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Auf der Suche nach dem, was man Familie nennt: der neue schwindelerregend komische Roman von Sebastian Stuertz.
Sebastian Stuertz nimmt uns mit auf die Achterbahnfahrt ins Erwachsenenleben. Ein schwindelerregend komischer und mitreißender Roman über Freundschaft, Liebe, Patchworkchaos und die größte aller Freiheiten – die Freiheit, immer wieder neu anfangen zu können.
Hamburg, Sommer 2019. Alina ist neu an ihrer Schule, aber trotzdem gleich das coole Nerdgirl, denn sie hat eine eigene App programmiert: ein Mini-Social-Network nur für die 13. Klasse. Hätte ein perfekter Einstieg sein können – wäre ihre Mutter nicht gleich nach dem ersten Elternabend mit Herrn Carstensen im Bett gelandet, dem Vater des idiotischen Klassensprechers Corvin. Noch blöder, dass Alina und ihre Mutter, die als Berufs-Clown ihr Geld verdient, kurz darauf aus ihrer WG fliegen. Bei Dad ist kein Platz für sie, der hat noch drei andere Kinder und keine Lust, sich auch noch um Alina zu kümmern. Also muss sie mit Mama bei den Carstensens einziehen, was vollkommener Irrsinn ist: Bei Corvin wohnen Spinnen und Riesentausendfüßler, seine Schwester Nina hat eine zweite Identität, und dann gibt es noch ein weiteres, dunkles Familiengeheimnis, das bald schon alles auf den Kopf stellen wird.
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Seitenzahl: 369
Sebastian Stuertz
Da wo sonst das Gehirn ist
Roman
Alle Personen und Situationen in diesem Buch sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit existierenden Menschen wäre rein zufällig. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Copyright © 2022 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Covergestaltung: Sebastian Stuertz Covermotiv: © Sebastian Stuertz Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-641-28264-6V003
Für alle Patchworkfamilien, Alleinerziehenden,
Alles muss raus
Alinas Mutter sprüht Parfum auf ein Seidentuch, setzt einen weiteren Stoß in die duschfeuchte Badezimmerluft, dreht mit geschlossenen Augen eine Pirouette in der niedernieselnden Wolke. Dann noch etwas Parfum auf das Handgelenk, das an den Hals getupft wird. Am Tag, an dem Dad sein Leben in Kartons gepackt und runter in den Honda getragen hat, saß Mama heulend in ihrem Zimmer und füllte den Online-Fragebogen zu Vorlieben und Charaktereigenschaften aus. So wie sie manchmal stundenlang auf der BMW-Website Neuwagen konfiguriert oder auf mytheresa.com den Warenkorb mit Designerzeug vollballert, ohne je etwas zu kaufen. Dad drückte zum Abschied unten zweimal auf die Hupe – Mama drückte auf BEZAHLEN: Ein maßgeschneidertes Duft-Unikat für fünf-fucking-hundert Euros – »so einzigartig wie Ihre Persönlichkeit«.
Und dann nie benutzt, weil zu gut für die Welt.
Seit fünf Jahren steht es im Schrank, flüssiges Gold quasi, und ausgerechnet heute dieselt sich Mama damit ein. Das wird böse enden, so viel vorweg.
»Ey, Mama. Das ist ein Elternabend, keine Singlebörse. Vielleicht ein bisschen weniger Brustausstellung?«
Alinas Mutter trägt ein Oberteil mit viel zu tiefem Dekolleté, nennt es »Herrenkino« und findet das witzig.
»Ach, lass mich doch«, sagt Mama, schüttelt ihre blonden Locken, drückt sie hier und da an den Kopf, um sie an anderer Stelle wieder rauszuzupfen. Dann reißt sie die Augen auf und geht ganz nah an ihr Spiegelbild heran.
Alina drückt derweil rot-weiße Streifen aus der Tube und putzt sich die Zähne. Wenn sie ehrlich ist, und das ist sie jetzt mal, wenn auch nur zu sich selbst, muss sie zugeben: Soo scheiße ist das mit diesem Klassenabend gar nicht. Während alle anderen in der Stadt den ersten Schultag komplett absitzen müssen, trifft sich die Freie Kreativschule Sternschanze erst um 18:00 Uhr. Lehrer, Schüler und Eltern. Kleine Ansprache von der Direktorin in der Pausenhalle, dann alle in die Klassenräume. Es stehen ein paar Wahlen an, auch im Kreis der Erziehungsberechtigten, weil das zur neuen Schule dazugehört, dass sich die Eltern voll einbringen in die Orga.
Anschließend wird über ein ominöses »Sozialexperiment« abgestimmt, für das alle aus der Klasse ein Konzept einreichen mussten. Hoffentlich wird nicht ihrs gewählt, denkt Alina. Hoffentlich gibt es keine dummen Kennenlern-Spielchen und hoffentlich keine Arschlöcher. Und am allerhoffentlichsten huscht die Dreizehnte einfach nur schnell an ihr vorüber, was nach dem letzten Horrorjahr auf dem Suder-Gymnasium mehr als angebracht wäre.
Sie spuckt ins Becken, nimmt die Brille ab, bückt sich zum Wasserhahn und spült den Mund aus.
Scheiß Wyndi.
Spuckt gleich noch mal aus.
Der dummen Bitch nur einmal in die Fresse hauen, das wär so schön. Oder: Wyndi hat Krebs, und dann im Krankenhaus besuchen und sagen: »Kriegst du jetzt Chemo? Och, du Ärmste … Aber Glatze steht dir bestimmt!« Nein, in die Fresse wäre schon gut. Als Alina plötzlich von allen geghostet wurde und sie Wyndi im Klassenraum deswegen zur Rede stellen wollte, tat die einfach so, als ob Alina nicht da wäre. Sogar als sie anfing rumzuschreien, tat Wyndi weiter so, als wäre Alina Luft (da gab es noch keine Dr. Mannteufel), und schließlich flog ihre Faust von ganz allein in Richtung von Wyndis stummer, dummer Fresse. Die duckte sich weg, schlug aber wenigstens mit den Zähnen auf die Tischkante, und die Zähne waren raus, oben, alle beide, fette Zahnlücke, scheiße, sah das geil aus. Leider kein Foto gemacht. Und leider glaubten auch alle Wyndis Story: Alina hat mir die Zähne ausgeschlagen! Also muss sie das definitiv noch nachholen, sonst stimmt doch irgendwas nicht mit dem Universum.
Immerhin eins hat Alina aus der Sache gelernt: Sie kann niemandem trauen. Dr. Mannteufel ist zwar anderer Meinung, aber die ist auch Therapeutin und will nicht umsonst studiert haben.
Alina spült ihre Zahnbürste aus, klopft sie am Waschbeckenrand ab und setzt die Brille wieder auf.
Mama spielt mit dem Seidentuch. Legt es sich aber nicht um. Oh nein.
»Ey, Mama …«
Ihre Blicke treffen sich im Spiegel. Mama dreht den Kopf zu Alina.
»Kannst du mir einen Gefallen tun, Mama?«
»Alles, Lini, was denn?«
»Keine Zaubertricks heute Abend? Bitte?«
Mama sieht sie geradezu empört an. »Aber Lini, wo denkst du hin?«
Dabei stopft sie sich nebenbei das Seidentuch in die linke Faust, bis es verschwunden ist. Öffnet die Faust und präsentiert einen kleinen gelben Ball. Haut ihn sich ins Gesicht, wo er quietschend auf der Nase stecken bleibt und auf einmal rot ist. Und während ihre Mama sie weiterhin entrüstet ansieht, als wäre es die absurdeste Idee überhaupt, dass sie im Beisein von Alinas neuer Klasse Zaubertricks vorführen könnte, steigt aus ihrem Mund eine Seifenblase.
Alina schließt die Augen und denkt an Frau Mannteufels neue Liste mit den verfickten Tipps. Erstens, das rote Stoppschild, das sie sich vorstellen soll, um die scheiß Wutexplosion zu stoppen (was für ein Schwachsinn), zweitens, das tiefe, ruhige Atmen durch die Nase in den Bauch (sie schnauft wie ein Schwein), und kurz bevor sie schreiend die Faust in Mamas dämliche Clownsfresse im Spiegel schlägt, fällt ihr, drittens, der Kälteschock ein – sie reißt den Hahn nach rechts, hält die Handgelenke und Unterarme drunter, und tatsächlich: Das hilft.
Uff.
Alina atmet aus, Mama schaut sie ernst an. Und nickt.
»Okay, Mausi. Keine Tricks, Ehrenwort.«
Sie nimmt die Clownsnase ab, Mutter und Tochter tauschen einen Spiegelblick, Mama versucht ein versöhnliches Lächeln, Alina nicht.
»Ich wäre dann so weit«, sagt sie, macht Kussmundlippen und prüft abwechselnd beide Wangen im Spiegel. »Und du? Hast du saubere Fingernägel?«
»Ich weiß nicht, kannst du mal kucken?«, fragt Alina, hält Mama ihre Hände hin und klappt die Finger langsam ein, bis nur noch die beiden Mittelfinger aufragen.
Es geht ihr schlagartig besser. Sie grinst.
»Ach, Lini …«, seufzt Mama enttäuscht. »Ein bisschen mehr Benehmen stünde dir von Zeit zu Zeit ganz gut.«
Sie verlassen das Badezimmer.
Im Flur dreht sich Mama zu ihr um, mit einem Gesicht, das für ein viel zu übertriebenes Weihnachtsgeschenk reserviert ist, so eins, das man sich eigentlich nicht leisten kann, und sagt: »Komm. Ich bestell uns ein Taxi!«
Und bis auf das Weihnachtsgeschenk stimmt es ja auch, es ist völlig übertrieben, und leisten können sie es sich auch nicht, aber entweder hat Mama gerade wieder Geld auf dem Konto oder ein schlechtes Gewissen wegen gerade oder beides, und natürlich hofft Mama auch, dass es die anderen Eltern sehen. Wie sie mit dem Taxi vorfahren.
»Ich nehme die Wahl zur Leiterin des Festkreises an.«
Mamas Wangen leuchten rot, und es ist nicht das Make-up.
»Vielen Dank für das Vertrauen, welches Sie mir entgegenbringen, ohne mich wirklich zu kennen. Ich freue mich sehr darauf, mit Herrn Carstensen ein paar tolle Feten auf die Beine zu stellen.«
Fuck, ernsthaft, Mama?FETEN?
Alinas Mama lächelt Herrn Carstensen an, der direkt neben ihr sitzt und zurückstrahlt wie ein Lottogewinner, im echten Leben aber der Vater von einem Geek namens Corvin ist. Welcher kurz zuvor einstimmig zum Klassensprecher gewählt wurde. Kunststück, er war der einzige Kandidat. Und, als wären Herr Carstensen und ihre Mutter nur zu zweit im Raum, sagt der Klassensprechervater: »Ich bin übrigens der Urs, wir können uns gern duzen«, dabei glotzt er ins Herrenkino, Film mit Überlänge, dann hält er ihr den Zeigefinger hin, und aus irgendeinem Grund weiß Mama, was zu tun ist, und drückt ihren Zeigefinger dagegen, und gemeinsam machen sie zwei kurze, kreisende Bewegungen, Fingerkuppe an Fingerkuppe.
»Fein, ist mir auch lieber. Ich bin die Ulli.«
Mama leuchtet wie ein Filmscheinwerfer.
Alina schließt die Augen und versucht, sich ein Jahr in die Zukunft zu beamen, in eine Welt, in der sie Abi und ein Stipendium im Silicon Valley hat, aber das mit dem Beamen ist genauso Science-Fiction wie das mit dem Stipendium.
Sie öffnet die Augen, weil Corvin engagiert zu klatschen anfängt, um das neue Partykomitee zu beglückwünschen, alle Eltern müssen notgedrungen mitmachen. Der eine von den beiden Gebärdendolmetschern, der gerade dran ist, wedelt neben den Ohren mit den Händen. So geht also Gebärden-Applaus. Es sind gleich zwei Dolmetscher mitgekommen, die einer gehörlosen Mutter gegenübersitzen und sich jede Viertelstunde abwechseln müssen, so anstrengend ist das für die. Die Tochter der Gehörlosen, Johanna, sitzt neben ihr, kann aber hören, und gebärden kann sie auch, nur dass es bei ihr nicht so hektisch und schwitzig nach Arbeit aussieht wie bei den Dolmetschern, sondern wie ein verträumter Fingertanz. Johanna ist nämlich eine Elfe oder Fee oder so was, für einen Menschen jedenfalls eindeutig zu schön.
»Gut, wäre das also erledigt, ich danke Frau Beinert für ihr Engagement. Bei der Weihnachtsfeier sehen wir dann, was sie draufhaben, hahaha …«, Herr Kujawa lacht ein dröhnendes Schnurrbartlachen, von dem man nicht glauben kann, dass es echt sein soll.
»Kommen wir zum nächsten Punkt: Das Sozialexperiment.«
Kujawa sortiert seine Blätter, findet, was er sucht, schaut auf.
»Im letzten Schuljahr haben wir ja Die Welle gekuckt und gesehen, wie so etwas fürchterlich schiefgehen kann.« Er blickt sich um, strahlt in die Runde.
Alina folgt seinem Blick, versucht, sich an die Namen zu erinnern, eigentlich nicht so schwer, sie sind ja nur elf in der Klasse. Anja, die alle Ganja nennen, hat sie immerhin freundlich angelächelt, als sie reinkam, offensichtlich komplett lash, sie hatte noch frischen Grasmock in den Dreads hängen. Semmel scheint ein Arsch oder zumindest ein Idiot zu sein, der so auf ironisch die dumme Grölstimme von GZUZ nachmacht und »CL500« im Treppenhaus singt, aber das natürlich trotzdem irgendwie voll feiert. Bitzer ist der Witzbold. Aus Topmodel Johanna wird sie noch nicht schlau, dürfte aber eine Bitch sein, so überhübsche Menschen sind ja grundsätzlich suspekt, hatten es viel zu leicht im Leben dank Goldener-Schnitt-Visage. Corvin ist safe ein Vollbrot, unkontrolliert umherschlenkernde Arme, Billobrille, und auf der Nase so ein Pickel mit kleiner gelber Haube drauf. Trotzdem kommen die meisten irgendwie okay rüber. Echt ein anderer Vibe hier an der Schule, und in der Klasse sowieso, so zu elft.
Herr Kujawas Rundblick bleibt bei Alina hängen, die dummerweise nicht rechtzeitig wegkuckt.
»Alina. Haben Sie den Film in den Ferien denn auch sehen können?«
Sofort zappelt das Herz wie bescheuert. Sie bekommt nur ein »Nee« über die Lippen.
»Nein?«, fragt Herr Kujawa mit verwundert-interessiertem Blick, soso, das geht ja gut los, will er mit all seinem Gesichtshaar sagen, den Augenbrauen, die nach oben wandern, und dem Schnurrbart, über den er sich wischt.
»Hab aber das Buch gelesen«, sagt sie schnell.
Wie bescheuert kann man eigentlich sein?
Herzlich willkommen: die neue Streberkuh der Klasse.
»Weil, ich halte den Jürgen Vogel echt nicht aus.«
Ein paar Schüler und auch Eltern kichern, auch Kujawa dröhnt durch den Schnurri.
Gerade noch die Kurve gekriegt.
»Hervorragend. Möchten Sie nicht den Anfang machen und die Konzepte vorlesen, über die wir anschließend abstimmen?«
Alina wird ganz heiß, rot wird sie nicht, das weiß sie, es fühlt sich aber so an, und sehen kann man es bestimmt trotzdem irgendwie, gefühlt springen die Schweißtropfen aus ihrem Kopf wie im Comic.
Jetzt meldet sich auch noch Mama. Und Herr Kujawa nimmt sie dran. Ohne Scheiß, wie im Unterricht.
»Ich wollte nur mal sagen, dass ich diese Idee mit dem Experiment wirklich großartig finde. Ich hätte am liebsten selbst mitgemacht. Geht Ihnen … euch das nicht auch so?« Alinas Mama blickt engagiert in die Runde, ein paar der anwesenden Mütter nicken aus Notwehr, Väter sind natürlich Mangelware. Herr Carstensen, dann der Vater von Bitzer, so ein Ökonazi, und Herr Hein, der dicke Doktorrockerdaddy von Nele. Der Ökonazi kam vorhin mit einem High-End-Liegefahrrad vorgefahren und so einer Airbag-Fahrradhelmwurst um den Hals. Zum unter Garantie frisch geschiedenen Arzt in Lederjacke gehört dann wohl die Midlifecrisis-Harley auf dem Parkplatz. Was für beschissene Boomer-Klischees, geben sich auch noch mit Brudergruß die Hand, so dumm auf Schulterhöhe, wie die letzten Prolls, denken aber, dass sie coole Typen sind, die das Leben gecheckt haben, und nicht fünfzig und vom Aussterben bedroht.
»Hier, reichen Sie das doch mal bitte durch zu Alina«, sagt Herr Kujawa, zwinkert ihr zu wie ein Showmaster und schickt einen gefalteten Zettel im Sitzkreis auf Wanderschaft. Alina fragt sich, ob er vielleicht schwul ist. Und es vielleicht selbst noch nicht weiß. Wie cool er wär, wenn er es wüsste und sich outen würde. Schwuler Klassenlehrer wär schon nice. Wahrscheinlich muss er aber im Schrank bleiben, bis seine Mama stirbt.
Corvin springt an die Tafel. »Ich schreib mal mit.«
»Sehr gut, Corvin.«
Daumen nach oben vom Klassenlehrer.
Corvin schreibt, nein, lettert in schräger, schlanker Schrift SOZIALEXPERIMENTE an die Tafel. Wie für Insta. Alina braucht Wasser, oder besser Wein, und ein Bett und Musik auf die Ohren und Licht aus, ihr Herz marschiert schon wieder los, fuck, dann muss sie wohl mitgehen. Sie entfaltet die Liste, räuspert sich, und während sie vorliest, hört sie ihre eigene Stimme in den Schläfen, wie von jemand anderem: »Also. Im Frühjahr fahren wir für eine Woche nach Harburg in ein Seminarhaus und wollen die Zeit dort nutzen, um nach bestimmten Regeln zu leben. Es soll ein soziales Experiment sein, das die Gemeinschaft fördert. Alle aus der Klasse haben, wie üblich anonym, ein Konzept abgegeben.«
Corvin mischt sich ein: »Und Herr Kujawa meinte, wenn wir uns nur Quatsch ausdenken, dann müssen wir die ganze Woche in Harburg schweigend verbringen und Kohlsuppe essen.«
Die Eltern lachen, Kujawa steigt zu spät ein und übertönt dann alle mit seinem Dröhnlachen, begeistert von sich selbst.
Alina blickt auf das Blatt. Die Liste ist lang. Dreht das Blatt um, die Liste geht weiter. Fuck. Aber da muss sie jetzt durch.
»Ich les mal vor.«
Sie räuspert sich. Schon wieder.
Ihr Mund ist aus Pappe.
»Vorschlag Nummer eins: Jeden Abend werden die Schlafplätze neu verlost«, die letzte Silbe wird von einem klickenden Schmatzen begleitet.
Herr Kujawa beschwichtigt die murmelnden Eltern sofort: »Keine Sorge, das dürfen wir gar nicht.«
Die Mutter neben ihr ist ein Engel: Hat einen türkisen Plastikbecher gezückt und gießt aus einer Flasche Wasser ein, Alina nimmt den Becher dankend entgegen und trinkt. Ganz ruhig, jetzt nicht gierig werden.
Sie leckt sich die Lippen. Mund geht wieder.
»Wir kochen jeden Tag nach Farbe. Alle müssen sich gegenseitig füttern, man darf nicht allein essen«, Gekicher von ein paar Müttern, sie selbst muss schmunzeln, bekloppte Idee, aber irgendwie funny. »Vorschlag drei und vier sind gleich: eine Woche FKK …«, die Prolldaddys lachen kehlig und schallend, Semmel ebenfalls, der Doktor betrachtet Johanna. Corvin schreibt fleißig mit, Alina ist im Modus: »Fünftens. Gendertausch – die Jungs tragen BHs und Mädelsklamotten und müssen sich die Beine rasieren und umgekehrt …«, wieder Gekicher und Geraune, Alina schwebt durch die mehr oder minder schwachsinnigen Konzepte, wie durch einen Tunnel, bis sie endlich ans Ende der Liste gelangt.
»Alle schreiben anonym Tagebuch, Gedichte oder was auch immer im Handy, und jeden Abend druckt Herr Kujawa die Texte aus und verteilt sie zufällig. Dann liest jeder reihum laut vor …«
Die Eltern sind begeistert, fangen an mit ihren Sitznachbarn zu labern, Alina wartet einen Moment, dann hebt sie ihre Stimme und macht weiter. Ein letztes Konzept noch. Dann hat sie es geschafft.
»Und zu guter Letzt: Es gibt keine vorgeschriebenen Bettgeh- und Essenszeiten oder überhaupt irgendwelche Programmpunkte, dafür aber auch die ganze Woche keine Bücher, keine Musik oder sonstige Medien, gar nichts. Vor allem: keine Handys.«
Jetzt rasten die Eltern richtig aus, die Kinder ohne Smartphones, wie soll das gehen, hihihi, die Dinger sind doch bei denen an der Hand festgewachsen, hahaha, ob die ohne Google Maps überhaupt vom Klo zurückfinden, hoho. Jede Mutter macht noch einen schlechten Spruch mehr, die kriegen sich gar nicht mehr ein und sind schon richtig in Fahrt für den Wein, den sie sich gleich nach dem Klassenabend noch im Silberfuchs gönnen, das war vorhin schon Thema. Die hennarot gefärbte Mama von Ganja hat vorsichtshalber jetzt schon einen hängen.
Kujawa steht auf und verteilt Stimmzettel an die Jugendlichen, darauf die Liste mit den Konzepten zum Ankreuzen.
»Jeder nur ein Kreuz«, sagt er in komischem Singsang, und ein paar Eltern lachen, als wäre das besonders witzig, dann geht er mit einer Pappschachtel rum, und alle stecken ihren Zettel oben in den Schlitz.
Er setzt sich, schüttelt die Schachtel, öffnet feierlich den Deckel und fängt an, die Wahlzettel zu verlesen. Corvin macht Striche an der Tafel.
Als bei den anonymen Tagebüchern der vierte gemacht wird, kommt wieder die Hitze in Alina hoch. Das war nämlich ihre Idee. Bei so vielen schwachsinnigen Vorschlägen hat sie leider gute Chancen. Was, wenn das dann voll schiefgeht, noch schlimmer als bei Die Welle, und rauskommt, dass das ihre Idee war?
Die Kreide quietscht. FKK und Schlafplatzverlosung wurden bereits im Vorfeld von Kujawa aus der Wertung genommen, natürlich gibt es trotzdem schon zwei Stimmen für FKK. Drei für die handyfreie Woche. Eine Stimme für Gendertausch, noch eine für handyfrei. Was ist eigentlich bei Gleichstand? Der letzte Zettel … Kujawa macht es spannend. »Und die letzte Stimme geht an …« Er entfaltet ihn und grinst. »… die handyfreie Woche!«
Riesiger Applaus, es scheint alle Eltern im Raum sehr, sehr glücklich zu machen, dass ihre Kinder eine Woche ohne Telefon verbringen müssen.
Alina ist erleichtert. Doch Moment … Sie zählt noch mal die Striche nach. Sie sind doch nur zu elft in der Klasse. Soll sie was sagen? Lieber nicht. Da meldet sich Johanna. Sogar als Handmodel könnte sie Karriere machen, so schön ist ihre Scheißhand, schlanke, lange Finger, perfekte Nägel, ein zartes Goldkettchen ums dünne Gelenk, das beim Melden am Arm herab in den Ärmel ihres lässig geschnittenen Cashmerepullovers gleitet.
»Johanna, bitte.« Kujawa streicht sich den Schnurrbart glatt.
Johanna richtet sich auf, streckt den Rücken durch und kuckt ernst. Und kritisch. Während sie spricht, gebärdet sie automatisch mit, leicht zu ihrer Mutter gedreht.
»Kann es sein, dass einer doppelt gestimmt hat? Ich zähle zwölf Striche. Wir sind doch nur elf in der Klasse.«
Alle Eltern schauen jetzt zur Tafel, der Boomer-Arzt kneift ein Auge zusammen und tippt mit dem Zeigefinger in die Luft, während er nachzählt. »Jau, zwölf!«, sagt er jetzt. Das musste wohl noch mal von offizieller Stelle bestätigt werden.
Johanna starrt ihn ungläubig an, dann pustet sie eine ihrer dunkelblonden Strähnen aus dem Gesicht.
Herr Kujawa lächelt schelmisch. »Gut aufgepasst, Johanna!«
Er stellt die Pappschachtel auf seinen Stuhl, reibt sich die Hände, geht einen Schritt in die Mitte des Kreises und dreht sich langsam, während er spricht.
»Nun, ich habe mir erlaubt, ebenfalls mit abzustimmen.«
Johanna zieht die Augenbrauen in die Höhe, sie und Alina tauschen zum ersten Mal einen Blick.
Kujawa fährt fort. »Denn schließlich habe ich auch ein Konzept abgegeben.«
Es herrscht Stille, niemand weiß so richtig, was man dazu sagen und davon halten soll. Johanna winkt ab, verschränkt die Arme und lehnt sich zurück. Ulli und Urs tuscheln. Wahrscheinlich aber wegen was anderem.
»Und, nun ja, ich bin selbst ziemlich überrascht, denn eigentlich wollte ich meine Schüler nur ein wenig erheitern, aber da wir eine faire, anonyme Wahl abgehalten haben und die Schüler sich freiwillig entschieden haben … also … die Idee mit der handyfreien Woche war von mir.«
Er grinst stolz und hält ganz unschuldig die Unterarme abgewinkelt, wie man das aus irgendwelchen Gründen macht, mit den Handflächen und der gefalteten Stirn zur Decke.
Johanna schüttelt unmerklich den Kopf, Alina versucht ein maximales What-the-fuck?-Face zu machen, als sich ihre Blicke schon wieder treffen. Dann dreht sich Johanna zu ihrer Mutter, nickt rüber zu Kujawa, schlägt den Handrücken von unten in die linke Handfläche und zieht mit dem rechten Zeigefinger über dem Auge lang, einen Strich nach außen. Dass das ein Schimpfwort war, konnte sogar Alina erkennen, Johannas Mama gebärdet mit mahnendem Gesicht irgendwas zurück.
Herr Kujawa fährt fort: »In der handyfreien Woche wird es auch keine Karten- oder Brettspiele geben, nicht mal Stifte oder Papier. Die Schülerinnen und Schüler können dafür den ganzen Tag machen, was sie wollen. Die sollen sich mal eine Woche so richtig langweilen.«
Das langweilen spricht er genussvoll wie ein perverser Märchenonkel.
»Das ist nämlich der größte Luxus überhaupt. So etwas erfahren die jungen Leute heutzutage ja gar nicht mehr.«
»Außer im Unterricht«, sagt Bitzer, und alle Eltern lachen, als hätte da einer einen ganz frechen Scherz gemacht, und dann schleimt er auch noch ein »bei Frau Schmeichelt« hinterher, und Dröhnlach-Kujawa zeigt noch mal, was er draufhat.
Die Mission lautet also: Unsichtbar durchs letzte Jahr.
Und wenn Alina in einem besonders gut ist, dann im Unsichtbarsein: nicht hübsch, nicht hässlich, nicht dick, auf keinen Fall dünn, 1,66 cm groß. Exakt die Durchschnittsgröße ihres Geschlechts in diesem Land in diesem Jahr. Nur eben die Version mit Brille.
Alles wie immer sozusagen, minus Wyndi und die anderen Assis.
Was allerdings neu ist, ist der Unterricht: Wenn hier gesungen wird, dann aus Leibeskräften, alle scheinen es zu lieben, der Musiklehrer ist ein kleiner, durchgeschüsselter Russe, der beim Dirigieren vollkommen steil geht, es gibt sogar einen Proberaum im Keller, wo eine Punkband aus der Elften probt und Semmel mit ein paar anderen Hip-Hop-Honks nach der Schule an Beats rumschraubt. Handys sind nur in der Pause erlaubt und werden, wenn man sie während der Stunde benutzt, ohne Vorwarnung eingesammelt und für einen Tag weggesperrt, das muss man unterschreiben. Dafür wird sogar im Matheunterricht gebastelt und modelliert und plötzlich rausgegangen, wenn Herr Kujawa merkt, dass seine Schüler unruhig werden. Und man kann sich im Klassenraum Kaffee kochen – während des Unterrichts. Kein Wunder, dass man für so eine Schule zahlen muss. Das eine Jahr übernimmt zum Glück Dad. Sonst wäre das für Alina nicht drin gewesen.
Zwischen den Stunden schottet Alina sich mit ihren AirPods ab, beobachtet alles und schreibt zu Hause ihren Geheimblog, nur für sich. Mama fragt sie jeden Tag aus, ob sie schon Freundinnen hat (nein) und ob es süße Jungs gibt (nein, nur Sprallos), und was sie im Unterricht gemacht haben (gesungen und gemalt), und ach, wie aufregend das alles ist.
Doch Alina ist lieber Luft. Zur Abwechslung mal freiwillig. Sie redet mit niemandem, in der Pause verzieht sie sich, geht rauchend durchs Viertel, durchstreift die ALDI-Gänge, ohne je etwas zu kaufen. Die anderen lassen sie in Ruhe. Der Einzige, der nicht lockerlässt, ist Corvin. Geht ihr unfassbar penetrant auf die Nerven. Könnte einem auch leidtun, aber Alina hat ihr ganzes Mitleid schon großzügig an sich selbst verschwendet nach dem Abfuck mit Wyndi. Sie braucht keine neuen Freunde, und schon gar nicht den Klassenidioten. Der versucht, Alina damit zu beeindrucken, dass er zu Hause eine Vogelspinne hat, und erzählt von noch so anderem Krabbelgetier, das bei ihm wohnt, er hat auch einen dreißig Zentimeter langen Riesentausendfüßler, den er auf seinem Arm rumkrabbeln lässt, zeigt ein Foto davon und labert und labert. Alina ekelt sich, würde sich am liebsten die Ohren zuhalten, atmet ein, atmet aus, vergeblich – wie eine Klinge blitzt es aus ihr heraus und schneidet Corvin mitten im Satz durch: »Hör auf, Corvin! Ich hasse echt alles, was mehr als vier Beine und kein Fell hat!«
Laut. Sehr laut. Viel zu laut.
Alle Gespräche verstummen.
Ganja und Johanna kichern.
»Also echt, Corvin, hör mal auf!«, mahnt Bitzer mit bekloppter Froschstimme. Alle lachen.
Soll das etwa ihre Stimme sein?
Hat sie eine Froschstimme?
Warum gibt es Menschen?
Alina will weg, will hier nicht sein, will gar nichts sein, und wenn, dann nicht Alina. Sie steckt sich die AirPods wieder rein, Musik an, Augen zu.
Einmal löschen bitte.
Alles?
Ja, alles.
Die erste Woche ist fast geschafft.
Am Freitag, kurz vor Unterrichtsbeginn, drängelt sich Semmel an ihrem Platz vorbei und rempelt sie aus Versehen an.
»Oh, sorry.«
Er bleibt vor ihr stehen. Sie sitzt am Tisch, er schaut verblüfft auf ihre Schulter.
»Ist das deine? Ich dachte, du magst keine Spinnen?«
Alina kuckt da hin, wo Semmel hinkuckt, und FUCK!, da ist eine echte, fette Spinne, die der Wichser ihr beim Anrempeln da hingesetzt haben muss. Sofort springt sie auf und kreischt, alle lachen, wussten Bescheid und haben nur drauf gewartet. Als sie sich die Spinne von der Schulter wischt, schreit Semmel: »Da, noch eine!«, und zeigt mit panischem Blick auf ihren Kopf. Alina quiekt und wuschelt sich hektisch durch die Haare, alle johlen, noch lauter als vorher, denn natürlich ist da keine zweite Spinne. Die einzige Scheißspinne sitzt vor ihr auf dem Boden, Alina hebt den Fuß, doch Corvin hechtet dazwischen und ruft: »Nicht!« Er bückt sich, schaufelt die Spinne behutsam in seine hohle Hand, trägt sie zum Fenster, setzt sie raus.
Alina nimmt wieder Platz, ihre Kiefer mahlen, aber jetzt für Dr. Mannteufel zum Waschbecken zu gehen und vor den Augen der gesamten Klasse Wasser über ihre Unterarme laufen zu lassen, das geht auf keinen Fall. Sie versucht das mit dem Atmen, aber sie will lieber schreien oder irgendwas kaputttreten, irgendwo reinstechen, am liebsten in Semmels Eier.
Sie nimmt ihren Füller aus der Federmappe, Corvin kommt vom Fenster zurück und hält ein Spontanreferat über Achtbeiner, über ihre vielen Augen und Sinnesorgane, ihre wichtige Funktion für das Ökosystem. Alina starrt aus dem Fenster, ihr Atem geht schneller, die Worte perlen an ihr ab, unter dem Tisch umschließt sie mit beiden Fäusten den Lamy, und ganz langsam und leise zerbricht sie ihn, während Corvin labert und labert. Sie schließt die Augen, denkt sich in den Bus, der nach Ottensen fährt, sie klingelt bei Wyndi, die ihr erstaunt die Tür aufmacht, und dann, mit Anlauf, schlägt Alina ihr die Faust endlich in die Fresse, und noch mal, und noch mal, bis die frisch gemachten Zähne wieder draußen sind und die Polizei kommt und Alina mitnimmt und ins Gefängnis steckt, und da hat sie dann endlich Ruhe.
Na bitte, standesgemäßer Losereinstieg für Alina. Hatte sich mit Sicherheit eh schon rumgesprochen, dass sie von der alten Schule runtergemobbt wurde. Die Tür schwingt auf – Kujawa entert den Raum.
»Soo, dann setzen Sie sich mal hin. Wir wollen den ersten Projektpräsentationen für den freien Freitag lauschen.«
Schon sein Tonfall verrät, dass er heute nicht in Grinseschnurrbartstimmung ist. Sieht richtig genervt aus sogar. Aber Alinas Hand ist tintenblau, sie muss jetzt doch zum Waschbecken, und obwohl die Wut schon aus ihr rausgetropft ist, tut das kalte Wasser wirklich gut. Sie schließt die Augen.
Kujawas scharfe Stimme holt sie zurück.
»Alina, setzen Sie sich bitte auch hin!«
Sie schlurft zu ihrem Tisch, versteckt die blaue Hand, den Blick aufs graue Linoleum geheftet, und als sie sich den Stuhl ranzieht und den Kopf hebt, sieht sie nur den bekackten Maik Semmel der sein bekacktes Maik-Semmel-Grinsen grinst.
»Ich glaube, Ihre neue Mitschülerin weiß noch gar nicht, worum es sich beim freien Freitag handelt, oder?«
Alina setzt sich, blickt hoch, schüttelt den Kopf.
»Wer kann es denn noch mal zusammenfassen?«
Corvin meldet sich. Kujawa winkt genervt ab.
»Nicht immer nur Corvin.«
Semmel tuschelt mit Bitzer, sie gackern extra dämlich.
»Maik, Sie scheinen heute außerordentlich gute Laune zu haben, hätten Sie die Güte?«
Semmel lacht zufrieden.
»Aber gern. Also, jeder überlegt sich ein handwerkliches oder künstlerisches Projekt, dem er sich bis zu den Winterferien jeden Freitag widmen kann.«
»Und?«
»Und in der Woche vor Weihnachten präsentieren wir die Projekte im Beisein der Eltern auf der Weihnachtsfeier, die Alinas Mutter und Corvins Vater ausrichten.« Auf das letzte Wort schnippt er mit beiden Händen gleichzeitig, haut kräftig mit der rechten Hand auf die linke Faust, und wiederholt die Bumsgeste ganz schnell dreimal. Bitzer jubelt »Knick Knack«, und alle Pferde wiehern vor Vergnügen.
Aus dem Augenwinkel bemerkt Alina, wie Corvin zu ihr rüberschaut, sie schließt die Augen.
»Es reicht!«, Kujawa mit einem Mal richtig laut, alle verstummen schlagartig.
»Ich hatte Ihnen ja bereits vor den Sommerferien angekündigt, dass Sie Zeit haben, sich bis heute Gedanken zu machen, und dass das gesamte Projekt mit Ihrer Eigeninitiative steht und fällt. Wer wird also als Erstes sein Konzept vorstellen?«
Diesmal meldet sich nicht mal Corvin.
»Niemand?«
Kujawa erhebt sich und geht durch die Reihen.
»Ernsthaft? Sie wollen freitags lieber Mathematik Spezial haben? Und ein paar zusätzliche Tests schreiben?«
Kujawa dreht auf der Hacke um und geht zurück nach vorn, setzt sich auf den Lehrertisch.
Er wendet sich Alina zu.
»Der freie Freitag ist Ihrer persönlichen künstlerischen Entfaltung gewidmet. Es sollte vielleicht etwas mehr als ein Papierflieger sein, den Sie basteln, es geht um das kontinuierliche Arbeiten, um die Planung, Umsetzung und Präsentation eines Langzeitprojekts. Sie können ein Boot bauen, einen Film drehen, einen Schaukelstuhl schmieden oder ein Hip-Hop-Album aufnehmen. Hauptsache, Sie arbeiten kontinuierlich daran, präsentieren erst die Idee, entwickeln einen realistischen Zeitplan und halten sich daran.«
Alina glaubt es nicht. Heißt das nicht, sie könnte auch etwas programmieren? Als sie in den Ferien das Praktikum in dieser kleinen Softwarefirma gemacht hat, sollte sie sich ein Übungsprojekt überlegen. Da hat sie mit so einer Web-App angefangen. Ist aber nicht fertig geworden und kommt seitdem nicht weiter. Und daran könnte sie jetzt jeden Freitag arbeiten? Während der Schulzeit??
Kujawa stemmt die Hände in die Hüften. »Also, ich frage ein letztes Mal, wer präsentiert?«
Noch immer meldet sich niemand.
»Ich glaube, Sie haben mich nicht ganz verstanden … wenn heute kein Projekt präsentiert wird, ist der freie Freitag gestrichen. Das war so angekündigt. Sie haben hier eine einmalige Chance – und sind zu blöd oder zu faul, diese zu nutzen?«
Corvin meldet sich. »Ich möchte präsentieren.«
»Corvin. Na gut. Was haben Sie vorbereitet?«
Corvin steht auf, geht nach vorn und malt einen großen Tausendfüßler an die Tafel. Gar nicht schlecht, er lässt sich Zeit. Als er fertig ist, lettert er groß OTTO darüber.
»Also, ich, äh, möchte einen Film drehen. Über meinen afrikanischen Riesentausendfüßler. Otto. Ich habe vor … ich werde ihn zwischen Weihnachten und Neujahr in Afrika aussetzen. In seiner Heimat.«
Kujawa schnaubt langsam durch den Schnurrbart. Und sagt lange nichts. Atmet geräuschvoll durch die Nase ein, schließt die Augen und stützt sich mit den Knöcheln auf den Lehrertisch.
»Corvin. Wollen Sie mich VERARSCHEN?« Er spricht das extra deutlich. »Das Projekt soll VOR Weihnachten fertig werden. Sie wollen Ihren Tausendfüßler NACH Weihnachten in Afrika freilassen. Und Ihre ›Präsentation‹«, er macht eine Pause, wie um einen Schmerz vorüberziehen zu lassen, »besteht aus einer Kreidezeichnung und ein paar gestammelten Halbsätzen.«
»Äh, na ja, ich muss ja, die Reise planen und so, mich impfen la…«
»HINSETZEN!«
Kujawa brüllt, Corvin schleicht.
Alinas Haarwurzeln kribbeln.
Es ist unmöglich, undenkbar, dass sie jetzt ihr Projekt präsentiert. Die mit der Spinnenphobie und der blauen Hand. Aber die Aussicht, das während der Schulzeit fertig machen zu können, ist einfach nur todesgeil – sie muss irgendwie versuchen, den freien Freitag zu retten!
Es ist zwar Selbstmord, doch sie holt ihren Rechner aus dem Rucksack und meldet sich. Mit der blauen Hand. Wenn schon sterben, dann spektakulär.
»Äh, kann ich vielleicht … also, mein Projekt präsentieren? Müsste nur den Beamer anschließen.«
Sie hat es tatsächlich gesagt. Mit dem Laptop in der Hand steht sie auf.
Irgendwer hinter ihr fragt leise: »Hää?«, klingt wie Bitzer.
Kujawa kuckt sie feindselig an.
»Sie wussten bis eben überhaupt nicht, dass es den freien Freitag gibt – wie wollen Sie da fünf Minuten später schon ein Konzept präsentieren?«
Warum ist sie aufgestanden?
Soll sie sich wieder setzen?
Sie fühlt sich fleckig.
»Na ja … Sie haben zwar versäumt, mir rechtzeitig mitzuteilen, dass ich mir eins überlegen soll …«, scheiße, so sollte das gar nicht klingen, aber das heitere Raunen und leise Gelächter, das nun durch die Reihen geht, fährt leicht zeitversetzt auch als wohliger Schauer durch Alina, und jetzt steht sie da schon ganz anders, hebt ihren Rechner hoch und fährt fort: »… ich habe in den Ferien beim Praktikum so ein Projekt begonnen, das könnte vielleicht passen. Also, wenn Programmieren auch als Handwerk oder Kunst zählt?«
Kujawa zieht die Augenbrauen nach oben, die eine anerkennend, die andere erstaunt.
»Alina. Ich brauche nicht noch so einen halbgar improvisierten Vortrag. Die Projekte müssen mit Powerpoint oder Keynote präsentiert werden – das gehört leider dazu.«
Er erhebt sich.
»Ich hab ’ne Powerpointpräse.«
Für so ein Stipendium in Kalifornien.
Sie winkt mit dem Laptop. Ihr Lehrer schiebt sich die Unterlippe über die Oberlippe, zieht den haarigen Busch damit glatt und zeigt zum Beamer.
»Na gut. Schießen Sie los!«
Der blaue Startscreen des Beamers verschwindet, Alinas Desktop erscheint an der weißen Wand. Sie öffnet PowerPoint. Es gibt kein Zurück mehr. Sie legt los.
»Ich hab vor ein paar Jahren auf der Code Week bei so einem App Camp mitgemacht, und seitdem kann ich ein bisschen coden. Jetzt im Sommer habe ich ein Praktikum bei einer Softwarefirma gemacht – DNApp, die programmieren Apps und Webshops. Und da habe ich so ein Übungsprojekt angefangen.«
Sie klickt, das Wort MUSC erscheint riesengroß.
»Die Zeit war aber leider zu knapp, um es fertigzustellen.«
Die nächste Folie zeigt einen Screenshot vom Interface.
»Die App läuft im Browser und funktioniert wie ein kleines, geschlossenes Social Network. Aber rein textbasiert. Jeder Teilnehmer bekommt einen zufällig generierten Invite Code und den Link zur Gruppe in der App, und damit kann man sich anmelden und ein Profil mit Bild anlegen. Und wenn sich jeder einen Avatar sucht und irgendeinen Nickname gibt, können alle ihre Beiträge anonym posten. Tagebuch, Gedichte – was auch immer. Man kann auch alles kommentieren und liken, wie bei Facebook oder Insta, aber keiner weiß, wer wer ist.«
Ein dritter Screen zeigt, wie das aussehen könnte. Alina rollt weiter durch den Vortrag wie eine Rube-Goldberg-Maschine.
»Das würde ich gern für unsere Klasse aufsetzen. Die App könnte bald fertig sein, aber das Debuggen, die Verwaltung des Netzwerks und das Community-Management werden mich mit Sicherheit bis Weihnachten auf Trab halten.«
Kujawa steht auf. Wie kuckt er? Ist er sauer? Nein, er sieht eigentlich ganz zufrieden aus. Aller Groll scheint von ihm abgefallen, tatsächlich: Grinse-Kujo is back.
»Die Unvoreingenommenheit bei der Leistungsbewertung ist ein Grundprinzip unserer Schule, und so sollte, wann immer durchführbar, Anonymität gewährleistet sein«, intoniert er mit ordentlich Pathos in der Stimme.
Das ist der erste Punkt der Schulverfassung. Bei Alinas Aufnahmeprüfung saßen die Lehrer allen Ernstes hinter einem Vorhang, als sie reinkam und ihr Stück auf dem Klavier vorspielte. Damit sollte jede Voreingenommenheit aufgrund des Geschlechts oder der Optik des Prüflings ausgeschlossen werden.
»Das Schulprinzip in den Raum der privaten Kommunikation zu übertragen ist ein faszinierender Ansatz, Alina!«, fährt Kujawa nun in normaler Tonlage und mit echter Begeisterung in den Augen fort und wischt sich über die Bürste in seinem Gesicht. So zwanghaft, voll der Tick. »Aber wie können Sie gewährleisten, dass sich auch an die Umgangsformen der Schule gehalten wird? Da es ein Schulprojekt ist, müsste ein Lehrer als Moderator zugeschaltet sein. Ich, zum Beispiel.«
»Zensur!«, Buhrufe erklingen, auf der hintersten Bank ruft jemand »Lü-gen-leh-rer! Lü-gen-leh-rer!«, sofort steigen ein paar andere mit ein.
Kujawa nimmt es inzwischen wieder gelassen, winkt mit geschlossenen Augen zur Ruhe und streicht sich zum einhundertfünfundsiebzigsten Mal über den Schnurrbart.
»Nun gut. Alina, ich vertraue Ihnen und gehe davon aus, dass Sie als Projektleiterin einschreiten, sobald die Nulltoleranzregel der Schule gebrochen wird. Keine rassistischen, sexistischen oder homophoben Äußerungen.« An die Klasse gewandt: »Und von Ihnen wünsche ich mir, dass die Anonymität nicht Ihre dunkle, sondern Ihre zarte, verborgene Seite ans Licht holt. Die, die noch niemand kennt. Das ist eine fantastische Möglichkeit. Nutzen Sie die gut! Und bedanken Sie sich bei Alina. Sie hat Ihnen allen eine Woche Aufschub verschafft. Am nächsten freien Freitag will ich hier zehn Powerpointpornos sehen.«
Nach der Stunde, Alina pult gerade auf dem Gang die AirPods aus der Tasche, kommt Ganja zu ihr.
»Mega, echt mal«, sagt sie und haut ihr total boyish auf die Schulter. Ganz geiles Gefühl übrigens. Bitzer und Johanna stellen sich dazu. Und dann sagt ausgerechnet die schöne, arrogante Johanna: »Echt cool, wenn alle mit der App anonym schreiben können.« Sie pustet sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sanft abhebt und perfekt landet. »Weswegen eigentlich MUSC?«
Dass MUSC für Masked User Social Club steht, behält Alina lieber für sich, voll der prollige Name auf einmal.
»Wegen Elon?«, fragt Bitzer.
»Nein. Wegen Moschus.«
Und dann sitzt Alina allen Ernstes freitags während der Schulzeit mit ihrem Laptop in der Schule und programmiert. Einerseits kann sie ihr Glück nicht fassen, andererseits hat sie auch voll Angst, dass sie verkackt und heftige Bugs einbaut. Doch irgendwann ist MUSC 1.0 tatsächlich fertig. Rainer von DNApp, wo sie ihr Praktikum gemacht hat, hilft ihr am Ende ein bisschen, und sie machen mit dem Azubi der Firma einen Testlauf. Läuft rund. Am Ende ruft Rainer an. Der findet den freien Freitag ziemlich geil.
»Echt super Projekt, Alina. Sag Bescheid, wie es läuft, wenn du es in der Klasse gestartet hast. Präsentierst du es diesen Freitag?«
»Nee, erst nächste Woche. Will in Ruhe alles vorbereiten und noch an der Präse arbeiten. Wieso?«
»Freitag kommt so ein Consultant und gibt uns allen ’ne Schulung. Pair Programming. Haste nicht Bock?«
»Oh, cool … im Prinzip schon. Aber hab ja Schule.«
Es kann also losgehen. Mit MUSC. Eigentlich hätte man das alles auch auf wattpad.com mit einer geschlossenen Gruppe machen können, aber um die Plattform macht sie seit damals einen Bogen. Früher hat sie da Geschichten von anderen Mädchen in ihrem Alter gelesen und auch ihre Fan-Fiction und eigene Liebesgeschichten hochgeladen, bis Wyndi allen davon erzählt und ihren geheimen Usernamen verraten hat, und plötzlich brachten die Leute aus der Klasse nonstop peinliche Zitate aus ihren Lovestorys, in denen das unscheinbare Nerdgirl vom heißen koreanischen Prinzen in der Waschstraße verführt wird und solche Sachen.
Und jetzt, auf der neuen Schule, ist sie zwar immer noch das Nerdgirl, aber anscheinend ist das hier irgendwie cool. Ein bisschen sieht sie ja auch aus wie Alex von Modern Family. Oder es liegt an Big Bang Theory oder Stranger Things, dass Nerds inzwischen gefeiert werden dürfen.
Am Donnerstag nach der letzten Stunde nimmt Kujawa sie zur Seite.
»Rainer Münz hat mich angerufen.«
»Von DNApp?«
Scheiße, wieso das denn?
»Alina, Sie sind doch schon viel weiter als die anderen. Wollen Sie morgen zu dieser Schulung gehen? Ich habe das schon mit der Schulleiterin besprochen. Das geht klar.«
Und das erste Mal seit Langem ist sie zu laut, ohne dass es eine Wut ist, die aus ihr herausbricht: Sie quiekt vor Freude, wie ein Gummientchen, richtig schön scheiße.
Alina steht draußen bei DNApp vor der Tür, blinzelt in den Hamburger Freitagvormittag und raucht noch eine, bevor es losgeht. Von den anderen Programmierern rauchen nur drei, aber die sind sofort reingegangen, als Alina ankam. Ist ihr recht, die Raucherpausen mit denen waren schon beim Praktikum immer ’ne Megaqual. Der Einzige, der halbwegs vernünftige Sätze sagen kann, die nichts mit Computern zu tun haben, ist Scrum-Master Rainer, der die ganzen Code-Äffchen dressiert und den Gesamtüberblick über das Projekt hat, mit allen redet, auch mit den Chefs. Pair Programming war Rainers Idee. Deshalb kommt heute ein Typ von einer Consultingfirma, um dem Team die Methode vorzustellen. Optimieren, alles immer optimieren. Als wär das Team auch Code, den man möglichst effizient schreiben muss.
Alina atmet aus, genießt mit geschlossenen Augen die Herbstsonne, eine Wolke verdunkelt ihr den Moment. Ihr wird kalt. Sie schaut dem vorbeifahrenden Bus hinterher, der in einiger Entfernung anhält und fauchend Leute ausspuckt. Eine Frau kommt in ihre Richtung. Bleibt stehen, sieht sich um, holt ihr Handy raus. Irgendetwas an ihr wirkt vertraut … sie steckt ihr Handy ein, kommt näher, und na klar, das ist … Kim? Vom Girls Only App Camp auf der Code Week vor drei Jahren … Wie war noch mal der Nachname? So einer aus dem Geschichtsunterricht, wie ein Minister oder Bundespräsident oder so was … Adenauer! Kim Adenauer. Aber sie durften Kim zu ihr sagen.
Die war cool. Ein Jahr später hat Alina sie noch mal auf dem Chaos Communication Congress in Leipzig am Lockpicking-Stand gesehen. Auf dem Tisch vor ihr so mini Übungstüren, die gerade so groß waren, dass Platz für ein Schloss und eine Klinke war. Und auch Vorhängeschlösser aus Plexiglas, damit man sehen konnte, was drinnen für ein Mechanismus abgeht und wie man das kleine Werkzeug reinfummeln muss. Ist so ein Hackersport, zur Abwechslung mal echte Schlösser knacken. Aber Alina hat sich nicht getraut hinzugehen und es auch mal zu probieren. Und ihr Hallo zu sagen.
Kim bleibt direkt vor ihr stehen, sieht sie mit zusammengekniffenen Augen an, kuckt kurz hoch zum Firmenschild, dann wieder zu Alina und lächelt. Ob sie sich auch erinnert? Bestimmt nicht. Alina war eins von sechs Mädchen, sie hatte damals ihre Haare noch lang, nicht schwarz gefärbt, brav zum Pferdeschwanz gebunden und die rote Kassenbrille im Gesicht, zu der Mama sie in der neunten Klasse überredet hat.
»Hi«, sagt Kim. Auch sie hat eine andere Frisur als damals, Mikropony, hinten lang. Und wie es scheint, auch ’ne neue Brille, gold, sieht bisschen aus wie eine Modebloggerin. Oder eher wie eine, bei der sich die Modebloggerinnen den Style abkucken.
Alinas Pony ist das Gegenteil von mikro und fällt ihr bis auf das dicke, schwarze Nerdbrillengestell.
»Hi«, antwortet Alina, wirft ihre Kippe auf den Boden, pustet Rauch hinterher und tritt sie aus.
Kim holt eine Schachtel aus der Jackentasche, nimmt sich eine, schnippt gegen die Unterseite und bietet ihr die herausragende Zigarette an.
»Nachtisch?«
Alina grinst und greift zu. Traut sich aber immer noch nicht, etwas zu sagen, nicht mal Danke und erst recht nicht, dass sie sich kennen. Kim gibt ihr Feuer, sie rauchen ein paar Züge. Schweigen. Aber eins von der guten Sorte. Kim mustert sie. An ihren Augenbrauen sieht man, dass sie überlegt.
»Du kommst mir so bekannt vor«, sagt sie schließlich.
Alina nickt. »Ich war mal bei dir im App Camp auf der Code Week. Ist aber schon ein bisschen her.«
Kim lächelt, die Augenbrauen sind wieder da, wo sie hingehören.
»Richtig! Lena?«
»Alina.«
Kim legt ihr die Hand auf den Unterarm. Sie ist weich und warm.
»Sorry. Alina. Natürlich.«
Sie drückt noch mal sanft zu, dann nimmt sie die Hand weg, hinterlässt dabei ein angenehmes Glimmen auf Alinas Haut.
»Aber schön! Bist du dem Coden also treu geblieben?«
Alina nickt zur Seite, zuckt mit den Schultern. »Ja, bockt schon.«
»Sehr gut.«
Kim lächelt, bisschen mutterstolz. Zu Recht.
»Arbeitest du hier?«
»Nee, hab nur im Sommer ein Praktikum gemacht. Und heute ist so’n Workshop, da darf ich mitmachen. Ich mach nächstes Jahr Abi.«
Kim lächelt. »An welcher Schule bist du denn?«
»Freie Kreativschule Sternschanze.«
»Ach, die! Soll doch ganz gut sein?«
»Ja, anscheinend. Hab gerade erst gewechselt. Also, ist echt nice. Ich mach so ein Code-Projekt in der Schule.«
Kim schiebt erstaunt die Brille hoch. »Programmieren in der Schule? Gibt’s ja nicht. Haben sie das endlich verstanden, dass das ein Pflichtfach sein sollte?«
»Nee, ich bin die Einzige. Ist ’n freies Projekt.«
»Ein freies Code-Projekt …«, sagt sie in halber Geschwindigkeit, bewegt nickend ihren Kopf und atmet Rauch aus, der in Alinas Richtung weht. Schnell wedelt Kim die Wolke auseinander.
»Sorry.«
Alina betrachtet ihre Fußspitzen.
»Und ich vermute, du bist die einzige Frau hier im Laden?«
Kim kuckt hoch zum DNApp-Logo. Nullen und Einsen, die sich in einer Doppelhelix umeinanderwinden. Alina schaut ebenfalls hoch und nickt. Das erste Mal ist es ihr nicht peinlich, dass eine Erwachsene sie als Frau eingemeindet. In dem Blick, den sie jetzt tauschen, liegt mehr als in anderen Blicken, das Herz puckert ein bisschen, und ihr Unterarm erinnert sich an das Glimmen.
»Ja. Allein unter Raketenwissenschaftlern«, sagt Alina.
Kim lacht, prüft die Uhrzeit auf ihrem Handy, saugt die Zigarette fertig, blickt umher, sucht wohl einen Ascher, findet keinen, wirft die Kippe auf die Erde, tritt sie aus und hebt den Stummel auf.
»So. Kommst du?«
»Wie? Wohin?«
»Ich soll euch beibringen, wie Pair Programming geht.«
Lächelnd hält sie Alina die Tür auf, weist ihr den Weg nach drinnen, mit den spitzen Fingern der Zigarettenstummelhand.
»Du bist der … Consultant?«, leiert es aus Alina heraus.
Kim grinst.