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Ein kleines Cottage auf einer Insel vor der Ostküste Amerikas, mitten im Winter, in der Stille. Ein Mann schaufelt Schnee, redet mit seiner Katze, beobachtet Vögel, genießt die Langeweile und zieht Bilanz über sein bisheriges Leben und Schaffen. Später macht er sich auf den Weg durch den tief verschneiten Wald zu der Kiefer, in deren Krone er einen Ausguck hat: die Welt zu schauen, die Natur, sich selbst. "Mit wem reden wir, wenn wir allein sind? Mit uns selbst, wenn wir es können." Hansjörg Schertenleib erzählt von den Segnungen der Stille, selbst gewählter Einsamkeit und von der Liebe, der Liebe zu den Tieren, zur Natur – und zu den Büchern. Eindringlich, wahrhaftig und schwebend leicht.
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Seitenzahl: 157
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Hansjörg Schertenleib
Palast der Stille
Gatsby
»Fern der Schnee des Vergessens, sorglos, traumgleich,
frei wie die Kindheit, wenn Winter die Erde in Weiß windet.
Wenn der Großfürst nachmittags mit uns Schlitten fährt
und wir in den Bergen uns fürchten.«
T.S. Eliot, Neuengland
To Brigitte.
Love, life, wife.
Er steht mit seiner Frau an der Stelle, an der Henry David Thoreau die Blockhütte baute, die er am 4. Juli 1845 bezog, um zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in Einsamkeit und doch in der Nähe der Gesellschaft zu verbringen. Thoreaus tatsächliche Blockhütte existiert nicht mehr; eine Steinplatte markiert den Ort, an dem sie mitten im Wald oberhalb des Sees stand. Die Replika der Blockhütte haben sie übersehen, als sie mit dem Mietwagen auf den weitläufigen Parkplatz am Walden Pond gefahren sind. Der junge Mann, den er nach der Hütte fragte, schüttelte ungläubig den Kopf: »Sie sind grade dran vorbeigefahren!«
Nachdem es ihnen gelungen war, sich aus dem Strom der Frauen, Männer und Kinder zu lösen, die mit Klappsesseln, Kühltaschen und Sonnenschirmen zum Walden Pond unterwegs waren, hatten sie die Replika am Rand des Parkfeldes betreten. Hat seine Frau die Sehnsucht gesehen, die der Anblick des kleinen Raumes und der einfachen Möbel – Tisch, Bett, Stuhl – bei ihm auslöste? Er will nicht alles und jeden nur mehr mit Ekel betrachten können, es macht ihn ungerecht, bitter und böse. Er will nicht länger effizient sein, strebsam, zwanghaft optimistisch und erfolgsorientiert, will nicht länger eingeschätzt und beurteilt werden, will nicht länger freundlich sein, um einen Frieden zu bewahren, dem er nicht mehr traut. Das Kriegsbeil der Meinungen hat er für immer begraben, wie er hofft. Er ist in seinem sechzigsten Jahr, und er sinkt, sinkt. Bleibt er in der Schweiz, geht er unter.
Er ist am Ende.
Ich bin am Ende.
Also stehe ich am Anfang.
Das Blätterdach der mächtigen Bäume hält das Sonnenlicht zurück und sorgt dafür, dass sie sich in dem hohen grünen Gewölbe fühlen wie unter einer Glasglocke. Sie sind allein an Thoreaus Gedenkstätte, müde vom Spaziergang in der Hitze. Es riecht nach Harz und Seewasser, das seit Tagen von der Sonne aufgeheizt wird, und es riecht nach Erde, obwohl es lange nicht mehr geregnet hat. Es soll erneut 34 Grad werden, wie ihnen die Besitzerin des Hawthorne-Inn versicherte, dem Bed and Breakfast in Concord, in dem sie auch die letzte Nacht vor dem Rückflug nach Zürich verbringen werden. Die Luft steht reglos zwischen den Stämmen, alle Vögel sind verstummt. Nicht einmal der Wind, der gelegentlich entschieden in die Kronen greift und sie in Unruhe versetzt, verschafft Linderung. Das Kreischen badender Kinder ist weit entfernt, als befände sich der Waldsee in einer anderen Welt denn die Gedenkstätte. Aus der dunklen Tiefe des Sees, getroffen von der Sonne, steigt Licht auf.
Soll er seiner Frau von der Szene aus Thoreaus Journalen erzählen, an die er sich erinnert, während er an der Rinde einer Birke zupft, die sich in der Dürre wie die Haut einer Schlange abgeschält hat? Willst du einen Honigbaum finden, schreibt Thoreau, sollst du eine Biene fangen, deren Beine mit Blütenstaub beladen sind, die also zum Heimflug bereit ist. Die Biene, die du fängst, indem du ein Glas über sie hältst und mit einem Stück Pappe verschließt, trägst du zu einem offenen, mit Vorteil höher gelegenen Platz, lässt sie frei, beobachtest genau, wohin sie fliegt, und läufst zur Stelle, an der du sie zuletzt gesehen hast. Dort wartest du geduldig auf die nächste Biene, fängst sie, lässt sie frei und folgst ihr mit Blicken. Biene um Biene, schreibt er, wird dich schließlich zum Honigbaum führen.
Seine Frau sieht einer Chickadee-Meise nach, Maines Staatsvogel, die über einen Schwertfarn jagt, und er behält Thoreaus Rat für sich. Am Silberstamm einer Weißbuche arbeitet ein Specht emsig hämmernd daran, zu seiner Nahrung zu kommen.
»Im 18. Jahrhundert hielt es die englische Oberschicht für schick, sich auf ihren Anwesen einen Eremiten zu halten«, sagt seine Frau, »lächerlich, findest du nicht auch?«
»Lächerlich, doch. Aber Thoreau war kein Eremit.«
»Schmuckeremiten, die sich mit Tieren auskannten, Gäste begrüßten, weise Ratschläge erteilten, meist für sieben Jahre verpflichtet und täglich mit einer Mahlzeit verköstigt wurden. Klingt nach Zirkus.«
»Und nach Theater. Thoreau hat übrigens oft bei Freunden in Concord gegessen.«
»Bei seiner Mutter«, ergänzt seine Frau lächelnd, »hat er auch gegessen.«
Später wollen sie Concords Friedhof Sleepy Hollow besuchen, der sich über mehrere bewaldete Hügel hinzieht, weil sie die Grabstätten des Denkers und früheren Pastors Ralph Waldo Emerson, des Bostoner Stadtmenschen und späteren Landkommunenmitglieds Nathaniel Hawthorne und des Wanderers und Kanufahrers Henry David Thoreau sehen möchten, doch noch schaffen sie es nicht, den stillen grünen Raum über dem See zu verlassen. Wundern werden sie sich über den separaten Grabstein, den die weitverzweigte Thoreau-Familie ihrem früh verstorbenen Henry David gewährte, klein wie für ein Kind, bis auf seinen ersten Vornamen leer, und danach werden sie langsam und schweigsam im letzten Tageslicht in die Kleinstadt Concord zurückfahren. Jetzt aber verharren sie neben der Steinplatte, und ein Stück vor ihnen ist es, als stünde eine Tür offen, durch die Licht in den Wald flutet.
»Ich weiß, dass du wegmusst«, sagt seine Frau schließlich.
Hoch über ihren Köpfen fliehen zwei Streifenhörnchen über schwankende Aststege von Baum zu Baum, auf dem Waldboden, hart geworden in der langen Trockenheit, liegen Kiefernzapfen, die sein österreichischer Onkel Leopold Kienäpfel nannte, ihre ausgedörrten Schuppenschilder aufgesperrt wie hungrige Vogelmäuler.
»Weg«, sagt er, »was heißt schon weg. Und du?«
»Nicht so dringend wie du.«
»Wir können uns das Cottage in Maine doch gar nicht leisten.«
»Nein«, sagt sie, »aber wir kaufen es trotzdem. Finde ich.«
Sonst gehe ich ein.
Sonst geht er ein.
Das Cottage steht vier Autostunden nördlich von Boston auf Spruce Head Island in Maine, einer kleinen Insel, die durch eine Brücke mit dem Festland verbunden ist. Wir haben Spruce Head Island auf einer Erkundungsfahrt von South Bristol aus entdeckt, wo wir den Sommer in einem Feriencottage an der Küste von Maine verbrachten, umgetrieben vom unrealistischen, aber unbändigen Wunsch, in den USA zu bleiben und zu leben, zumindest für einen Teil des Jahres. Dass ausgerechnet das Cottage auf Spruce Head Island zum Verkauf steht, deuten wir als Zeichen. Seine Rückseite mit den hellblau gestrichenen Fensterläden grenzt an Kiefern, Hemlocktannen, Fichten und Birken, von seiner gedeckten Veranda auf der Vorderseite geht der Blick über das Becken von Seal Harbor, in dem Lobsterboote vor Anker liegen. Begrenzt wird der Hafen von den Inseln Whitehead und Norton, deren bewaldete Umrisse bei gewissen Lichtverhältnissen wie Trugbilder aus dem Atlantik aufsteigen, wie er bald lernen wird, und doch gibt es sie. Dahinter liegt der offene Atlantik.
Das Cottage misst 57 Quadratmeter, Wohnküche, Schlafzimmer, Bad. Das erste Mal, seit er vor achtunddreißig Jahren mit Schreiben angefangen hat, wird er kein Arbeitszimmer haben, welche Erleichterung.
Er ist bereit, erneut ein anderer zu werden.
Ein Arbeitszimmer brauche ich nicht unbedingt, aber einen Tisch, an dem ich schreiben kann, brauche ich. Um stehend zu arbeiten, ich denke an Henry David Thoreaus Stehpult, bin ich zu müde, zu erschöpft.
Er bückt sich, sein Bündel aufzuheben. Der Pfad, auf dem er geht, führt durch einen Birkenstand zum Fluss hinab. Flache Holzboote treiben auf dem Wasser, sieben, neun Boote, in denen Frauen mit ihren Hunden sitzen. Den Zweig, den er in den Fluss tauchen wird, hat er aus einem Busch am Dorfrand gebrochen; er liegt ihm in der Hand wie ein Pfeil, den er auf die Reise schicken könnte. Der Pfad ist steil, die Erde aufgeweicht vom Regen, der im Morgengrauen mit vorsichtigem Rauschen niederging. Die Steine, die am Ufer des Flusses liegen, funkeln in der Sonne. Er geht in die Knie, legt sein Bündel nieder und taucht beide Hände ins Wasser, den Kopf im Nacken, nicht länger jung, aber noch nicht wirklich alt, und am Leben, da erwache ich.
Er erwacht.
Ich erwache.
Der Fluss fließt träge und langsam mitten durchs Schlafzimmer, das mir auch im dritten Winter hier in Maine manchmal fremd ist. Wie klein es ist, wie behaglich. Haben die Hunde der Frauen in den Booten angeschlagen, weil sie mich am Ufer des Flusses bemerkten? Katze Smilla liegt neben mir und schläft. Ich besitze seit über dreißig Jahren keine Armbanduhr; als ich nach dem Wecker mit den lindgrün phosphoreszierenden Ziffern auf dem Nachttischchen greifen will, verstehe ich, weshalb ich erwacht bin: Es ist still, beruhigend still. Der Wind hat sich endlich gelegt. 4 Uhr 23. Ist der Blizzard vorüber? Der Schneesturm hat dreiundzwanzig Stunden angedauert. Angekündigt hatte sich der Wetterumschwung durch ein Seufzen des Windes, das zum Stöhnen und Sausen wurde und sich schließlich zum Brandungsdonnern steigerte. Fichten, Kiefern und Tannen nickten, Birken wankten; Stämme krachten im strengen Frost wie Gewehrschüsse. Die Temperatur war innert Minuten von – 6 auf – 14 gefallen. Nun ist der Blizzard also vorbei. Es ist still.
Im Schutz der Nacht klingt das Meer näher, gewaltiger. Dunkelheit ordnet die Welt neu, macht die Stille umfassender. In manchen Winternächten ist es in Maine so still, als wäre alles vorbei, alles ausgestanden. Es gibt die Natur, aber nicht den Menschen, so groß ist die Stille, in der sich Hirsche, Schneehasen, Rehe und andere scheue Tiere zeigen, die uns meiden. Diese Stille anzunehmen, in der man Dinge denkt, die einem sonst nicht einfallen wollen und in der jeder Laut an Bedeutung gewinnt, ist eine Herausforderung: Das Bellen eines Hundes wird zum Hilferuf, das Rauschen des Atlantiks zur Begrüßungsmelodie, der Schrei eines Vogels zur Warnung. In den ersten Monaten auf der Insel verdrehte die Dunkelheit die Richtung der Geräusche, ich verlor die Orientierung. Töne trieben losgelöst von ihrer Quelle durch die Nacht und narrten mich, den Neuankömmling. An diese Verdrehung der Ordnung habe ich mich gewöhnt, sie täuscht mich nicht länger; ich verstehe, wie ein Geräusch übers Wasser ans Ufer getragen wird, wie die tiefe Kammer des Waldes es schluckt und abtötet und wie die Felswände des aufgelassenen Steinbruchs es als Arena mit ausgeklügelter Akustik hin- und herwerfen und nach einer Weile als Echo zurückgeben.
Lärm ist toxisch für uns Menschen, wir können ihn nicht ignorieren, unser Körper ist beschaffen, darauf zu reagieren: Schallwellen versetzen die drei winzigen Gehörknöchelchen in unserem Mittelohr mit den sprechenden Namen Hammer, Amboss und Steigbügel in Schwingungen, die als elektrische Impulse ins Hörzentrum unseres Gehirns schießen. Diese Attacke wehrt unser Körper ab, auch im Schlaf, indem er Stresshormone ausschüttet, was den Blutdruck nach oben treibt und das Risiko von Herz- und Gefäßerkrankungen erhöht. Wie Neurologen mithilfe des Kernspintomographen herausfanden, kommt die Aktivität der Großhirnrinde, in der sich das Hörzentrum befindet, in Stillephasen nahezu zum Erliegen, wohingegen tiefer liegende Hirnregionen aktiviert werden. Regionen, zu denen Menschen, die ein lärmerfülltes Leben führen, kaum Zugang erhalten, Regionen, die offenbar einen tieferen Grad des Denkens ermöglichen.
Der Vikar, der Religionskunde unterrichtete, die ich als katholischer Junge besuchen musste, las aus dem ersten Buch der Könige und erklärte uns, wie Gott sich Elia zeigte, indem er erst einen Orkan aufziehen ließ, danach ein Erdbeben herbeiführte und schließlich eine Feuersbrunst entfachte. Gott aber sei nichts von alledem, flüsterte der Vikar, ein Männlein mit Fistelstimme, Gott war weder Orkan noch Erdbeben, noch Feuersbrunst, nein, Gott kam danach, als ein »stilles, ein sanftes Sausen«. »Heißt das«, fragte ich entgeistert, »Gott ist die Stille?« »Genau das heißt es!« Damit hatte er mich auf seiner Seite, der Vikar.
Thomas Edison war taub, als er den Phonographen erfand, den Vorgänger des Plattenspielers. Um die Musik oder vielmehr die Vibrationen der Musik hören, nein, spüren zu können, biss Edison ins Holz seines Apparates. Er hörte mit dem Kiefer.
Ich trete ans Fenster, das nach Osten in unseren Garten hinausgeht, aber da ich tagsüber Kontaktlinsen trage, kann ich nicht erkennen, wie viel Schnee gefallen ist. Das Thermometer, das ich vor diesem Fenster angeschraubt habe, zeigt – 17 Grad an. Gestalt und Topographie unseres Gartens sind verändert: Zwei hohe Schneedünen schieben sich von verschiedenen Richtungen auf das Gelände; für meine kurzsichtigen Augen hat die Stelle, an der die Kammlinien aufeinandertreffen, die Form der Sichel, mit der Onkel Leopold das Gras um das Geviert Brennnesseln schnitt, in dem sein Birnbaum stand. Von den Staketen des Holzzaunes sind nur die Spitzen zu erkennen, dunkle Punkte, die über den Schnee laufen und das Gelände trennen. Später, wenn ich die Kontaktlinsen eingesetzt habe, werde ich sehen, dass der Schnee über einen Meter hoch liegt; die Veranda ist bis unter das mit Brettern verschalte, hüfthohe Geländer mit Schnee gefüllt, die kurze Holztreppe in den Garten nicht länger zu erkennen. Über die Veranda werde ich das Cottage nicht verlassen können. Die Erinnerung, in meiner Kindheit seien in Österreich Straßen und Wege von meterhohen Schneewänden gesäumt gewesen, habe ich die letzten Jahre als kindliche Phantasie abgetan; nach diesem Blizzard weiß ich es besser. Die Schneepflüge, welche die Straßen in der Nacht räumten, ohne dass ich es bemerkte, haben hohe Schneewälle zusammengeschoben und mich buchstäblich eingemauert. Ich werde mich freischaufeln müssen.
Das Meer hat die Farbe von nassem Zement, auch das werde ich erst mit den Kontaktlinsen erkennen. Jetzt stehe ich kurzsichtig am Fenster, als halte ich Wache, unsicher auf den Beinen, weil ich den Transatlantikflug wie üblich nicht aus den Knochen bringe, und lausche dem Klatschen schwerer lederner Schwingen, dem unmissverständlichen Geräusch der Einsamkeit, das mir schon lange keine Angst mehr macht. Der Wunsch, allein zu sein, kann genetisch veranlagt sein und ist, wie Biologen herausfanden, messbar: Ist der Oxytocinanteil im Hormonspiegel tief, der von Vasopressin dagegen hoch, kann dies den Wunsch nach menschlicher Zuwendung unterdrücken. Die Dachbalken knarzen in der Kälte, die Innenseite der Fensterscheibe ist mit einer Eisschicht bedeckt, die unter der Berührung meiner Finger knistert. Im Elternhaus meiner Mutter Romana, in dem in meiner Kindheit ihre Schwester Fanny und deren zweiter Mann Leopold lebten, der erste war in Russland gefallen, blühten in den Winterferien Eisblumen auf der Scheibe unseres Schlafzimmerfensters, fragile Gebilde, die meine Schwestern Sonja und Monika und ich mit den Fingernägeln umkratzten.
In meinem Alter löst nahezu alles, was ich sehe, höre, rieche, was ich erlebe, eine Erinnerung aus. Ich habe es aufgegeben, mich dagegen zu wehren. Was soll es ändern oder gar helfen, die Gegenwart nicht mit der Vergangenheit abzugleichen und beides gegeneinander abzuwägen?
Und die Zukunft?
An die Zukunft denke ich nicht mehr.
Ich habe sogar aufgehört, mich deswegen zu wundern.
Das Reich der Wehmut, die Vergangenheit, ist mir wichtiger denn der Ort der Sehnsucht, die Zukunft.
Die Uhr über dem Herd zeigt 8 Uhr 40, das Thermometer vor dem Fenster über der Spüle – 13 Grad. Das blaue Licht der Dämmerung verfremdet Distanzen, macht die Welt klein. Katze Smilla sitzt auf dem Tisch und frisst die Reste meines Frühstücks aus meinem Teller, Porridge mit Ahornsirup, wobei sie aufmerksam beobachtet, wie ich das Putztürchen des Eisenofens öffne, eine zusammengeknüllte Zeitungsseite ins Aschefach stopfe und anzünde, um den Propf kalter Luft durchs Ofenrohr zu jagen, damit kein Rauch ins Zimmer drückt. Eine der Vogelfedern, die meine Frau zwischen den Rahmen der Küchentür und die Wand gesteckt hat, ist zu Boden gefallen; wahrscheinlich hat Smilla sich damit beschäftigt. Im September hatten sich Sperlinge, Spottdrosseln und Tauben gemausert, und wir hatten Dutzende abgeworfener Schwungfedern sowie kiellose Daunen aufgesammelt. Die Küchentür trägt einen Kopfputz wie ein Häuptling.
Als das Feuer zieht, lege ich trockene Birkenscheite in die Feuerkammer, rücke den Schaukelstuhl, auf dem Smilla tagsüber am liebsten schläft, dicht vor den Ofen und schließe den Schieber. Ich muss Anfeuerspäne schlagen und Brennholz aus der Garage holen.
Wie viele Notizbücher hat er in den vergangenen achtunddreißig Jahren aufgeschlagen, wie viele Blatt Papier in wie viele Schreibmaschinen gedreht und nach wenigen getippten Zeilen wieder herausgezerrt, zerknüllt und durchs Zimmer geworfen? Wie viele Computer hat er hoch- und heruntergefahren, wie viele Laptops auf- und zugeklappt, wie viele Füller auf- und zugeschraubt, wie viele Bleistifte gespitzt und zerbrochen, weil er passende Worte nicht fand, weil ihm Sätze nicht gelangen, gefielen? In wie vielen Zimmern hat er allein gesessen, verloren für die anderen und die Welt, nicht aber für sich? An wie viele Tische hat er sich in den vergangenen achtunddreißig Jahren hingesetzt, um zu schreiben?
An einem Tisch, an dem man essen kann, kann man auch schreiben. Hat er das Bedürfnis zu schreiben, trägt er ihren einzigen Tisch aus der offenen Küche vor die Glastür zur Veranda. Von dort sieht er über den Hafen von Seal Harbor und die Umrisse von Norton und Whitehead auf den offenen Atlantik. An einem Tisch mit dieser Sicht hätte er früher nicht eine Zeile geschrieben, galt Annie Dillards Ratschlag auch für ihn: »Ein Zimmer ohne Aussicht ist nötig, damit die Phantasie im Dunkeln der Erinnerung begegnen kann.« Neben dem Tisch hat er den Karton im Postkartenformat an die Wand gepinnt, auf den der schizophrene Dichter Ernst Herbeck 1985 für ihn die Verszeile Die Poesie lernt man vom Tiere aus, das sich im Wald befindet schrieb und ihm im »Haus der Künstler« Gugging im Niederösterreichischen Landeskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie in Klosterneuburg bei Wien mit einer ironischen Verbeugung überreichte. Unter Ernst Herbecks Geschenk hängt Michelangelos Rat an einen Lehrling, der nach seinem Tod in seiner Werkstatt gefunden wurde: Zeichne, Antonio, zeichne, Antonio, zeichne und vergeude keine Zeit, den er, ergänzt mit der Zeile Schreibe, Schertenleib, schreibe, Schertenleib, schreibe und vergeude keine Zeit auf seiner alten Hermes 2000 abgetippt hat.
Der Tisch, an dem wir auch essen, misst 60 mal 90 cm, ist 74 cm hoch und aus honigfarbenem Buchenholz, hat gedrechselte Beine, keine Schublade. Gefunden haben wir ihn im Rockland Antiques Marketplace; für seine Geschichte begann ich mich erst zu interessieren, nachdem ich den in die Unterseite des Tischblattes gebrannten Namen Torward Erling Haugesen und die Jahreszahl 1905 entdeckte. Maggie, die mir den Tisch verkauft hatte, war nicht einfach zu überzeugen gewesen, mir zu verraten, dass seine ehemalige Besitzerin Bente Elwell heißt, aus einer Familie eingewanderter Norweger stammt und im zwanzig Meilen entfernten Friendship wohnt. Während sich im 17. und 18. Jahrhundert an Maines Küste viele Skandinavier ansiedelten, war das Herzland des Staates mit seinen Wäldern und sanften Hügeln, das an die kanadische Provinz Brunswick grenzt und von Norden nach Süden von Tälern zerschnitten wird, geologischen Kratzspuren der Gletscher, vorwiegend von Akadiern besiedelt, französischen Kolonisten, weswegen sich dort noch heute viele französische Familien finden.
Hätte mich der Name Torward Erling Haugesen auch interessiert, wenn ich mich 1974 mit siebzehn auf einer Interrail-Reise im norwegischen Kristiansund nicht in eine junge Frau namens Ingrid Haugesen verliebt hätte?
Im letzten Juni bin ich schließlich nach Friendship gefahren, um von Bente Elwell zu erfahren, wer dieser Torward Erling Haugesen war.
Friendship, von den Indianern der Abenaki Meduncook benannt, »Hafen am Ende der Sandbank«, liegt im Südwesten von Knox County zwischen der Muscongus Bay und dem Friendship River, wurde 1750 zur Garnison der Briten und 1807 zur Siedlung unter heutigem Namen.
Ich fuhr auf der State Road