Schule der Winde - Hansjörg Schertenleib - E-Book

Schule der Winde E-Book

Hansjörg Schertenleib

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Beschreibung

Ein vierzigjähriger Mann wandert in den kargen Nordwesten der Republik Irland aus. Das windumtoste ehemalige Schulhaus aus dem Jahr 1894, das er gekauft hat, stellt sich als Gravitationszentrum der spärlich besiedelten Gegend heraus, sind dort doch nahezu alle Nachbarn zur Schule gegangen. Bald glaubt er, die ehemaligen Schülerinnen und Schüler erzählen zu hören, vereint ihre Stimmen zum Chor der Ungehörten und taucht tief ein in die leidvolle und mythenreiche Geschichte des Landes. Er spielt mit im Fußballclub, lernt verschrobene Farmer kennen, mit denen er Torf sticht und trinkt, freundet sich mit einem Einzelgänger und Carrommeister an, der wie er alleine in den Hügeln Donegals lebt, und bekommt doch jeden Tag vor Augen geführt, dass er hier am Rande Europas tatsächlich in der Fremde gelandet ist. So irritiert wie amüsiert lauscht er den Gesprächen in den Pubs, Oasen der Gemütlichkeit, die weit versprengt in der menschenverlorenen, verregneten Gegend liegen, beobachtet Vögel und Schafe, erlebt Macht und Schönheit des Atlantiks, verliebt sich in die Geigerin einer Folkband und staunt über das Schauspiel, das ihm die gewaltige Natur vorführt - ob er sich dafür nun interessiert oder nicht.

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Hansjörg Schertenleib

Schule der Winde

Kampa

Alles hätte,

soweit ich mich erinnere,

genau so passieren können.

In the cold rain

and the wind blowing inland

the geese lines

break down into blots.

 

They are no longer going to map out

the beginning of life;

to get home is uppermost.

 

Dermot Healy

Für Brigitte.

Love, life, wife.

Der Moment, vor dem ich mich lange gefürchtet hatte, der Moment, an dem S. ins Taxi steigt, das sie zum Belfast International Airport fährt, weil dort die Maschinen der Billigairline abheben, mit der sie in die Schweiz fliegt, um in die Arme des verheirateten Gemüsegärtners und vierfachen Vaters zu flüchten, dessen Ehe sie ebenfalls ruinieren würde, dieser Moment stellte sich, als er da war, als befreiend heraus, getrübt nur von der Angst, sie könnte wieder wie ein Chamäleon ihre Farben wechseln und doch nicht abreisen. Die verheißungsvoll leere Straße führte mir den Ausweg vor Augen, nicht über die Misere der vergangenen sieben Jahre zu schreiben, sondern über das Glück und demnach davon, wie es hätte sein können ohne sie, wie es gewesen wäre, wenn ich nicht den Fehler gemacht hätte, sie zu bitten, mit mir nach Irland auszuwandern, denn man kann nicht nur das Scheitern erzählen, sondern auch das Gelingen. Ich würde erzählen, was hätte passieren können, nicht, um mich in ein besseres Licht zu rücken, sondern um der Geschichte willen, die zu mir passt, wie ich finde, seine Geschichte.

Als er das Schulhaus erreicht, ist finstere Nacht. Er parkt neben dem Vorbau mit den nummerierten, gusseisernen Kleiderhaken, an welche die Kinder, die hier zur Schule gingen, ihre Jacken und Mäntel hängten, bis sie 1972 geschlossen wurde. Er schaltet den Motor aus, bleibt aber sitzen und übt den ruhigen Atem, weil er endlich angekommen ist in seiner Wahlheimat, erschöpft von der letzten Etappe der dreitägigen Reise, einer zehnstündigen Fahrt über kurze Autobahnabschnitte und Landstraßen voller Schlaglöcher.

 

30. Oktober 1996, 23.13 Uhr, irische Zeit.

 

Sein vollgepacktes Auto, Manuskripte, CDs, Kleider, zwei Gitarren, ruckelt von Böen getroffen hin und her, als stehe es noch immer im Bauch der Fähre von Swansea nach Cork, eine Strecke, die ab 2011 nicht mehr befahren werden wird, und werde ab und an von einer unsichtbaren Riesenhand gepackt und geschüttelt.

Auf der Fähre ist er mit einer Frau ins Gespräch gekommen, die mit erstauntem Gesicht durch das Selbstbedienungsrestaurant taumelte und, vom Seegang bestimmt, an seinem Tisch landete. Wie er war sie allein unterwegs, wie sie ihm gestand, nachdem sie ihren Vornamen genannt hatte. Ihre Suppe ließ sie unberührt, weil sie ihm ungefragt ihr Leben erzählte, wobei sie ab und zu an ihrem Guinness nippte, dessen torfbraune Flüssigkeit noch im Begriff war, sich zu setzen. Katja wurde 1939 in Malechowo in Pommern geboren, etwa dreißig Kilometer von der Ostsee entfernt, ihre Eltern besaßen einen Hof mit einigen Schweinen und Kühen. Mitte Dezember 1944 wurde ihr Vater in den Volkssturm eingezogen, dem letzten Aufgebot der deutschen Wehrmacht, doch statt vor der rasch anrückenden Roten Armee zu flüchten, blieb ihre Mutter mit Katja und ihren vier Geschwistern in Malechowo, um auf die Rückkehr ihres Mannes zu warten. Ihr Dorf wurde am 7. März 1945 von der Sowjetarmee besetzt und wie ganz Hinterpommern unter polnische Verwaltung gestellt, ihre Familie vertrieben. Nach einer Flucht, die mehrere Monate dauerte, ihr aber in ihrer Erzählung nur einen Satz wert war, kamen sie im Ruhrgebiet in ein Dorf bei Dortmund, in dem keiner sie haben wollte. Sie blieben trotzdem. Ihr Vater, das erfuhren sie im zweiten Jahr in der Fremde, war schon am ersten Tag im Volkssturm von den Russen erschossen worden. Mit siebzehn zog Katja nach Dortmund und arbeitete in der Kantine der Zeche Zollern als Köchin, wo sie Ludwig kennenlernte, einen Kommunisten, der das KZ überlebt hatte. 1963 heirateten sie, zwei Jahre später siedelten sie, bevor ihr einziges Kind Karl zur Welt kam, nach Aberfan in Südwales über. Wundersamerweise überlebten sie den Haldenrutsch am 21. Oktober 1966, der ein ganzes Schulhaus verschüttete und hundertvierundvierzig Menschen tötete, davon hundertsechzehn Kinder. Ihr Mann arbeitete bis zu seiner frühen Pensionierung im Bergbau, vor einigen Jahren starb er an Darmkrebs. An Deck der Fähre von Swansea nach Cork befand sich Katja, weil sie von Wales nach Irland umsiedelte, zu ihrem Sohn Karl, der in Cork eine Metzgerei besaß. Katjas Hab und Gut fand Platz in zwei neuen Koffern, wie sie ihm stolz berichtete.

Angesichts der Lebensgeschichte dieser Frau kam ihm seine eigene Auswanderung nach Irland lächerlich unbedeutend vor, kleiner, als sie sich für ihn anfühlt, und er spielte sie vor ihr herunter, während sie rasch und mit niedergeschlagenem Blick ihre kalte Suppe löffelte. Dann stand sie auf, reichte ihm die Hand und erklärte, Malchow, so heiße ihr Geburtsort Malechowo auf Deutsch, sei abgeleitet vom Wendischen milaka, was Buchwald bedeute. Hinter dem Land ihrer Eltern habe es einen Buchenhain gegeben, an den sie häufig denke, obwohl sie sich doch eigentlich kaum an ihn erinnern könne, weil sie so klein war, als man sie aus Malchow vertrieb. Trotzdem sehe sie den Hain immer wieder vor sich. Zart war ihre Stimme geworden, zerbrechlich, und es ist ihr tatsächlich gelungen, dass er den Buchenhain vor sich sah. Sie hat ihm zugenickt, die Griffe ihrer Koffer gepackt und ist wortlos aus dem Bordrestaurant gegangen, unter dessen Fenstern das Meer kochte und dessen Boden mittlerweile bedenklich wankte, weil die offene See erreicht war. Er hat Katja nachgeblickt und wollte sich den Rest Rotwein aus der Flasche einschenken, als die Schiffsmotoren für einen Herzschlag lang aussetzten, als stocke der schweren Fähre der Atem, bevor sie sich, niedergedrückt von einer gewaltigen Macht, steil nach vorn neigte. Dass er den Wein nicht in sein Glas, sondern auf den Tisch schüttete, begriff er erst, als sich die Spitze der Fähre erneut aufrichtete, seine Hand mit der Flasche in die Höhe ging und er sich den letzten Schluck in den Schoß goss.

//

Als er schließlich aussteigt, reißt der Wind ihm die Autotür aus der Hand, und er braucht alle Kraft, um sie zuzudrücken. Er geht einige Meter in die Wiese hinter dem Schulhaus, das Gras steht kniehoch, und legt den Kopf in den Nacken: Hat er schon einmal derart viele Sterne gesehen und den Himmel als Gewölbe wahrgenommen, das sich über ihn spannt? Die Luft ist kühl und frisch und er glaubt, den Atlantik riechen zu können, dessen Küste er seit Sligo vierzig Meilen entlanggefahren ist. Nicht ein Geräusch ist zu hören, es ist still, glaubt er wenigstens, totenstill, bis er nach einer Weile begreift, er hat sich getäuscht: Äste knarren, Blätter rascheln, Regen tropft, Wind pfeift, in den Hügeln, die hinter seinem Grund ansteigen, schlägt ein Fenster, vielleicht eine Tür zu. In der Nähe klingelt es wie von Altarschellen: Das Mobile aus Muscheln, Schwemmholz und Seeglas wird er in einigen Tagen in den Ästen einer Esche entdecken. Helen und Richard, die früheren Besitzer der Schule, die mit ihren zwei Töchtern in Richards Heimat Tasmanien zurückgekehrt sind, müssen es aufgehängt haben.

Obschon er den Moment, sein neues Heim zu betreten, herbeigesehnt hat, zögert er ihn jetzt heraus und öffnet die Haustür erst, als Regen einsetzt, dicht und verblüffend warm, ein leichtes Gewand, das ihm umgelegt wird, welches er in die porch trägt und abschüttelt wie ein Hund das Wasser des Flusses, in dem er sich vergnügt hat. Es riecht feucht in dem Vorbau, der früheren Garderobe der Schule, und es ist keine zehn Grad warm. An die Kälte wird er sich im Lauf der Jahre, die er in Irland lebt, gewöhnen, die Feuchtigkeit und das Odeur, das sie mit sich bringt, lernt er zu fürchten und regelrecht zu hassen; dass ihm diese Feuchtigkeit auf die Knochen schlägt, wird er erst mit Mitte fünfzig spüren, noch kann sie seinem Körper nichts anhaben. Und wie soll er, er hat sein neues Heim doch eben betreten, wissen, dass er auf den Tag genau in zweiundzwanzig Jahren mit seiner zweiten Frau Bücherstapel um Bücherstapel aus der Bibliothek in diese porch tragen und den zwei Arbeitern der Umzugsfirma überreichen wird, die sie für die Verschiffung nach Maine an der US-Ostküste in Kisten verpacken? Bald schütteln die Arbeiter aus Belfast genervt die Köpfe, dann fangen sie an zu schimpfen und schließlich sogar zu fluchen: Good God, them fucken’ books are heavy! Don’t you tell us you read all that shite?

Als er das Schulhaus schließlich von der porch her betritt, weiß er nach wenigen Schritten durch den Korridor Richtung Küchenanbau, hier bleibst du, dies ist fortan dein Haus, deine Höhle, dein Versteck, dies ist sie, deine zweite Haut. Ein Ort, zu bleiben.

//

Die erste Nacht in seinem Haus verbringt er im großen Schlafzimmer unter dem Dach, in einer altmodischen eisernen Bettstatt, deren Kopf- und Fußteil bei jeder Bewegung bedrohlich wanken und vernehmlich knarzen; im Halbschlaf vermischt sich die Geschichte von Katja, der Frau auf der Fähre mit der Geschichte seiner Mutter Romana, die als Zwanzigjährige zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges aus Ebensee im Salzkammergut in die Schweiz emigrierte, um in Zug für einen Metzgermeister und seine kränkelnde Frau den Haushalt zu führen und als Kindermädchen zu arbeiten. Er sieht seine Mutter im Zürcher Hauptbahnhof aus dem Zug steigen, die Tasche in der einen Hand, den Griff des Pappkoffers in der anderen, so hat sie es ihm erzählt, und, überwältigt vom emsigen Treiben in der hohen Halle, die jedes Geräusch zurückwirft und verstärkt, so verzaubert wie verloren planlos hin und her laufen, bis sie einen Ausgang findet und auf die Bahnhofstrasse hinaustritt. Seine Mutter hat ihm ihre Ankunft in der Schweiz wiederholt beschrieben, hat noch fünfzig Jahre später vom weichen Zauberlicht geschwärmt, welches als Verheißung vom See heraufleuchtete und sie magisch anzog, weshalb sie trotz Müdigkeit von der langen Zugreise immer weiter- und weiterging, vorbei an Schaufenstern mit prachtvollen Auslagen, bis sie schließlich am Ufer des Zürichsees stand und sich ihr Blick im Alpenkranz verlor, der am Horizont in den Himmel wächst und sie an das Tote Gebirge und das Höllengebirge ihrer oberösterreichischen Heimat erinnerte.

//

Dass der Wind hier in Donegal sein ungebetener, aber steter Begleiter sein wird, begreift er in der ersten Nacht: Er schreckt aus dem Schlaf, weil es ist, als würde mit gewaltigen, durch Decken schallgedämpften Brettern auf Wände und Fenster seines Hauses eingeprügelt, um es aus dem Erdreich freizulösen, zu kippen und in die Nacht zu kegeln, hügelab, Richtung Muckross, in den Atlantik hinein. Die schweren, graublauen Schieferplatten, sogenannte »Bangor Blues«, mit denen das Dach gedeckt ist, heben an zu orgeln, vielstimmig pfeifen die Regenrinnen, ein Chor, der sich einsingt. Wer will sich hier Gehör verschaffen? Die Haustür klappert, als begehre jemand Einlass. Stundenlang wälzt er sich hin und her, wartet darauf, unter dem abgedeckten Dach im Freien zu liegen, über sich das aufgespannte Sternenfirmament.

Als er im Morgengrauen erwacht, ist sein Haus verstummt, der Wind nichts als ein Flüstern, Wispern, Hauchen, da knarzt leise ein Balken, dort dengelt verschämt ein Blech, sonst ist es angenehm still.

//

Er hat das Haus mitsamt Mobiliar gekauft, mit Möbeln, Teppichen, Bildern, Töpfen und Pfannen, Geschirr, Besteck, Gläsern: Helen und Richard haben nur ihre persönlichsten Dinge auf ihre lange Flugreise nach Tasmanien mitgenommen. Die Möbel, die in seiner gemieteten Wohnung in der Schweiz standen, hat er verkauft oder verschenkt. In einigen Tagen wird er erfahren, dass die Kisten mit seinen Büchern, Schallplatten, CDs und Kleidern in den englischen Midlands in einer Lagerhalle darauf warten, dass ein Laster voll genug beladen ist, dass sich die Fahrt nach Irland lohnt. Wie sich herausstellt, wird er fünf Monate auf seine Sachen warten müssen. Und so lebt er wie in einem Ferienhaus inmitten fremder Möbel, schläft in einem fremden Bett mit fremdem Bettzeug, legt seinen Kopf auf fremde Kissen, betrachtet fremde Bilder, kocht in fremden Töpfen und Bratpfannen, trinkt aus fremden Gläsern, isst von fremden Tellern an einem fremden Tisch – und genießt es. Selbstverständlich hat er die Schweiz auch verlassen, um seine kleine Welt auf den Kopf zu stellen. Grenzen, vor allem die, die er sich und anderen selbst gesetzt hat, sollen sich auflösen, und damit gleichzeitig Konventionen, die ihn in trügerischer Sicherheit wiegten. Was wir verstanden haben, ist verloren, glaubt er zu wissen, ist Gewissheit und Gewohnheit, verloren eben.

Schreiben wird er im Spielzimmer der Mädchen im oberen Stock, das über der abfallenden Wiese schwebt und dessen Lukarne nichts als einen Himmelsausschnitt zeigt, an dem Tisch aus Kirschholz, der in der Küche stand und an dem seine Vorgänger aßen. In den oberen Stock geschafft hat er den Tisch mit Hilfe des Briefträgers George, mit dem er jeweils eine Zigarette raucht, wenn er den grün gestrichenen Briefkasten der irischen Post »An Post« leert, der in die Mauer eingefügt ist, die das ehemalige Schulhaus von der Straße trennt. George ist der ideale Gesprächspartner, um sich an den weichen melodiösen Dialekt Donegals zu gewöhnen, der nichts mit dem verkniffenen Englisch zu tun hat, das die Lehrerin in der Berufsmittelschule ihm beigebracht hat. Als junger Mann arbeitete George in Liverpool auf Baustellen, danach entlud er für sieben Jahre in Boston Flugzeuge: Seven years with them yanks is plenty! Der einzige Schweizer auf Georges Tour ist er nicht: Eight blow-ins it is in all I’m bringing the mail. Drei Deutsche, zwei Holländer, eine Französin und zwei Schweizer. Blow-ins! Was für ein schönes Wort für Zugezogene, vom Wind ins Land Getragene. George sieht ihn prüfend an und nickt verständnisvoll, als er seinen Vorschlag ablehnt, einen der anderen Fremden kennenzulernen. Er ist nicht nach Irland ausgewandert, um sich mit blow-ins zu treffen oder gar zu verbrüdern. Im Lauf der Jahre wird es allerdings nicht ausbleiben, einigen von ihnen zu begegnen, der frustrierten Lehrerin aus Ostfriesland, die alles besser weiß, nach dreißig Jahren in Irland noch immer einen furchterregend deutschen Akzent hat und über ihren Lebenspartner herzieht, sobald er den Raum verlässt, der Frau aus Paris, die der Regen in Depressionen treibt, dem Holländer, der die Iren verachtet, wie er unablässig versichert, und es doch nicht schafft, nach Amsterdam zurückzuziehen, der Schweizerin, die in Tränen ausbricht, wenn sie von ihrem Geburtsort Hombrechtikon redet. Er trifft einen Mann aus Olten, der im neuen Range Rover in weißem Leinenanzug auf die Baustelle seines angeberischen Hauses bei Mountcharles fährt und sich allen Ernstes wundert, dass ihn die irischen Arbeiter über den Tisch ziehen. Ein Paar aus Basel lobt Irland in ihrem teuer renovierten Cottage in Inver, bis Winterstürme über Donegal ziehen, sie schlagartig kein gutes Haar mehr an Irland lassen und fluchtartig in die Schweiz zurückziehen. Er geht anderen blow-ins, denen er zufällig begegnet, konsequent aus dem Weg, indem er seine Herkunft verleugnet, und George hört bald auf, von anderen Zugezogenen zu erzählen, wenn sie zusammen rauchen. Sie reden ohnehin wenig, stehen qualmend nebeneinander, schimpfen über den Regen, Man United, spötteln über den neu eröffneten Aldi, loben die EU, Liverpool, die irische Präsidentin Mary Robinson und das indische Lokal in Donegal Town, obwohl George das scharfe Curry zu schaffen macht: It sets my fuckin’ hole on fire, let me tell you!

//

In einer schweren Schiffstruhe mit Metallecken, die in seinem neuen Arbeitszimmer steht, findet er die Spielsachen, welche die Mädchen zurücklassen mussten, und zwei Fotoalben, die offensichtlich Father Connolly gehörten, der die Four Masters National School vor Helen und Richard besessen hatte, wie er von Nachbarn erfuhr. Father Connolly hatte die Schule bis 1951 besucht. Von ihrer Schließung 1972 erfuhr er in Connecticut in Neuengland, wo er als katholischer Pfarrer einer Gemeinde vorstand. Father Connolly kaufte das Schulhaus, ließ den zweiten Stock einziehen, einen geräumigen Küchenanbau mit Flachdach, acht Fenstern und zwei Außentüren aufmauern, zwei Gästebäder und eine Zentralheizung einbauen und verbrachte bis zu seinem Tod im Jahr 1993 viele Ferientage in Donegal. Die Fotos, die meisten schwarzweiß, sind beredte Zeugnisse ausgelassener Feste in der ehemaligen Schule; oft sind Nonnen abgebildet, die sich in der Gesellschaft des Pfarrers offensichtlich pudelwohl fühlten, andere Bilder zeigen ein Entenpaar, das, so die Nachbarn, auf der Schulwiese lebte, sowie einen arg verbeulten, links gesteuerten silbernen Buick, einen amerikanischen Straßenkreuzer mit ausgeprägten Heckflossen – ein Amischiff, wie solche Autos in seiner Jugend genannt wurden.

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Irgendwann ersetzen unsere Erzählungen über das, was wir erlebt haben, unsere Erinnerungen daran.

//

An seinem dritten Tag in Donegal klingelt es an der Haustür, was er erst nach einer Weile realisiert, da er die schrille Glocke zum ersten Mal hört. Vor der Tür steht ein etwa zehnjähriges Mädchen, das ihm schüchtern und wortlos einen Umschlag entgegenstreckt und ihn mit offenem Mund anstarrt. Lächelnd nimmt er den Umschlag entgegen und will sie hereinbitten, doch das Mädchen hat sich bereits wieder umgedreht und rennt davon, als sei der Teufel hinter ihm her. Am Küchentisch liest er den Brief, den das Mädchen geschrieben hat, wie die Kinderschrift nahelegt:

Lieber Nachbar

Du bist der erste Schweizer, den wir kennenlernen.

Herzlich willkommen in Irland und in Copany!

Herzlich:

Gerry, Eileen, Margaret, Ronan und Bernadette

Sechs Jahre später wird Bernadette ihn nach seiner Meinung zu ihren Geschichten fragen, die sie ihm zum Lesen bringt; nach dem College beginnt sie für eine Lokalzeitung zu schreiben. Am Tag nachdem sie ihm den Brief überreicht hat, steht ihre Großmutter Margaret vor der Tür: Die über Achtzigjährige hat sich an Stöcken auf den langen Weg zu ihm gemacht, weil sie den Fremden kennenlernen will, der jetzt in der Schule lebt, die sie als Mädchen besuchte. Der wache Schalk in den Augen der alten Frau, die kaum mehr etwas sieht, wie sie ihm erklärt, nimmt ihn sofort für sie ein; sie trinken Tee im Wohnzimmer, und ihm wird erneut bewusst, wie wenig ihm sein Schulenglisch in Donegal helfen wird. Margaret erzählt ihm, dass die Four Masters National School aus einem Raum bestand, der durch eine faltbare Wand in je ein Klassenzimmer für Mädchen und Jungen unterteilt wurde; sie sitzen im Wohnzimmer, damals das Mädchenzimmer, Margaret zeigt ihm die Stelle am Kamin, an der ihr Pult stand, was in einer Schule, die vom Torf beheizt wurde, welchen die Schülerinnen und Schüler mitbrachten, zumindest ein bisschen Wärme bedeutete. Für ihre Lehrer hat Margaret kein gutes Wort übrig; einer, dessen Namen sie nicht aussprechen will, schlug mit der Reitgerte auf ihre Finger, sie hört das Sirren noch heute, wenn sie im Bett liegt und sich an ihr Leben erinnert. Dieser Lehrer ließ sie im Winter zur Strafe stundenlang ohne Jacke, Mütze und Handschuhe vor der geschlossenen Tür stehen und die Gedichtzeilen wiederholen, die sie fehlerhaft vorgetragen hatten.

Später zeigt ihm Margaret, wie er Tee kocht, den auch Einheimische mögen, derjenige, den er serviert hat, ist ungenießbar, weil zu dünn und zu schwach. Im Gegenzug führt er ihr seine kleine, achteckige italienische Caffetièra vor, ein Gerät, das sie noch nie gesehen hat. Den Duft, der sich im Küchenanbau ausbreitet, in dem Margaret als verheiratete Frau an Festen von Father Connolly gekocht und serviert hat, als der heiße Kaffee aus dem Kessel durch das Steigrohr in das Kannenoberteil schießt, liebt sie; getrunken hat sie Kaffee in ihrem Leben erst ein halbes Dutzend Mal, wie sie lächelnd gesteht, an Hochzeiten, Beerdigungen. Obwohl es kurz nach fünfzehn Uhr ist, dunkelt es bereits rasch ein, und da es begonnen hat, sachte zu schneien, kann er sie überreden, sich von ihm nach Hause fahren zu lassen. Nachdem sie die öffentliche Telefonzelle am Ende der abfallenden Landstraße, die nach Leghawney führt, passiert haben, dirigiert Margaret ihn in einen dirt track, der bestimmt eine Meile durch unwegsames, wildes Heideland führt, in Irland bog genannt, und vor einem windschiefen, heruntergewirtschafteten Farmhouse endet. Das Dach des Stalls ist eingesackt, eine hüfthohe Mauer, gesprengt von den Wurzeln eines Efeus, eingestürzt; im Schweinekoben liegt Unrat. Die Brombeeren, die die landwirtschaftliche Maschine neben dem Haus überwuchern, haben einzig den Sattel aus gelochtem Eisen verschont. Im Haus bellt ein Hund, Kühe muhen. Die Schafe, die sich in einer Senke zwischen zwei Hügeln aneinanderdrängen, hält er im ersten Augenblick für Schnee, doch es schneit zu zögerlich, als dass er liegenbliebe. Er hilft Margaret aus dem Wagen, schiebt aber einen Termin in Donegal vor, als sie ihn ins Haus bittet. Es ist ihm zu viel, Margarets Sohn Gerry, dessen Frau Eileen und ihre Kinder Aidan und Bernadette jetzt zu begrüßen, aber er verspricht, in den nächsten Tagen bei ihnen vorbeizuschauen. Der Schlamm auf dem dirt track ist gefroren; hinter dem Wassergraben, gesäumt von fahlem Röhricht, sitzt ein Hase mit aufgerichteten Löffeln, reglos, als mache er sich damit unsichtbar. Die Wiesen, durchsprengt von Heidekraut, Rhododendren und Farnen, verschwimmen in der Dämmerung, welche die Berge am Barnesmore Gap bereits zum Verschwinden gebracht hat, in einigen Häusern im Talkessel brennen Lichter, in der eiskalten Luft liegt das Sausen des Windes, der die Schneeflocken waagrecht über die Heide treibt und seinem Auto kleine, harte Schläge versetzt.

//

Am 4. November fährt er über den Barnesmore Gap nach Ballybofey, um sich zu seinem neununddreißigsten Geburtstag im Kee’s Hotel ein Abendessen zu gönnen. Für die siebzehn Meilen braucht er eineinhalb Stunden: Da es weder Straßenlampen noch reflektierende Katzenaugen noch einen Mittelstreifen gibt, hat er Mühe, sich zu orientieren; es schüttet wie aus Eimern, als solle die Welt unter Wasser gesetzt werden; in der Klamm steht Nebel, sein Auto wird von Windschlägen getroffen, die ihn von der kurvenreichen Straße zu werfen drohen. Er klebt an der Frontscheibe, hält das Steuerrad mit beiden Händen umklammert und tastet sich im Schneckentempo durch eine Dunkelheit, wie er sie in der Schweiz nicht kennt. In ein paar Tagen wird er feststellen, dass die Passstraße nach Ballybofey an bewohnten Häusern vorbeiführt, in denen Menschen leben, aber in dieser Nacht scheint es nicht ein Licht an der Strecke zu geben, kein Auto kommt ihm entgegen, kein Auto fährt in seine Richtung. Es ist, als gleite er ins schwarze Nichts, einen tiefen Raum, aus dem seine Scheinwerfer für Augenblicke Einzelnes herausheben, um es ihm zu präsentieren, damit er sich später daran erinnert: ein vom Wind in die Waagrechte gezwungenes Gehölz; ein Schaf, gezeichnet mit einem blutroten Markierungsstreifen, in dessen Zottelfell Zweige und Köttel hängen; Felsen mit Kappen aus Moos; ein umgesunkener Stall; eine Marienfigur, davor eine leere Steinvase; ein von Kugeln durchsiebtes Straßenschild, auf dem ein rätselhafter Name steht: Castlederg, und darunter Caisleán na Deirge.

Als hinter Regenschleiern endlich verschwommen Lichter der Häuser von Ballybofey auftauchen, hämmert er vor Erleichterung mit beiden Fäusten aufs Steuerrad ein. Der Ort ist menschenleer, Wind fegt Müll vor ihm her, als weise er ihm den Weg zu seinem Mahl. Er fährt an Pubs vorbei, hinter deren Fenstern Licht glimmt, an geschlossenen Läden, einem Einkaufszentrum mit gespenstisch leerem Parkplatz, den Rängen und Flutlichtmasten eines Stadions, in welchem, das lernt er später, die Finn Harps in der obersten irischen Fußballliga spielen. Ballybofey hat den abgelebten Charme einer Kleinstadt der sechziger Jahre, und er versucht sich vorzustellen, in welchem der Lokale er regelmäßig einkehren würde, wenn er hier lebte.

Kee’s Hotel steht kurz vor der Abzweigung nach Letterkenny und gehört bereits zum Städtchen Stranorlar. Führe er geradeaus weiter, erreichte er nach wenigen Meilen in Strabane die nordirische Grenze. Weshalb er sich ausgerechnet für die Geschichte Strabanes interessiert, liegt wohl an dem hiring fair, dem Vermittlungsmarkt, der in dem Ort bis 1938 stattfand und auf dem protestantische Farmer kräftige katholische Mädchen und Jungen aussuchten, welche gegen Kost und Logis, aber ohne Entgelt für sie schuften durften – genau wie sein Vater, der als Verdingkind ins Emmental verschickt wurde. Während des Nordirlandkonflikts, der »Troubles«, lebten in Strabane vor allem Katholiken; die IRA hatte in den siebziger Jahren den Pub für Protestanten, der auch Soldaten der britischen Armee bediente, sowie große Teile des Ortes in Schutt und Asche gebombt. Mehr Arbeitslose als in Strabane gab es damals nirgends in Westeuropa, fünfzig Prozent der männlichen Einwohner waren ohne Job. Die nordirische Polizei RUC zwang Katholiken Tag für Tag grundlos, auf der Straße Schuhe und Socken auszuziehen. Im Jahr 1985 wurden die Jugendlichen Michael und David Devine und Charles Breslin vom Special Air Service erschossen, als sie bei Tagesanbruch ein Feld durchquerten. Sie waren bewaffnet und kehrten entweder von einem fehlgeschlagenen Hinterhalt zurück oder schmuggelten Waffen für die IRA. Der SAS eröffnete das Feuer von einer Anhöhe aus mit Maschinengewehren, ohne die drei Jugendlichen zu warnen, die nicht zurückschossen; die Hälfte der hundertsiebzig Schüsse, die die SAS abgab, traf. Der älteste Erschossene war zweiundzwanzig, der jüngste sechzehn; die Eltern der Brüder Devine gaben an, nicht gewusst zu haben, dass ihre Söhne Mitglieder der IRA waren, und verweigerten ein Begräbnis mit militärischen Ehren, bei welchem der Sarg, bedeckt mit der irischen Flagge, auf welcher Handschuhe und Mütze des Toten liegen, durch die Straßen zum Friedhof getragen wird. Charles Breslin wurde diese paramilitärische Ehre von der RUC verboten: Auf seinem Sarg durfte zwar die Flagge, nicht aber seine Mütze und Handschuhe liegen.

Der Efeu, der die Hotelfassade bedeckt, schillert im Licht verborgener Spots, Wind fährt darüber hin wie eine Hand durch nasses Fell. Die dreißig Meter vom Parkplatz bis zum Hoteleingang reichen, ihn bis auf die Haut zu durchnässen. Allein sitzt er im Speisesaal, im Kamin brennt ein Feuer. Er bestellt Lachs und als Hauptgang Irish Stew, ohne zu ahnen, dass er den Geruch von Lachs und Lammfleisch in wenigen Wochen nicht mehr wird riechen können. Nach drei Gläsern bulgarischem Rotwein ist er angetrunken und nimmt ein Zimmer; die Abneigung, noch einmal durch diese Dunkelheit zu fahren, ist zu groß. An der Bar trinkt er den ersten Hot-Whiskey seines Lebens – und gleich den zweiten. Der Barkeeper, er ist bestimmt siebzig, hat schlechte Zähne und tätowierte Handrücken und Finger, fragt ihn, woher er stammt, hört unkonzentriert zu und erzählt ihm dann eine lange, abenteuerliche Geschichte, die in Belfast beginnt, wenn er ihn