Dangerous Games - Dunkles Verlangen - Elizabeth Lowell - E-Book
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Dangerous Games - Dunkles Verlangen E-Book

Elizabeth Lowell

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Beschreibung

Prickelnde Anziehung und tödliche Gefahr: Der fesselnde Roman »Dangerous Games – Dunkles Verlangen« von Elizabeth Lowell jetzt als eBook bei dotbooks. Ein mysteriöser Tod – und ein geheimnisvolles Erbe ... Obwohl bereits Monate seit dem Tod einer vermögenden Witwe vergangen sind, hat die Polizei keinen Hinweis auf ihren Mörder gefunden. Nichts als vier vergilbte Papierseiten hat sie ihrer Enkelin Serena hinterlassen. Was haben die seltsamen Symbole darauf zu bedeuten? Als Serena den charmanten Literaturexperten Erik North um Hilfe bittet, erfährt sie, dass die rätselhaften Blätter aus dem Mittelalter stammen und überaus wertvoll sind. Aber während sie gemeinsam versuchen, die Schrift zu entschlüsseln, kommen sie sich nicht nur gefährlich nahe – sie geraten auch ins Visier des Killers, der es von vornherein auf das geheime Wissen abgesehen hat ... »Nichts ist so, wie es scheint, in dieser verwickelten Geschichte, die den Fans von Lowell alles bietet, was sie sich wünschen und was sie von ihren enorm beliebten Liebesromanen erwarten.« Booklist Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Romantic-Suspense-Roman »Dangerous Games – Dunkles Verlangen« von Elizabeth Lowell ist der erste Band ihrer gleichnamigen Reihe, der Fans von Linda Howard und Karen Rose begeistern wird. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 620

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Über dieses Buch:

Ein mysteriöser Tod – und ein geheimnisvolles Erbe ... Obwohl bereits Monate seit dem Tod einer vermögenden Witwe vergangen sind, hat die Polizei keinen Hinweis auf ihren Mörder gefunden. Nichts als vier vergilbte Papierseiten hat sie ihrer Enkelin Serena hinterlassen. Was haben die seltsamen Symbole darauf zu bedeuten? Als Serena den charmanten Literaturexperten Erik North um Hilfe bittet, erfährt sie, dass die rätselhaften Blätter aus dem Mittelalter stammen und überaus wertvoll sind. Aber während sie gemeinsam versuchen, die Schrift zu entschlüsseln, kommen sie sich nicht nur gefährlich nahe – sie geraten auch ins Visier des Killers, der es von vornherein auf das geheime Wissen abgesehen hat ...

»Nichts ist so, wie es scheint, in dieser verwickelten Geschichte, die den Fans von Lowell alles bietet, was sie sich wünschen und was sie von ihren enorm beliebten Liebesromanen erwarten.« Booklist

Über die Autorin:

Elizabeth Lowell ist das Pseudonym der preisgekrönten amerikanischen Bestsellerautorin Ann Maxwell, unter dem sie zahlreiche ebenso spannende wie romantische Romane verfasste. Sie wurde mehrfach mit dem Romantic Times Award ausgezeichnet und stand bereits mit mehr als 30 Romanen auf der New York Times Bestsellerliste.

Elizabeth Lowell veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre historischen Liebesromane »Begehrt von einem Ritter«, »Verführt von einem Ritter« und »Geküsst von einem Ritter« sowie ihren Thriller »48 Hours – Rette dein Kind« Außerdem veröffentlichte sie ihre Romantic-Suspense-Romane »Dangerous Games – Dunkles Verlangen«, »Dangerous Games – Tödliche Gier« und die Donovan-Saga mit den Bänden »Thrill of Desire«, »Thrill of Seduction«, »Thrill of Passion« und »Thrill of Temptation«.

Die Website der Autorin: elizabethlowell.com

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eBook-Neuausgabe November 2023

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2001 unter dem Originaltitel »Moving Target« bei William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Gefährliches Erbe« bei Goldmann.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe der Originalausgabe 2001 by Two of a Kind, Inc.

Copyright © der deutschen Erstausgabe der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Christos Siatos, The Faces, Jenelle Jacks

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-883-6

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Elizabeth Lowell

Dangerous Games – Dunkles Verlangen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ingrid Klein

dotbooks.

Prolog

Östlich von Palm SpringsJanuar

Der Himmel war durchgängig blau und so leer wie das Herz eines Mörders.

Die Frau mit den drei Namen lächelte grimmig in den Rückspiegel ihres alten Pick-up. Der Mann, der ihr in dem weißen Toyota Sedan folgte, war schwer ausmachbar gewesen, war gewissermaßen verschmolzen mit der Autobahn, aber sein Glück verließ ihn, sobald sie den schmalen und einsamen Feldweg erreichten, der zu ihrem allein stehenden Haus führte.

Es war schwer, sich in der Wüste zu verstecken. Obwohl er weit zurückblieb und versuchte, unsichtbar zu bleiben, wirkte er wie eine ausgestreckte Neonzunge.

Das trockene, wilde Land sah gleichbleibend unverändert aus, war es aber nicht. Es war voller versteckten Lebens, voller Überraschungen, die von süß bis tödlich rangierten. Einige dieser Überraschungen waren Sandkuhlen, die absolut nichts zu tun hatten mit einem Golf Kurs. Andere Überraschungen waren Felsen und Schlaglöcher.

Sie hoffte, dass sich der kleine weiße Wagen einen Achsenbruch holen und der Fahrer sich das Genick brechen würde. Es würde ihr die Mühe ersparen, auf ihren Verfolger, wer es auch immer war, zu schießen – angenommen, sie konnte noch gut genug sehen, um es zu erledigen, bevor sie selbst erledigt wurde.

Du wirst alt, gestand sie sich schonungslos ein.

Seit mehr als fünfzig Jahren hatte sie den Fuchs überlistet; jetzt war sie schließlich in die Enge getrieben worden. Aber sie würde weder keine leichte Beute sein noch das alte, unbezahlbare Buch des Wissenden ausliefern. Lieber würde sie vorher sterben.

Der Pick-up holperte die letzte steile Viertelmeile zu ihrer Hütte hinauf. Rote DURCHFAHRT VERBOTEN-Schilder huschten vorbei. Steine drehten sich und spritzten unter den Rädern beiseite, als die abgenutzten Reifen nach Halt suchten. Die Zeit verstrich so schnell heutzutage; nie hatte man genug, um alles zu erledigen.

Oder vielleicht war es einfach ihre Gewissheit, dass der Tod näher rückte, die ihr das Gefühl gab, dass die Zeit wie ein Wasserfall auf den störrischen Felsen ihres Lebens stürzte.

Hatten sich so die weiblichen Nachkommen der ersten Serena gefühlt, als die Zeit ihres Todes gekommen war? Hatten sie den alten, abgenutzten Webstuhl betrachtet, der Generationen von Weavers begleitet hatte? Hatten ihre zerbrechlichen Hände das Weberschiffchen erhoben, um dem altertümlichen Muster ihre eigenen letzten Zeichen hinzuzufügen?

Sie wusste es nicht. Sie würde es niemals wissen. So viel war in den verzehrenden Katarakten der Zeit verloren gegangen. So viel, aber nicht alles. Die heimlichen Überlieferungen, die sich Frauen von Generation zu Generation zugewispert hatten, besagten, dass das Buch des Wissenden anfangs über sechshundert Seiten umfasste. Zeit und extreme Umstände hatten die Anzahl auf fünfhundertsieben reduziert. Diese Seiten enthielten die gesammelte Geschichte und die Weisheit des Wissenden, Seiten, die mit Gold und zerstoßenem Lapislazuli illuminiert waren, hell leuchteten von dem Grün des Lebens und dem Scharlachrot des Blutes.

Seit sieben Generationen schon war kein Weaver mehr in der Lage gewesen, die schlanken, eleganten Worte zu entziffern, die das Buch des Wissenden zierten, aber keiner hatte jemals den Wert des Gegenstands selber bezweifelt: Der Umschlag war besetzt mit leuchtenden Edelsteinen, die das Herzstück des komplizierten, mysteriösen Musters waren, das in den soliden goldenen Einband geätzt war.

Und jetzt, wieder, waren die alten Seiten in Gefahr.

Als die letzte in einer langen, langen Reihe von Weavers, hatte sie ein ganzes Leben gehabt, um sich auf diese Situation vorzubereiten. Die Fackel wartete darauf, weitergegeben zu werden. Wenn ihr eigener Lauf vorüber war, dann sollte es so sein. Das Buch des Wissenden war sicher vor der Gier eines Mannes.

Auf zwei Seiten beschützt durch eine niedrige Hügelkette, lag ihre Hütte in einer kleinen Bodensenke. Die Holzbalken des Daches und der Mauern der Hütte waren von der unbarmherzigen Mojave-Sonne eisenhart gebrannt worden. Obgleich jetzt kühl, würden die Felssteine, die wie Knochen aus dem trockenen Land ragten, brennend heiß sein in einigen Monaten. Dann würde sie Brot und Bohnen backen in dem kleinen Ofen, den sie außerhalb ihrer Hütte gebaut hatte, und die gesegnete Mitternachtskühle über ihr Gesicht streichen lassen.

Wenn sie noch am Leben wäre.

Sie bremste in einer Wolke aus Staub und Schmutz, schaltete den Motor aus und griff nach dem Paket auf dem Sitz neben ihr. Es waren die kostbaren Seiten darin, die sie aus ihrem Versteck gelockt hatten, die sie gezwungen hatten, zurückzukehren in die gefährliche Vergangenheit, vor der sie ihr ganzes Leben geflüchtet war. So wie sie jetzt flüchten musste.

Mit der Entschlossenheit, die sie durch fast acht Dekaden gebracht hatte, zwang sie ihre dünnen Beine dazu, die wenigen Treppen hinauf zu ihrer Hütte zu laufen. Sand knirschte unter ihren abgetragenen Turnschuhen. Die verschlungenen Äste eines Joshua-Baumes hoben sich schwarz gegen den glänzenden Himmel ab. Hoch oben klagte ein Habicht in die weite Leere.

Sie hörte nur ihren eigenen unregelmäßigen Atem und sah nur die willkommene Tür ihrer wettergegerbten Hütte. Keuchend stieß sie die Tür auf und stolperte hinein, gerade als ein weißes Auto über den Kamm in ihre versteckte Talsenke schoss. Sie schlug die Hüttentür zu und legte den meterlangen eisernen Riegel davor. Dann schloss sie die innen angebrachten Fensterläden der beiden Fenster und verriegelte auch diese fest.

Die Dunkelheit innen war nahezu vollständig, aber sie brauchte kein Licht, um ihren Weg zu finden. Als junge »Witwe« hatte sie die Hütte aus Steinen und Holz selbst gebaut. Als alte Frau kannte sie jeden Zentimeter dieses Ortes: seine Stärke, seine Schwächen, seine Geheimnisse, alles.

Sie humpelte zu den Haken über der Tür, wo die Schrotflinte wartete. Sie wusste, dass diese geladen war. Das war sie immer.

Eine Faust donnerte gegen die Haustür. »Mrs. Weaver? Ich möchte gern mit Ihnen reden über –«

»Sie haben widerrechtlich mein Land betreten, und ich habe eine Schrotflinte!«, übertönte sie seine Worte.

Der Mann auf der anderen Seite der Tür warf schnell einen prüfenden Blick auf seine nähere Umgebung. Kein Anzeichen einer Kamera oder eines Spions. Er hatte auch nichts dergleichen erwartet, aber er war vorsichtig; aus dem Grund war er noch am Leben und frei, während andere das nicht mehr waren. Es gab auch keine Anzeichen eines Telefonkabels oder Elektrodrähte, nicht einmal eine Radio- oder Fernsehantenne. Er wusste aus persönlicher Erfahrung, dass Handys in dieser speziellen Ecke der Mojave-Wüste nicht funktionierten. Die alte Frau war wirklich allein.

Er lächelte.

Mit einer viel sagenden, lässigen Bewegung griff er in seine leichte Windjacke. Eine Pistole tauchte auf in seiner Faust.

»Es besteht kein Grund zur Befürchtung«, versicherte er ihr. »Ich möchte Sie nicht verletzen. Ich möchte Sie reich machen. Ich gebe Ihnen zwei Millionen Dollar für das Buch des Wissenden. Wollen Sie mich nicht hineinlassen, damit wir darüber reden können?«

»Ich gebe Ihnen sechzig Sekunden, um von meinem Besitz zu verschwinden.«

»Seien Sie vernünftig, Mrs. Weaver. Zwei Millionen Dollar sind eine Menge Geld. Es ist mehr, als Ihnen irgendjemand anders bezahlen würde für das, was noch übrig ist von diesem verdammten Druidenbuch.«

»Dreißig Sekunden.«

»Nehmen Sie wenigstens meine Visitenkarte.«

Die einzige Antwort, die er hören konnte, war das unmissverständliche Geräusch von Metall über Metall, als sie die Schrotflinte entsicherte. Er schätzte die Dicke der Steinmauern und des sonnengehärteten Holzes der Tür ab, und die überraschende Kraft der Beute. Er bräuchte panzerbrechende Kugeln für die Hütte. Für sie auch. Das war ein zähes altes Miststück.

Mit einem bösartigen Fluch drehte er sich um, stieg in seinen Wagen und entfernte sich von dem Gegenstand, den er so begehrte, dass er dafür töten würde.

Wind kam auf, nachdem die Sonne untergegangen war. Der unsichtbare Luftstoß war trocken, nahezu frostig und roch eher nach Zeit als nach Leben. Die Petroleumlampe in der Hütte warf seltsame, lebendige Schatten über die Fenster und Wände. Ein alter Webstuhl mit einer unvollendeten Weberei, die den Rahmen teilweise füllte, wartete in einer Ecke. Farbenprächtige Garnspulen hingen bereit für den Moment, nahtlos in ein Muster eingewoben zu werden.

Ein gerade entzündetes Feuer brannte gemütlich in dem Kamin und vertrieb die frostige Wüstennacht. Die Frau trug um ihren Hals einen langen Schal, der genauso alt war wie der Webstuhl selber. Der Schal fühlte sich rau an und normalerweise ließ sie ihn bei seinem Gefährten, dem Buch des Wissenden. Aber heute Nacht war ihr eiskalt und der Schal tat ihr gut.

Benommen saß sie vor dem Feuer, starrte in die züngelnden Flammen, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Alles, was sie sah, waren die dünnen, unbeschriebenen Pappstücke, die sie eins nach dem anderen ins Feuer warf.

Er hatte versprochen, ihr die gestohlenen Seiten des Buches des Wissenden zu schicken. Er hatte sie erneut betrogen, Versprechungen gemacht und sie nicht gehalten. Dieses Mal hatte er gebräuchliches Papier geschickt, kein altertümliches Pergament. Dies waren keine Seiten mit schlanker, irgendwie gefährlich anmutender Schrift, einer alten Sprache, die stumm von Leuten und Orten erzählte, die längst verschwunden waren. Es spielte keine Rolle, dass sie die Worte selbst nicht lesen konnte. Es reichte, dass sie das Buch sicher bewahrt hatte und weitergeben würde an die nächste Serena.

Familientradition überlieferte, dass das Buch des Wissenden die Seele eines Mannes war, geschrieben auf Pergament mit Tinte aus Eichengalle und Eisen. Ein mächtiger Mann. Ein stolzer Mann. Ein geheimnisvoller Mann. Ein tödlicher Mann. Erik der Wissende. Erik, der zu spät begriffen hatte. Aber was er begriffen hatte und was er verloren hatte, war in Vergessenheit geraten, als die Bewahrer des Buches des Wissenden die alte Sprache nicht mehr lesen konnten.

Dennoch, auch ohne die Worte zu verstehen, wusste sie, dass das Buch selbst ein unbezahlbarer Schatz war. Weit wertvoller als das altertümliche Stück Stoff, das sie jetzt als Schal trug, jenseits auch des Wertes des gehämmerten Goldes und der glänzend geschliffenen Edelsteine seines Umschlags, es enthielt Wissen aus dem Buch des Wissenden mit seinen uralten, zweischneidigen Verlockungen. Elegante, verschlungene Großbuchstaben reizten den Verstand mit Mustern, deren Bedeutung tiefer ging als Worte. Vermittelten ihr das Gefühl vorangegangener Generationen, ihrer eigenen Vorfahren, das Gefühl von Menschen, die weise und närrisch, Heilige und Verbrecher waren, Krieger und Hexen, Lehrer und Einsiedler, Bauern und Aristokraten: die ganze Erfahrung der Menschheit erweckt durch reiche Farben – Saphirblau, Rubinrot, Smaragdgrün und Gold. Vor allem Gold erleuchtete die Dunkelheit mit einem einzigartigen Licht, schimmerte in zeitloser Dauer.

Aber sie war nur aus Fleisch, ausgedörrt durch die lange Dauer.

Ein Geräusch von draußen riss sie aus ihren bitteren Träumen. Sie bekam gerade noch mit, wie ein Fenster nach innen aufbrach. Eine Flasche fiel auf den Steinboden und explodierte, besprühte den kleinen Raum mit brennendem Benzin. Eine weitere Flasche folgte, dann noch eine und noch eine und noch eine in einem gnadenlosen Regen, der sogar die Luft verbrannte.

Am Ende sah sie das Muster, das sie ihr ganzes Leben lang verfolgt hatte. Lachend griff sie danach, um es zu umarmen. Ihr einziges Bedauern war, dass sie nicht mehr am Leben wäre, um sein Gesicht zu sehen, wenn er entdeckte, dass sie ihn wieder überlistet hatte.

Sie hatte das Buch des Wissenden bereits weitergegeben an die nächste Bewahrerin.

Kapitel 1

Ein Jahr späterPalm SpringsMontag

Wie vieles in der Stadt, war das Anwaltsbüro von Morton Hingham ein Überbleibsel aus einer geruhsameren, luxuriöseren Zeit. Hohe gebogene Fenster schmückten Häuser mit tief gezogenen Dächern, die mächtigen Palmen und steinigen Berge ließen alles Menschliche winzig klein erscheinen. In der Rezeption erfreuten cremefarbene Wände und üppige Grünpflanzen das Auge. Solide Holzmöbel glänzten vor Politur. Der Teppich war abgenutzt, aber geschmackvoll, wie eine Herzoginwitwe.

Die Sekretärin am Empfang wirkte ebenso. Ihre Stimme war wie Krepppapier, ungleichmäßig, ohne rau zu sein. »Ms. Charters? Mr. Hingham kann Sie jetzt empfangen.«

Einen Moment lang starrte Serena die Empfangsdame ausdruckslos an. In dem kühlen, liebenswerten Raum mit seiner würdigen Aura von Gesetz und Zivilisiertheit fiel es ihr schwer, sich daran zu erinnern, dass ihre Großmutter einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war, das man eher mit Großstädten als mit der Wildnis der Wüste verbindet.

Sehr wenige Tiere töten aus dem schlichten Grund, weil sie es können. Der Homo sapiens nahm unter ihnen eine führende Rolle ein.

»Vielen Dank«, sagte Serena mit belegter Stimme.

Die ältere Frau nickte, komplimentierte die Klientin in Morton Hinghams Büro und schloss die Tür hinter ihr.

Ein schneller prüfender Blick sagte Serena, dass die Fensterläden im Büro des Anwalts geschlossen waren und kein Stück Tapete zu sehen war. Jede verfügbare vertikale Oberfläche war bedeckt mit Büchern, deren Einbände genauso langweilig und trocken waren wie ihre Titel. Verschiedene Rechtsdokumente lagen wahllos gestapelt auf Hinghams schwerem Schreibtisch. Eine Reihe Computer entlang der einen Wand sah irgendwie deplatziert aus unter all den ledergebundenen Monumenten vergangener Urteile, Verfügungen und Kommentare.

Hinghams Drehstuhl knarrte und quietschte, als er aufstand, um seine Klientin zu begrüßen. Schon weit über das normale Rentenalter hinaus, engagierte sich der Anwalt mit seinem wachen Verstand immer noch für die Prozesse und Verstrickungen von Menschen, die Generationen jünger waren als er selbst.

»Tut mir Leid, dass ich Sie warten lassen musste, Ms. Charters«, sagte Hingham und räusperte sich. »Ich habe gerade einen besonders schwierigen Sorgerechtsfall, der ...« Er räusperte sich noch einmal.

»Ich verstehe«, sagte Serena, eine höfliche Lüge. »Es spielt keine Rolle.« Die Wahrheit. Sie hatte nichts dagegen gehabt, aus dem Fenster zu schauen auf die Berge, die sie in ihrer Kindheit umgeben und ihre Träume als Erwachsene bestimmt hatten. »Ich nehme an, dass der Staat von Kalifornien bereit ist, den Mord an meiner Großmutter zu den Akten zu legen?«

»Er wird niemals zu den Akten gelegt werden, bis der Mörder gefunden worden ist. Aber, ja. Als ihr Bevollmächtigter bin ich ermächtigt, Ihnen alles, was von Lisbeth Charters’ – ehem, Ihrer Großmutter – weltlichen Gütern geblieben ist, zu übergeben.«

Der Gebrauch des wirklichen Namens ihrer Großmutter – Lisbeth Charters – sagte Serena, dass ihre Großmutter diesem Mann so getraut hatte, wie sie sonst nur noch einer weiteren Person auf der gesamten Welt getraut hatte: ihrer Enkelin.

Dann wurde Serena der Rest des Satzes bewusst. Sie presste die Lippen zusammen, um ein bitteres Auflachen zu verhindern. Weltliche Güter. Ihre Großmutter hatte ein einfaches, spartanisches Leben geführt. Die Belohnung dafür war ein grausamer, brutaler Tod gewesen.

»Ich verstehe«, sagte Serena mit tonloser Stimme. »Bedeutet die Tatsache, dass ich endlich mein so genanntes Erbe antreten darf, dass ich nicht länger als Verdächtige im Mordfall meiner Großmutter gelte?«

Die kontrollierte Wut im Tonfall seiner Klientin veranlasste Hingham, sie genauer in Augenschein zu nehmen. Mittelgroß, zwanglos gekleidet in Jeans und einem ungewöhnlich gewebten Jackett, ein schlanker aber dennoch weiblicher Körper, der ihn früher erregt hätte und sogar heute noch sein Interesse weckte, rotgoldenes Haar, das ihr in einem langen französischen Zopf über den Rücken fiel, ein dreieckig geformtes Gesicht mit Augen, so kühl und abschätzend wie die einer Katze. Die Papiere in seiner Hand klärten ihn darüber auf, dass sie Anfang dreißig war. Ihr Gesicht wirkte jünger, obgleich in ihren Augen mit der ungewöhnlichen Farbe eine ungebrochene Kraft lag, die zu einer Kaiserin, die doppelt so alt war, passen würde.

Lisbeth Serena Charters hatte genau solche Augen gehabt. Blauviolett. Weit auseinander stehend. Faszinierend.

Irritierend.

Hingham räusperte sich wieder. »Sie waren niemals unter ernstlichem Verdacht, Ms. Charters. Wie der Detective erklärte, hat es sich um schlichte Routine gehandelt, herauszufinden, wo Sie gewesen sind in der Nacht, in der Ihre Großmutter starb, besonders da Sie ihre einzige überlebende Erbin waren.«

»Der Detective hat es erklärt. Es hat aber nichts an meinen Gefühlen geändert.«

»Ja, nun ja, es muss sehr schwer für Sie gewesen sein.«

»Das ist es immer noch. Obgleich G’mom und ich kein besonders enges Verhältnis hatten, war sie die einzige Familie, die ich hatte.«

Und jeden Tag fragte sich Serena, ob ihre Großmutter noch am Leben wäre, wenn sie und ihre Großmutter ein engeres Verhältnis gehabt hätten.

Abrupt hob sie ihre Hand mit einer ungeduldigen Geste. »Bringen wir es hinter uns. Ich muss wieder an die Arbeit.«

»Arbeit?« Hingham überprüfte die Papiere vor sich. »Ich dachte, Sie sind selbstständig.«

»Genau. Für gutes Betragen gibt’s keinen freien Tag. Meine Arbeitgeberin ist eine Ziege.«

Ein Lächeln vertiefte die Falten im Gesicht des Anwalts. »Hätte sie etwas dagegen, wenn Sie sich Zeit für einen Kaffee nähmen?«

Serena lächelte, obgleich sie unglücklich war über das Recht, die gesetzlichen Vertreter und die Bürokratie des Staates von Kalifornien. »Danke, aber ich denke wirklich, dass ich zurückfahren sollte nach Leucadia, bevor die Autobahn sich in Parkplätze verwandelt.«

»Wenn Sie sich dann bitte setzen würden ...?«

Trotz der Unruhe, die an ihren Nerven zerrte, ging Serena hinüber zu dem Drehstuhl, der vor Hinghams Schreibtisch auf sie wartete. Äußerlich ruhig, zwang sie sich zum Stillsitzen. Sie hatte in ihrem Leben viel Zeit damit verbracht, die überbordende Energie und Intelligenz, die in ihr steckten und andere Menschen nervös machten, zu verstecken. Sie lehnte sich gelassen zurück, legte die Beine übereinander und wartete darauf, dass ihr der Anwalt das erzählte, was sie bereits wusste: Ihre Großmutter hatte keine erwähnenswerten weltlichen Güter.

Hinghams Stuhl knarrte laut, als er sich ebenfalls setzte. »Ich nehme an, dass Sie auf die üblichen Schnörkel und Beschönigungen verzichten können.«

»Korrekt.«

Er nickte und nahm die Papiere zur Hand. »Ihr Erbe ist das, was vom Haus übrig geblieben ist, und die fünf Hektar Land, auf dem es steht. Es gibt weder Hypotheken noch ausstehende Schulden.« Er reichte Serena eine flache Mappe mit der Übertragungsurkunde über den Schreibtisch. »Die Steuern für das laufende Jahr sind bezahlt worden. Ich habe eine Neubewertung aufgrund des Feuers beantragt.« Er reichte ihr weitere Papiere hinüber. »Es gibt keine Rechnungen irgendwelcher Versorgungsbetriebe, weil es keine Versorgung gab. Lisbeth – Mrs. Charters – war vollkommen unabhängig.«

Falls Hingham es seltsam fand, dass seine Klientin auf allen öffentlichen Dokumenten als Ellis Weaver geführt wurde und sich in ihrem Privatleben Lisbeth Charters nannte, zeigte er es nicht. Solange eine Person sich keinen zweiten Namen zulegte, um damit illegale Aktionen zu kaschieren, war das Führen mehrerer Namen legal.

Als Serena die Papiere an sich nahm, biss sie die Zähne zusammen, um die aus Wut und Kummer gleichermaßen gespeisten Emotionen zurückzuhalten: Lisbeth Charters hatte keinen gewaltsamen Tod verdient.

»Ich empfehle, dass Sie eine zusätzliche Bewertung des Grundstücks anfordern«, fügte Hingham hinzu. »Der Taxator ist gierig.«

Serena versuchte, Interesse zu zeigen. Sie konnte es nicht. Noch nicht. Nicht, solange sie die vollständige Summe des Lebens ihrer Großmutter in der Hand hielt: eine Hand voll offizieller Urkunden, die zusammengenommen weniger wert waren, als Serena für eine ihrer Webereien erhielt, die Galeriebesitzer »bedeutend« nannten. Aber die Papiere, wie die Galerien, ließen so viel aus, alles, was von Bedeutung war; das Lachen und die Stille, die Tränen und die Wärme, wenn draußen ein kalter Wind wehte, und die Erinnerung an Lampen, die goldenes Licht auf die sichere kleine Welt ihrer Kindheit warfen.

Sie hatte sich niemals arm gefühlt in dem Haus ihrer Großmutter, obwohl sie wusste, dass sie nicht gerade begütert waren.

Hingham räusperte sich erneut. Er war daran gewöhnt, Leute zu durchschauen, aber die gefasste junge Frau vor seinem Schreibtisch war ein geschlossenes Buch für ihn. Wie Lisbeth Charters/Ellis Weaver es gewesen war. Er räusperte sich noch einmal, ordnete Papier, zog eins hervor und reichte es ihr.

»Sie hatte ein Bankkonto«, sagte er. »In Bern.«

Als sie die Wörter registrierte, riss sich Serena los von der mit Erinnerungen belasteten Vergangenheit und konzentrierte sich auf den Anwalt. »Wo?«

»Bern, Schweiz. Ein Nummernkonto. Deshalb gibt es keinerlei Papiere darüber. Nur die Kontonummer in der Handschrift von Lisbeth. Sogar als ihr Testamentsvollstrecker habe ich verdammt lange gebraucht, um Informationen über dieses Konto aus der Schweiz zu bekommen.«

»Sind Sie sicher, dass es G’moms Konto ist?«

»Ziemlich.« Hingham lächelte, freute sich, seine gefasste Klientin verwirrt zu haben. »Von der Nummer her würde ich schätzen, dass das Konto ziemlich alt ist.« Er wartete darauf, dass Serena fragen würde, wie viel Geld auf dem Konto ist. Er wartete immer noch, als er sich zum wiederholten Male räusperte und es ihr sagte. »Es ist genug auf dem Konto, um jegliche mit ihrem Tod verbundenen Kosten zu decken. Wie Sie wissen, wünschte sie, verbrannt zu werden und dass ihre Asche über ihr Land verstreut werden würde.«

Zorn und Tränen versuchten die Überhand über Serenas Stimme zu erlangen. Zorn gewann. »Wie klug von ihrem Mörder, dass er ihre letzten Wünsche ausgeführt hat.«

Hingham zuckte zusammen bei dem schneidenden Tonfall. In dem Moment beschloss er, seiner Klientin die vollständige Wahrheit zu ersparen: Er hatte Lisbeths kümmerliche Überreste offiziell verbrennen lassen, sobald das Büro des Sheriffs es erlaubt hatte. Dann war er in die Wildnis der Wüste gefahren, die Lisbeth ihr Zuhause genannt hatte, und hatte die Asche in den Wind gestreut.

Serena schlug ihre Beine erneut übereinander. Es war das einzige äußere Anzeichen ihrer Wut, die sie jedes Mal durchfuhr, wenn sie daran dachte, dass jemand ihre Großmutter aus einer brutalen Laune heraus getötet hatte. Aber daran zu denken war nicht gut. Also zwang sie sich, an etwas anderes zu denken. »Warum hatte meine Großmutter ein Schweizer Bankkonto?«

»Aus den üblichen Gründen, nehme ich an.«

»Aber sie war in nichts Kriminelles verwickelt.«

Hingham lächelte. »Es gibt viele legitime Gründe, ein anonymes Bankkonto zu haben. Ihre Großmutter war eine extrem, ehem, auf ihre Privatsphäre bedachte Frau. Und das Konto ist ziemlich alt. Lange vor Ihrer Zeit, würde ich schätzen. Es hat nichts mit Ihnen zu tun, außer wenn Sie sich entschließen, das Konto aufzulösen. Ich könnte das für Sie erledigen.«

Serena warf einen Blick auf das Stück Papier in ihrer Hand. Auf der ausländischen Bank lagen $ 12.749,81. »Ich kümmere mich selbst darum.«

Der Anwalt presste die Lippen zusammen. Er konnte die Male gar nicht zählen, wo Lisbeth ihm genau das Gleiche gesagt hatte. Ich kümmere mich selbst darum. Egal, wie sehr er sich bemüht hatte, sie hatte jegliche Hilfestellung von ihm abgelehnt, bis auf die absolut unumgänglichen gesetzlichen Notwendigkeiten. Es hatte nichts Persönliches gegeben. Sie hatte allen Männern gleichermaßen misstraut und sie abgelehnt.

»Wie Sie wünschen.« Die unpersönlichen Wörter saßen Hingham quer im Hals, so wie es auch in der Vergangenheit stets gewesen war. Er räusperte sich gründlich und reichte ihr einen schmalen Briefumschlag mit seiner Kanzleiadresse als Rücksendeanschrift. »Dies ist ein Schlüssel zu ihrem Bankschließfach.«

»In der Schweiz?«

Er lächelte. »Nein. In Palm Springs. In meiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker, habe ich –«

»– es geöffnet.« Serenas Stimme war kühl. Der Gedanke, dass jemand das Leben ihrer Großmutter durchwühlt hatte, gefiel ihr nicht. Es hatte aufgrund ihres Todes schon zu viel davon gegeben, die einsame Hütte und der verbrannte Pick-up, versiegelt von der Polizei mit grellem Plastikband, und graue Asche, die sich bei dem leisesten Windhauch erhob.

»Sie bat darum, als sie ihr Testament aufsetzte. Ich gehöre zum Gericht, Ms. Charters. Ich musste bestätigen, dass es in dem Bankschließfach für den Staat nichts von Interesse gab.«

»Was sollte es den Staat angehen, ob G’mom mir einige Erinnerungsstücke hinterlassen hat?«

»Wenn die, ähem, Erinnerungsstücke, von beträchtlichem Wert wären, müsste Erbschaftssteuer bezahlt werden.«

»Natürlich. Wie konnte ich das vergessen.« Ihre Stimme hob sich nicht, nur die zusammengepressten Lippen signalisierten ihren Abscheu. G’mom hatte in ihrem gesamten Leben von keiner Verwaltung auch nur das Geringste in Anspruch genommen – weder von der Stadt noch vom Land, noch vom Staat oder vom Bundesstaat. Aber das hinderte die verschiedenen Verwaltungen nicht daran, ihren Anteil haben zu wollen von ihren Hinterlassenschaften, wie mager sie auch immer waren.

Hingham schloss seine Schreibtischschublade auf und zog langsam ein abgewetztes Lederportfolio hervor, das fast die ganze geräumige Schublade ausgefüllt hatte. »Es gab mehrere Gegenstände in dem Schließfach.« Er legte einen frischen, Din-A-4 großen Umschlag neben das Portfolio. »Und dies wurde in den Ruinen gefunden, neben dem Webstuhl Ihrer Großmutter.«

»Was ist das?«

»Ein Tuch. Sie lag anscheinend darauf.«

Tatsächlich ging die Annahme der Untersuchung dahin, dass sie sich anfänglich schützend um das Tuch gelegt hatte, als wäre es ein Kind; dann waren die Schmerzen gekommen. Aber Hingham dachte, dass Serena nicht alle klinischen Details wissen oder die grausigen Fotos in den Polizeiakten sehen musste. Einige Dinge ließ man lieber im Ungewissen.

»Anscheinend?«, fragte Serena. »Ich verstehe nicht.«

Hingham seufzte und rieb seinen Nasenrücken. »Es ist wenig übrig geblieben außer den Steinmauern und dem Kamin. Es ist ein Wunder, dass dieses Tuch das Feuer überhaupt überstanden hat.«

Stirnrunzelnd griff Serena nach dem Umschlag, öffnete ihn und zog das Tuch heraus. Vielleicht dreißig Zentimeter breit und über einen Meter lang, roch der Stoff nach Rauch, war aber nicht angesengt. Die Fäden waren geschmeidig, glänzend, hatten alle und keine Farbe, opak und durchsichtig, flüsterten zu ihr in einer altertümlichen Sprache, lockten sie tiefer und tiefer, bis das unvollendete Muster ihr das unumstößliche Gefühl eingab:

Dies ist meins.

Ich habe es gewebt.

Aber sie hatte das Tuch noch nie in ihrem Leben gesehen.

Kapitel 2

»Ms. Charters, geht es Ihnen gut?«, fragte Hingham.

Serena zwang sich, den Anwalt anzusehen und ihre Augen von dem Muster abzuwenden, das in einem altertümlichen Stück Stoff wie ein Puzzle versteckt war. Sie hatte immer schon ein exzellentes Vorstellungsvermögen und das lebhafte Gefühl, einer langen, langen Geschichte von Webern anzugehören; das war es, was ihre Stoffmuster so ungewöhnlich machte, dass Galerien anfingen, wirkliches Interesse an ihrer Kunst zu zeigen. Aber diese Gewissheit einer direkten Verbindung war zu real, zu irritierend. Zu ...

Gefährlich.

»Ms. Charters?«

»Tut mir Leid«, sagte sie. »Die Erinnerungen sind schmerzhaft.« Das, sagte sie sich ironisch, entsprach mehr der Wahrheit, als sie ihn wissen lassen wollte. In diesem Fall wäre unmöglich die korrektere Beschreibung gewesen; es war unmöglich, dass sie es gewebt haben könnte. »Dieses Tuch ist etwas sehr, sehr Spezielles für eine Weberin wie mich. Das Muster ist faszinierend, und das Tuch selbst fühlt sich wie allerweichstes Satin an. Oder vielleicht wie Samt. Das Gefühl verändert sich in der ungewöhnlichsten Art und Weise. Was für eine unglaublich begabte Weberin sie gewesen sein muss.«

»Ihre Großmutter?«

»Nein. Die Frau, die dieses Tuch gewebt hat. Es ist lange her. Sehr lange.«

Ein Gefühl von Zustimmung echote in ihr, sanfter als ein Flüstern, so gewiss wie Donner: Beinahe tausend Jahre.

Hingham betrachtete den Schal, den Serena hielt. Er hatte ganz nette Farben, nahm er an, aber er sah kein besonderes Muster. Und was den Stoff anging, also, er hatte ihm eine Gänsehaut erzeugt. Er war kaum in der Lage gewesen, ihn lange genug anzufassen, um ihn in den Umschlag zu stopfen. Und sie saß hier und streichelte ihn wie ihre Lieblingskatze. Erstaunlich.

Er schüttelte den Kopf und wendete sich ab von dem Tuch. Wenigstens gab es nichts Hässliches an Lisbeths anderer Hinterlassenschaft. Tatsächlich war es einer der schönsten Gegenstände, die er jemals gesehen hatte. Mit großer Vorsicht öffnete er die Ledermappe.

Serena hielt den Atem an. Gegen das verkratzte und ausgeblichene Leder hoben sich glänzende Farben ab, tiefe, volle Töne von Rubinen und Lapislazuli, Smaragden und Gold, unglaubliche Farben erstrahlten wie ein Gesang in dem stillen Raum. Elegante schwarze Kalligraphie beschrieb längst vergangene Zeiten und Orte, benutzte eine altertümliche Sprache, die nur wenige heute Lebende noch verstehen würden.

Ihr blieb das Herz stehen, zog sich zusammen, schlug wieder schneller. Als sie sprach, war ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern: »Mein Gott.«

Gold schimmerte und glänzte, als der Anwalt eine Seite umblätterte. Mehr Farben sangen in einem tausend Jahre alten Muster. Serenas Haut prickelte wie elektrisch aufgeladen vor Ehrfurcht. Es war ihr Muster, das, was sie ihr Leben lang in ihren Träumen verfolgt hatte.

»Sie wussten nicht, dass sie dieses hatte, nicht wahr?«, fragte Hingham.

»Ich – ich dachte, ich hätte es geträumt.« Serena schloss die Augen, öffnete sie wieder. Der Traum war immer noch da. Andächtig fuhr sie mit einer Fingerspitze über den geschmeidigen Rand einer der Pergamentseiten. »Es ist Wirklichkeit!«

»O ja. Ziemlich real. Vier lose Blätter beschrieben auf beiden Seiten. Acht Seiten insgesamt.«

»Wirklich.« Sie hatte Schwierigkeiten, es zu begreifen. »Aber Sie haben gesagt, dass nichts Wertvolles in dem Schließfach war.«

»Soweit ich weiß, sind diese hier es auch nicht.«

Widerstrebend wendete sie ihren Blick ab von den ungebundenen Überresten dessen, was einstmals ein wunderschönes, leuchtendes ganzes Manuskript gewesen war: Und auch das war eine Erinnerung, die sie nicht haben sollte, nicht haben konnte. »Ich fürchte, sie sind sehr wertvoll.«

»Wenn dem so ist, dann sind sie weitaus älter als jede Behörde, die sie gern besteuern würde.« Hinghams Lächeln war freundlich und undefinierbar traurig. »Ihre Großmutter wollte Ihnen diese Seiten hinterlassen. Ich habe keinen Grund gesehen, sie schätzen zu lassen und Sie dadurch möglicherweise in die Zwangslage zu bringen, Ihr Erbe zu verkaufen, um einem Staat Erbschaftssteuer zu zahlen, der nichts für Lisbeth getan hat, sie nicht einmal am Leben halten konnte.«

»Sie ...«, Serena zögerte, »Sie mochten sie, nicht wahr?«

»Ich hätte Sie geliebt. Sie hat es nicht erlaubt.«

»Es tut mir Leid.«

»Mir auch.« Er seufzte, nahm seine Brille ab und rieb sich über seinen Nasenhöcker. Seine Augen waren so dunkel, wie sein Haar einst gewesen waren. »Eine störrischere Frau habe ich niemals kennen gelernt. Es war ihre größte Untugend. Und ihre größte Tugend.« Er seufzte und setzte sich die Brille wieder auf. Als er sprach, war seine Stimme neutral. »Das letzte Stück ist dies hier.«

Einen Atemzug lang starrte Serena den schmalen, versiegelten Briefumschlag, den der Anwalt ihr hinhielt, einfach nur an. Dann nahm sie ihn, schlitzte ihn auf mit einem Brieföffner, den er ihr reichte, und las, was Lisbeth Serena Charters für wichtig genug gehalten hatte, es ihrer Enkelin über ihr Grab hinaus mitzuteilen.

Serena,

wenn du dies hier liest, werde ich tot sein. Sei nicht traurig deswegen. Ich habe länger gelebt als die meisten, und alle nützlichen Teile sind inzwischen verbraucht.

Wenn diese Zeilen dich erreichen mit nur vier Blättern vom Buch des Wissenden, dann bin ich an meiner Pflicht gescheitert. Seit über tausend Jahren wurde dieses Buch von der Mutter an ihre erstgeborene Tochter weitergegeben. Wir haben einige Seiten verloren im Laufe der Jahrhunderte, aber verdammt wenige.

Bis zu meiner Generation. Ich werde Schritte unternehmen, um sie zurückzubekommen. Ich bin alt genug jetzt, dass der Tod eher eine Verlockung ist als Furcht auslöst. Wenn ich scheitere und du beschließt, auf die Suche nach deinem Erbe zu gehen, erinnere dich daran, wie ich im Alter von zwanzig war. Denke wie die Frau, die ich damals war. Dann denke wie das Kind, das du einst warst, als die Wüste neu für dich war. Das Buch des Wissenden wird folgen.

Sei sehr vorsichtig. Fälschen ist eine gefährliche Kunst.

Eine weise Frau würde diese Sache nicht verfolgen. Aber seit wann sind die erstgeborenen Frauen meines Klans weise gewesen? Gewiss nicht in den letzten tausend Jahren. Wenn du dich von diesen Seiten führen lässt, mache nicht den Fehler, den ich gemacht habe – sei ein bewegliches Ziel, keine leichte Beute.

Vertraue keinem Mann bei deinem Erbe.

Dein Leben hängt davon ab.

Serena las den Brief noch einmal. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, dass ihre Großmutter nicht jedem gegenüber so misstrauisch gewesen wäre. Sie hatte Hingham genug vertraut, um ihm den Brief zu übergeben, aber offensichtlich hatte sie ihm nicht genug vertraut, um ihm den Inhalt mitzuteilen. Sie hatte ihrer Enkelin nicht mehr Informationen gegeben, als sie für absolut notwendig gehalten hatte.

Damit konnte sie nicht viel anfangen. Gerade genug, um ihr zu sagen, dass da draußen ein mehr oder weniger vollständiges Manuskript war, dass es ihr Erbe war und dass sie vorsichtig sein sollte. Die Warnung war klar genug – bewegliches Ziel –, aber die Art und Weise, wie sie ihr Erbe reklamieren sollte, war es nicht.

Stirnrunzelnd faltete sie den Brief zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. Obgleich Hingham offensichtlich neugierig war, schien er keine Notiz davon zu nehmen, dass sie den Brief in ihre Handtasche steckte. Auch stellte er keine Fragen, was der Brief enthielt.

»Ich muss mehr über diese wissen«, sagte sie und wies auf die leuchtenden Seiten. Vielleicht waren sie zu leuchtend. Vielleicht waren sie gefälscht. »Kennen Sie jemand, der mir eine diskrete Schätzung geben könnte?«

Hingham hatte irgendwie mit so einer Frage gerechnet. Er schob ihr einen Zettel zu. Unter dem Logo seiner Kanzlei standen zwei Adressen mit Telefonnummern und E-Mail Adressen. Eine war in New York. Die andere war aus der örtlichen Umgebung.

»Die Palm Springs Nummer gehört Erik North«, sagte er. »Für einen jungen Mann hat er eine exzellente Reputation, dass er Nuancen in alten englischen Handschriften unterscheiden kann. Wenn ich recht verstanden habe, reist er viel, so dass er möglicherweise im Moment nicht in der Stadt ist.«

»Und die zweite Nummer?«, war alles, was Serena fragte.

»Das House of Warrick.«

Serena erkannte den Namen wieder. Jeder hätte das. Die Auktionswelt kannte drei Giganten: Sotheby’s, Christie’s und das House of Warrick.

»Warrick hat sich vor langer Zeit auf alte Handschriften spezialisiert«, fuhr Hingham fort, »so dass ich dieses Haus empfehlen kann. Aufgrund der Firmenstruktur gibt es eine kleine Zweigstelle hier, aber New York übernimmt die wichtigen Schätzungen. Ich übernehme es gerne, diese Seiten für Sie zu verschicken.«

Vertraue keinem Mann bei deinem Erbe. Dein Leben hängt davon ab.

Im Stillen fragte sich Serena, wie gesund ihre Großmutter war, als sie diesen Brief geschrieben hatte. Dennoch, Vorsicht und Misstrauen waren in der Enkelin beinahe so tief verwurzelt wie in ihrer Großmutter.

»Vielen Dank«, sagte Serena, »aber ich kümmere mich selbst darum.«

»Wie Sie wünschen. Ich habe mir die Freiheit genommen, persönlich Farbkopien von diesen Seiten anzufertigen.« Er betonte das Wort »persönlich« leicht, um ihr die Sicherheit zu geben, dass die Angelegenheit mit größter Diskretion behandelt worden war. »Obgleich die Seiten nicht besonders zerbrechlich wirken...«, er zuckte seine Achseln, »tut es ihnen sicherlich nicht gut, in einem Koffer herumgetragen zu werden. Ein kompetenter Gutachter sollte in der Lage sein, Ihnen anhand weniger Farbkopien zu sagen, ob es den Aufwand und die Kosten lohnt, die gesamten acht Originale schätzen zu lassen.«

»Noch einmal, vielen Dank. Sie haben sich viel Mühe gemacht für jemand, den Sie nicht einmal kennen.«

Er lächelte schwach. »Es war es wert, Lisbeths Augen wieder zu sehen.«

Serena wusste nicht, was sie sagen sollte oder ob sie überhaupt etwas sagen konnte, da ihr plötzlich die Kehle wie zugeschnürt war. Ohne nachzudenken, nahm sie den alten Schal und wickelte ihn sich um die Kehle. Er beruhigte sie wie ein Streicheln. Sie berührte das Tuch in Erwiderung, sanft.

Dann sammelte sie ihre überraschende Erbschaft ein und überließ Morton Hingham seinen Erinnerungen. Sie musste verschwinden und darüber nachdenken, scharf nachdenken, was sie tun wollte.

Oder nicht tun wollte.

Vertraue keinem Mann. Dein Leben hängt davon ab.

Sei ein bewegliches Ziel.

Kapitel 3

Palm SpringsMittwochmorgen

Erik North saß in einem Liegestuhl in seinem von einer Mauer umgebenen hinteren Hof. Die Sonne hatte alles Blond, was in seinem dicken, goldbraunen Haar war, hervorgelockt. Barfuß und bis auf seine abgetragenen Sportshorts nackt, wartete er auf seinen Morgenbesucher und dachte nach über das Manuskript, das er gerade übersetzte.

Seit Eva ist keine Frau mehr so betrügerisch gewesen. Ich wurde gefangen durch das von ihrer eigenen Hand gewobene Tuch, ein verwunschenes Tuch, wurde eingebunden in ihre Pläne wie ein Insekt in ein Spinnennetz; und ich dachte die ganze Zeit, dass sie mich liebte. Sie tat es nicht. Sie liebte nur ihren eigenen Klan, brauchte von mir nichts als meinen Samen.

Verfluchte Zauberin. Ich träume immer noch von ihr.

Ich sehne mich nach ihr.

Ich begehre sie.

Ich sehe ihr leuchtendes Haar in jedem Kaminfeuer. Ich sehe ihre Augen in jedem Veilchen. Ich erkenne ihren Geruch in jedem Sommergarten.

Gott bewahre mich vor diesen Teufelsqualen.

Der heutige Erik musste beinahe lächeln, blieb aber weiterhin vollkommen unbeweglich. Kein Zweifel, Erik der Wissende war ein ziemlich unglücklicher Zeitgenosse, als er diese Zeilen geschrieben hatte. Die Eleganz der Schrift konnte nicht die Wildheit seiner Gefühle verbergen. Aus der Distanz betrachtet, war es schwer zu sagen, ob Hass, Liebe oder die unheilige Kombination aus beidem die Feder des Wissenden geführt haben. Eins aber wusste Erik North ganz sicher. Das Muster der illuminierten Großbuchstaben war ein Beweis dafür, dass diese Seite zum Anfang des Buches des Wissenden gehörte. Die Schriftmuster, ebenso wie die Seitenmarkierungen am Rand, wurden zunehmend komplexer im Laufe der Entstehung des Buches.

Trotz der anheimelnden Umgebung und des sonnigen Januartags lümmelte Erik nicht sorglos am Rand seines Swimmingpools herum. Stattdessen umgab seinen Körper eine unheimliche Ruhe, das Lauern eines Raubtiers. Unter einer strohblonden Haarmatte bewegte sich seine Brust so gut wie gar nicht bei jedem seiner langsamen Atemzüge.

Die meisten Menschen ändern ihre Position, fummeln an einem Knopf, zupfen an ihren Kleidern herum, kratzen sich die Nase oder trommeln mit ihren Fingern. Er tat nichts dergleichen. Sogar seine Augen waren zusammengekniffen, so dass er, fast ohne die Augenlider zu bewegen, blinzeln konnte. Es war ein Jagdtrick.

Ein Roadrunner tauchte wie aus dem Nichts auf der Burgmauer auf. Runde, glashelle Augen examinierten jeden Zentimeter des großen Hofes mit seinen weinberankten Bögen und Rosenbüschen, deren Anpflanzungen bis ins Mittelalter zurückreichten. Die schwarze Haube des Vogels hob und senkte sich wie ein nervöser Herzschlag. In der Wüste gab es nur zwei Dinge, für die ein Tier sein Leben riskierte: Wasser und Sex. Der türkise Pool hatte eine unwiderstehliche Anziehungskraft.

Egal, wie lange und intensiv der Roadrunner schielte, er sah nichts weiter als eine Brise, die durch die Bougainvilleabüsche strich, durch die Jacaranda- und Zitronenbäume und den mittelalterlichen Kräutergarten. Zufrieden damit, dass der Ort sicher war, hüpfte der habichtgroße, bräunliche Vogel auf die Fliesen im Hof, gut zwei Meter unter ihm und zischte hinüber zu dem gekrümmten Rand des Spas, das mit dem Pool verbunden war. In der Mitte der Krümmung floss das hier nur Zentimeter hohe Wasser schäumend und murmelnd über einen Stein, der vom Spa zum Pool führte. Zierlich trippelte der Roadrunner genau auf die Mitte des Steines und begann, mit schnellen, seltsam anmutigen Kopfstößen Wasser aus dem Pool zu nippen.

Der Vogel war in Reichweite von Eriks Hand. Wenn er einen gefederten Snack gewollt hätte, wäre der Vogel sein Lunch gewesen.

Bewegungslos beobachtete er den Vogel, nahm jede Nuance seiner Bewegung in sich auf, das subtile Lichtmuster in den beige und braun gesprenkelten Federn, die elegante Balance der Flügel und des Halses, der Füße und des langen Schwanzes. Der Präriehahn war angespannt, aber nicht annähernd so nervös wie noch vor vier Tagen, als Erik zum ersten Mal in dem Hof gesessen und darauf gewartet hatte, dass der durstige Vogel seinen Mut zusammennahm, um zu trinken. Während dieses ungewöhnlich trockenen Winters machte der Roadrunner täglich Halt am Pool bei seinen Runden.

In einer weiteren Woche, höchstens zwei, hätte Erik den Vogel so weit, dass er ihm aus der Hand fraß. Tiere aller Arten akzeptierten ihn. Hatten sie immer. Vielleicht war es seine Ruhe. Vielleicht lag es einfach daran, dass er sie für das respektierte, was sie waren: unabhängig, herrlich egozentrisch und absolut für den Moment lebend.

Die Kehle des Roadrunners vibrierte, als er einen letzten Schluck Wasser trank. Dann hob er seinen schmalen Schwanz wie einen Dirigentenstab. Einen Moment später drehte sich der Vogel, rannte leichtfüßig über die Fliesen und, halb springend, halb fliegend, segelte er auf die hohe Mauer. Es gab ein Rascheln, ein schwarzer Schwanz blitzte auf, und der Präriehahn war in einer Kaskade tiefrosa Bougainvillea verschwunden.

»So viel zu meiner Kaffeepause«, teilte Erik dem leeren Hof mit.

Niemand antwortete ihm, nicht einmal die Schatten bewegten sich.

Er stand auf, streckte sich und ging zurück zu seinem Arbeitszimmer, das sich im höchsten der fantasievollen Türme des Anwesens befand. Er hatte das Land geerbt und die schottischen Steine, die in einer altertümlichen Ruine gesammelt und in der Wüste neu arrangiert worden waren. Es war ein teurer Luxus gewesen, aber damals war reichlich Geld vorhanden gewesen – neues Geld – von Eriks Urgroßvater, einem verwegenen Kerl, der in vielen Filmen gemeinsam mit Errol Flynn gespielt hatte. Wie viele andere Hollywood-Bewohner, hatte Urgroßvater Perry genug verdient, um sich den Luxus eines Fantasie-Unterschlupfs in Palm Springs leisten zu können.

Die Familie hatte immer schon einen Hang zum Mittelalter gehabt. Eriks Großvater väterlicherseits und dessen Frau waren beide wohl bekannte Mediävisten, als sie sich kennen lernten. Sein Vater lehrte Geschichte des Mittelalters und war Kinderbuchautor. Die Zeichnungen seiner Mutter waren ebenso unterhaltsam wie die Geschichten, die sie illustrierte.

Erik reckte sich ein letztes Mal und setzte sich in einen hohen, wunderschönen Stuhl aus Kirschholz, der einst seiner Mutter gehört hatte. Er beugte sich über einen steil aufgerichteten, antiken Zeichentisch, der, wie fast alles in »North-Castel«, etwas modernisiert worden war.

Obgleich es zehn Uhr morgens und die gesamte Nordseite des großen Turmzimmers mit Fenstern versehen war – Perry akzeptierte düstere Authentizität nur bis zu einem gewissen Grad –, gab es kaum genug Tageslicht, das ausreichend war für Eriks Arbeit.

»Ich muss wirklich bald die alte Bougainvillea zurückschneiden«, murmelte er.

Er brauchte gutes Licht, aber er hasste es, den rankenden Katarakt lodernder rosa Blüten zu beschneiden. Früher oder später würde einer der seltenen Frosteinfälle in der Wüste sich um die überbordende Bougainvillea kümmern. Bis dahin würde er die Blumen genießen.

Und blinzeln.

Er verrückte den Tisch leicht, um das Nordlicht besser einzufangen, dann stellte er ihn noch etwas schräger. Auf dem Tisch lagen zwei Blätter Papier. Eins war aus Pergament, unbeschriftet bis auf die sorgfältig gezogenen Markierungslinien, die darauf warteten, beschriftet zu werden. Das andere Blatt war eine ultraviolette Fotografie eines stark verblassten keltischen Manuskripts, das aus dem zwölften Jahrhundert aus Britannien stammte. Unter ultraviolettem Licht kam das Originalmanuskript durch, obgleich es ausradiert worden war, damit eine viel spektakulärere – und weit modernere – Illumination über das alte Pergament gemalt werden konnte. Auf diese Weise hatten auch die Mönche das teure Pergament mehrfach nutzbar gemacht, indem sie einen weltlichen Text durch die heiligen Worte Gottes ersetzten.

Es war auch ein Trick, den Fälscher benutzten, indem sie schlichte fromme Texte übermalten mit etwas Auffallenderem, das einem reichen Sammler ins Auge stechen würde. Eine illustrierte Seite mit kräftigen Farben und Figuren war viel leichter verkäuflich als sechzehn oder zwanzig Zeilen eines Textes in einer Sprache, die der Käufer nicht lesen konnte.

Wie immer schien die Stimme des Mannes, den man unter dem Namen Erik der Wissende kannte, im Bewusstsein seines modernen Namensvetters zu vibrieren, als er die verblichenen Zeilen in der Hochglanz-Fotografie las:

Ich stand heute an der Grenze, am Jahrestag meiner »Hochzeit«. Durch den verzauberten Nebel hörte ich die Glocken von Silverfells die Geburt einer Klan-Tochter ankündigen, die erste Geburt seit Menschengedenken.

Und der Nebel hielt mich zurück wie ein Kettenpanzer. Mein Pferd weigerte sich weiterzugehen. Mein Wanderfalke war geblendet durch das Licht der Zauberin. Die Nase meines Jagdhundes war unempfindlich wie ein Stein. Ich war der Hilfloseste von allen. Es gab keine Möglichkeit für mich, mir einen Weg durch den Nebel zu suchen, um an die Quelle meines Verderbens zu gelangen.

Verflucht seien alle von Silverfells!

Ich konnte die dunkle Freude des Klans schmecken, sogar als ich wütete gegen die abscheuliche Zauberin, die mich in ihren willigen Sklaven verwandelt hatte.

Erik zuckte zusammen, wie schon beim ersten Mal, als er die Passage übersetzt hatte. Sein Namensvetter war wirklich und wahrhaftig stinksauer, seine rasende Wut hatte alle Zeit überdauert und schimmerte durch die verblassten Buchstaben, so zornig, dass er nicht einmal den Namen der Zauberin erwähnte; zumindest hatte er das auf keiner der sieben Seiten getan, die Erik im Laufe der Jahre gefunden hatte.

»Armer Hundesohn«, murmelte Erik. »Sie hat es dir wirklich angetan, nicht wahr? Oder vielleicht hast du es auch ihr angetan. Eine Geburtsglocke, hmmm? Gut, sofern man Kinder im zwölften Jahrhundert in Britannien nicht anders gezeugt hat, schätze ich, dass du diesen Part nur zu gern übernommen hast. Frage mich, was falsch lief...« Sein Mund verzog sich nachdenklich. »Das Übliche, nehme ich an. Sie wollte mehr, als du ihr geben konntest, ohne dich gleichzeitig als Mann aufzugeben.«

Erik North war das Gleiche passiert. Seine Verlobte hatte seine ungeteilte Aufmerksamkeit gefordert. Sie wollte nicht die »Stiefmutter« von zwei Mädchen im Teenageralter sein, die nun mal seine beiden jüngeren Schwestern waren. Es gab schließlich jede Menge Cousins und Cousinen zweiten und dritten Grades. Sollten die die beiden doch aufziehen.

Ende der Verlobung.

Beginn der allein erziehenden Elternschaft.

Sorgfältig legte Erik die Werkzeuge, die er benutzt hatte, um die Markierungslinien auf dem Pergament zu zeichnen, beiseite. Weil dieser spezielle Kunde es außergewöhnlich genau nahm – um es höflich auszudrücken –, hatte er einen Knochengriffel mit einer eingelassenen Metallspitze für die Markierung des Pergaments benutzt, genau wie man es vor über tausend Jahren getan hatte. Jetzt warteten die Zeilen darauf, mit Kalligraphie gefüllt zu werden. Er musste nur noch den alten Text gut genug entziffern, um ihn kopieren zu können.

Es wäre eine Hilfe gewesen, wenn er mit dem Original-Pergament länger hätte arbeiten können, aber der Besitzer hütete seinen Schatz verständlicherweise wie seinen Augapfel. Arbeiten des Spanischen Fälschers waren hochbegehrt im einundzwanzigsten Jahrhundert. Erik hatte Glück gehabt, die Erlaubnis zu bekommen, das Blatt unter UV-Strahlen legen und fotografieren zu dürfen, um auf diese Weise den Originaltext sichtbar zu machen.

Langsam verschob er den hölzernen Zeichentisch, bis das, was bisher nur eine Andeutung dünner Schatten gerade unterhalb der Oberfläche des Originalpergaments war, sich in eine Fotografie eleganter, jedoch dürftiger Zeilen von Kalligraphie verdichtete. Er gab einen tiefen, rauen Ton der Befriedigung von sich, der eher ein Knurren war. Dieser Ton passte recht gut zu seinem goldbraunen Haar und seinen goldenen Raubtieraugen.

»Erwischt!«

Indem er ein Lied summte, das seit dem Mittelalter Generationen von Männern gesungen hatten, fixierte er den Tisch in dem richtigen Winkel. Erst dann wählte er einen Federkiel aus dem Gestell, das an der Kante des Zeichentisches festgeschraubt war. Da er Linkshänder war, stammten die Federkiele, die er benutzte, aus dem rechten Flügel des Vogels – gewöhnlich von einem Truthahn, manchmal von einer Gans, wenn er eine Seite bis ins kleinste historische Detail kopierte.

Heute benutzte er Gänsekiele. Sein Kunde war er selbst; wenn es sich um das Buch des Wissenden handelte, war er der penibelste Kunde der Welt. Wenn eine hundertprozentige Wiedergabe des Originals bedeutete, dass man dafür Gänsekiele brauchte, dann würde er bei Gott welche in Palm Springs finden.

Die Mönche und Schreiber im Altertum hatten keine Probleme damit, gute Federn zu bekommen. Die Klöster der Alten Welt wussten noch nichts von den Truthähnen der Neuen Welt, aber die Mönche hatten Gänseherden, um ihre Küche und ihre Kalligraphen beliefern zu können.

So weit hatte Erik sich noch nicht treiben lassen. Er hatte einige Ökozüchter von Truthähnen beschwatzt und eine Frau, die europäische Graugänse aufzog für Restaurants, die sich auf ungewöhnliches Essen spezialisiert hatten. Nachdem er einmal die Ungläubigkeit der Bauern überwunden hatte, waren sie glücklich, ihm die ausgerupften Federn liefern zu können.

Wie erwartet, war Thanksgiving der beste Termin, um ganze Büschel von Truthahnfedern zu bekommen. Weihnachten war am besten für Gänse. Erst vor einigen Wochen hatte er mehrere Hundert Gänsefederkiele präpariert. Hatte jeden Stiel in heißen Sand gesteckt, um den Kiel zu »heilen«, dann die zarte, glitschige Haut abzupellen und schließlich den weichen Kern herauszukratzen. Nach einigen geübten Schnitten mit seinem Federmesser verwandelte sich die Feder in ein Schreibinstrument.

Er musste Weihrauch verbrennen, um den Geruch von bearbeiteten Federn aus dem alten Schloss zu vertreiben, das er von seinem Großvater geerbt hatte. Erik hatte die Mönche im Verdacht, Weihrauch aus den gleichen Gründen benutzt zu haben. Nasse, verbrannte Federn stanken beinahe ebenso penetrant wie Stinktiere.

Automatisch hielt er den Federkiel hoch gegen das Tageslicht und inspizierte die Spitze. Perfekt. Er würde nicht lange halten, aber deshalb hatte er stets ein scharfes Federmesser zur Hand. Und zwar im Wortsinn. Seine rechte Hand griff zum Federmesser, während er mit der linken den Federkiel aufnahm. Im zwölften Jahrhundert waren alle Kirchenschreiber Rechtshänder. Für die Tatsache, dass dieser Kalligraph Linkshänder war, sprach auch seine Textauswahl: Es handelte sich um eine säkulare Geschichte des Klans des Wissenden aus der Sicht ihres größten Gelehrten, und nicht um das Transzendieren des Wesen Gottes.

Erik machte sich bereit, mit der Arbeit zu beginnen. Die Kunst der mittelalterlichen Kalligraphie erforderte zwei Hände, eine, die den Federkiel und eine, die das Federmesser hielt. Mit dem Kiel schrieb man. Das Federmesser war für alle übrigen Verrichtungen: Es hielt das rutschige Pergament auf dem schrägen Tisch fest, schärfte Federkiele am Ende jeder Seite, und man konnte etwaige Fehler damit berichtigen, indem man die Tinte wegkratzte, bevor sie trocknete.

Erik hielt die Feder auf eine Weise, die einem heutigen Mann seltsam vorkommen mochte – sie stand in rechtem Winkel zum Pergament, und der ganze Arm, nicht nur die Hand, vollzog die Bewegung – und tunkte jetzt die Spitze der Feder in ein Töpfchen mit Tinte, die er nach einem Rezept angefertigt hatte, das noch älter war als das Lied, das er summte. Obgleich er persönlich Farbruß bevorzugte, wenn er antike Manuskripte kopierte, hatte der störrische Kunde darauf bestanden, dass er die altertümliche Kombination aus Eisensulfat und der Asche von Eichengalle nahm. Die daraus resultierende Tinte war einigermaßen erfreulich, man konnte damit arbeiten, aber sie würde zu Braun verblassen, wenn sich die Jahre auftürmten wie Blätter im Herbst.

Das sollte nicht Eriks Problem sein. Wenn die Tinte beginnen würde zu verblassen, wäre er längst tot. Wenigstens hatte er jetzt, da er nicht länger für die Sicherheitsabteilung von Rarities Unlimited arbeitete, eine bessere Chance, lange genug zu leben, um das meiste vom Buch des Wissenden zu sammeln.

Bevor sein jungfräulicher Federkiel die Tinte berührte, klingelte das Telefon.

Kapitel 4

Erik war in Versuchung, den klingelnden Dämon einfach zu ignorieren, tat es aber doch nicht. Es konnte schließlich ein zahlender Kunde sein. Es konnte ein Mediävist sein, der irgendwelche obskuren Aspekte der Kalligraphie oder Farbmischungen für Illuminierungen mit ihm diskutieren wollte.

Es konnte auch Rarities Unlimited sein.

Er legte seinen Federkiel beiseite und ergriff das tragbare Telefon, das an einer Seite seines Zeichentisches angebracht war. Sobald er den Hörer in der Hand hielt, hörte das Klingeln auf.

»North«, sagte Erik kurz angebunden.

»Niall.«

Adrenalin durchfuhr ihn. S. K. Niall – spricht sich zwar so aus, aber ich bin kein verdammter Fluss – war der Mitbegründer von Rarities Unlimited, weniger ein Kunsthandel als eine Gemeinschaft internationaler Talente, die die gemeinsame Ehrfurcht vor dem Besten, was die menschliche Kultur zu bieten hatte, verband. Einige von Eriks interessantesten Aufträgen hatten mit diesem leisen Knurren begonnen oder mit Dana Gaynors einschmeichelndem, weichem Tenor. Nialls Spezialbereich war die Sicherheit, ein Bereich, der eine Vielzahl unterschiedlichster Operationen erforderte, von denen einige ziemlich privater Natur waren.

»Wie geht’s in Smog City?«, fragte Erik.

»Leck mich.«

»So schlimm, hm?«

»Du bist ja nur neidisch. L.A. ist ganz sauber vom letzten Regen, und du steckst da in Palm Springs mit staubigen Bürgersteigen und den Bars voller Elvis-Imitatoren.«

Erik wartete. Der andere Mann hatte ihn nicht angerufen, um über das Wetter zu reden, und beide wussten es. Der dunkle, extrem gut ausgebildete Kopf der Sicherheitsabteilung hatte mehr zu tun, als er Zeit hatte zu erledigen. Andererseits waren Niall und Erik nicht nur durch gemeinsame Geschäfte verbunden, sondern auch alte Bergsteigkumpels. Mit einem Wort ausgedrückt: Freunde.

»Factoid lässt dich Folgendes fragen«, sagte Niall jetzt.

Erik zog überrascht die Augenbrauen hoch. Factoid, auch bekannt als Joseph Robert (Joe-Bob) McCoy, war der Computerexperte von Rarities und der Inbegriff des durch und durch verkabelten Mannes des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Aufgrund seines besonderen Verstandes, mit oder ohne die Hilfe von Computern, konnte Joe-Bob McCoy mühelos Fakten, die nichts miteinander zu tun hatten, in Beziehung zueinander setzen.

»Bist du noch da?«, fragte Niall.

»Ich bin sprachlos. Was kann ich wissen, was Factoid nicht in seinen Datenbanken oder seinem Furcht erregenden Gehirn findet?«

»Wie Frauen denken.«

»Tut mir Leid, du musst die falsche Nummer gewählt haben.«

Niall lachte. »Er geht davon aus, dass jeder, der solche Schultern hat wie du, das Geheimnis der weiblichen Psyche kennen muss.«

»Da sollte er besser dich fragen«, erwiderte Erik trocken. »Du bist hier doch der Große, Dunkle und gut Aussehende. Verdammt, ich war noch nicht einmal verheiratet.«

Niall lachte schallend. »Das ist es ja gerade. Er glaubt, du hast alles total im Griff. Frauen rennen dir hinterher und kriegen dich doch nicht.«

»Der Junge hat wirklich eine blühende Fantasie«, sagte Erik. »Sag ihm, er soll weiterträumen. Damit schlägt er mein tatsächliches Leben um Längen. Hast du noch mehr auf Lager in deinem unterbelichteten Kasten?«

»Vorsichtig, Junge. Es handelt sich um deinen Boss, den du beleidigst.«

»Ich arbeite für Dana.«

»Ach ja, die Fuzzys, diese Schöngeister«, sagte Niall mit Abscheu in der Stimme. Er sprach von der Kunstabteilung von Rarities, als stünde sie der Sicherheitsabteilung, die er leitete, feindlich gegenüber. »Wann kommst du wieder zurück auf die richtige Seite? Ich könnte dich gebrauchen.«

»Ich bin ein wiedergeborener Fuzzy.«

»Du gehst mir auf den Sack.«

»Du warst doch derjenige, der mir versichert hat, dass Fuzzys gar keinen haben.«

Niall kicherte und gab auf für den Augenblick. »McCoy braucht ein Geburtstagsgeschenk für Gretchen. Ich habe ihm gesagt, er soll einen Bottich Öl und ein –«

»Viel zu viele Informationen!«, fiel Erik ihm geschwind ins Wort.

»Und was schlägst du vor?«

Erik öffnete den Mund. Nichts kaum raus. Factoids brennender Ehrgeiz, seine Chefin Gretchen ins Bett zu kriegen, war ständiger Gegenstand von Witzeleien bei Rarities Unlimited. Gretchen war zehn Jahre älter als ihr Möchtegern-Liebhaber und gebaut wie eine Wagner-Walküre. McCoy hatte einen rasanten Stoffwechsel; egal, wie viele Hamburger und Fritten er in sich reinstopfte, er müsste schon neben sich stehen, um einen Schatten zu erzeugen.

»Gebete«, sagte Erik schließlich. »Und wenn das nicht hilft, schlage ich virtuelle Realität vor. Es gibt Webseiten da draußen, bei denen dir garantiert dein Schwanz auf der Stelle wegfault. Noch etwas?«

»Eine unserer Quellen bei Sotheby’s hat das Gerücht gehört, dass einige unbekannte Manuskriptseiten von sehr hoher Qualität aufgetaucht sind.«

»Zwölftes Jahrhundert, keltisch?«, fragte Erik sofort und wusste, dass das der eigentliche Grund für den Anruf von Niall war.

»Ich habe dich angerufen, nicht wahr?«

»Die Schreibweise der Insel?«

»Weiß ich nicht.«

»Latein oder Vulgata?«

»Verdammt, Junge, ich bin kein Fuzzy.«

»Sind die Seiten bei Sotheby’s?«, fragte Erik.

»Nein. House of Warrick. New Yorker Büro.«

»Mist. Wenn die Seiten wirklich gut sind, wird der alte Mann sie für sein Auktionshaus kaufen oder sogar für sich persönlich. Nur weil er Handschriften aus dem fünfzehnten Jahrhundert bevorzugt, heißt das noch lange nicht, dass er keine anderen kauft. Hat Warrick dich angerufen?«

»Nein. Unser Maulwurf hat das getan. Das Zeug soll erst mal nur vorläufig geschätzt werden. Farbkopien, nicht die Originale. Von Verkauf war nicht die Rede.«

»Jede Art von Schätzung ist der erste Schritt zu einem Verkauf«, sagte Erik ungeduldig. »Ich möchte diese Seiten sehen. Wenn das nicht möglich ist, besorge mir wenigstens die Kopien. Finde den Namen des Eigentümers raus.«

»Factoid arbeitet bereits daran, aber bisher ist noch nichts in Warricks Computer eingegeben worden, oder falls doch, dann auf einem absolut sicheren Computer. Eventuell hält der Junge seine Informationen auch zurück, damit du ihm einen wirklichen Knüller als Geburtstagsgeschenk vorschlägst.«

»Schokoladensirup.«

»Was?«

»Sag ihm, er soll es in ihre –«

»Wer hat hier was von zu viel Informationen gesagt?«, fiel Niall ihm hastig ins Wort. »Ich bin zu jung, um mir so etwas anzuhören.«

»Übertreib nicht so.« Bevor Niall mit ihm streiten konnte, sagte Erik: »Besorg mir die Information über diese Seiten.«

»Seit wann erteilst du deinem Boss Aufträge?«

»Ich bin ein unabhängiger Berater, falls du dich erinnerst.«

»Auf Vorschussbasis.«

»Willst du ihn zurück?«

»Nicht heute, Junge. Ich warte, bis ich echt sauer auf dich bin.«

Der Signalton im Handy sagte Erik, dass sein Arbeitgeber/Freund aufgelegt hatte auf seine übliche unkonventionelle Art und Weise.

»Gleichfalls auf Wiederhören«, sagte Erik.

Er drückte auf den ENDE-Knopf und steckte den Apparat zurück in seine Halterung. Seine linke Hand nahm die Feder wieder auf, seine rechte Hand griff nach dem Federmesser.

Die Klingel an der Haustür meldete sich.

Erik fluchte. Er drehte sich um, warf einen Blick durch das Südfenster und sah den weiß-rot-orangenen Lieferwagen vom FedEx Lieferservice. Einen Moment lang war er stark versucht, die Unterbrechung zu ignorieren. Er erwartete keine Sendung. Andererseits war das Unerwartete oft das Interessanteste, das an einem Tag wie jedem anderen passieren konnte.

Er ging zur Gegensprechanlage auf der anderen Seite seines Zimmers, drückte einen Knopf und fragte: »Brauchen Sie eine Unterschrift?«

Das krächzende »Ja« war kaum zu verstehen.

Er musste unbedingt was wegen der Gegensprechanlage unternehmen. Antiquitäten waren ja schön und gut, gehörten aber nicht in ein Sicherheitssystem. Obgleich der Rest des Systems absolut das Neueste vom Neuen war, hatte eine von Rarities Sicherheitsberatern einen brillanten, wenn auch etwas verqueren Verstand. Erik bewunderte Joellas Arbeit, obgleich er ihre Paranoia nicht so recht nachvollziehen konnte.

»Ich komme schon«, sagte er der Gegensprechanlage.

Er legte die jungfräuliche Feder beiseite, eilte die Treppen hinunter und durchquerte die große, umgebaute Küche bis zu der Seitentür, wo alle Lieferungen abgegeben wurden. Der Fahrer war neu, weiblich, und sah noch nicht alt genug aus, um wählen zu dürfen. Andererseits sahen für Erik, seit er vierunddreißig war, mehr und mehr Menschen jung aus.

»Vielen Dank«, lächelte sie ihn flüchtig an.