidisch: ›Ich hole tief Luft und lausche dem Prahlen meines Herzens.‹ Prahlen meines Herzens! Die Wendung hatte ein Kitzeln in Juliette ausgelöst, als würde etwas aus ihr herausbrechen wollen, ein berauschendes, gleichzeitig aber auch beängstigendes Ziehen, wie vor einer Flugreise oder einer Prüfung, auf die sie ungenügend vorbereitet war. Soll sie Ayse erzählen, wie unbehaglich sie sich gefühlt hat, als Hisham in sie eindrang und sich viel zu sorgsam in ihr hin- und herbewegte? Soll sie ihr von ihrer verzweifelten Wut erzählen, die dadurch ausgelöst wurde, ihrer Gier, die sie so lange gespielt hat, bis sie sie beinahe empfand? Ayse nimmt das Gummi, das sie ums Handgelenk trägt, fasst ihren Haarschwall im Nacken und bindet ihn zum straffen Pferdeschwanz, ohne Juliette aus den Augen zu lassen.
»Unsere eigenen Erwartungen sind das Problem, Julie. Ich bin keine Schauspielerin, ganz einfach. Ich wollte unbedingt eine sein, aber ich bin’s nicht.«
Ayse drückt ihr lächelnd einen Kuss auf die Wange, hält die Zigarette in den Wasserstrahl, lässt die Kippe ins Spülbecken fallen und geht aus der Küche. Nach kurzem Zögern loggt sich Juliette bei Instagram ein, um sich die Fotos der Nutzer anzusehen, denen sie folgt. Die Bilder wecken weder ihr Interesse noch ihren Neid. Bald verliert sie die Lust und macht Fotos vom Durcheinander auf dem Tisch, experimentiert mit diversen Filtern und postet mit den Hashtags #Chaos, #Grlpwer und #Lonely schließlich eine Aufnahme, die geheimnisvoll wirkt, weil kaum etwas zu erkennen ist.
Die Gerüstbretter, die als federnde Brücken über den Bauschutt zum Eingang des Tauchers führen, sind genarbt von Zement- oder Betonspritzern, was Casper durch die Sohlen seiner Stiefel spürt. Er stößt die Tür auf, tritt in den Windfang, in dem es penetrant nach Rauch stinkt, und bleibt stehen. Die Berührung des bunten Plastikperlenvorhangs, der den kabuffartigen Windfang von der Gaststube trennt, gibt ihm wie jedes Mal einen Stich: In seiner Lieblingsbar in Kalabrien hängt auch so ein Vorhang in der Tür, durch die man von den Strandtischen unter den Strohschirmen, die im schwächsten Wind rascheln, in die Bar eintritt; er liebt es, aus der Sonne in den schummrigen Raum mit der aus Brettern zusammengezimmerten Theke zu treten, blind, bis die Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt haben, und umso empfänglicher für Fabrizio De André, die einzige Musik, die Piero, der Besitzer, auf seiner Anlage spielt. Jahrelang haben Bettina und er in Parghelia ein Hüttchen am Strand gemietet, eine halbe Stunde Fußmarsch von Tropea mit den zahllosen Bars und Restaurants und nie versiegenden Touristenströmen entfernt. Wird er es je schaffen, alleine nach Kalabrien zu reisen und Ferien an ihrem Strand zu verbringen?
Am Tresen sitzt ein Mann, den Casper schon mehrmals hier gesehen hat, aber nicht mit Namen kennt. Der Tisch zum Hinterzimmer ist wie üblich besetzt; Fendant-Rolf trinkt dort jeden Tag, bis Kiki ihm ein Taxi bestellt. Am Billardtisch im Hinterraum spielen Männer, die wahrscheinlich auf der Baustelle an der Bahntrasse arbeiten, die zurzeit ausgebaut wird; die blinkende elektronische Dartscheibe ist frei wie immer, seit Casper das heruntergewirtschaftete Lokal im früheren Industrieviertel besucht, obwohl der Taucher das Clublokal des lokalen Dartvereins ist, wie eine Tafel anzeigt. Er geht zum Tresen, lässt aber zwei Barhocker zwischen sich und dem Mann frei, der ihn misstrauisch mustert.
Die beiden leeren Schnapsgläschen, die vor dem Mann stehen, sind mit klebrigen Fingerabdrücken übersät. Die Metalllamellen der Lüftung in der fensterlosen Rückwand klappern vertraut, sonst ist es, abgesehen vom Klacken der Billardkugeln und den Kommentaren der spielenden Bauarbeiter, ruhig. Die Filterzigarette, die im Aschenbecher neben der Spüle klemmt, ist beinahe heruntergebrannt, also ist Kiki, die Wirtin da. Casper hört Stimmen hinter der angelehnten Küchentür, gleich darauf tritt Kiki in die Gaststube, eine brennende Zigarette im Mund.
»Schau an, schau an, der Herr Professor gibt sich die Ehre!«
Casper nickt vage, ohne auf die Provokation von Kiki einzugehen, die ohnehin abgelenkt ist, da sie die brennende Zigarette im Aschenbecher bemerkt hat. Die Falten, die auf ihrer Oberlippe erscheinen, als sie lacht, machen ihr Gesicht hart und unwirsch, fast böse.
»Werd ich langsam vergesslich, oder wie seh ich das? Aber zum Glück ist Rauchen gesund! Was trinkt der Herr?«
Casper bestellt ein Bier, der Mann neben ihm hebt sein Glas in die Höhe und winkt damit, ohne ein Wort zu sagen. An die Faustregel, vor 17 Uhr keinen Alkohol zu konsumieren, hat Casper sich meist gehalten; nur auf Tourneen kam es ab und zu vor, dass sie zum Mittagessen oder während endloser Fahrten zwischen den Auftrittsorten tranken. Während Kiki zapft, betastet sie gedankenverloren ihr dünnes goldenes Halskettchen. Sie trägt einen hellblauen Angorapulli mit tiefem Ausschnitt und schwarze, seitlich geschnürte Lederhosen, die Schnalle ihres Gürtels hat die Form eines Tigerkopfs. Der Lack, mit dem sie ihre hennarot gefärbten Haare auftoupiert hat, brennt in Caspers Augen.
»Bei dir duftet’s wieder mal wie im Himmel, Kikimaus«, sagt der Mann mit erstaunlich hoher Kinderstimme und wirft ihm einen kumpelhaften Blick zu.
Männliche Kameraderie ist Casper genauso zuwider wie Vorwürfe und vorschnelle Urteile, darum sieht er den Mann ungerührt an.
»Was weißt du denn vom Himmel, Salvo?«, fragt Kiki.
»Wo Kiki recht hat, hat Kiki recht. Lo stesso. Trotzdem. Meine Adriana riecht nicht so.«
»Na, bei dem Mann!«
Während Kiki schwungvoll erst zwei Bierfilze auf den Tresen wirft und dann die gezapften Biere daraufstellt, richten sich einzelne Fasern ihres Pullis statisch geladen knisternd auf, und Casper meint, den leichten Schlag in seiner Handfläche zu spüren, da er sich vorstellt, ihre Brüste zu berühren, die unnatürlich spitz vorstehen.
»Guck nicht so dreckig, Professor!«
Sie droht ihm mit erhobenem Zeigefinger, schüttelt den Kopf, nimmt ein Tonicfläschchen aus dem Kühlschrank, öffnet es und wirft den Kronkorken treffsicher in den Abfalleimer, gut drei Meter von ihr entfernt.
»Nicht schlecht, Frau Specht.«
Kiki gönnt Salvo keinen Blick, trinkt stattdessen mit gekräuselter Nase aus dem Fläschchen und rülpst mit abgewandtem Gesicht.
»Warum trägst du heute keine Ringe?«, will Salvo wissen, das Bierglas in der Hand.
»Darum«, sagt Kiki spitz und lächelt müde. »Ihr Männer braucht nicht alles zu wissen.«
»Wie geht es Adric?«
»Bin ich die Auskunft, Salvo? Frag ihn selber.«