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Ist sie wirklich unschuldig – oder spielt sie mit ihm? Der romantische Spannungsroman »Thrill of Desire« von Elizabeth Lowell als eBook bei dotbooks. Kyle Donovan war schon immer ruheloser und wilder als seine Geschwister. Bei einem spektakulären Auftrag hat er nun die Chance, allen im Edelstein-Familienimperium zu beweisen, was wirklich in ihm steckt: Der legendäre Schatz der chinesischen Tang-Dynastie wurde gestohlen – und die junge Lianne Blakely, eine geheimnisvolle Jadeexpertin, ist die Hauptverdächtige. Kyle, der den Schatz wiederbeschaffen soll, ist mehr als nur geneigt, den Unschuldsbeteuerungen dieser faszinierenden Frau zu glauben. Gemeinsam mit ihr macht er sich auf die gefährliche Jagd nach dem wahren Dieb und wird dabei nicht nur in die Machtspiele der skrupellosesten chinesischen Familienclans gezogen, sondern verfällt auch mit jedem Tag mehr der schönen Lianne ... Wird sie ihm zum Verhängnis werden? »Ein überaus spannender und erotischer Liebesroman!« Rendezvous Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Romantic-Suspense-Roman »Thrill of Desire« ist der zweite Band von Elizabeth Lowells Donovan-Saga, der unabhängig von den anderen gelesen werden kann und Fans von Sandra Brown begeistern wird. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 612
Über dieses Buch:
Kyle Donovan war schon immer ruheloser und wilder als seine Geschwister. Bei einem spektakulären Auftrag hat er nun die Chance, allen im Edelstein-Familienimperium zu beweisen, was wirklich in ihm steckt: Der legendäre Schatz der chinesischen Tang-Dynastie wurde gestohlen – und die junge Lianne Blakely, eine geheimnisvolle Jadeexpertin, ist die Hauptverdächtige. Kyle, der den Schatz wiederbeschaffen soll, ist mehr als nur geneigt, den Unschuldsbeteuerungen dieser faszinierenden Frau zu glauben. Gemeinsam mit ihr macht er sich auf die gefährliche Jagd nach dem wahren Dieb und wird dabei nicht nur in die Machtspiele der skrupellosesten chinesischen Familienclans gezogen, sondern verfällt auch mit jedem Tag mehr der schönen Lianne ... Wird sie ihm zum Verhängnis werden?
»Ein überaus spannender und erotischer Liebesroman!« Rendezvous
Über die Autorin:
Elizabeth Lowell ist das Pseudonym der preisgekrönten amerikanischen Bestsellerautorin Ann Maxwell, unter dem sie zahlreiche ebenso spannende wie romantische Romane verfasste. Sie wurde mehrfach mit dem Romantic Times Award ausgezeichnet und stand bereits mit mehr als 30 Romanen auf der New York Times Bestsellerliste.
Elizabeth Lowell veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre historischen Liebesromane »Begehrt von einem Ritter«, »Verführt von einem Ritter« und »Geküsst von einem Ritter« sowie ihren Thriller »48 Hours – Rette dein Kind« Außerdem veröffentlichte sie ihre Romantic-Suspense-Romane »Dangerous Games – Dunkles Verlangen«, »Dangerous Games – Tödliche Gier« und die Donovan-Saga mit den Bänden »Thrill of Temptation«, »Thrill of Desire«, »Thrill of Passion« und»Thrill of Seduction«.
Die Website der Autorin: elizabethlowell.com
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eBook-Neuausgabe Oktober 2023
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1998 unter dem Originaltitel »Jade Island« bei Avon Books, Inc., New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Jadeherzen« bei Goldmann.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1998 by Two of a Kind, Inc.
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1999 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/PKpix, akkachai thothubthai, neelsky
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-98690-848-5
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Elizabeth Lowell
Thrill of Desire
Roman – Die Donovan-Saga 2
Aus dem Amerikanischen von Elke Iheukumere
dotbooks.
Er hatte Angst.
Seine Hände zitterten, als er die kostbaren Stücke aus Jade vorsichtig aufhob und sie in Kisten verpackte. Kostbare Jade, antike Jade, der Stein des Himmels ... die Träume der Menschheit, in Stein geschnitzt mit unsäglicher Geduld und atemberaubender Kunstfertigkeit.
Träume, die Neid, Gier und Habsucht weckten.
Träume, die zu Diebstahl, Betrug und Tod führten.
Seine Hände fühlten sich noch kälter an als die Jade, die er Stück für Stück, Traum für Traum stahl, die Seele einer ganzen Kultur, die nun durch seine klammen Finger ging. Hier ein Drache, verschlungen in einem eleganten Entwurf, der dreitausend Jahre alt war. Dort ein Gelehrter, eingehüllt in die wolkenweichen Rundungen eines cremefarbenen Steins. In der Ecke ragte ein Berg auf, Leben, geschaffen von Künstlern, deren eigenes Leben kam und auch wieder ging, lange bevor die Schöpfung vollendet war.
Träume von Schönheit, eingefangen in den tausend Schattierungen der Jade, von weiß bis hin zu Ebenholz, von Grün, das bis ins Blaue schimmerte, einem Rot, das bis ins Goldene leuchtete. All jene Farben verwandelte das grelle Licht in einen ätherischen Schein, eine Seele, von innen erhellt.
Einzigartig.
Von unschätzbarem Wert.
Unersetzlich.
Siebentausend Jahre einer Kultur, aufgereiht in diesem leuchtenden Aufgebot. Antikes Bi, Scheiben, die den Himmel darstellten; uraltes Cong, hohle Zylinder, die die Erde darstellten. Zeremonielle Klingen und Armreifen, kunstvoll geschmückt mit Symbolen, deren Bedeutung älter war als die Erinnerung der Menschheit. Ringe, Armbänder, Ohrringe, Anhänger, Spangen, Siegel, Schalen, Becher, Plaketten, Wolken, Berge, Messer, Äxte, Männer, Frauen, Drachen, Pferde, Fische, Schweine, Vögel, der unsterbliche Lotus; alles, was eine Kultur je erträumt hatte, war geduldig, so geduldig geschnitzt, aus dem einzigen Edelstein, der zur Seele dieser Kultur sprach.
Jade.
»Beeil dich, du Dummkopf.«
Der Mann schnappte nach Luft und hätte beinahe eine zierliche, zeitlose Schale fallen lassen, wäre nicht aus dem Dämmerlicht eine Hand erschienen und hätte die kühle, ausgehöhlte Halbkugel gepackt.
»W-was tust du hier?« fragte der erste, und sein Herz schlug rasend.
»Ich überzeuge mich davon, daß du auch alles richtig machst.«
»Was?«
»Das Grab des Jadekaisers plündern, was sonst?« antwortete der zweite Mann sarkastisch.
»Ich ... nicht alles ... ich ... nein! Es wird entdeckt werden!«
»Nicht, wenn du tust, was ich dir sage.«
»Aber ...«
»Hör mir zu.«
Zitternd lauschte der erste Mann, während Hoffnung und Furcht in ihm immer größer wurden. Er konnte sich nicht entscheiden, was schlimmer war. Er wußte nur, daß er sein eigenes Grab geschaufelt hatte, mit seinen eigenen Händen.
Und er würde alles dafür tun, um nicht auch noch darin begraben zu werden.
Während er lauschte, wußte er nicht, ob er lachen oder weinen sollte oder sich vor dem Teufel verstecken sollte, der ihm kühle, sanfte Worte des absoluten Betruges zuflüsterte. Es war alles so einfach. Es war gar nicht nötig, daß er in den sauren Apfel der Schuld biß. Der Teufel hatte jemand anderen gefunden, der das an seiner Stelle tun würde.
Als er das begriff, lachte der Dieb.
Und als er fortfuhr, die unschätzbar wertvolle Jade einzupacken, waren seine Hände auch schon wieder warm.
Bei dem lauten Klopfen an der Tür fuhr Lianne Blakely in ihrem Bett hoch, ihr Herz raste wie wild. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob sie den ganzen Lärm nur geträumt hatte. Müde genug, um zu träumen, war sie mit Sicherheit. Am gestrigen Abend hatte sie bis in die Nacht hinein gearbeitet, hatte die wunderschönen Stücke aus Jade in ihrem Apartment immer wieder neu geordnet und umgestellt, bis sie sicher war, die richtige Anordnung für die Ausstellung der Jadehändler auf der gemeinnützigen Veranstaltung heute abend gefunden zu haben.
Das Hämmern an ihrer Tür wurde lauter.
Lianne schüttelte den Kopf, sie schob die schweren Locken ihres schwarzen Haares aus dem Gesicht und starrte auf die Uhr neben ihrem Bett. Es war erst sechs Uhr morgens. Sie blickte aus dem kleinen Fenster. Überall in Seattle war die Dämmerung angebrochen, doch nicht in ihrem alten, nach Westen hinaus liegenden Apartment über dem Pioneer Square. Selbst wenn der Himmel klar gewesen wäre – aber das war er nicht –, würde das Sonnenlicht ihr Fenster erst am späten Morgen erreichen.
»Lianne, wach auf! Hier ist Johnny Tang. Mach die Tür auf!«
Nun fragte sie sich wirklich, ob sie träumte. Johnny war noch nie in ihrer Wohnung gewesen und auch nicht in ihrem Büro, das auf der gleichen Etage lag. Eigentlich sah sie ihn nur sehr selten, es sei denn, sie besuchte ihre Mutter in Kirkland.
»Lianne!«
»Augenblick – ich komme!« rief sie.
In diesem Augenblick war sie dankbar, daß sie keine Nachbarn hatte, die sich über den Lärm an einem Samstagmorgen beschweren würden. Sie schob die Steppdecke beiseite, griff nach dem Morgenrock aus roter Seide, den ihre Mutter ihr zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte, und lief zur Wohnungstür. Zwei Schlösser und einen Riegel später riß sie die Tür auf.
»Was ist passiert?« verlangte sie zu wissen. »Ist etwas mit Mutter?«
»Anna geht es gut. Sie möchte dich aber noch vor der Auktion sehen.«
In Gedanken stellte Lianne ihren übervollen Zeitplan um. Wenn sie ihre Nägel selbst machte, könnte sie den Besuch bei ihrer Mutter noch schaffen. Knapp. »Ich werde vorbeikommen, nachdem ich die Ausstellung der Jadehändler aufgebaut habe.«
Johnny nickte, doch er sah nicht aus, als ob er damit sein Ziel schon erreicht hätte. Er sah ruhelos, irritiert und besorgt aus. Sein Mund drückte Zorn aus, und die Haut auf seinen breiten Wangenknochen war gespannt. Trotz allem war er jedoch ein gutaussehender Mann. Er war fast einen Meter achtzig groß, schlank, schnell in seinen Bewegungen und seinem Geist, und wenn er in der Stimmung dazu war, besaß er sogar ein großzügiges Lächeln.
»Hast du Kaffee?« fragte er sie. »Oder hängst du noch immer an diesem chinesischen Koffein?«
»Ich habe sowohl Kaffee als auch Tee.«
»Ich trinke meinen schwarz. Kaffee, keinen Tee.«
Lianne trat zur Seite und ließ Johnny hinein. Sie wußte nicht einmal, wie alt dieser Mann, der die Vaterschaft zu ihr nie anerkannt hatte, eigentlich war – sicherlich mußte er schon beinahe sechzig sein –, doch er sah aus wie knapp vierzig. In all den Jahren von Liannes Kindheit war der Liebhaber ihrer Mutter kaum gealtert. Einige silberne Strähnen zeigten sich in seinem schwarzen Haar, Lachfältchen und noch ein paar feine Linien waren mit der Zeit hinzugekommen, das kantige Kinn schien nicht mehr ganz so kantig. Es waren nur sehr kleine Dinge, die Lianne an ihm bemerkte, verglichen mit all den Veränderungen, die sie seit ihrer Geburt bis zu ihrem fast dreißigsten Lebensjahr erlebt hatte.
Und nicht ein einziges Mal in all den Jahren hatte Johnny Tang anerkannt, daß Anna Blakelys Kind das seine war.
Lianne schob diesen Gedanken von sich, sie schloß die Tür und schob den Riegel wieder vor. Was Johnny zugab oder nicht, war für sie nicht länger wichtig. Das wichtigste für sie war nun Jade. Tang-Jade. Die Sammlung des Vaters ihres Vaters. Hunderte von Stücken. Tausende. Alle waren sie sehr kostbar, einige sogar unbezahlbar, und aus jedem einzelnen Stück Jade leuchteten einem die Zeit und die Geheimnisse und die strahlende Seele der Kunst entgegen.
»Du konntest wohl nicht widerstehen, mit ihnen zu spielen, wie?« fragte Johnny und machte eine ausladende Geste mit der Hand.
Auf dem kleinen Küchentisch standen viele Jadeskulpturen, und noch mehr lagen auf dem Fußboden, und einige der kleineren Stücke waren auf der schmalen Anrichte aufgereiht.
»Gespielt? Wenn du es so nennen willst«, meinte Lianne. »Puppen sind es nicht gerade.«
Er lachte kurz auf. »Vater würde ohnmächtig werden, wenn er hört, daß du Puppen und Jade in einem Atemzug nennst.«
»Wen weiß, daß ich die Jade respektiere.«
»Wen nutzt dein Wissen bloß aus und zahlt dir bei weitem nicht genug.«
Lianne warf ihrem Vater einen erstaunten Blick zu. »Er hat mich alles gelehrt, was ich weiß.«
»Falsch«, unterbrach Johnny sie ungeduldig. »Bis vor sieben Jahren wußte er nicht einmal, daß du überhaupt lebst. Dann hast du auf einem Flohmarkt ein paar Jadeperlen gekauft, und er hat entschieden, daß du im Umgang mit der Jade ein Genie bist.«
»Diese Perlen gehörten zu der westlichen Zhou-Dynastie, sie waren dreitausend Jahre alt und mit Drachen verziert – einem Symbol der Könige. Sie waren auf einem verblaßten roten Seidenfaden aufgefädelt, der älter war als die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika.«
»Wenn du sie verkauft hättest und das Geld auf dem Aktienmarkt angelegt hättest, dann müßtest du heute nicht in diesem heruntergekommenen Loch leben. Aber nein, du hast sie meinem Vater zum Geburtstag geschenkt.«
Im ersten Augenblick war Lianne viel zu überrascht, um zu antworten. Es sah Johnny gar nicht ähnlich, über die Familie zu reden. Ganz sicher nicht mit ihr. Sie warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu und erkannte an einigen kleinen Anzeichen, daß er gerade ausgesprochen verärgert war.
»Ich wußte gar nicht, daß du mit meinen Entscheidungen nicht einverstanden warst«, entgegnete sie ruhig.
»Hätte es denn etwas geändert?«
»Natürlich hätte es das. Ich möchte dich und deine Familie schließlich nicht verärgern.«
Das hatte Lianne nie gewollt. Sie hatte ihr Innerstes nach außen gekehrt, hatte Mandarin und Kantonesisch gelernt, sie hatte sieben Tage in der Woche gearbeitet, zweiundfünfzig Wochen im Jahr, um der Familie Tang zu beweisen, daß sie ihrer wert war. Sie arbeitete noch immer daran, ganz gleich, wie sehr sie sich selbst auch einzureden versuchte, daß sie dies alles nur für ihr Geschäft tat. Daß sie lediglich in der Nähe ihrer besten Kunden bleiben wollte – der weitläufigen, internationalen Familie Tang.
»Du hättest dich nach dem Wunsch deiner Mutter richten sollen und Lehrerin werden«, meinte Johnny.
»Aber du weckst mich doch nicht um sechs Uhr morgens, um mir das zu sagen?« fragte Lianne schließlich.
»Nein.«
Als Johnny daraufhin nichts mehr entgegnete, drehte Lianne das Gas unter dem Kaffeetopf an und wartete darauf, daß er zu brodeln begann. In Seattle war Filterkaffee zwar praktisch ein Sakrileg, doch im Augenblick fühlte sie sich den komplizierten Anforderungen einer Espressomaschine, die sie erst vor einer Woche im Sonderangebot gekauft hatte und noch nicht vollkommen beherrschte, einfach nicht gewachsen.
Während in der Küche der Kaffee kochte, lief Johnny mehrmals durch Liannes kleines Apartment. Es war offensichtlich, daß sie hier nicht allzuviel Zeit verbrachte. Abgesehen von den gerahmten Drucken der San-Juan-Inseln und einem Bild von Schmuckjade von Warring States gab es in dem Raum nichts Persönliches. Dieser unterschwellige, aber unmißverständliche Beweis, daß Lianne sich ausschließlich ihrer Arbeit widmete und kaum Privatleben hatte, gefiel Johnny nicht.
»Warum lebst du in diesem Loch?« fragte er.
»Die Miete ist billig.«
»Ich gebe...« Johnny hielt abrupt inne. »Anna hat genug Geld, um dafür zu sorgen, daß du in einer besseren Wohnung leben kannst.«
»Was sie hat, gehört auch ihr.« Auch wenn es von Johnny Tang kam. Aber das war etwas, das Lianne niemals laut aussprechen würde. »Ich bin alt genug, um mich selbst durchzubringen.« In der Tat würde sie bald dreißig werden. Sie würde diesen Meilenstein allein feiern; Anna und Johnny wollten nach Hongkong reisen oder Tahiti oder irgendwohin auf die andere Seite des Pazifiks, um den einunddreißigsten Jahrestag ihrer Beziehung zu feiern.
»Anna sagt, deine Geschäfte gehen gut«, meinte Johnny. »Warum gönnst du dir dann nicht etwas Besseres?«
»Das Gebäude gehört deiner Familie. Wenn du der Ansicht bist, daß es ein Loch sei, solltest du dich darüber bei deinem ältesten Bruder beschweren, bei Joe Tang. Er ist schließlich der Vermieter hier.«
Eine Zeitlang schwieg Johnny. Es war ein unangenehmes Schweigen, doch Lianne machte keine Anstalten, es zu brechen. Sie traute sich nicht. Ihr könnte etwas herausrutschen, das sie besser nicht aussprach, wie zum Beispiel: Warum sorgst du dich plötzlich so sehr um mich? Die Frage wäre nicht sehr fair. Johnny hatte seine uneheliche Tochter besser behandelt, als manche Männer ihre ehelichen Kinder behandelten. Es war nicht sein Fehler, daß Lianne sich nach der Liebe einer Familie sehnte, die sie nicht wollte, außer als Expertin für Jade.
Alte Geschichten, rief sich Lianne ins Gedächtnis. Alles. Sie konnte an der Vergangenheit nichts ändern, doch die Zukunft konnte sie selbst gestalten. Und das tat sie auch. Denn obwohl die Tang-Familie bei der Förderung ihres Jadehandels eine große Rolle spielte, war sie nicht der einzige Grund dafür, daß Lianne sich schließlich gegen alle Widerstände durchgesetzt und ihr eigenes Geschäft gegründet hatte. Viele der Gründe für ihren Erfolg lagen in ihrem Fachwissen und in ihrer Bereitschaft, neunzig Stunden in der Woche zu arbeiten.
»Hast du schon mit Kyle Donovan gesprochen?« fragte Johnny.
»Bist du deshalb hierhergekommen, um herauszufinden, ob es mir gelungen ist, Mr. Donovan ›rein zufällig‹ kennenzulernen?«
»Warum hätte ich wohl sonst kommen sollen?«
Weil ich deine Tochter bin. Doch sie biß sich auf die Zunge und hielt diese bitteren Worte zurück, während sie nach zwei Kaffeetassen griff. Der Kaffee war noch nicht ganz fertig, doch sie brauchte in diesem Moment dringend etwas, mit dem sie sich beschäftigen konnte.
»Kaffee«, sagte Lianne und reichte Johnny einen der beiden Becher.
Er nahm den Kaffeebecher entgegen und beobachtete sie schweigend. »Nun?«
»Nein«, entgegnete sie.
»Warum nicht?«
Lianne goß sich Kaffee ein und nippte an dem schwachen braunen Gebräu.
»Bist du mit jemand anderem zusammen?« drängte Johnny.
»Nein. Und warum sollte das etwas ausmachen? Du hast mir gesagt, ich solle Donovan kennenlernen, und nicht, daß ich ihn verführen soll.«
»Dann lerne ihn kennen!«
»Wie denn?« wollte sie von ihm wissen. »Soll ich meinen Fuß ausstrecken, damit er darüber stolpert?«
»Ach, komm schon«, schnitt er ihr ungeduldig das Wort ab. »Tu doch nicht so bescheiden und so gespielt chinesisch. Du bist genauso amerikanisch wie deine Mutter. Tu einfach das, was die anderen Mädchen auch tun. Geh zu ihm und stell dich ihm vor. So habe ich Anna ja schließlich auch kennengelernt.«
Und sieh nur, wohin sie das gebracht hat. Lianne verkniff sich diese harten Worte. In ihrem Inneren wußte sie, daß immer zwei dazu gehörten, um das Duo Geliebte–Geliebter zu bilden. Ihre Mutter hatte an ihrem zweitklassigen Rang bereitwillig mitgewirkt. Lianne verstand das zwar nicht, aber sie begann langsam, es zu akzeptieren. Endlich. Der Preis, dagegen anzukämpfen, war zu hoch.
»Er wird heute abend bei der Auktion sein«, sagte Johnny. »Tu es heute abend.«
»Aber ...«
»Versprich es mir.«
Lianne erkannte die Emotionen im Blick ihres Vaters, eine Mischung aus Zorn und Ungeduld und etwas, dem sie keinen Namen zu geben vermochte. Dennoch wußte sie, daß sie sich nichts einbildete und diese Gefühle wirklich da waren, so wirklich wie ihre Furcht, sich so zu benehmen, wie sie ihr ganzes Leben beschimpft worden war – wie die Tochter einer Hure.
»Warum?« fragte Lianne, etwas, das sie noch nie zuvor getan hatte.
»Anna und ich fahren nach der Veranstaltung nach Tahiti. Wenn du es heute abend nicht tust, wird es dafür zu spät sein.«
»Zu spät für was? Warum bist du denn so erpicht darauf, daß ich Kyle Donovan kennenlerne?«
»Es ist wichtig. Sehr wichtig.«
»Aber warum?«
Johnny zögerte. »Familiengeschäfte. Das ist alles, was ich dir sagen kann.«
Wieder einmal die Familie. Immer wieder.
Aber eben nicht ihre Familie.
»Also gut«, gab Lianne leise nach. »Ich werde es heute abend tun.«
»Ich fasse das jetzt einmal zusammen«, sagte Kyle Donovan und starrte seinen ältesten Bruder ungläubig an. »Du willst, daß ich die uneheliche Tochter einer Hongkonger Handelsfamilie verführe, um herauszufinden, ob sie in den Verkauf kultureller Schätze verwickelt ist, die in China als gestohlen gemeldet sind?«
Archer neigte den Kopf ein wenig zur Seite, als würde er nachdenken, dann betrachtete er das kalte Wasser hinter der Hütte seines Bruders auf den San-Juan-Inseln, bis er schließlich nickte. »Ja, so ungefähr meine ich das. Bis auf die Verführung. Das liegt an dir.«
»Das glaube ich nicht.«
»Schön. Dann verführe sie also.«
»Das ist ein Scherz.«
»Ich wünschte, es wäre so.«
Kyle wartete, doch sein Bruder schien nicht zum Reden aufgelegt zu sein. Kyle fürchtete, daß er den Grund dafür schon kannte. Archer haßte es, die Familie in irgendwelche Schwierigkeiten aus den grauen Zeiten seiner Vergangenheit zu verwickeln. Onkel Sam gehörte ganz sicher auch dazu. Aber wie schon in der Vergangenheit, so verschwand die US-Regierung niemals so ganz aus seinem Leben.
»Was ist denn los?« fragte Kyle schließlich und rutschte auf seinem Stuhl ungeduldig hin und her. »Und erzähle mir jetzt nichts von überseeischen Verbindungen und internationaler Zusammenarbeit.«
Archer blickte seinen Bruder an. Das Sonnenlicht schien auf Kyles blondes Haar und gab seinen hellbraunen Augen einen eher goldenen als grünen Schimmer, doch sogar das Sonnenlicht konnte den dunklen Rand um seine Iris herum nicht erhellen. Es konnte auch nicht jene Linien und die Schatten verwischen, die einige bittere Erfahrungen in sein Gesicht gezeichnet hatten, die Archer seinem jüngsten Bruder gern erspart hätte.
»Würdest du mir glauben, wenn ich sagte, daß es mit ein paar Geschäften zusammenhängt?« fragte Archer mit tonloser Stimme.
»Mit faulen Geschäften, ja.«
Ein Lächeln huschte über Archers Gesicht, doch es erreichte nicht seine graugrünen Augen, sie verschmälerten sich statt dessen verärgert.
Kyle wartete aber. Diesmal würde er nicht derjenige sein, der das Schweigen brach.
Archer stand von seinem Stuhl auf. Er war groß, langgliedrig, schnell, ein dunkleres Ebenbild seines jüngeren Bruders. Schweigend schritt Archer durch den geräumigen Hauptraum der Hütte und berührte leicht einige der Dinge: einen Computer, auf dem es von Kyles Rube-Goldberg-Neuerwerbungen nur so wimmelte, Bücher zu allen möglichen Themen, von internationalen Bankgeschäften bis zu fünftausend Jahren chinesischer Jade, eine barocke Flöte, eine kleine Vase mit einem Rosmarinzweig darin, ein Brieföffner, der so scharf war, daß man sich damit bis auf den Knochen schneiden konnte, und ein Fischköder, der aussah wie ein einziger Hularock. Unter dem glatten, glänzenden Rock befand sich ein Haken, der spitz genug war, um sogar in einem Stein hängenzubleiben.
»Du hast dich verändert«, sagte Archer und lächelte, während er vorsichtig den Köder zurückstellte. »Vor diesem Bernsteinfiasko im letzten Jahr hättest du nicht gewartet, bis ich weiterreden würde, selbst wenn dein Leben davon abgehangen hätte.«
»Tut es das denn?«
Archers Lächeln verschwand. »Soweit ich weiß, nicht.«
»Und das führt uns zu einer interessanten Frage«, sagte Kyle. »Was weißt du überhaupt?«
»Genug, um mir Sorgen zu machen. Nicht genug, um irgend etwas Nützliches dagegen zu unternehmen.«
»Willkommen unter den Menschen.«
Einen Augenblick noch blieb Archer am Fenster stehen. Er betrachtete den Fichtenwald, durch den der Wind strich, und die Rosario-Meerenge, unter deren friedlicher Oberfläche sich Strömungen bildeten, die stärker waren als mancher Fluß.
»Wenn du keine unseriösen Spekulationen hören willst, kann ich dir nicht mehr sagen, als was ich dir bereits erzählt habe«, meinte Archer schließlich. »Es hat Gerüchte gegeben über einen spektakulären Fund, das Grabmal eines Ming-Kaisers. Der Kaiser war ein Jadekenner. Er soll chinesische Jade aus siebentausend Jahren abgesahnt und mit ins Grab genommen haben.«
»Wo war der Fund? Wer hat ihn gefunden? Wann? Weiß China ...?«
»Ich habe dir doch schon fast alles erzählt«, unterbrach Archer ihn.
»Dann erzähle mir auch noch den Rest.«
»Mein Kontaktmann glaubt, daß Dick Farmer alle wichtigen Jadeartefakte aus diesem Grab gekauft hat.«
Kyle pfiff leise durch die Zähne. »Das muß eine Menge Geld gekostet haben.«
»Beinahe vierzig Millionen, auf die eine oder andere Art.«
»Sogar für einen Kerl, der drei Milliarden wert ist ...«
»Fünf Milliarden, nach der letzten Schätzung.«
»... ist das noch immer eine Menge Geld«, beendete Kyle den Satz.
»Geld kann man ersetzen. Man braucht dazu lediglich eine Druckerpresse, und Gott allein weiß, ob Onkel Sam nicht eine hat«, erklärte Archer ohne Umschweife. »Aber die Stücke aus dem Grab des Jadekaisers können nicht ersetzt werden. Diese Nachricht hat bei den Chinesen weltweit für Empörung gesorgt.«
»Das überrascht mich nicht. Und wie haben sie nun vor, mit Onkel Sam in Kontakt zu kommen?«
»Gar nicht.« Archers Stimme war genauso sarkastisch wie sein Lächeln. »Sie haben einfach damit gedroht, alle Beziehungen zu den Vereinigten Staaten abzubrechen, wenn die Schätze des Jadekaisers auf unserem Boden auftauchen sollten.«
Kyle zog seine blonden Augenbrauen hoch. »Sie scheinen wirklich die Schnauze voll zu haben. Werden die Sachen auftauchen?«
»Wenn wir Pech haben, ja.«
»Gibt es denn auch noch eine andere Möglichkeit?«
»Sie sind schon hier.«
»Wo?«
»Mein Kontaktmann wußte es nicht, oder er hat es zumindest nicht verraten«, erklärte Archer. »Soweit es die Donovans betrifft, macht das auch keinen Unterschied.«
»Farmer ist nicht blöd«, sagte Kyle langsam. »Aber er ist auch kein Mann, der sein Licht unter den Scheffel stellt. Er will in kulturellen Kreisen als großer Mann angesehen werden, als ein wahrer Kenner und nicht nur als ein reicher Mann. Wenn er einen Coup in der Größe des Grabes des Jadekaisers gelandet hat, dann wird er auch damit angeben.«
»Gerade das fürchtet Onkel Sam ja. In diesem Augenblick finden gerade ein paar geheime und äußerst heikle Verhandlungen mit China statt.«
»Handel, Drogen, Einwanderung oder illegale Waffen?« fragte Kyle.
»Tut das denn etwas zur Sache?«
»Jawohl.«
Archer lächelte leicht. Er und sein Bruder ähnelten sich mehr, als sie bis vor kurzem auch nur geahnt hätten. »Illegale Waffen. Die Chinesen schnüren ein Paket, in dem sie Munition exportieren, die nach unseren Maßstäben überholt ist, die nach dem Standard der zweiten oder dritten Welt aber noch hoch technologisch ist.«
»Ah, die Zivilisation. Ist sie nicht großartig.«
»Alles, was sich nicht auf den ersten Rängen behaupten kann, wird gnadenlos ausgemerzt. Deshalb verhandelt Onkel Sam ja auch und schießt nicht. Und da wir mit China verhandeln, haben wir über hundert verschiedene Spielarten von Ja gehört und noch kein Nein. Es ist aber noch immer kein verdammter Vertrag unterschrieben, besiegelt oder ausgeführt worden, in dem endlich versprochen wird, den Export von Hochtechnologiemunition zu beenden.«
»Was will China denn?«
»Das hat mir mein Kontaktmann nicht verraten. Offensichtlich wollen sie mehr, als wir ihnen momentan geben können. Und wenn dann dieser ganze Mist mit dem Jadekaiser auch noch bekannt wird, dann werden wir genauso schlecht aussehen, wie wir riechen. Onkel Sam wird China dann eine ganze Menge mehr geben müssen, als auf lange Sicht hin gut ist, um unser Ziel zu erreichen – weniger Waffen in den Händen ehrgeiziger Tyrannen.«
»Reich mir die Milch«, bat Kyle. Er konnte jetzt nicht wieder zurück ins Bett gehen, und er brauchte dringend irgend etwas, um seinen Körper endlich wach zu bekommen. Ganz zu schweigen von seinem Geist.
Er nahm Archer die Milch ab und goß so viel davon in seinen Kaffee, bis dieser die Farbe des Mississippis bei Hochwasser hatte. Er trank schnell und viel, dann wartete er darauf, daß das Koffein seine Gehirnzellen mobilisierte.
»Onkel Sam glaubt also, daß die Tangs die Sachen aus dem Grab geholt und sie an Farmer verkauft haben?« sagte Kyle.
»Das ist eine Möglichkeit.«
»Und was sind die anderen?«
»SunCo ist der zweite Favorit.«
»Sie sitzen auf dem Festland von China. Wenn sie es gewesen wären, dann wäre ihre Regierung schon längst über sie hergefallen.«
»Wahrscheinlich. Aber das hängt auch davon ab, mit wem SunCo in der Regierung auf dem Festland verbündet ist. Dort gibt es mehr Gruppierungen, als wir Namen dafür haben. Auf jeden Fall steht bis auf weiteres erst einmal das Tang-Konsortium als Bösewicht da.«
Kyle trank den Rest seines Kaffees, dann fuhr er mit den Händen über seine stoppeligen Wangen und sah Archer mit klaren, braungrünen Augen an.
»Seit der Übergabe«, grübelte er laut, »ist das Tang-Konsortium fast gänzlich aus Hongkong und vom Festland isoliert worden. Die Tangs brauchen also einen starken amerikanischen Verbündeten. Und einen stärkeren als Dick Farmer können sie gar nicht bekommen.«
»Ja. Und ginge es dabei nicht auch noch um die Verhandlungen wegen der Waffen, müßten China, Farmer und die Tangs die Sache unter sich ausmachen und ohne Onkel Sams Hilfe. Und wir müßten nicht den Amerikaner unterstützen. Aber Farmer hat nun einmal nicht sonderlich einflußreiche Freunde.«
»Du sprichst doch nicht etwa von dem Mann, der wahrscheinlich eine eigene Partei gründen und dann zum Präsidenten gewählt werden wird?«
»Doch, aber gerade das würde für Farmer einen Schritt zurück in seiner Macht bedeuten. Einen großen Schritt sogar. Wenn der Präsident ein internationales Treffen abhalten will, dann braucht das Protokoll doch Monate für die Planung. Wenn Farmer das gleiche Treffen abhalten will, kommen alle auf die Farmer-Insel, und niemand streitet darüber, wer den Vorrang hat.«
»Ja. Ich liebe diesen Trick, den er mit den Ansteckern für das Revers macht und dem Computer in seinem Haus. Nachdem du nach der letzten Konferenz, an der Donovan International teilgenommen hat, deinen Anstecker von der Farmer-Insel geschmuggelt hast, habe ich Monate gebraucht, um den Chip zu entschlüsseln und einen neuen Chip zu bauen, der den Computer glauben läßt, wer auch immer den Anstecker am Revers trägt, sei Gott persönlich.«
»Das behauptest du zumindest. Aber bis jetzt ist der Anstecker noch nicht getestet worden.«
Kyle zuckte mit den Schultern. Er wußte, daß es funktionierte, und das war alles, was für ihn zählte. »Kannst du mir eine Auflistung des Inhaltes des Grabes besorgen? Denn sonst wissen wir ja gar nicht, wonach wir suchen sollen.«
»Zunächst einmal gab es da einen Bestattungsanzug aus Jade. Vollkommen intakt.«
Kyle war viel zu überrascht, um etwas sagen zu können. Als er sich von seiner Überraschung schließlich ein wenig erholt hatte, wußte er jedoch noch immer nicht, was er darauf antworten sollte. Abwesend griff er nach der Barockflöte und spielte einige Töne darauf, die eindringlich, aber doch süß, zufällig und doch melodisch waren. Dann legte er die Flöte beiseite und wandte sich wieder seinem Bruder zu.
»Bestattungsanzüge aus Jade sind extrem selten«, sagte Kyle. »Beinahe alle, die man gefunden hat, befinden sich noch in China. Es gibt einige wenige, die nach Übersee gelangt sind und sich in Händen nationaler Institutionen befinden, aber kein einziger Privatmann hat einen in seinem Besitz.«
Archer wartete.
»Was war sonst noch in dem Grab?« fragte Kyle.
»Das übliche Zeug – Juwelen, Zepter, Skulpturen, Teller, Wandschirme.«
»Das übliche Zeug«, murmelte Kyle und schüttelte den Kopf. »Ich brauche eine genauere Beschreibung. Größe, Farbe, Alter, so etwas.«
»Ich werde es versuchen, aber mein Kontakt war nur inoffiziell.«
»Inoffiziell. Aha. Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«
»Der Großteil der Arbeit wird so erledigt. Außerhalb der Geschäftszeiten, sozusagen.«
Vorsichtig bewegte Kyle seine linke Schulter und versuchte, den Schmerz ein wenig zu lindern. Die Wunde war schon lange verheilt, doch die Verletzung von einer Kugel, die auch außerhalb der Arbeitszeit abgefeuert wurde, hatte an dem danebenliegenden Knorpel einigen Schaden angerichtet. Wenn es darum ging, Regen vorauszusagen, dann hatte er eine bessere Trefferquote als die teuren Wettervorhersagen im Fernsehen.
»Also hat dich dieser inoffizielle Kontakt angerufen«, meinte Kyle, »und er hat dir gesagt, daß Gerüchte über eine Art von kulturellem Diebstahl kursieren, der die Diplomaten nach Beruhigungsmitteln greifen läßt, während die Regierungen die Trommel des Nationalismus schlagen und jeder, der auch nur einen Funken Verstand besitzt, schleunigst in Deckung geht.«
»Jawohl.«
»Warum sind sie damit ausgerechnet zu dir gekommen?«
»Das hat man mir nicht gesagt, wenigstens nicht den wirklichen Grund.«
»Und der wäre?«
»Donovan International befindet sich für sie gerade in der richtigen Position, und ich weiß außerdem, wie man dieses Spiel spielt.«
»Mit echten Kugeln«, murmelte Kyle.
»Nein. Mit echten Genehmigungen, Pässen und anderen Arten von offiziellen Papieren. Und wenn wir Onkel Sam jetzt erklären, er soll Leine ziehen, dann wird das Leben für Donovan International ein ganzes Stück schwieriger. Es ist sehr schwer, ein Import-Export-Geschäft ohne die Unterstützung der amerikanischen Bürokratie zu führen. Farmer schafft das. Wir aber nicht.«
»Und wir sind Onkel Sam noch etwas schuldig, nicht wahr?« fragte Kyle leise. »Weil er das Durcheinander, das ich auf der Jade-Insel angerichtet habe, wieder geordnet hat.«
Archer zuckte mit den Schultern, doch die Art, wie er die Lippen zusammenpreßte, sagte eine ganze Menge aus.
»Mutter«, wehrte Kyle verächtlich ab. Davor hatte er sich gefürchtet. »Ich hatte versucht, die Familie da rauszuhalten.«
»Ich auch.«
Kyle beugte und streckte beide Hände, er versuchte, die Anspannung zu lindern, die ihn immer dann befiel, wenn er darüber nachdachte, wie nahe er damals dem Tode gewesen war – und vor allem, daß er auch seine Schwester Honor mit hineingezogen hatte. »Laß uns alles noch einmal durchgehen, nur um sicherzugehen, daß ich nicht schon wieder alles verderbe.«
Archer wandte sich plötzlich um und blickte den großen blonden Mann an, der einmal sein kleiner Bruder gewesen war – und es auch immer bleiben würde. »Was auf der Jade-Insel passiert ist, war nicht dein Fehler.«
»Ja, klar«, entgegnete Kyle voller Verachtung. »Ich bin überrascht, daß du mir in dieser Sache überhaupt traust.«
»Das ist doch Unsinn. Der einzige, dem es hier an Vertrauen mangelt, bist du, und zwar an Vertrauen zu dir selbst.«
»Hat dein Kontaktmann denn ausdrücklich nach mir gefragt?« wollte Kyle wissen und wechselte somit schnell das Thema.
»Nein. Aber du bist derjenige, den Lianne Blakely die letzten beiden Wochen ununterbrochen beobachtet hat.«
Kyles eigenartig braungrüne Augen weiteten sich erstaunt. »Wovon redest du überhaupt?«
»Über die uneheliche Tochter von ...«
»Das meine ich nicht«, unterbrach Kyle ihn. »Ich meine den Rest davon.«
»Das ist doch ganz einfach. Sie hat dich angesehen, aber du warst ja viel zu beschäftigt, die kalte Jade zu untersuchen, daß du gar nicht bemerkt hast, wie diese Frau aus Fleisch und Blut versucht hat, deine Blicke auf sich zu ziehen.«
»Jade ist nicht kalt, und ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, die nicht über meinen verdammten Körper gekrochen wäre, nur um an dich ranzukommen.«
Archer verkniff sich seinen Kommentar, der sonst zu einem Streit unter Brüdern führen würde. Er hatte nie begriffen, warum alle glaubten, daß er ein solcher Ladykiller sei. Aus seiner Sicht sah von den Donovan-Brüdern Kyle am besten aus, gleich dahinter kamen Justin und Lawe.
»Diese Dame nicht«, meinte Archer. »Lianne hat dich angesehen. Das ist einer der Gründe dafür, weshalb ich einverstanden war, dich um Hilfe zu bitten, als es darum ging, daß jemand in das Tang-Konsortium eindringen sollte.«
»Eindringen, wie? Zuerst in die Frau und dann in den ganzen verdammten Clan? Da stellst du aber zu hohe Erwartungen an meine Libido, ganz zu schweigen von meinem Durchhaltevermögen.«
Archer stieß ein Brummen aus, eine Mischung aus Verzweiflung und Amüsiertheit.
»Auf jeden Fall«, sprach Kyle weiter, »wenn die Lady mich angesehen hat und nicht dich, dann können wir uns über eines ganz sicher sein.«
»Und was ist das?«
»Es handelt sich hier um ein abgekartetes Spiel.«
Archer blinzelte. »Es fällt mir schwer, deinem Gedankengang zu folgen.«
»Dann gehe einfach Wort für Wort vor. In den letzten beiden Wochen sind wir beide zusammen zu drei Jadevorausstellungen gegangen.«
»Zu fünf.«
»Zwei waren so lausig, daß sie nicht zählen. Wenn Lianne also an dir vorbei mich angesehen hat, dann nur deshalb, weil das Tang-Konsortorium glaubt, daß ich leichter zu knacken bin als du.«
»Du glaubst also nicht, daß Lianne vielleicht einfach blonde Männer bevorzugt?«
Kyle zuckte mit den Schultern. »Möglich ist alles, aber das letzte Mal, als eine Frau einen großen, dunklen und gutaussehenden Kerl für mich hat stehenlassen, bin ich beinahe umgebracht worden, ehe ich herausfinden konnte, was für ein verdrehtes Spiel da überhaupt gespielt wurde. Eine solche Lektion vergißt ein Mann nicht so schnell.«
Einen Augenblick lang wußte Archer nicht, was er sagen sollte. Kyle war einfach überzeugt davon, daß Frauen ihn sowieso nur als Mittel zum Zweck betrachteten und ihn wieder fallenließen, sobald sie ihr Ziel erreicht hatten. Vor dem letzten Jahr hätte Kyle noch nicht so reagiert.
Es gab Zeiten, da vermißte Archer den alten Kyle, den Kyle, der so gern lachte, den Goldjungen, der immer im hellen Sonnenlicht zu stehen schien. Aber von diesem Jungen hätte Archer wiederum nie etwas Verantwortungsvolleres verlangt, als vielleicht den richtigen Wein zum Essen zu wählen.
»Vielleicht ist es ein abgekartetes Spiel«, stimmte Archer ihm zu. »Aber vielleicht ist es auch ein ganz anderes Spiel. Es liegt an dir, das herauszufinden. Wenn du es möchtest.«
»Und wenn nicht?«
Archer zuckte mit den Schultern. »Dann werde ich meine Reise in die Südsee verschieben und es selbst mit den Tangs aufnehmen.«
»Und wie steht es mit Justin? Er ist doch auch blond. Wenigstens fast.«
»Justin und Lawe stecken bis zum Hals in ihren eigenen Geschäften. Sie versuchen gerade, einen Zugang zu einem neuen Samaragdfund in Brasilien zu bekommen. Außerdem sind sie beide zu jung.«
»Sie sind doch älter als ich«, rief ihm Kyle ins Gedächtnis.
»Nicht mehr seit Kaliningrad.«
Kyle lächelte. Es war kein offenes, freundliches Lächeln. Es war wie Archers Lächeln, bei dem er zwar seine Zähne zeigte, doch das Strahlen nicht seine Augen erreichte.
»Ich bin dabei«, sagte Kyle. »Wann und wo soll das Spiel beginnen?«
»Heute abend. Seattle. Zieh einen Smoking an.«
»Ich habe aber gar keinen.«
»Du wirst einen haben.«
Lianne saß in der eleganten Eigentumswohnung ihrer Mutter in Kirkland und beobachtete, wie das graue Wasser des Washington Sees von den Katzenpfoten des Windes aufgepeitscht wurde. Die Oberfläche des Sees war nie ganz glatt, nie vorhersehbar in ihren Bewegungen. Das Wasser leckte an den gepflegten Rasenflächen und den Bürgersteigen, durch die seine Ufer in der Stadt begrenzt wurden. In den Blumentöpfen auf den Balkonen und an den Straßenrändern begannen die Äste der Bäume in genau jenem frischen Grün zu glänzen, das eher wie eine Hoffnung auf den nahenden Frühling wirkte, aber nicht wie seine tatsächliche Rückkehr. Die tapfersten Osterglocken blühten bereits und hoben ihre fröhlichen Gesichter der Sonne entgegen, die sich noch hinter den Wolken versteckte.
»Möchtest du grünen Tee, Jasmin oder Oolong?« rief Anna Blakely aus der Küche.
»Oolong, bitte, Mom. Es wird eine Marathonnacht werden. Ich brauche also sämtliche Unterstützung, die ich bekommen kann.«
Und allen Mut, dachte Lianne insgeheim. Wenn Kyle Donovan heute abend auf der Auktion für einen wohltätigen Zweck und dem anschließenden Ball auftauchte, mußte sie sich an ihn ranmachen. Oder wenigstens mußte sie es versuchen. Es wäre ja auch alles wesentlich einfacher, wenn sie sich nicht ausgerechnet von ihm angezogen fühlen würde. Aber das tat sie. Sehr sogar. Er rührte an all ihre weiblichen Gefühle und brachte sie in Aufruhr.
Da sie sich noch nie zuvor in ihrem Leben so sehr zu einem Mann hingezogen gefühlt hatte, besonders nicht zu einem großen blonden Mann, fürchtete sie sich nun davor, in seiner Gegenwart unbeholfen zu wirken und ständig zu erröten. Deshalb hatte sie es hinausgeschoben, sich ihm zu nähern, immer wieder. Sie hatte eine unglaubliche Angst davor, sich lächerlich zu machen.
Und jetzt hatte sie keine Zeit mehr.
Wenn es ihr nicht gelang, ihn auf sich aufmerksam zu machen, dann hatte sie versagt, sagte Lianne sich. Ihr Vater würde dann die lange Liste der Enttäuschungen von seiner unehelichen Tochter um einen weiteren Punkt ergänzen müssen. Sie besaß nicht den Wagemut oder das angeborene weibliche Selbstvertrauen, um auf einen gutaussehenden fremden Mann einfach zuzugehen und sich ihm vorzustellen, wenn es um geschäftliche Interessen ging und gar nicht einmal aus sexuellen Gründen.
Doch Lianne war auch eine Frau, die ihre Versprechen auf jeden Fall einhielt und eine Gefälligkeit immer vergalt. Ein Treffen mit Kyle Donovan einzufädeln würde beides bedeuten.
Ihr Magen schien sich bei dem Gedanken förmlich zu verknoten. Sie versuchte sich einzureden, daß Kyle heute abend nicht auf dem Ball sein würde, ganz gleich, was ihr Vater auch behaupten mochte. Er hatte sicher keine Geduld für diese Art von Veranstaltungen, bei denen es um Kunst und Kultur ging, und er hatte es auch nicht nötig, bei der Oberschicht der Gesellschaft um Geld zu bitten.
Der Glückliche.
Lianne wünschte, daß sie genügend Zeit gehabt hätte, vorher noch ins Sportstudio zu gehen, um ihre Nervosität mit einem Partner auf der Matte abzureagieren. Nichts beruhigte ihren Geist und ihren Körper so sehr wie die verwickelten Anforderungen des Karate – zum Teil war es Ballett, zum Teil Meditation, doch immer bezwingend.
»Nervös?« fragte ihre Mutter aus er Küche.
Lianne hielt sich zurück, denn sonst wäre sie aufgesprungen und unruhig im Zimmer auf und ab gelaufen. »Natürlich bin ich nervös. Ich habe jedes einzelne Stück der Ausstellung der Jadehändler selbst ausgesucht. Wen Zhi Tang hat mir noch niemals zuvor soviel Verantwortung übertragen.«
»Wens Augenlicht schwindet. Außerdem wollte der schlaue alte Kerl Ware, die sowohl den Amerikanern als auch den Überseechinesen gefällt.«
»Und seine uneheliche Enkelin ist dem amerikanischen Geschmack so nahe wie nur irgend möglich, nicht wahr?«
Beim Geräusch des Teelöffels, der auf die polierte Granitoberfläche der Anrichte fiel, zuckte Lianne zusammen, doch sie entschuldigte sich nicht für ihre grobe Bemerkung. Sie hatte viel zu viele Jahre vorgegeben, die Tochter einer Witwe zu sein, obwohl sie immer sehr wohl gewußt hatte, daß Johnny Tang ihr Vater war. Wen war ihr Großvater, und da Anna niemals geheiratet hatte, konnte sie auch keine Witwe sein.
Lianne war es leid, diese Scharade der Unehelichkeit noch länger mitzuspielen, genauso wie sie es leid war, daß ihre Mutter von der Familie Tang wie eine unliebsame Fremde behandelt wurde. Aus Liannes Sicht wurde ein Bastard nicht geboren, sondern erst von den Menschen zu einem gemacht.
Und die Familie Tang hatte einen großen Anteil zu diesem Werk beigetragen.
Anna Blakely kam ins Zimmer und balancierte ein lackiertes Teetablett mit einer Teekanne aus feinem Porzellan und zwei anmutigen, henkellosen Tassen. Sie trug eine pfirsichfarbene Jacke aus Brokatseide, eine schmale schwarze Seidenhose und Sandalen mit flachen Absätzen. Perlen glänzten an ihrem Hals und ihren Handgelenken, zusammen mit einer Rolex, die mit so vielen Diamanten eingefaßt war, daß sie im Dunkeln leuchtete. An ihrer rechten Hand trug sie einen Ring aus Diamanten und Rubinen, der mehr als eine halbe Million Dollar wert war. Bis auf ihre Größe und ihr strahlend blondes Haar war sie das perfekte Abbild einer wohlhabenden, traditionellen Hongkonger Ehefrau.
Doch Liannes Mutter war weder wohlhabend, noch war sie Chinesin, noch Ehefrau. Sie hatte sich ihr Leben als Geliebte eines verheirateten Mannes eingerichtet, für den die Familie, die legitime Familie, das Wichtigste im Leben war; eines Mannes, dessen chinesische Familie von Anna nur als Johnnys rundäugiger Konkubine sprach, eine unbedeutende Figur, die nicht einmal den Namen ihrer Eltern kannte, geschweige denn den ihrer weiteren Vorfahren.
Doch ganz gleich, wie oft Anna auch erst ganz ans Ende der Liste der Familienverpflichtungen ihres Geliebten gesetzt wurde, sie beklagte sich nicht. Lianne liebte Anna. Sie sah zu, wie ihre Mutter mit ruhiger Eleganz den Tee eingoß, doch sie verstand die Wahl, die Anna getroffen hatte, dennoch nicht. Und an der sie beharrlich festhielt.
Bitterkeit stieg in ihr auf, eine Bitterkeit, so alt wie Liannes Wissen darum, daß man es ihr nie verzeihen würde, daß sie nicht zu hundert Prozent chinesisch war. Sie war viel zu amerikanisch, um zu begreifen, warum die Umstände von Geburt, Blut oder Geschlecht sie zu etwas Minderwertigem machten. Sie hatte Jahre gebraucht, bis sie begriff, daß die Familie ihres Vaters sie niemals akzeptieren, geschweige denn lieben würde.
Doch Lianne hatte sich geschworen, daß sie von ihnen respektiert werden würde. Eines Tages, wenn Wen Zhi Tang über ihre großen Augen von der Farbe alten Whiskeys und über ihre dünne Nase hinwegsehen würde und endlich seine Enkelin erkannte und nicht das unglückliche Ergebnis der andauernden Lust seines Sohnes für eine angelsächsische Konkubine.
»Kommt Johnny später noch vorbei?« fragte Lianne.
Sie nannte den Liebhaber ihrer Mutter nie anders als bei seinem Vornamen. Ganz sicher nannte sie ihn nicht »Vater« oder »Dad« oder »Daddy« oder »Pop«. Sie nannte ihn nicht einmal bei dem amerikanischen Lieblingsnamen für die Freunde der Mütter: »Onkel«.
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Anna und setzte sich. »Offensichtlich gibt es nach dem Wohltätigkeitsball noch eine Familienzusammenkunft.«
Lianne erstarrte. Eine Familienzusammenkunft. Und sie, die die letzten drei Monate damit verbracht hatte, die Ausstellung des Tang-Konsortiums zu organisieren, war nicht einmal eingeladen worden.
Eigentlich hätte sie das gar nicht so schmerzen sollen. Mittlerweile hätte sie sich daran gewöhnt haben müssen.
Doch es tat ihr weh, und sie würde sich niemals daran gewöhnen können. Sie sehnte sich danach, Teil einer Familie zu sein, Brüder und Schwestern zu haben, Tanten und Onkel und Cousins und Großeltern, Familienerinnerungen und Familienfeiern.
Die Tangs waren ihre Familie. Bis auf Anna waren sie ihre einzige Familie.
Doch Lianne gehörte nicht zu ihnen.
Ohne zu bemerken, was sie tat, fuhr Lianne mit den Fingern über den Jadearmreif, den sie um ihr linkes Handgelenk trug. Smaragdgrün, durchscheinend, aus feinster burmesischer Jade, war der Armreif dreihunderttausend Dollar wert. Die lange, einreihige Halskette aus kostbaren Jadeperlen um ihren Hals hatte sogar den doppelten Wert.
Keines der beiden Schmuckstücke gehörte ihr. Heute abend diente sie lediglich als lebendiges Ausstellungsstück für die Jadehandelsgüter der Familie Tang. Als Verkaufstaktik war es nützlich. Auf der weißen Seide ihres schlichten Kleides und ihrer blaßgoldenen Haut erstrahlten die Juwelen mit einem geheimnisvollen inneren Licht, von dem Jadeliebhaber, Jadekenner und -sammler wie magisch angezogen würden.
Die Schmuckstücke, die Lianne besaß, waren bei weitem nicht so teuer, wenn auch genauso fein in den Augen von jemandem, der sich mit Jade auskannte. Sie wählte ihre persönlichen Schmuckstücke nach ihrem eigenen Geschmack und nicht nach ihrem Wert auf einer Auktion. Die drei Haarnadeln, mit denen sie ihr dunkles Haar in einer Spirale auf ihrem Kopf befestigt hatte, waren schlanke Pfeile kaiserlicher Jade, geschnitzt in einem Stil, der viertausend Jahre alt war. Wann immer sie sie trug, fühlte sie sich mit dem chinesischen Teil ihres Erbes verbunden, dem Teil, nach dessen Anerkennung sie sich ihr ganzes Leben lang gesehnt hatte.
Abwesend überlegte Lianne, ob sie wohl zu der Party eingeladen worden wäre, wenn Kyle Donovan ihr Begleiter gewesen wäre. Johnny, Sohn Nummer drei in der Tang-Dynastie, schien versessen darauf, einen Zugang zu Donovan International zu bekommen. Er mußte es mittlerweile satt haben, darauf zu warten, daß Lianne endlich die Nerven besaß, ihre Aufgabe zu erfüllen. Komm schon. Sei nicht so bescheiden, und versuch nicht, mir die Chinesin vorzuspielen. Du bist genauso amerikanisch wie deine Mutter. Tu einfach das, was die anderen Mädchen auch tun. Geh hin und stell dich ihm vor. So habe ich Anna ja schließlich auch kennengelernt.
Die Erinnerung an die Worte ihres Vaters rann eiskalt über Liannes Rücken. Sie fragte sich immer wieder, ob Johnny ernsthaft glaubte, daß das, was für ihre Mutter gut genug war, auch ihr genügen würde – ein Leben als ewige Zweite, wenn es um die Verteilung der Zuneigung eines Mannes ging.
Eine Geliebte.
Während Lianne den Tee aus antikem, unvorstellbar feinem chinesischen Porzellan trank, sagte sie sich, daß Johnny ja bloß wollte, daß sie Kyle kennenlernte, nicht etwa daß sie ihn verführen oder sich selbst verführen lassen sollte. Sie redete sich auch ein, daß es lediglich Ungeduld und nicht Angst gewesen war, was sie heute morgen in den Augen ihres Vaters gesehen hatte.
»Lianne?«
Sie schluckte den anregenden Tee hinunter und begriff, daß ihre Mutter ihr gerade eine Frage gestellt hatte. Schnell ließ Lianne in Gedanken noch einmal die letzten Minuten an sich vorüberziehen.
»Nein«, antwortete sie dann. »Ich werde nicht bis zum Ball bleiben. Warum sollte ich das tun?«
»Es könnte doch sein, daß du einen netten jungen Mann kennenlernst und ...«
»Auf mich wartet noch viel Arbeit«, unterbrach Lianne sie. »Ich habe sowieso schon viel zuviel Zeit mit der Tang-Angelegenheit verbracht.«
»Ich wünschte, ich würde nicht gleich morgen früh in der Morgendämmerung in die Südsee fahren. Dann wäre ich auch zu der Ausstellung gekommen.«
»Das ist nicht nötig.« Lianne lächelte und tat so, als wisse sie nicht, daß ihre Mutter niemals irgendwohin ging, wo sie möglicherweise auf die Familie ihres Liebhabers treffen könnte. Genauso wie Lianne so tat, als sei sie jetzt erwachsen und brauchte nicht länger die Anwesenheit ihrer Mutter bei den wichtigen Ereignissen in ihrem Leben. »Das Hotel wird der reinste Zoo sein.«
»Johnny weiß all die harte Arbeit zu schätzen, die du für die Ausstellung auf dich genommen hast. Er ist so stolz auf dich.«
Lianne trank ihren Tee und schwieg. Die angenehme Phantasie ihrer Mutter zu zerstören, würde nur wieder zu einem Streit führen, in dem jeder ein Verlierer war.
»Danke für den Tee, Mom. Ich gehe jetzt besser. Einen Parkplatz werde ich wohl sowieso nicht mehr bekommen.«
»Hat Johnny dir denn nicht einen der Parkausweise für die Jadehändler gegeben?«
»Nein.«
»Dann hat er das sicher vergessen«, murmelte Anna und runzelte die Stirn. »Er macht sich schon die ganze letzte Zeit um irgend etwas Sorgen, doch er sagt mir nicht den Grund.«
Lianne gab ein Geräusch von sich, das man als Ausdruck des Mitgefühls hätte deuten können, dann ging sie zur Tür. »Wenn wir uns nicht mehr sehen, ehe du nach Tahiti fährst oder wohin auch immer, dann wünsche ich dir viel Vergnügen.«
»Danke. Vielleich könntest du dich zu deinem Geburtstag dort mit uns treffen.«
Warum? dachte Liane bissig. Brauchten sie etwa Zuschauer, während sie ihren Weg durch ein Südseeparadies vögelten?
»Du brauchst nach all der harten Arbeit eine Erholungspause«, meinte Anna. »Ich werde dafür sorgen, daß Johnny für dich ein Ticket ...«
»Nein«, wehrte Lianne ab. Dann bemühte sie sich, ihre Stimme etwas sanfter klingen zu lassen. »Danke, Mom, doch diesmal nicht. Ich habe schrecklich viel Arbeit, die liegengeblieben ist und die ich noch aufholen muß.«
Vorsichtig, um die Tür nicht zu heftig hinter sich zuzuschlagen, trat sie hinaus in die windige Nacht. Während sie zu ihrem Wagen ging, blickte sie sich noch einmal unsicher um. Am frühen Abend, als sie ihre Wohnung verlassen hatte, hatte sie gefühlt, wie ihr ein Schauder über den Rücken gelaufen war, denn sie hatte das untrügliche Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Das gleiche Gefühl verspürte sie auch jetzt.
Sie sagte sich, daß lediglich der ungeheure Wert des Schmuckes, den sie gerade trug, schuld war an ihrer Nervosität. Schnell lief sie um das Gebäude herum, dankbar für die Lampen, die alle mit einem Bewegungssensor ausgerüstet waren und die jetzt eine nach der anderen angingen. Ihr kleiner roter Toyota stand genau dort, wo sie ihn stehengelassen hatte. Sie stieg ein und verschloß sofort sämtliche Türen.
Der Wohltätigkeitsball für die Pacific-Rim-Asian-Wohltätigkeitsgesellschaft war eines der großen gesellschaftlichen Ereignisse der Saison in Seattle. Einladungen dazu waren für die Reichen, die Mächtigen, die Berühmten und die einfach Großartigen reserviert. Normalerweise hätten Kyle und Archer sich nicht die Mühe gemacht, an einer solchen Veranstaltung des Sehens und Gesehenwerdens im Namen der Wohltätigkeit und des gesellschaftlichen Aufstiegs teilzunehmen. Doch seit Archer den Anruf von der Regierung bekommen hatte, war nicht mehr viel so geblieben wie zuvor. Das war auch der Grund dafür, weshalb sie sich jetzt durch die Menge vor der Eingangshalle des Hotels drängten.
»Wenigstens paßt der Smoking«, murmelte Kyle. Bis auf die weite Stelle unter dem linken Arm, die so geschneidert worden war, daß sie sich nahtlos über ein Pistolenhalfter legte.
»Ich habe dir doch gesagt, daß wir beide die gleiche Größe haben, du Wicht.«
Kyle antwortete nicht. Er war noch immer überrascht, daß ihm Archers Kleidung mit den langen Hosenbeinen und den breiten Schultern tatsächlich paßte. Ganz gleich, wie alt Kyle auch wurde, ein Teil von ihm blieb immer der jüngste der vier Donovan-Brüder, die Schießscheibe zu vieler brüderlicher Späße, der Zwerg des Wurfes, der ständig darum kämpfte zu beweisen, daß er genausogut war wie seine größeren Brüder. Angefangen beim Fischen über Prügeleien bis hin zu dem Erforschen der Erdoberfläche nach Edelsteinen.
»Siehst du sie?« fragte Kyle und blickte an den vielen Limousinen vorbei zu der glitzernden Menschenmenge hinüber, die sich in das Empire Towers drängten, Seattles neuestes Hotel. Dick Farmers Hotel, um genau zu sein.
»Noch nicht«, antwortete Archer.
»Überhaupt nicht. Ich habe gar nicht gewußt, daß so viele Menschen einen Smoking besitzen. Ganz zu schweigen von den Steinen.« Er pfiff leise durch die Zähne, als eine Matrone mit einer Halskette aus Diamanten an ihnen vorüberging, deren Mittelpunkt ein Anhänger war, der die Größe und Farbe eines Kanarienvogels besaß. »Hast du diesen Felsbrocken gesehen? Der gehört eigentlich ins Museum.«
Archer warf der Frau einen Blick zu und sah dann schnell wieder weg. »Wenn du von Stücken redest, die ins Museum gehören, dann solltest du dir die Begleiterinnen der taiwanesischen Industriellen ansehen, die gerade hereingekommen sind. Besonders die Frau im roten Kleid.«
Kyle blickte an seinem Bruder vorbei. Das rote, enganliegende Seidenkleid – und auch der Körper darunter – war eine Augenweide, doch es war der Haarschmuck der Frau, der ein anerkennendes Murmeln und gierige Blicke der Anwesenden weckte. Eine Kappe, aus Perlen gearbeitet, lag über ihrem glänzenden schwarzen Haar. Tropfenförmige Perlen, so groß wie der Daumen eines Mannes, schimmerten und schwangen um ihr Gesicht. Eine dreireihige Schnur zueinander passender tropfenförmiger Perlen in der Größe von Weintrauben fiel vom hinteren Teil der Kappe bis hinunter in die Spalte zwischen den rhythmisch schwingenden Pobacken der Frau.
»Begleiterin, wie? Du meinst wohl eher Geliebte?« fragte Kyle.
»Das ist doch so üblich. Wenn die wohlbetuchten asiatischen Männer in die Staaten kommen, lassen sie ihre Frauen natürlich bei den Kinderchen und der Verwandtschaft zu Hause.«
»Sie befürchten wohl, daß ihre kleinen Frauchen sich grüneren Weiden zuwenden, wenn sie erst einmal die Möglichkeit dazu bekommen?« fragte Kyle trocken.
»Würdest du das denn nicht auch tun?«
»Ich würde mich gar nicht erst so einsperren lassen.« Kyle schob sich durch die Türen des Hotels in die Eingangshalle. »Komm, wir versuchen es im Innenhof. Dort haben die Jadehändler ihre Ausstellung. Auch SunCos Sachen werden dort ausgestellt sein. Seit China Hongkong übernommen hat, hat der Sun-Clan die Flügel der Tangs nämlich nach und nach gestutzt.«
Archer lächelte müde. »Du hast wohl ein paar Nachforschungen angestellt?«
»Wenn ich erst Nachforschungen anstellen müßte, um die Konkurrenz kennenzulernen, dann wäre ich wohl kaum der richtige Mann für Donovan International, nicht wahr?«
»Dir scheint es wirklich ernst damit zu sein, Donovan Inc. in den Jadehandel einzuführen, wie?«
»Mir ist es ernst damit, seit ich zum erstenmal ein fünftausend Jahre altes Jade Bi in der Hand gehalten habe«, versicherte ihm Kyle. »Ich werde wohl nie wissen, warum dieses Stück geschnitzt wurde, aber ich weiß, daß es damals jemanden gegeben hat, der genauso war wie ich. Er liebte das glatte, seidige Gewicht der Jade. Denn sonst hätte er sich niemals an einem so harten Stein mit mehr als ungegerbtem Leder, Stöcken und Sand versucht.«
Als Kyle sich umwenden und in den Innenhof gehen wollte, legte Archer ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn zurück. »Für Jadekunst aus der Jungsteinzeit gibt es nur einen sehr begrenzten Markt«, bemerkte er so ganz nebenbei.
»Aber der Markt expandiert mit jedem Tag mehr. Sogar New York ist schon aufmerksam geworden. Außerdem ist Jade viel mehr als nur Kunst aus der Jungsteinzeit.«
»Fühlst du dich Experte genug, um uns über das volle Spektrum der Jade zu beraten und um dich mit den Besten des Pacific Rim auf eine Ebene zu stellen?«
»Noch nicht. Aber Lianne Blakely ist eine Expertin. Oder hat dein Kontaktmann das nicht erwähnt?«
»Er hat es nicht ausdrücklich betont. Er hat nur gemeint, daß sie so eine Art Hintertür in die abgeschlossene Welt des Tang-Konsortiums bedeutet.«
»Hintertür, wie? Okay, dann wollen wir mal sehen, ob ich von der süßen Lianne mehr lernen kann als sie von mir, ehe sie damit fertig ist, mich für das zu benutzen, was immer der alte Mann Wen Zhi Tang vorhat.«
Archer blinzelte. »Das klingt ja beängstigend.«
»Was?«
»Ich habe schon verstanden.«
Kyle bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, Archer dicht hinter ihm. Sobald die Menschen den Innenhof erreicht hatten, schlossen sie sich zu einzelnen Gruppen zusammen, die sich um die verschiedenen Ausstellungsstücke jener Gesellschaften versammelten, die Stücke für die Auktion gespendet hatten.
»Vergiß es«, sagte Kyle und zog Archer von einer Auslage mit schwarzen Südseeperlen weg. »Lianne Blakely interessiert sich nur für Jade, das weißt du doch.«
»Man wird sich ja wohl trotzdem noch ein paar Ausstellungsstücke ansehen dürfen, oder?«
»Nicht, wenn es sich dabei um meinen Bruder handelt, der sich Perlen ansieht.«
»Ist es denn so schlimm wie mit dir und deiner Leidenschaft für Jade?«
»Schlimmer«, erklärte Kyle und sah sich um.
Vor dem Hintergrund aus Glas und Grünpflanzen im Innenhof hatten sich Menschen von drei Kontinenten und mehreren Inselstaaten um den zentralen Brunnen versammelt, ein Kaleidoskop aus Sprachen und Moderichtungen. Der Brunnen selbst war beeindruckend – eine klare, ausladende Glasskulptur aus Rechtecken und Rhomben, durch die Licht und Wasser in einer solchen Anmut tanzten, daß die Leute regelrecht hingerissen waren. Die süße Musik des Wassers mischte sich mit den Sprachen von Hongkong, Japan und verschiedenen Regionen Chinas, aber auch mit Englisch, dessen Akzente sowohl Australien und England als auch Kanada umfaßten.
»Die Jade muß auf der anderen Seite des Innenhofes sein«, meinte Kyle.
»Wieso?«
»Die meisten der englischsprechenden Menschen hier sind doch von der gleichen lauten Sorte. Sie versammeln sich um die Rubine und Saphire aus Burma oder um die kolumbianischen Smaragde oder die russischen Diamanten. Die Jade aber drückt einen etwas gedämpfteren, zivilisierteren Geschmack aus.«
»Unsinn«, widersprach Archer lächelnd. »Zivilisation hat mit all dem gar nichts zu tun. Jade war schon im antiken China zu bekommen, Diamanten nicht. Das gleiche gilt für die Europäer. Klare Juwelen waren einfach leichter zu bekommen als Jade. Die Tradition basiert lediglich darauf, welche Materialien zur Verfügung standen.«
Kyle und Archer diskutierten noch weiter über Kultur, Zivilisation und Edelsteine, während sie um den glitzernden Brunnen herumschlenderten. Auf dem Weg zu der asiatischen Jade kamen sie an Kunstwerken aus präkolumbianischer Jade vorüber, an Jade aus Mexiko und Zentral- und Südamerika, in einer Qualität, die einem Museum zur Ehre gereicht hätte. Beängstigende Masken aus Gold und Türkisen grinsten oder starrten sie mit verzerrten Gesichtern an, sie vertrieben Dämonen, deren Namen nur jene Menschen kannten, die schon seit Tausenden von Jahren tot waren. Zwischen diese Kunstwerke mischten sich moderne Beispiele von Kunst aus Gold und Jade.
Vor allen Stücken, ob sie nun antik oder modern waren, standen Karten, auf denen der Name der Gesellschaft vermerkt war, der dieses Stück gehörte. Die gemeinsame Demonstration der Unterstützung für die Kunst war genausosehr der Zweck dieses Abends wie die Wohltätigkeitsveranstaltung, die dem Ball vorangehen würde.
Als die beiden Donovan-Brüder zu dem Teil der Ausstellung kamen, der für die Ausstellungsstücke der Küsten Chinas vorgesehen war, wünschte sich Kyle, daß er sich statt dessen an Bord der Tomorrow befinden würde und Angelhaken schärfen und die Leinen für den Fischfang in der Morgendämmerung vorbereiten könnte. Er nahm sich ein Glas Rotwein vom Tablett eines der vorübergehenden Kellner, nippte daran und verzog das Gesicht. Bei einer Veranstaltung wie dieser hatte er eine bessere Qualität erwartet.
»Bingo«, sagte Archer leise.
Kyle vergaß den mittelmäßigen Wein. »Wo?«
»Links neben der Jadevitrine von SunCo, in der Nähe des Sikh mit dem mit Juwelen besetzten Turban.«
Obwohl sie nicht einmal drei Meter davon entfernt waren, konnte Kyle im ersten Augenblick keine Frau erkennen. Doch dann trat der Sikh zur Seite.
Kyle starrte schweigend auf die Frau. »Bist du sicher?«
»Ganz sicher.«
»Teufel.«
Kyle wußte nicht, was genau er erwartet hatte, aber Lianne Blakely war mit Sicherheit nicht das, womit er gerechnet hatte. Mit einer Mischung aus Skepsis, Empörung und widerwilligem männlichen Interesse betrachtete er die schlanke, zierliche junge Frau, die angeblich so vernarrt in ihn war, daß sie ihn seit zwei Wochen aus der Ferne beobachtet hatte.
Jawohl. Richtig. Er war ihr nahe genug, um den Sitz ihrer Strumpfhose bewundern zu können, und ihre patrizische kleine Nase drängte sich an eine Ausstellungsvitrine von Warring-States-Jadeornamenten, als befände sie sich ganz allein in einem Museum.
Dann wandte Lianne sich um und blickte Kyle an. Ihre großen, ein wenig schrägstehenden Augen hatten die Farbe von Cognac. Sie zögerte, beinahe so, als hätte sie ihn erkannt. Dann rückte sie den Riemen ihrer weißen Seidentasche auf ihrer Schulter zurecht und wandte sich wieder der Jade zu. Ganz so, als würde sich niemand im Raum befinden, vor allem aber nicht der Mann, den sie so gern kennenlernen wollte.
»Bist du dir auch sicher, daß sie es ist?« fragte Kyle leise und betete, daß es nicht so war.
»Das habe ich doch gerade gesagt, nicht wahr?«
»Sie sieht aber nicht gerade wie ein internationaler Kunstdieb aus.«
»Wirklich nicht?« fragte Archer leise. »Wie viele internationale Kunstdiebe hast du denn schon gekannt?«
»Nicht so viele wie du, da bin ich mir sicher. Also, sag schon, ist sie es?«
»Du meinst, ob sie ein Dieb ist?«
»Ja.«
»Diebe tragen doch keine Erkennungsmarken mit sich herum.«
Kyle sagte nichts mehr. Er beobachtete Lianne Blakely nur.
Archer blickte von seinem Bruder zu Lianne und fragte sich, warum Kyle sich benahm wie ein Jagdhund, der einen Fasan gewittert hatte. Lianne war attraktiv, vielleicht sogar auf eine exotische Art schön, doch sie gehörte ganz sicher nicht in die Kategorie der überwältigenden Begleiterinnen. Das schlichte weiße Kleid, das sie trug, paßte ihr recht gut, aber es hatte keinen Schlitz an der Seite vom Saum bis zum Unterleib oder vom Hals bis zum Schambein, um das Auge eines Mannes auf sich zu ziehen und gefangenzuhalten. Das Jadearmband, das sie trug, war offensichtlich burmesischen Ursprungs und von höchster Qualität, genau wie ihre Halskette, doch Kyle schien diese Schmuckstücke überhaupt nicht bemerkt zu haben. Er starrte nur die Frau an und ignorierte die Jade.
Nicht gut.
»Vielleicht sollten wir die ganze Sache vergessen«, meinte Archer abrupt. »Ich werde meine Reise nach Japan und Australien verschieben und dir mehr Zeit lassen, dich zu erholen.«
»Ich habe dir doch gesagt, daß meine Schulter so gut wie neu ist«, erklärte Kyle, ohne dabei seinen Blick von Lianne abzuwenden.
»Nach einer Schußverletzung ist nichts mehr so gut wie neu.«