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„Man sollte nur Dinge tun, die Eltern nicht verstehen.“
Der siebzehnjährige Patrick fliegt aus der Schweiz nach Irland. Er besucht Fiona, seine erste große Liebe, um mit ihr Silvester zu feiern. Fiona lebt mit ihrer Mutter, ihren Geschwistern und dem verhassten Onkel auf einem Schrottplatz. Schon am zweiten Tag verlangt sie von Patrick, mit ihm abzuhauen. Und so machen sie sich auf die Flucht durch ein Irland in der Krise. Schließlich landen sie in einem Abbruchhaus in Dublin. Dort hat ein charismatischer Mann eine Handvoll Jugendlicher um sich geschart. Patrick begreift, dass Fiona ein Geheimnis hütet und dass er sie retten will – falls er dazu in der Lage ist. Poetisch und voller Atmosphäre – Hansjörg Schertenleib schreibt von erster Liebe, Loyalität, Heimweh, das sich als Fernweh tarnt, und der Suche nach Wahrheit.
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Seitenzahl: 185
Hansjörg Schertenleib
Nachtschwimmer
Roman
ISBN 978-3-8412-0388-5
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Mai 2012
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Bei Aufbau Taschenbuch erstmals 2012 erschienen; Aufbau Taschenbuch ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
2001 unter dem Titel „Schattenparadies“ erschienen, vom Autor vollständig überarbeitet und mit einem neuen Titel versehen.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.
Umschlaggestaltung capa, Anke Fesel
unter Verwendung eines Motivs von Ralf Metzler/bobsairport
Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
www.aufbau-verlag.de
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Innentitel
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Impressum
DAS ZIMMER
4. Januar
DIE REISE
29. Dezember bis 3. Januar
1.
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DER WALD
4. Januar
You only see
what your eyes want to see.
Madonna
4. Januar
Der Raum ist klein und quadratisch. Sein Fenster geht auf eine Wiese hinaus, das Winterlicht ist viel zu grell. Zum Glück bin ich der Einzige, der wartet. Ich würde jetzt niemanden in meiner Nähe ertragen. Die Wände haben die Farbe von Eierschalen, der Teppich ist braun. Ich hasse Braun. Die Aquarelle, die über dem Sofa, der Kommode und zwischen den drei Türen hängen, sollte man verbrennen. Landschaften in fröhlichen Farben. Sensibel, warm, einfühlsam. Die Aquarelle würden mir auch in einer anderen Situation nicht gefallen. Wenn es mir besser ginge. Wenn ich nicht so schreckliche Angst hätte. Wenn ich wüsste, wie es Fiona geht.
Die Zeitschriften, die auf dem Tischchen ausgebreitet sind, habe ich alle durchgesehen. Aber ich kann mich nicht konzentrieren. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen, die Fotos gehen mir auf die Nerven. Sie lügen. Sie zeigen glückliche Menschen, die keine Probleme zu haben scheinen. Wie lange warte ich schon? Die Gardine ist gelb verfärbt, offenbar durfte man hier drin rauchen. Es riecht nach Medikamenten. Die Topfpflanze in der Ecke sieht aus wie die Topfpflanze in der Ecke im Wohnzimmer meiner Eltern: kümmerlich. Im Nebenzimmer klappert eine Schreibmaschine. Bis auf einen ungespitzten Bleistift, eine Kerze sowie ein Telefonbuch sind die zwei Schubladen der Kommode leer. Wer schreibt heute noch auf einer Schreibmaschine? Die Sekretärin des Arztes sieht aus wie meine Deutschlehrerin. Wenn sie den Kopf bewegt, blitzen ihre Brillengläser. Bevor sie etwas sagt, hüstelt sie. Ihr Blick ist vorwurfsvoll. Auf ihrem Schreibtisch liegt eine Banane. Sie trägt eine Bluse, die nicht einmal meine Mutter anziehen würde. Ich möchte sie gern beleidigen. Aber sie hilft uns. Mit Fiona ist sie freundlich gewesen, mich hat sie kaum beachtet. Bestimmt denkt sie, dass ich an der ganzen Sache schuld bin. Fiona ließ es sich gefallen, dass ihr die Sekretärin über die Haare strich.
Als Fiona und ich gestern Nacht in England in den Zug gestiegen sind, regnete es in Strömen. Um nicht aufzufallen, reisten wir getrennt über die Grenze. Danach suchten wir ein leeres Abteil. Die Stichwunde an meinem rechten Oberarm hatte wieder angefangen zu bluten. Der Arm war heiß, ich spürte den Herzschlag bis in die Fingerspitzen. Damit Fiona meinen Verband wechseln konnte, machten wir die Vorhänge zum Gang zu und löschten das Licht. Ich setzte mich unter eines der Leselämpchen. Später zogen wir die Sitze aus und legten uns hin. Ich hielt Fiona die ganze Nacht im Arm. Da wir nicht einschlafen konnten, starrten wir aus dem Fenster. Wir waren zu erschöpft, um zu reden. Außerdem hatten wir schon alles besprochen. Irgendwann ging der Regen in Schnee über. Im Gestöber sahen die vorbeifliegenden französischen Dörfer und Bahnhöfe aus wie in einem Fernsehprogramm mit schlechtem Empfang. Kurz vor der Schweizer Grenze setzte ich mich in einen anderen Wagen; vielleicht suchte man uns ja tatsächlich.
Hier hat es die ganze Nacht geschneit. Die Wiese vor dem Fenster ist unberührt, nicht eine Fußspur stört die dicke weiße Decke. Der Schnee glitzert in der Sonne, die flach über die Landschaft fällt. Ich könnte den Blick aus dem Zimmer auswendig zeichnen, so lange habe ich aus dem Fenster gestarrt. Im einzigen Baum, der auf der Wiese steht, hocken siebzehn Krähen. Es ist nicht einfach gewesen, sie zu zählen. Der Wald auf dem fernen Hügel ist ein schwarzer Fleck. Auf dem Parkplatz neben der Wiese stehen vier Autos. Nur das Dach von Kathleens rotem Toyota ist nicht mit Schnee bedeckt. Kathleen hat uns am Hauptbahnhof in Zürich abgeholt und gleich hierher gefahren. Fiona hat sich vom ersten Moment an mit meiner Patentante verstanden. Die beiden haben mich ausgeschlossen. Zuerst hat mich das beleidigt, aber dann habe ich begriffen, dass es mich entlastet.
Ich zähle bis hundert. Und beginne sofort wieder von vorn, weil es auch nichts hilft. Ich versuche mir vorzustellen, was Fiona durchmacht, sehe ihr blasses Gesicht vor mir, ihre lange Nase, die roten Haare. Sie ist zum ersten Mal in der Schweiz. Später werde ich ihr meine Lieblingsplätze zeigen und meinen besten Freund Jan vorstellen. Auch meine Eltern hat sie noch nicht kennengelernt. Meine Eltern haben keine Ahnung, dass wir in der Schweiz sind. Sie gehen davon aus, dass ihr Sohn immer noch in Irland vermisst wird, weil er zusammen mit seiner Freundin abgehauen ist.
Man sollte nur Dinge tun, die Eltern nicht verstehen.
Ich zähle erneut bis hundert. In meiner Vorstellung werden die Zahlen zu Monstern, die schweigend an mir vorbeiziehen. Ich bin müde. Wir haben seit zwei Tagen nichts Vernünftiges mehr gegessen, trotzdem hab ich keinen Hunger. Im Gegenteil: Sobald ich an Essen denke, wird mir schlecht. Der Arzt weiß nichts von der Stichwunde. Ich werde sie ihm später zeigen. Jetzt hat er Wichtigeres zu erledigen. Er hat winzige Hände, die aussehen, als würde er sie ununterbrochen waschen. Er ist mit Kathleen befreundet. Ich vertraue ihm. Wenn er nachdenkt, zuckt sein linkes Augenlid.
Ich habe Fiona bis vor das Zimmer am Ende des Flurs begleitet. Damit wir uns in Ruhe verabschieden konnten, haben sie uns einen Moment allein gelassen. Fiona hat nicht geweint. Sie wollte nicht, dass ich sie auf den Mund küsse. Sie hat meine Hand erst losgelassen, als die Tür des Behandlungszimmers von innen geöffnet wurde. Die Wände des Zimmers sind blau. Kathleen hat Fiona in den Arm genommen und begleitet. Ich musste draußen bleiben. Fiona hat sich noch einmal umgedreht und mir zugelächelt. Dann ist die Tür ins Schloss gefallen, und ich habe mich in den Warteraum gesetzt.
Die Zeit ist stehen geblieben, schon vor Stunden.
Ich sehe genau vor mir, wie das Behandlungszimmer ausgestattet ist: Jeden Gegenstand sehe ich vor mir, alle medizinischen Geräte, jede Maschine, jedes Möbel, alles. Nein, ich sitze nicht allein im Warteraum, ich knie neben Fiona, halte ihre Hand und wische ihr den Schweiß von der Stirn. Auch wenn ich unsichtbar bin und mich niemand sehen kann, nur Fiona. Sie kann mich sehen.
Sie weiß, dass ich in Gedanken bei ihr bin, denn das ist meine einzige Chance, mich daran zu erinnern, wie es so weit gekommen ist, dass Fiona jetzt in diesem Zimmer liegt.
29. Dezember bis 3. Januar
Die Propellermaschine rollte direkt auf das Gebäude zu und drehte erst im letzten Augenblick ab. Der linke Flügel berührte beinahe die Scheibe der Flughafenbar; es sah aus, als schramme er am Glas entlang und schneide das Gebäude auf wie eine Konservendose.
»Da staunen die Scheißer«, sagte der Pfarrer, der neben mir saß.
Er deutete grinsend aus dem Fensterchen: Die Leute, die in der Bar auf die Maschine aus Dublin gewartet hatten, wichen tatsächlich erschrocken zurück.
»Angsthasen«, sagte er, »hattest du schöne Weihnachten?«
»Geht so«, sagte ich.
»Ja oder nein?«
»Ja«, log ich, »toll.«
Sollte ich ihm etwa erzählen, dass sich mein Vater und sein Schwiegervater schon während dem Weihnachtsessen in die Haare geraten waren? Dass mein Vater wutentbrannt die Balkontüre aufgerissen hatte, weil er den Weihnachtsbaum mit den brennenden Kerzen aus dem dritten Stock werfen wollte?
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