Wald aus Glas - Hansjörg Schertenleib - E-Book

Wald aus Glas E-Book

Hansjörg Schertenleib

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Beschreibung

„Warum träumt man von Dingen, vor denen man sich, bei Licht betrachtet, fürchtet?“

 Die dreiundsiebzigjährige Roberta hat alles verloren. Man hat ihr den Hund genommen und sie in ein Altenheim gesteckt. Doch sie wehrt sich und flieht aus der Schweiz. Sie befreit ihren Hund und macht sich auf den Weg nach Österreich. Sie will nach Jahren der Fremdheit in den Ort ihrer Kindheit zurückkehren, um ihr Leben noch einmal selbst zu bestimmen. Auch die fünfzehnjährige Türkin Ayfer entzieht sich – ihren Eltern, die sie in die Türkei verbannt haben und den religiösen Vorstellungen ihres Onkels, in dessen Hotel am Schwarzen Meer sie arbeiten muss. Sie will zurück in die Schweiz, um das Leben zu führen, von dem sie träumt. Hansjörg Schertenleib erzählt von zwei mutigen Frauen, die ihr Schicksal in die Hand nehmen – und damit Grenzen überwinden, die das Leben ihnen gesetzt hat

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Hansjörg Schertenleib

WALD AUS GLAS

Roman

Impressum

ISBN 978-3-8412-0479-0

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, September 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2012 bei Aufbau, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.

Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, hamburg

unter Verwendung eines Motivs von plainpicture / Folio Images / Daniel Högberg und getty images / Dorling Kindersley

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Innentitel

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Impressum

Inhaltsübersicht

IN DER FREMDE

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AUF DEM WEG

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ZU HAUSE

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»Eine furchtbare Kraft ist in uns,die Freiheit.«

Cesare Pavese

To my mother Romana who wanted to become a writer and was a dedicated reader.

And to Brigitte, my wife, my love.

Die Frau saß am Rand der Lichtung, an den Stamm einer Birke gelehnt, die Beine an die Brust gezogen. Hätte es die Nacht zuvor nicht das erste Mal in diesem Jahr geschneit, der Spaziergänger, der sie fand, hätte wohl angenommen, sie habe sich nur hingesetzt, um den Ausblick auf den Vorderen Langbathsee zu genießen, und sei dann eingenickt. Aber dafür war es zu kalt. Dass es eine Frau war, sah er sofort. Auch dass sie tot war, wusste er, so sagte der Mann später aus, schon während er auf sie zuging. Obschon er keine Antwort erwartete, blieb er doch ein Stück von ihr entfernt stehen und rief ihr zu: »Hallo Sie, alles in Ordnung?« Und weil er immer noch nicht glauben wollte, tatsächlich eine Tote gefunden zu haben, und hoffte, die Frau hebe plötzlich den Kopf, sehe ihn lächelnd an, stehe auf und klopfe sich den Schnee von den Hosenbeinen, rührte er sich nicht von der Stelle und sah sie an.

Über den Wipfeln der Fichten am anderen Seeufer lag Dunst, die Sonne stand handbreit über dem Kamm des Höllengebirges, das den Talkessel abschließt, und tauchte das obere Drittel der Felswand in ein kaltes, weißgelbes Licht. Ein schöner Tag, dachte der Spaziergänger, so schön, als dürfte nichts Schlimmes geschehen. Dann ging er endlich zur Toten hinüber und beugte sich vorsichtig über sie. Aus der Distanz hatte er geglaubt, eine Decke sei ihr von der Schulter gerutscht und liege in ihrem Schoss, aber jetzt sah er, dass sie einen toten Hund im Arm hielt, als könne er sie wärmen. Wie alt sie ist, dachte er, und wie furchtbar müde sie aussieht. Für den nächsten Gedanken, der ihm durch den Kopf ging, schämte er sich, in diesem Alter nimmt man sich doch nicht mehr das Leben, es ist ja ohnehin bald vorbei. Da fiel ihm die Angst seiner Großmutter vor dem Sterben ein. Und vielleicht hatte die alte Frau genau wie seine Großmutter eine unheilbare Krankheit und wollte das Leiden verkürzen. Nur Verrückte fürchten sich nicht vor dem Tod, ging ihm durch den Kopf, und Babys, weil sie noch nicht wissen, dass das Leben ein Ende findet. Oder atmete die Frau etwa noch? Er beugte sich tiefer über sie, fast hätte seine Nase ihr Gesicht berührt. Der Hund, sah er jetzt, war voller Blut und hatte eine Schusswunde auf der Brust. Vor der Toten lag ein schwarzer, handlicher Stein in Form einer stumpfen Pfeilspitze im Schnee. Sie riecht nach Zimt, stellte er verwundert fest; gefrorene Schneekristalle lagen auf ihren Wangen und auf ihren Lippen, die Brauen über den offenen Augen waren weiß vor Reif, wie mit Mehl bestäubt, genau wie der Hund, dessen Schnauze mit Schnee gefüllt war, als habe er in der Erde gewühlt. Der Mann verstand nicht, weshalb es ausgerechnet die rosa Flecken auf den schwarzen Lefzen des Hundes waren, die ihn zu Tränen rührten. Er wandte sich ab, doch das Schluchzen, das ihm aus der Kehle stieg, konnte er nicht hinunterschlucken.

Drei Dohlen kamen übers Wasser auf ihn zu, ohne Schrei, als verbiete die Situation jedes Geräusch, nicht einmal die Flügel der Vögel waren zu hören; als sie sich in den Ästen über ihnen niederließen, fingen sie aber doch an, vorwurfsvoll zu schimpfen. Der Mann blieb in der scharfen Morgenkälte stehen, bis er sich beruhigt hatte. Die Bergstiefel der Toten sahen neu aus. Gern hätte er den Schnee weggewischt, der die Achseln ihrer Gore-Tex-Jacke bedeckte, aber er brachte es nicht über sich, die tote Frau anzufassen. Sie wirkte weder friedlich noch traurig, nur müde und erstaunt, als habe sie etwas Unerwartetes gesehen.

Im Sommer, überlegte er, und das behielt er später für sich, im Sommer, wenn es selbst nachts nicht kühl wurde, wäre ich bestimmt nicht der Erste gewesen, der die Tote gefunden hätte. Fliegen, Mücken und jede mögliche Art von Käfern hätten sie entdeckt und sich bereits über sie hergemacht. Aber jetzt, im September, nach dem viel zu frühen ersten Schnee? Wissen Füchse, Hirsche und Rehe, dass eine Frau, die reglos an einen Baum gelehnt im Schnee sitzt, ohne sie zu beachten, nicht mehr am Leben ist, und dass weder von ihr noch von dem toten Hund, den sie im Schoss hält, Gefahr ausgeht? Hätten sich die Tiere irgendwann in ihre Nähe gewagt? Und die Dohlen? Hatten sie die Tote bemerkt?

Der Mann ging um die Birke herum. Ich wollte, sagte er später aus, sehen, was sie zuletzt gesehen hat, bevor sie in der Kälte eingeschlafen, bevor sie gestorben ist. Er ging sogar in die Knie und lehnte das Gesicht an den weißen Stamm. Was die Frau gesehen hatte? Den See, dahinter Wald, den schneebedeckten Felskamm. Hieß es nicht, das Gehör sei das Letzte, das man verliere, wenn man sterbe? Hören die Toten das Rascheln der Leintücher, die man über ihre Gesichter zieht, hören sie, wie das Fenster des Sterbezimmers geöffnet wird, hören sie das Weinen der Zurückgebliebenen, das Knistern der Bibelseiten, die Schritte, die sich entfernen? Flüstern wir darum, wenn wir an Sterbebetten sitzen, dachte der Mann, weil wir nicht wollen, dass uns die Toten verstehen, und weil wir ihnen wenigstens jetzt die Stille gönnen?

Er kauerte so lange hinter der Frau und ihrem Hund, bis ihm beide Beine eingeschlafen waren. Er stand auf, japsend vor Schmerz, weil ihm das Blut in die Beine schoss, und hätte sich am liebsten in den Schnee gesetzt. Als er wieder ruhig stehen konnte, zog er das Handy aus seiner Daunenjacke und drückte die gespeicherte Nummer der Gendarmerie in Ebensee. Er räusperte sich und wartete darauf, dass sich sein Schwiegersohn meldete, da realisierte er, dass er der Frau die Hand jetzt doch auf die Schulter gelegt hatte. Er ließ die Hand liegen und machte die Augen zu.

Das Mädchen lag vier, fünf Meter vor dem Ende des Durchgangs an der Wand, aus der, direkt über ihrem Kopf, ein Rohr mit verrostetem Flansch ragte. Im ersten Augenblick dachte die Frau, das Mädchen sei tot. Das Blut, das sich um seinen Kopf ausgebreitet hatte, sah aus wie eine Krone aus Flammen, sagte sie später aus, eine Krone, die dem Mädchen vom Kopf gerutscht ist. Es lag auf der Seite, die Beine an die Brust gezogen, die Arme als Schutz vor dem Gesicht. Die Frau blieb stehen, hielt den Atem an und machte die Augen zu. Ich hätte am liebsten eine Zigarette angezündet, würde sie ihrem Mann Vlado später gestehen, dem sie ihre Gefühle eigentlich schon lange nicht mehr offenbarte. Von einer der Laderampen war das Wispern von Reifen auf Beton zu hören, in der Morgendämmerung hatte es kurz geregnet. Die Frau öffnete die Augen, beugte sich über das Mädchen und bemerkte, dass es atmete und also noch am Leben war. Sie ist doch noch ein Kind, dachte sie, was werden ihre Eltern sagen? Hatte sie das Mädchen nicht schon einmal irgendwo gesehen? Gehörte es nicht zur Clique, die sich im türkischen Imbiss an der Buchserstraße traf, den sie ihrer Tochter Dragica verboten hatten, weil es hieß, dort werde Alkohol an Jugendliche verkauft? Wie schmal das Mädchen war. Sein Gesicht war voller Blut, das rechte Auge zugeschwollen, die Lippe aufgeplatzt. Dass ein Zahn vor dem zerschlagenen Mund auf dem Boden lag, sah die Frau erst, als sie sich abwenden wollte, um endlich Atem zu schöpfen. Ich habe, erzählte sie ihrem Mann abends, ich habe die ganze Zeit, in der ich das Mädchen betrachtete, die Luft angehalten, als schütze mich das. Schützen, aber vor was denn schützen, wollte er wissen? Da hatte sie endlich angefangen zu weinen.

Im Durchgang aber blieb sie ruhig und gefasst, als stehe sie neben sich, oder nein, über sich, als gehe es jetzt in erster Linie darum, stark zu sein und das Kind vor weiterer Aufregung zu bewahren. Plötzlich sah sie die rosa Lidränder ihrer Kaninchen vor sich, wie lange sie nicht mehr an die Tiere ihrer Kindheit in Split gedacht hatte, nun erschienen sie vor ihr, als seien sie nicht bloß eine Erinnerung. Die Lider hatten selbst dann hellrosa geleuchtet, wenn die Kaninchen die Augen geschlossen hatten, als brenne ein Licht in den Köpfen mit den großen weichen Ohren, die sie so gern gestreichelt hatte.

Der Durchgang, dies letzte Stück ihres Arbeitsweges, hatte ihr immer Angst gemacht, nun wusste sie also endlich weshalb. Das Echo ihrer Schritte war ihr unheimlich, als sei nicht sie selbst es, die es verursachte, sondern jemand anders, ein Geist, der sie begleitete. Oder folgte er ihr? Warum gab sich dieser Geist nur in diesem Durchgang zu erkennen? Woran wollte er sie erinnern, was wollte er ihr sagen? Und warum sagte er es ihr nicht einfach geradeheraus? Nicht einmal diese finsteren Gedanken sollte sie Vlado abends verschweigen, obschon sie natürlich ahnte, nein wusste, dass er sie nicht verstehen würde. Geist, was redest du, Frau, es gibt keine Geister!

Warum die Frau erst ihren Mann anrief und danach den Notruf, sie hätte es nicht erklären können. Vlado hob nach dem siebten Klingeln ab, sie störte ihn, das verriet seine Stimme. Er saß mit dem ersten Bier nach seiner Nachtschicht bei Chocolat Frey am Küchentisch. Du musst, befahl er ihr, sofort die Polizei alarmieren, hörst du, Frau, sofort, ich komme, ich bin schon unterwegs, und fass nichts an, hörst du, Frau, fass nichts an!

Dann wählte sie die Nummer des Notrufs und kniete sich neben dem Mädchen hin, streichelte ihm das Gesicht und versicherte mit leiser Stimme, alles werde gut. Wie lange hatte sie das zu niemandem mehr gesagt, auch zu sich selbst nicht? Alles wird gut! Alles wird gut! Sie wiederholte den Satz so lange, bis er keinen Sinn mehr ergab und einfach nur noch aus Wörtern bestand, die das Mädchen in Sicherheit wiegen sollten. Alles wird gut! Sie kam sich vor wie früher, als sich ihre Dragica noch von ihr hatte berühren und streicheln lassen, abends, nach der Schule, wenn sie Trost brauchte nach einer schlechten Note, oder nachts, wenn sie aus einem bösen Traum erwachte und um Hilfe rief, Mama!, Mama!

Als sie hörte, wie die Sirenen der Ambulanz näher kamen, strich sie dem Mädchen über die Wange, stand auf, zündete sich endlich eine Zigarette an, schloss die Augen und inhalierte tief.

Es schneite, als die Sanitäter die Trage mit dem Mädchen aus dem Durchgang trugen, dicht und heftig, viel zu früh, Flocke an Flocke, es war doch erst September, ein Wirbel wie im tiefsten Winter. Bis die Männer die Ambulanz erreichten, die mit offener Hecktür vor dem Durchgang stand, war der Boden mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt, auf der die Abdrücke ihrer Schuhe stehenblieben, ganz kurz nur, dann waren sie wieder verschwunden, ausgelöscht.

IN DER FREMDE

1

Roberta Kienesberger stand am Fenster des Bibliotheksraums und sah in den Garten hinaus. Die Wolkenbank, die sich schnell über den Himmel schob, war schieferfarben, das Sonnenlicht, gefiltert durch die Zweige der Bäume, sprenkelte die Fassade mit Flecken, die tanzten, wenn der Wind auffrischte. Anfangs hatte sie den Bücherdienst so oft wie möglich übernommen, aber seit sie nicht mehr stillsitzen konnte, hielt sie es kaum aus in der Bibliothek, in der es nach Essen roch, da sie an die Küche grenzte.

Humbel, ihr Zimmernachbar, saß auf der Parkbank und redete mit sich selbst, wie oft, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Sie wusste, wovon Humbel redete, schließlich kannte er nur ein Thema: die Fortpflanzung von Tieren. Die Kieswege leuchteten in der fahlen Abendsonne, der Himmel war jetzt leer und weit, und sie trat auf den Gang hinaus und holte den Wagen herein, auf dem sich die zurückgebrachten Romane und Bildbände stapelten. Sie war nie eine Leserin gewesen und hatte sich nur dafür gemeldet, die Bücher alphabetisch in die Regale einzuordnen, weil es eines der Ämtchen war, bei denen man alleine war und seine Ruhe hatte. Sie interessierte sich noch immer nicht für Literatur, aber seit sie vor vier Wochen in von Joseph Roth ein gefaltetes Blatt Papier gefunden hatte, auf dem in sorgfältiger Handschrift mit Bleistift Worte aufgelistet waren, schlug sie jedes Buch auf, bevor sie es zurückstellte. Sie hatte damals einen ganzen Nachmittag gebraucht, um die einundzwanzig Worte der Liste in Joseph Roths Roman zu finden: jedes einzelne Wort war, verteilt über die 297 Druckseiten, mit Bleistift unterstrichen gewesen. Sie sammelte die Listen, mittlerweile waren es acht, in einem Umschlag, aber sie hatte nie ernsthaft versucht, herauszufinden, wer sie schrieb. Die Handschrift gefiel ihr, sie war klein und doch großzügig, energisch und doch elegant. Es war die Schrift eines Mannes, stellte sie sich vor, eines gebildeten Mannes, der gewöhnt war, Anweisungen zu erteilen, der seine Bleistifte messerscharf spitzte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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