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Kampfkunst ist für Kinder und Erwachsene als gesunder Weg möglich! Anhand eines Praxisbeispiels wird aufgezeigt, wie ein anspruchsvolles Kampfkunst-Training ohne Wettkämpfe und Medaillen funktionieren kann. Taiji, Qigong, Wushu und Meditation werden in geschichtlichen, pädagogischen und historischen Kontexten diskutiert. Praktische Übersichtstafeln geben Informationen zu folgenden Themen: Taiji-Stile, Qigong-Übungsanweisungen, Tuishou, Grundsätze der Atmung, Kleiner Kreislauf, Dehnung, Chinesische Ernährungslehre, Fünf Wandlungsphasen, Kampfkunst-Tugenden, Hinweise für eine gesunde Trainingsanleitung und -pädagogik, pädagogische Grundsätze des Kindertrainings und Gewalt-Pyramide. Das Buch richtet sich an Eltern, Trainer, Erzieher und Übende gleichermaßen.
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Seitenzahl: 212
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Für Arlette, Max & Paula
Teil 1: Jens Behrens
Vorwort
Die Philosophie des DAO-Trainings
DAO-Qigong
Die drei Säulen einer jeden Qigong-Übung
Geschichte des Qigong, Traditionen, Unterscheidungsmöglichkeiten
Übersicht 1: Unterscheidungsmöglichkeiten von Qigong-Systemen
Gesundheitsfördernde Wirkungen des Qigong
Eckpfeiler eines gesunden Qigong-Trainings
Übersicht 2: Qigong-Übungsanweisungen
Das Wesen des Qigong: Qi spüren, erfahren und lenken
Stichworte zur Theorie des Qigong
Übersicht 3: Modell der fünf Wandlungsphasen
Exkurs: Chinesische Ernährungslehre (Diätetik)
Übersicht 4: Chinesische Ernährungslehre
DAO-Taiji
Über die Geschichte der Taiji-Stile
Übersicht 5: Die Familienstile des Taiji
Übersicht 6: Die Bedeutungsmomente einer jeden Taiji-Bewegung
Das Grundprinzip des Taiji: der Wandel von Yin und Yang
Übersicht 7: Das Yin-Yang-Modell
Übersicht 8: Zehn Grundsätze des Taijiquan von Yang Chengfu
Übersicht 9: Die sechs Harmonien des Taiji
Das wahre Taiji? Taiji und Tradition
Die gesundheitsfördernde Wirkung des Taiji
Die Lernstufen des Taiji
Übersicht 10: Die DAO-Lernstufen-Systematik
Übersicht 11: Der Ablauf der 24er Form Yang Taijiquan
Übersicht 12: Der Ablauf der 48er Form Yang Taijiquan
Tuishou: „Schiebende oder fühlende Hände“ / „Pushing Hands“
Übersicht 13: Die 13 Stellungen des Tuishou
Übersicht 14: Die fünf wichtigsten Tuishou-Routinen
Wichtige Übungsgrundsätze des Tuishou-Trainings
Exkurs: Zur Pädagogik des Kampfkunsttrainings
Übersicht 15: Hinweise für eine gesunde Trainingsleitung und -pädagogik
DAO-Wushu
Zum Verhältnis von DAO-Wushu und chinesischem Wushu
DAO-Wushu und japanische Traditionen
Die technische Bandbreite des DAO-Wushu
JING DAO-Meditation
Meditation in verschiedenen Kulturen und Traditionen
Grundlagen der daoistischen Meditation
Skizze zum Konzept der JING DAO-Meditation
Erste Ebene der JING DAO-Meditation: Achtsamkeit gegenüber der körperlichen Haltung
Übersicht 16: Die körperliche Haltung bei der JING DAO-Meditation
Zweite Ebene der JING DAO-Meditation: Achtsamkeit gegenüber der Atmung
Übersicht 17: Grundsätze der Atmung
Exkurs: Der Kleine Kreislauf
Übersicht 18: Wichtige Stationen des Kleinen Kreislaufs
Dritte Ebene der JING DAO-Meditation: Achtsamkeit gegenüber dem Geist
Wu Wei – Handeln im Nichthandeln
Skepsis gegenüber den Sinnen
DAO-Kindertraining
Allgemeine Ziele des DAO-Kindertrainings
Wichtige Bereiche der Förderung von Kindern im Kampfkunsttraining
Übersicht 19: Die fünf DAO-Rückenübungen
Pädagogische Grundsätze der DAO-Kampfkunstschule
Übersicht 20: Pädagogische Grundsätze des Kindertrainings
Besonderheiten des Trainings mit Kindern
Arbeitsinhalte in den Themenbereichen Konfliktlösung und Selbstverteidigung
Übersicht 21: Praktische Trainingsinhalte der Selbstverteidigung
Exkurs: Wu De – Die Tugend eines Kampfkünstlers
Übersicht 22: Die Tugenden der DAO-Kampfkunst
Übersicht 23: Der daoistische Kreislauf der Emotionen
Exkurs: Die Theorie der Gewalt
Übersicht 24: Die Gewaltpyramide
Skizze zum Thema Mobbing
Übersicht 25: Waffenrecht und Waffengesetz
Hinweise zur „Notwehr“
Übersicht 26: Die zwölf persönlichen Rechte
Teil 2: Erfahrungsberichte
Maria Skogvall Von Grenzüberschreitungen
Eckbert Lösel Die Stellung finden
Carmen Ott-Neuhaus Sommertrainingslager
Michael Sandien Training und Spaß
Alexandar Kuzmanovski Blitzlichter zur Theorieausbildung
Miriam Kuzmanovski Auf Hiddensee
Carmen Ott-Neuhaus Ich möchte ein Fisch im Wasser sein. Oder: Eintauchen ins Gelbe Meer
Theresa Zinser Sei freundlich. Immer!
Angela Oberländer Liebevolle Achtsamkeit
Marlis Matzdorf Freundlich auf die Sprünge helfen
Dörte Michaelis Dialog der Künste
Daniela Wiszotzki Qigong in den Alpen
Hannelore Hänel Gesunden durch chinesische Übungen
Roy Klee Den Himmel halten
Elke Böttcher DAO-Qigong in Berlin
Evelyn Sommerfeldt Wenn ich übe
Detlef Günther DAO-Meditation, ein Juwel
Anna Hajnal Seit ich vier bin
Jerome Günther Acht Jahre Wushu bei Jens
Zoe Niesner, Julie Kösling Der extrem aufschlussreiche Trainingsablaufplan
Veit Tempich DAO-Wushu in Berlin
Arlette Behrens Training in einer Familie
Teil 3: Biografisches Nachwort
Andreas Trampe Jens Behrens. Kampfkünstler - Heiler - Philosoph
Dank
Teil 4: Anhang
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Übersichtsverzeichnis
Stichwort- und Personenverzeichnis
Wahrhaftig und sinnvoll leben im Hier und Jetzt – das ist ein Ziel in vielen Künsten. Seit Jahrhunderten widmen sich die Menschen vieler Kulturen diesem Weg. Will man umfassend wahrnehmen, erkennen, durchdringen, um sinnvoll zu verändern, dann macht es Sinn, sich mit den Jahrtausende alten asiatischen Erfahrungen zu beschäftigen. Hier waren die antiken Chinesen mit ihrem Konzept von Qi und Dao wahre Meister.
Gesunde Kampfkunst benötigt einen geschützten Ort. Es ist dies der Ort des Weges (chinesisch: dào-wǔguǎn, 道-武馆, japanisch: Dōjō, 道場) und natürlich sind auch theoretische Bemühungen hilfreich. In Asien sind es traditionell eher die Klöster gewesen, die den nötigen Abstand zu den Verstrickungen des Alltags ermöglichten, um einen positiv kritischen Blick auf die Wirklichkeit werfen zu können.
Aufgang zu einem daoistisches Kloster in der Nähe von Hangzhou
Es ist auch in der modernen Welt möglich, ähnlich geschützte Orte zu schaffen. Das sichert auch die Chance zur Bewahrung alter Schätze und zur sinnvollen Veränderung des Gegebenen. Nicht politische oder wirtschaftliche Revolutionen sind hier das Thema, sondern die Gestaltung des menschlichen Lebens entsprechend seiner Einbindung in die natürlichen Gesetze unserer Wirklichkeit. Dazu wird seit Jahrtausenden geforscht und vieles kann man mit einem mutigen Blick entdecken und entwickeln.
Dieses Buch ist ein Beispiel für einen seit Jahrzehnten praktizierten gesunden Weg der Kampfkunst. Es zeigt Möglichkeiten, sich gesund und undogmatisch mit asiatischer Kampfkunst zu beschäftigen. Wir stellen dar, wie Kampfkunst trainierbar ist, ohne die damit oft verbundenen äußeren Anreize zu benötigen. Kampfkunst braucht keine Wettkämpfe, Pokale oder Medaillen. Wie das für alle Altersgruppen – vom Kind bis zum Rentner – funktionieren kann, wird hier skizziert. Sicher stehen wir damit nicht allein. Wir wollen all jenen Mut machen, die sich auf ähnliche Art und Weise um die Erhaltung ursprünglicher Gehalte der Kampfkunst bemühen.
Auch die absolute Trennung von chinesischer, japanischer, koreanischer Kampfkunst wird bei näherer Betrachtung und moderner Forschung immer schwieriger. Es ist nicht neu in der Geschichte der Kampfkunst, dass verschiedene Traditionen geprüft werden und dadurch Neues entsteht. Es ist zudem meine Überzeugung, dass Meditation, Qigong, Taiji und Wushu verschiedene Aspekte eines Ganzen sind. Beschäftigt man sich zudem mit chinesischer Medizin und Philosophie, dann nähert man sich dem Ideal einer umfassenden, reflektierten und gesunden Lebensweise entsprechend der antiken Denkweise. Insbesondere die Meditation als höchste Form dieses Weges bringt uns die Erfahrung einer umfassenden kosmischen Wahrheit näher, in die wir eingebettet sind und über die in vielen alten Schriften berichtet wird.
Ich folge den Wegen der Kampfkünste nun seit fast vierzig Jahren und noch immer lerne ich jeden Tag dazu; nicht nur von meinen Meistern oder aus Büchern, sondern auch von meinen Schülern, unter denen sehr viele Kinder und Jugendliche sind. Für jede Begegnung, für jede Trainingsstunde bin ich dankbar. Das verständnisvolle und friedliche Miteinander der Menschen ist ein wesentliches Merkmal dieses Weges.
Was mich besonders freut, ist die Tatsache, dass auch einige Schüler Texte verfasst haben und das Konzept unserer Schule dadurch für den Leser sehr lebendig wird. Einige Übersichten sollen praktische Hilfe für den interessierten Leser bieten.
Wie immer in Philosophie und Kunst ist es nicht möglich, das Wahrhafte gänzlich zu beschreiben. Beim Wesentlichen versagt gerade bei energetischen Themen zu oft die Kraft der Begriffe. Doch wenn wir sinnvolle Fragen gestellt haben, ist viel erreicht.
Nahezu kein Lebensweg verläuft geradlinig. Es sind vor allem Probleme und Krisen, die uns herausfordern und Chancen auf Veränderung und wirklich Neues in sich bergen.
Wir möchten mit unseren Zeilen Mut machen, sich intensiv auf gesunde Art und Weise mit diesen Dingen zu befassen und sich immer wieder und jeden Tag dem Training zu widmen. Die Wahrheit der Kampfkunst beweist sich nicht nur im Trainingsraum, sondern in jeder Sequenz des Alltages. Es ist dies ein allumfassender Weg des Lebens.
Freudenberg/Berlin im April 2015
Zeichnung: Dörte Michaelis
Der chinesische Begriff „Dao“ (道, dào) kann bekanntlich, wie jedes chinesische Zeichen, nicht eins zu eins ins Deutsche übersetzt werden. Bilder sind Gegenstand von Interpretationen, die wiederum mindestens vom jeweiligen Kenntnisstand des Interpreten abhängen. Seit der philosophischen Begründung des Daoismus (道教, dàojiào) durch Laozi (老子, Lǎozǐ, 6. Jahrhundert v. Chr.) im antiken China, wird dieser Begriff immer wieder zum Gegenstand der Forschung.1 In erster Annäherung können wir das Dao-Zeichen mit „sinnvoller Weg“ übersetzen. Dieses chinesische Zeichen enthält verschiedene Bedeutungen: „Sinn“, „Bewusstheit“, „der rechte Weg“ oder auch „Gehen“. Das Verhältnis des Menschen zu sich und zur Natur als Grundlage alles Lebens ist im daoistischen Denken das übergreifende Thema.
Es ist eine alte Frage, wie man gut, besser und vernünftiger leben kann. Diese Sinnfrage beschäftigt Philosophen und Dichter schon von alters her. Die Kritik des Gegebenen ist schon immer ein heikles Unterfangen, besonders wenn man nicht beim bloßen Negieren stehen bleiben möchte. Eine Alternative wäre die positive Kritik. Das Maß dieser Kritik findet sich nach daoistischer Auffassung in den natürlichen Prozessen. Die alten Schriften geben hier wertvolle Hinweise, von denen wir noch heute sehr viel lernen können. Wer aber über das Dao sagt, er hätte es verstanden, er kenne den Weg, der ist eher weit entfernt davon:
„道可道。非常道” dào kě dao fēi cháng dào.“
„Das sagbare Dào ist nicht das absolute Dào.“2
Es gilt also, stets bescheiden und vorsichtig zu sein. Die Natur als Vorbild ist ein wichtiger Eckpfeiler. Sie lehrt auch Demut. Wer sich hervorhebt und glaubt, die Massen belehren zu müssen, wird aus dieser Tradition heraus eher wenig glaubwürdig sein. Wer sich nach außen hin aufwendig schmückt und der äußeren Erscheinung übermäßigen Wert zuerkennt, der wird in seinem Inneren ärmlich sein. Wer stetig viele Antworten präsentiert, anstatt wirkliche Fragen zu stellen, der wird sinnvoll auf Dauer kaum überzeugend argumentieren können. Wir werden uns den Tugenden der Kampfkunst im Weiteren noch annähern.
Die Denker beklagen seit alters her die Sucht des Menschen nach Reichtum, Gewinn und Sieg. Modernes war vielen Philosophen oft verdächtig, das wahrhaft Sinnvolle zu verfehlen. Im Abendland traten die Vernunft und der Fortschrittsglaube einen Siegeszug an. Allein der Glaube daran wird brüchig. Es macht also in diesem Zusammenhang Sinn, sich den Weg der alten Chinesen, der Daoisten, näher anzusehen. Das waren Philosophen, die der Natur mehr vertrauten als dem Modernen, die die Sinne schützen wollten und die wirkliche Einheit von Körper, Geist und Seele sehr hoch schätzten. Und es waren Denker, die sich noch selber in den dazugehörigen Übungssystemen bewegten.
Bereits im Huáng Dì Nèi Jīng (黄帝内經), eines der ältesten Bücher der Welt, welches sich dem Thema wirklicher Gesundheit umfassend widmete und in einem Zeitraum von mehreren Jahrhunderten zusammengetragen wurde3, steht geschrieben, wie die Kultivierung des Dao anzugehen sei. Wir können jeden Tag davon lernen. Dort wird zum Beispiel die Frage gestellt, warum denn nur die Menschen so schnell altern und kaum fünfzig werden. Die Antwort lautet:
„岐伯對曰:上古之人,其知道者,法於陰陽,和於術數,食飲有節,起居有常,不妄作勞,故能形與神俱,而盡終其天年,度百歲乃去.“
„Qi Bo antwortete: In der Vergangenheit praktizierten die Menschen das Dao, den Weg des Lebens. Sie verstanden das Prinzip des Gleichgewichts von Yin und Yang, wie es sich in den Wandlungen der Energien des Universums widerspiegelt. Sie entwickelten Praktiken wie die des Daoyin, einer Kombination von Dehnungsübungen, Massagen und Atemtechniken, um den Fluss der Energie zu unterstützen. Sie übten sich in Meditation, um in Einklang mit dem Universum zu kommen. Sie aßen ausgewogen und regelmäßig, sie vermieden jede geistige und körperliche Überanstrengung, sie standen zu bestimmten Zeiten auf und gingen zu bestimmten Zeiten zu Bett und waren in jeder Hinsicht maßvoll.“4
Dies ist auch heute noch ein eher stiller Weg abseits der goldenen Wettkampfstätten. Die Klöster sind eher bescheiden und mit wenig Prunk ausgestattet. Auch die Kleidung der Daoisten ist naturverbunden, der Wohnstil und die Ernährung nach den Geboten der Natur gewählt. Der Mensch wird als Bestandteil der Harmonie des universellen Zusammenhangs gesehen und nicht als Herrscher. Das betonen auch heute viele kreative Denker.
Vor nicht langer Zeit hatte ich ein Gespräch in Hangzhou (China) mit einem geschätzten chinesischen Freund, der wie ich der Philosophie und dem Taiji viel Zeit widmet. Er beklagte die geistige Armut des modernen Chinesen, der vor lauter Geldgier die wahrhaften Wurzeln der chinesischen Kultur verliert. Man solle vielmehr die großen Texte der chinesischen Antike nicht vergessen, diese würden einen recht sicheren Weg inmitten der modernen Irrtümer weisen.
Wir in deutschen Landen rezipieren bei gründlicher Beschäftigung mit den asiatischen Bewegungs- und Heiltraditionen das Huang di Neijing (黄帝内经), das Shang Han Lun (伤寒论), das Dao De Dsching (道德經/道德经) oder auch das I Ging (易經/易经). Die großen Denker und Ärzte des alten China sind uns recht vertraut, wie etwa Laozi (老子, Lǎozǐ), Dschuang Dsi (莊子, Zhuāngzǐ), Konfuzius (孔夫子, Kǒng Fūzǐ) oder auch berühmte Ärzte wie Zhang Zhong Jing (張仲景, Zhāng Zhòngjĭng) oder Sun Simiao (孙思邈/孫思邈, Sūn Sīmiǎo).
Es liegt nahe, diese Denker mit den Philosophien der eigenen Tradition ins Verhältnis zu setzen. Da sind einige sofort zu nennen: so der große Heraklit mit seiner Theorie der Gegensätze und des Fließens, der Gigant Aristoteles mit seiner Form-, Stoff- und Naturauffassung oder in späteren Zeiten Hegel, der uns lehrte: „Das Ganze ist das Wahre. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“5 Viele Europäer haben den Weg nach Asien gewagt und Großes geleistet, wie etwa Eugen Herrigel in Japan oder Richard Wilhelm in China.
Macht es im modernen Leben des 21. Jahrhunderts Sinn, die alten Chinesen ernst zu nehmen? Können uns die alten Schätze der chinesischen Klassik wirklich helfen? Diese Welt, in der Philosophie, Medizin und Kampfkunst noch eine Einheit waren? Es ist ein uraltes kulturübergreifendes Ideal, welches den Denker, den Krieger und den Heiler verbindet. Die konkreten Vorbilder sind bekannt. Der legendäre Mönch Zhen Wu (真武) war ein solcher vom Wudang Shan: ein Prinz, ein Kämpfer und ein Mönch, bewandert in der Naturmedizin der alten Chinesen. Als ich im Wudang-Gebirge war, „sprach“ die Natur regelrecht mit mir. Ich fühlte, was einst vielleicht auch den legendären Zhang San Feng zur Begründung des Taiji als Kampfkunst bewogen hat. Wer ernsthaft Kampfkunst trainiert, sollte immer wieder ausdauernd die Natur studieren.
Wudang Shan – ein Ursprungsort des Taiji
Aber ist ein solcher Weg heute von Bedeutung? Wenn die Antworten schwer fallen, ist das ein eher gutes Zeichen. Wenn der Rückzug in einen behaglichen Bambushain kein tragfähiger Weg ist, dann kann das aktive Ergründen möglicher Alternativen zum Mainstream doch sinnvoll sein. Hermann Hesse hat bereits sehr deutlich gemacht, dass wir vor allem das Fragen-Stellen von den Asiaten lernen können. Es mache aber wenig Sinn, Chinese werden zu wollen.6
In der DAO-Kampfkunstschule in Berlin trainieren wir seit vielen Jahren Taiji, Meditation, Qigong und Wushu. Was für viele als normal in der Kampfkunstszene gilt, fehlt hier. Es ist ein Weg ohne Shows, ohne Wettkämpfe und nahezu ohne Graduierungen sowie ohne ständige Prüfungen. Die Trainingsfläche eignet sich nicht für Massenveranstaltungen. Das Schulkonzept ist auf gesundes und individuelles Lernen ausgerichtet. Wer hierher kommt, möchte nicht schnell über Andere siegen. Ab vier Jahren bis hin zum Rentenalter wird hier trainiert. Im Normalfall bleiben die Schüler viele Jahre.
Der chinesische Weg geht immer über den Körper. Meditation, Qigong, Taiji und Wushu sind Momente eines ursprünglich einheitlichen Konzeptes. Es ist dies in Wahrheit ein Weg der Stille und des Friedens. Die Chinesen nennen es Wú Wéi (无为/無爲), das Handeln im Nicht-Handeln. Das ist ein aktiver Weg, der die Verbindung mit der Wirklichkeit sucht und das Gegebene in Frage stellt. Das lang gesuchte Maß der Kritik findet sich in der natürlichen Einheit des uns umgebenen Universums. Der Mensch wird sich um seine natürliche Basis immer aktiv kümmern müssen, was auch Zhuang Zi betonte: „Ich weiß davon, dass man die Welt leben und gewähren lassen soll. Ich weiß nichts davon, dass man die Welt ordnen soll. Sie leben lassen, das heißt, besorgt sein, dass die Welt nicht ihre Natur verdreht; sie gewähren lassen, das heißt, besorgt sein, dass die Welt nicht abweicht von ihrem wahren Leben. Wenn die Welt ihre Natur nicht verdreht und nicht abweicht von ihrem wahren Leben, so ist damit die Ordnung der Welt schon erreicht.“7
Im alten China sprach man von Harmonie und Disharmonie. In der Analyse der Gesundheit geht es eher um Prozesse, statt um Zustände. Die letztlich einzige Wahrheit der Daoisten ist die Wandlung. Sich darum zu kümmern, ist noch nie selbstverständlich gewesen. Laotse schrieb über einen solchen Menschen: „Er wendet sich dem zurück, an dem die Menge vorübergeht.“8
Die Moderne ist nicht nur von den geschätzten Erfolgen der Zivilisation, wie etwa Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, sondern auch von einer extremen Geschwindigkeit gekennzeichnet. Der westliche Lebensstil ist aus bestimmter Perspektive zwar fortschrittlich, aber vor allem auch ungesund. Es gibt diese Kritik schon lange recht systematisch, zum Beispiel bei Hölderlin, Nietzsche, Schopenhauer und später dann auch bei Herbert Marcuse. In der politischen Praxis wehren sich heute Umweltschützer, Nichtregierungsorganisationen, Naturheilkundige und auch Biolandwirte immer erfolgreicher gegen die negativen Auswirkungen des westlichen Fortschritts.
Doch für sehr viele Menschen, vor allem auch im modernen China, gelten im Alltag eher folgende Regeln; gleichsam sind es Fallen des modernen Lebensstils:
Sei immer und überall erreichbar mit deinem Mobiltelefon!
Checke ständig deine Mails und andere Nachrichten!
Aktualisiere täglich deinen Status in den sozialen Netzwerken!
Iss schnell und möglichst unterwegs, um wertvolle Zeit zu sparen!
Sei immer bereit, über die normale Arbeitszeit hinaus zu arbeiten!
Vernachlässige den alltäglichen Sport, das kostet sowieso zu viel Kraft!
Eile von Termin zu Termin und beklage dich nicht; der Chef hat immer recht!
Ignoriere Suchttendenzen, etwa in den Bereichen Sex, Alkohol, Rauchen, TV, Spiele etc.!
Gewöhne dich an deinen Tinnitus, an Schmerzen, an Nachtschweiß und an die immerwiederkehrenden Schlafprobleme! Wer stark ist, jammert nicht!
Höre endlich auf, das Schöne der Natur auch in deinem Alltag erleben zu wollen! Das können sich nur romantische Spinner oder esoterische Spinner leisten.
Verhalte dich so und du hast die große Chance, einen sogenannten Burnout oder eine Depression zu erleiden. Oftmals sind diese Krankheiten von einer umfassenden Erschöpfung gekennzeichnet, die nicht durch einfache Erholung beseitigt werden kann.
Es ist nicht nur eine protestantische Ethik, die uns suggeriert, dass wir durch entsprechenden Fleiß bei der Arbeit ein Glücksversprechen einlösen könnten.9 Das Vorbild der mönchischen Askese hat beim systematischen Wettbewerb um den maximalen Gewinn keinen Platz mehr. Als ich in China meine Studien zum Burnout diskutierte, merkten viele Chinesen an, dass das ja alles nachvollziehbar sei, aber man könne doch nicht die Forderungen des Chefs kritisieren. Auch hier zu Lande höre ich immer wieder, man komme doch aus diesem Hamsterrad sowieso nicht raus. Sich quasi aufzuopfern im Arbeitsleben ist eine nahezu ethische Maxime geworden. Heute weiß man, dass es notwendig und machbar ist, Alternativen zu diesem ungesunden Sog des modernen Lebensstils zu entwickeln.
Veränderungen verlangen sinnvolles und systematisches Handeln. Der Weg der klassischen Chinesen entschleunigt und lässt uns etwas mehr nachdenken über Alltägliches. Scheinbar Selbstverständliches wird möglicherweise in Frage gestellt. Was heute gültig ist, muss morgen nicht zwingend eine Wahrheit sein.
Es gibt in der Kampfkunst keinen anderen Weg als das tägliche Üben bzw. Training. Das hat viel zu tun mit einer spezifischen Auffassung von „wirklicher“ Kunst. Auch in der DAO-Kunst ist zunächst das Handwerk wichtig. Man muss ausdauernd lernen und stetig wiederholen. Das sind Eckpfeiler des wahrhaften Lernens immer und überall. Und es gibt beim systematischen Durchdringen des scheinbar Bekannten natürlich die Irrwege ebenso wie die Momente des Sonnenscheins. Auch das verbindet letztlich die Künste. In der Kampfkunst, wirklich als Kunst trainiert, treffen sich völlig verschiedene Menschen wieder. So habe ich Schüler im Erwachsenenbereich, die von Beruf Tänzer, Keramiker, Maler, Musiker, Tischler, Filmemacher, Schnitzer, Gärtner, Grafiker, Architekt oder Hebamme sind. Die sonst so wichtigen feinen Unterschiede der verschiedenen Lebenswelten werden hier unwichtig. Man lernt einander anders kennen und verstehen. Es ist ein Weg, der unterschiedliche Kulturen und Sprachräume verbinden kann.
Es geht letztlich auch um ein bleibendes philosophisches Thema: die Freiheit des Geistes. Die Daoisten stellen vor allem folgende Fragen im Bereich der Kultivierung des Geistes:
Wozu bin ich da?
Was will ich tun?
Wie will ich das tun?
Und letztlich die praktische Frage:
Welche Kompromisse möchte ich dafür eingehen?10
Das sind Grundfragen, denen man im Alltag gerne ausweicht, weil sie zu groß sind, für die man sich Zeit nehmen muss, die man nicht alleine beantworten kann, die man sich immer wieder stellen muss.
Beim DAO-Training geht es zudem immer um die elementaren Grundlagen des Lebens, etwa das Atmen, das Stehen, das Laufen, das Sehen, das Reagieren, das Fühlen, das Schöne, das Erdende, das Wurzeln, das Ausstrahlen, das Selbstbewusste, das Visionäre etc. Eine zentrale Frage aber ist meines Erachtens, wie ich mit mir und mit anderen Menschen umgehe, wie ich sie akzeptiere und achte und, zumindest im innersten Kreis meines Lebens, ob ich sie liebe. Ohne wirkliche Liebe kann man nicht wahrhaft menschlich sein. Nicht umsonst bezeichnen die klassischen Chinesen das Herz als Kaiser im Organ- und Leitbahnsystem des Menschen. Diese Tatsache sollten sich vor allem alle pädagogisch arbeitenden Menschen zu eigen machen. Erfolgreiches Unterrichten bedeutet, dem Schüler zu helfen, seinen eigenen Weg zu gehen. Dies werden wir noch genauer vor allem im Kapitel Kindertraining untersuchen.
Detail aus einem Fries im Shaolinkloster
Die wahren Menschen holen ihren
Atem von ganz unten herauf,
während die gewöhnlichen
Menschen nur mit der Kehle atmen.
Dschuang Dsi
Die einzigartige Arbeit mit dem Qi (氣/气) ist das zentrale Kennzeichen der chinesischen Kultur. Über diesen Begriff gibt es unzählige Abhandlungen sowohl für den Laien als auch für den Experten. Der interessierte Leser wird hier sicher schnell fündig. Wir wollen diesen daoistischen Zentralbegriff der chinesischen Medizin, der im Japanischen Ki (気) und im Indischen Prana genannt wird, hier lediglich mit „Lebensenergie“ übersetzen, da uns das für unsere Zwecke zunächst ausreicht. Was aber ist Qigong (氣功/气功, qìgōng)? Gong bedeutet im Kern „Anstrengung“, „Arbeit“, „Fähigkeit“ oder „Können“. Somit sind Qigong-Übungen alle jene, die sich der Pflege, Erhaltung, Lenkung und Kultivierung des Qi widmen. Qigong ist demzufolge ein sehr umfassender Begriff.
Es findet sich hier der immer wiederkehrende Schlüssel zum Verständnis der chinesischen Wege: In jeder Qigong-Übung müssen die folgenden drei Säulen enthalten sein:
die richtige körperliche Haltung (
身
, Shēn) bzw. Technik,
die vorgeschriebene Atmung, also der Qi-Fluss (
气
, Qi),
die richtige geistige Einstellung (
神
, Shén) bzw. die Einsicht in den Sinn der Übung.
Diese drei Säulen begreifen wir als grundlegend für das gesamte DAO-Training in allen Fachbereichen. Es ist nicht nur für das Qigong zentral, sondern auch für das Taiji, das Wushu und die Meditation.
Die historische Grundlegung des Qigong lässt sich bereits im eingangs erwähnten Huang Di Nei Jing nachweisen. Auch der berühmte Arzt Hua Tuo (110-207, Han Periode) hat bis heute tradierte Qigong-Übungen entwickelt.11 Eine weitere moderne Quelle stammt aus dem Jahre 1973, als in der Provinz Hunan die Mawangdui Gräber (马王堆, Mǎwángduī) entdeckt wurden. Seitdem wissen wir von antiken Leit- und Dehnübungen (导引图, Dǎo yǐn tú). 1983 folgte der Fund des „Buches der Dehnübungen” (引书, Yǐn shū) in der Provinz Hubei. Beide Funde werden gemeinhin auf das zweite Jahrhundert vor Christus datiert und zeugen von einer bereits hoch entwickelten Form der Körperübung im Sinne des Qigong.
Wie verhält sich der Begriff Qigong zu den Begriffen Taiji und Wushu? Qigong ist der Oberbegriff. Es ist damit zunächst nur die bewusste Arbeit mit dem Qi angesprochen. Es gibt anerkanntermaßen Tausende von Qigong-Systemen.
Eine mögliche Unterscheidung ist die zwischen Dehn- und Atem-Technik. Dehntechniken werden auch Daoyin-Übungen (导引, Dǎoyǐn) genannt. Daoyin lässt sich mit „Leiten”, „Dehnen” übersetzen. Weiterhin spricht man von reinen Atem-Techniken (吐纳, Tǔnà). Der Begriff Tuna bedeutet „ausstoßen“ und „aufnehmen“.
In China gibt es sogar eine staatliche Prüfungskommission zur Anerkennung von Qigong-Systemen. Die chinesischen Behörden sind auf dem Gebiet des Qigong sehr an Kontrolle interessiert. Will man eine Übersicht in diesem riesigen Angebot bekommen, ist es sinnvoll, diese Systeme nach verschiedenen Kriterien zu unterscheiden.
Übersicht 1: Unterscheidungsmöglichkeiten von Qigong-Systemen
Unterscheidung nach der Tradition:
Daoistisches Qigong,Buddhistisches Qigong,Philosophisches/konfuzianisches Qigong,Medizinisches Qigong,Hartes Qigong,Volks- oder Bauern-Qigong.Unterscheidung nach der Bewegungsform:
Stilles Qigong (jing gong),Bewegtes Qigong (dong gong),Qigong in Ruhe und Bewegung (jing dong gong).Unterscheidung nach der Position oder der Ausführung:
im Gehen,im Stehen,im Sitzen,im Liegen.Erst seit der Zeit Mao Tse Tung's wird in der heutigen Art und Weise von Qigong gesprochen. Exakt können wir diese Verwendung 1957 erstmalig beim Arzt Liu Guizhen (1920-1982, 劉貴珍) nachweisen.12 In anderer Weise sprach man vorher eher von Neigong- (innere) oder Waigong- (äußere) Übungen. Da sich aber die klare Trennung zumindest im modernen China begrifflich durchgesetzt hat, versteht man unter Qigong heute eher heilgymnastische Übungen mit medizinischem Charakter.13
In China werden derzeit offizielle Übungen von der