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Hast du von der Finsternis gekostet? Sündig und vergiftet wie ein lang vergessenes Geheimnis …
Es gab tausend gute Gründe, warum sie aus Dark River Falls flüchtete. Doch einer davon brachte sie zurück – in seinem Kofferraum.
An einem verregneten Herbsttag wird im Wald von Dark River Falls die stark verweste Leiche des jungen Tom Savage entdeckt, der Jahre zuvor unter mysteriösen Umständen verschwunden ist.
Um den ungeklärten Tod seines Bruders aufzuklären, überschreitet Hadrian die Grenzen zwischen Gut und Böse, wobei er der Wahrheit immer näher kommt und zugleich in einen Strudel aus Rachedurst und Vergeltung abrutscht. In sein Visier geraten die drei Hawthorne-Schwestern, die ein dunkles Geheimnis hüten, das wie ein schleichendes Gift wirkt.
Wird die Lügen sie zerstören?
DÜSTER, LEIDENSCHAFTLICH, ATMOSPHÄRISCH – der neue Dark Romance-Roman von Cate Edge.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Coverdesign: © https://marie-grasshoff.de
Lektorat: Ariane Lambert
Illustrationen im Buch: iStock | geraria | Luisa Vallon Fumi | Hein Nouwens
Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Ein Nachdruck oder eine andere Verwendung ist ausdrücklich nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.
Sämtliche Personen in diesem Text sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig.
Jegliche Markennennungen gehören den jeweiligen Copyrightinhabern. Das Urheberrecht aller Lieder, die genannt oder zitiert werden, liegt bei den jeweiligen Künstlern und Plattenfirmen.
Cate Edge
c/o AutorenServices.de
Birkenallee 24
36037 Fulda
Erstellt mit Vellum
Auch wenn du Gift bist,
bitter und süß,
betrinke ich mich an dir.
Schluck für Schluck.
Bis zum letzten Tropfen.
Manchmal verschwimmen die Grenzen
zwischen Wirklichkeit und Traum.
Der einzige Blick,
mit dem wir auf unsere Geschichte schauen,
ist eingefärbt durch unsere Gefühle.
Spielt es da eine Rolle,
was wirklich war?
Ihr Lieben …
In diesem Roman wird es finster, spannend und ziemlich heiß hergehen. Diese Szenen entspringen meiner Phantasie und haben nichts mit der Realität zu tun – sie sind FI(C)KTION.
Gelegentlich verzichten meine Protagonisten daher auf Kondome und verhalten sich auch sonst nicht unbedingt verantwortungsvoll.
Gebt euch ruhig Träumereien hin und schaltet den Verstand für einen Moment aus.
In diesem Roman schreibe ich über hochgiftige Pflanzen und Heilkräuter, deren Einnahme tödlich enden kann. Probiert sie bitte nicht auf eigene Faust aus und geht keine Risiken ein.
Ich habe auch Themen in diesem Buch behandelt oder angesprochen, die manche Personen triggern könnten. Daher folgt auf der nächsten Seite eine Inhaltswarnung, die Ihr gern überspringen könnt, wenn ihr euch von der Geschichte überraschen lassen möchtet.
Viel Spaß beim Lesen wünscht euch
eure Cate
Falls du dich bei folgenden Themen nicht wohlfühlst, würde ich dich bitten, vom Lesen meines Romans abzusehen.
Dieser Text enthält explizite Schilderungen psychischer und physischer Gewalt.
Themen wie Suizid, Mord, häusliche Gewalt, Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Depressionen, Folter, Entführung und psychische Erkrankungen, werden hier erwähnt.
Zudem werden einvernehmliche sexuelle Handlungen explizit dargestellt. Die Sprache ist deutlich.
Wenn dich das nicht abschreckt: Viel Vergnügen!
Damals
Kat ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Handflächen, hinterließen tiefrote Halbmonde in ihrer Haut.
Nein, das darf er nicht tun, schrillte eine warnende Stimme in ihrem Kopf auf. Ihr war klar, dass er im Begriff war, einen kolossalen Fehler zu begehen. Welche Lawine der Zerstörung folgen würde, konnte selbst sie in diesem Moment nicht ahnen.
»Komm schon, gönn mir den Spaß!« Tom sah sie grinsend an. Seine Augen blitzten auf.
Mit seiner vorwitzigen Art hatte er sie für sich gewonnen. Erst hatten sie im Englisch-Unterricht debattiert und schließlich die Diskussionen auf dem Schulhof fortgeführt. Er hatte nie klein beigeben können, nie eine Niederlage akzeptiert. Das hatte Kat auf eine gewisse Weise imponiert.
Eines Tages hatte Tom im Englisch-Unterricht sein Handy herausgeholt, war auf den Tisch geklettert und hatte Every Breath You Take von The Police gespielt. Die Lehrerin war ausgeflippt und hatte versucht, ihn vom Tisch herunterzuholen. Aber er hatte bloß Augen für Kat gehabt und unbeirrt mitgesungen. Stunden später holte Kat ihn vom Nachsitzen ab.
»Du weißt, dass der Song von einem kranken Stalker handelt, oder?«, hatte sie gefragt.
»Musst du immer solch eine Besserwisserin sein?«, war seine Antwort gewesen, bevor er sie küsste.
Seitdem hatte ihr Herz ihm gehört. Trotzdem war es ihr ein Rätsel, wie er in jeder Lebenslage einen lockeren Spruch auf den Lippen haben konnte. Selbst nach dem Unfall hatte er noch gescherzt, obwohl er von Schmerzen gequält wurde. Sie wusste, dass es anders in ihm aussah. Kat erkannte hinter der Fassade aus Witzen seine melancholische Seite.
Und doch hatte er sich verändert – es hatte ihn verändert.
Kat nahm Toms Hand und suchte seinen Blick. Wie sehr sie seine Augen liebte. Er schien direkt in sie hineinzusehen. Und genauso konnte sie seine Gedanken lesen. Wobei es ihr in letzter Zeit immer schwerer fiel.
»Du musst hier niemandem etwas beweisen. Dein Rücken hält das nicht aus.«
Seit dem verheerenden Zusammenstoß, mit einem Linebacker der gegnerischen Football-Mannschaft, war ein Jahr vergangen. Nicht genug Zeit, um Toms gebrochenen Rücken heilen zu lassen.
»Wollen wir wetten?« Er sah Kat auffordernd an.
Als er ihre ernste Miene bemerkte, änderte sich seine Stimmung.
»Verstehst du das nicht? Bald machen wir den Abschluss, und ich muss noch ein Mal mit meinem Team auf dem Rasen stehen. Ich will später nicht an die Highschool-Zeit zurückdenken und mich als den Versager sehen, der ich gerade bin.« Er entriss ihr seine Hand, das Gesicht verzerrt von Wut. Von Enttäuschung. Niemand verstand ihn. Nicht einmal Kat.
»Spinnst du? Du bist kein Versager …«
»Nein? Was denn? Ein Krüppel, der für nichts zu gebrauchen ist!«, unterbrach er Kat wütend. »Ich kann nicht einmal aufstehen, ohne vor Schmerzen zu kotzen!« Er hielt einen kleinen, durchsichtigen Beutel in die Höhe. »Ich brauche mehr davon.«
Kat kannte den Inhalt nur zu gut. Kannte die Gefahren, die damit verbunden waren.
Sie schüttelte den Kopf. »Tu das bitte nicht«, flehte sie.
»Du raffst es einfach nicht!«, brüllte Tom.
Zu lange hatten ihn seine Verletzungen außer Gefecht gesetzt. Sie wusste, dass er es leid war. Er wollte sich fühlen wie alle anderen. Dazugehören und nicht das Ehren-Teammitglied sein, das seine Mannschaft Spiel für Spiel, von der Tribüne aus, anfeuerte. Er war doch kein beschissenes Maskottchen.
»Ich komme auch ohne dich klar!«, grollte Tom und rannte in den Wald.
»Warte! Tu das nicht!« Kat stand regungslos da.
Ihre Worte verhallten ungehört im Unterholz. Tränen füllten ihre Augen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Es war, als zöge sich ihr Herz zu einem zähen, grauen Klumpen zusammen. Dies war ihr erster Streit, dessen hässliche Fratze sie zutiefst erschrak. Was hatte er vor?
Dreh nicht durch, noch ist nichts passiert. Du musst ihn bloß finden, sagte sie zu sich selbst. Aber es fiel ihr schwer, sich zu beruhigen.
Gemeinsam mit ihrer Schwester suchte sie nach ihm. Kat erschien der Tag ewig lang und gleichzeitig viel zu kurz. Sie fuhren mit ihren Rädern zu der Feuerstelle beim Aussichtspunkt in den Maryland Heights und zu ihrem Lieblingsstrand am Ufer des Potomac Rivers.
Nichts.
Tom war wie vom Erdboden verschluckt.
Es blieb nur noch ihre Hütte.
Sie hatten die Räder am Waldrand abgestellt und rannten über den zugewucherten Wanderweg. Kat und Riley fiel es von Minute zu Minute schwerer, den Weg im schummrigen Licht zu erkennen.
»Und du glaubst, er hat alles genommen?«, fragte Riley außer Atem. »Das würde ihn vermutlich …«
»Hör auf!«, unterbrach sie Kat. »Mir ist klar, was passieren könnte!«
Riley schwieg. Betreten ging sie auf Abstand zu ihrer Schwester. Die Dunkelheit und der unebene Pfad ließen es nicht zu, dass sie rannten. So stapfte Kat wütend durch das Dickicht.
Doch unter der Wut lag noch etwas anderes: Angst.
»Dieser Idiot! Warum kann er nicht einmal machen, was man ihm sagt? Warum zur Hölle ist er so stur?«
Sie spürte es. Spürte die Dunkelheit, die hinter der nächsten Biegung des Weges lauerte, um ihre Klauen in sie zu schlagen.
Kat legte an Tempo zu und hastete durch das Gestrüpp, das ihnen den Weg versperrte.
»Was hat er vor?«, rief Riley, der es schwerfiel, Schritt zu halten.
»Mein Gott! Wir hätten das nie tun dürfen. Er wird eine Dummheit anstellen.« Kat war mittlerweile panisch.
Da waren plötzlich grausame Bilder vor ihren Augen. Ein Déjà-vu. Erinnerungstäuschungen, die sie überfluteten. Nur, dass sie keine Täuschungen waren. Es war da: der Druck in ihrem Kopf, die Veränderung des Lichtes. Wie die aufgeladene Luft, kurz vor einem Gewitter.
In dem Augenblick sah sie es: Das drohende Unheil, das mit unbändiger Wucht über ihr Leben hinwegfegen würde.
Es zerstörte alles.
Eleanora
Sehnsüchtig sah ich dem Taxi nach, das im Vorbeifahren eine schmutzige Wasserfontäne verspritzte. Konnte ich mir heute ausnahmsweise diesen Luxus gönnen? Dass es mir vorkam, als wäre ich in einen Monsun geraten, sprach definitiv dafür. Was dagegen sprach, war mein aktueller Kontostand, der höchstens ein Busticket zuließ.
Mein Flieger nach Washington D.C. hatte eine zweistündige Verspätung gehabt. So hatte ich fünfzehn Dollar in Kaffee und ein mittelmäßiges Sandwich investiert. Was meine finanzielle Lage nicht besser machte, war die Tatsache, dass die absurd hohe Miete für mein WG-Zimmer fällig war, das eher einem möblierten Kleiderschrank entsprach. In Anbetracht der Ironie musste ich beinahe lachen. Ich studierte Innenarchitektur und lebte zusammen mit drei Mitbewohnern in einem New Yorker Apartment, das den Charme eines Krankenhauses versprühte.
Umso wichtiger war es, dass ich heute einen perfekten ersten Eindruck hinterließ, um den Job an Land zu ziehen.
Ich konnte immer noch nicht glauben, dass ich spontan damit beauftragt worden war, den Firmenhauptsitz einer der größten Werbeagenturen des Landes, umzugestalten. Ich war zwei Semester von meinem Bachelor-Abschluss entfernt und hatte kaum etwas vorzuweisen, außer dem zweiten Platz bei einem Designwettbewerb und meiner Social-Media-Accounts, in denen ich meine Entwürfe präsentierte.
Als ich dann vorgestern die Nachricht von SAVAGE bekommen hatte, dass deren Innenarchitektin ausgefallen war und dringend ein Ersatz gesucht wurde, erschien es mir fast zu schön, um wahr zu sein.
Verlockender als das Honorar war die Aussicht auf ein eigenes Apartment, das mir von der Werbeagentur für die gesamte Projektdauer zur Verfügung gestellt wurde. Keine morgendlichen Kämpfe um die Kaffeemaschine, keine Schlange vor dem Gemeinschaftsbad – einfach himmlisch!
Schon immer hatte ich mir das Bad teilen müssen. Früher mit meinen beiden älteren Schwestern, die es permanent blockiert hatten und später mit launischen Mitbewohnern.
Im Moment drohte sich allerdings der Traum vom eigenen Badezimmer in Luft aufzulösen. Wenn ich an meinem ersten Tag zu spät kam, konnte ich den Job vergessen. Mir fehlte die Zeit, um ein Uber zu rufen. So winkte ich kurzerhand das nächste Taxi heran. MacBook und Mascara würden es mir danken, dass ich für die Fahrt gnadenlos meine Kreditkarte überzog.
Beim Einsteigen klopfte ich den Regen von meinem Mantel ab. Der Fahrer musterte mich missbilligend.
»Wohin soll’s denn gehen?«, fragte er mürrisch.
»1307 Wisconsin Avenue. Können sie sich bitte beeilen?«
»Downtown? Ich gebe mein Bestes. Gegen den Verkehr bin ich leider machtlos. Schätze, wir brauchen eine halbe Stunde, wenn es gut läuft.«
Ich sah auf das Handydisplay – mir blieben vierzig Minuten. O Gott. Um vor Nervosität nicht durchzudrehen, beschloss ich, mich von dem Hörbuch ablenken zu lassen, das mir meine Schwester geschickt hatte. Ich steckte die Kopfhörer in meine Ohren und lehnte mich zurück. Krampfhaft bemühte ich mich, der Story zu folgen, während sich meine Gedanken überschlugen. Überrascht stellte ich fest, dass mir die Handlung gefiel.
Riley hatte meinen Geschmack getroffen, was nahezu an ein Wunder grenzte, da wir uns erst in den letzten Monaten angenähert hatten. Das Verhältnis zwischen mir und meinen Schwestern war nie innig gewesen. In unserer Kindheit waren Kat und Riley mit einem Grinsen der Genugtuung losgezogen, wenn Grandma mir nicht erlaubte mitzugehen. Wegen dieser Ungerechtigkeit hatte ich heiße Tränen der Wut geweint.
Selbst in meinen letzten Jahren im Hawthorne House hatte sich nichts verändert. Wir waren zwar älter geworden, doch sie schlossen mich nach wie vor aus. Was sich allerdings verändert hatte, waren ihre Gesichter: Ihr hämisches Grinsen war einem zutiefst besorgten Ausdruck gewichen. Wenn ich spontan in einem ihrer Zimmer auftauchte, schickten sie mich in einem bedauernden Tonfall weg. Nicht schadenfroh, wie üblich. Irgendwann hatte ich aufgegeben.
Umso verwunderter war ich, als Riley mir vor einem halben Jahr geschrieben hatte und Interesse an meinem Leben zeigte. Nachdem ich ihr von dem Auftrag der Werbeagentur erzählt hatte, war später das Hörbuch, zusammen mit einer Motivationsmail gefolgt. Sie hatte mir Glück für den neuen Job gewünscht und mich darum gebeten, sie auf dem Laufenden zu halten. Auch wenn ich stur war und Angst vor einer weiteren Enttäuschung hatte, freute ich mich über den aufkeimenden Kontakt – das war es, wonach ich mich seit Jahren sehnte.
Der Verkehr war zäh und ich ahnte, dass es verdammt knapp werden würde, rechtzeitig zu erscheinen. Nervös spielte ich mit dem Kabel des Kopfhörers und ließ die Romanze auf mich einprasseln. Spätestens auf der Pennsylvania Avenue nahm ich die Handlung kaum noch wahr, weil mein Blick an den historischen Bauwerken haftete.
Kurz darauf hielt der Fahrer in zweiter Reihe vor einem postmodernen Hochhaus. Mir blieben knapp fünf Minuten. Achtlos verstaute ich das Handy in meiner Manteltasche, bezahlte und hastete auf den Gebäudeeingang zu, über dem in kapitalen Lettern SAVAGE prangte. Ich schob mich eilig durch die Drehtür. Plötzlich spürte ich einen Ruck.
Mein Mantel musste irgendwo hängengeblieben sein. Ehe ich begriff, was geschehen war, ließ der Widerstand nach und eine Männerstimme ertönte aus meiner Manteltasche. »Wenn ich dir sage, dass du deine Beine spreizen sollst, hast du zu gehorchen! Ich will, dass du für Daddy kommst«, schallte der Befehl durch die Eingangshalle.
Das Blut schoss mir in die Wagen, als ich begriff, dass ich meine Kopfhörer herausgerissen hatte. Hektisch kramte ich das Handy hervor und versuchte, der Stimme Einhalt zu gebieten, ehe es die gesamte Belegschaft mitbekam.
»O Gott, James! Ich brauche es!«, stöhnte der weibliche Gegenpart und ich betete, dass sich ein Loch im Erdboden auftat.
»Wie sehr willst du es? Sag es!«
Mein Gott, das durfte doch alles nicht wahr sein. Vor lauter Aufregung rutschte mir das Handy aus der Hand und fiel polternd auf den Marmorboden.
Ich spielte mit dem Gedanken wegzulaufen und so zu tun, als ob es mir nicht gehörte. Verstohlen sah ich mich zu allen Seiten um und hob es auf. Endlich gelang es mir, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Ich hob meinen Blick und nahm einen Mann im dunkelgrauen Anzug wahr, der mich schief angrinste. Über seinem Finger baumelten weiße Kopfhörer.
»Ich glaube, Sie haben etwas verloren.«
Ich erstarrte. Konnte es noch schlimmer werden? Der attraktivste Mann, den ich je gesehen hatte, stand vor mir und hatte jedes Wort gehört.
»Möchten Sie die nicht zurückhaben?«
Durch seinen gepflegten Dreitagebart ließen sich Grübchen erahnen, die zu seiner spitzbübisch gehobenen Braue passten. Seine stahlblauen Augen funkelten. Offenbar bereitete es diesem Mistkerl eine diebische Freude, mich leiden zu lassen. Jeder normale Mensch hätte wohl höflich über meinen Fauxpas hinweggesehen. Aber vermutlich war er kein Mensch.
Der Teufel kannte keine Höflichkeit.
Ich kratzte das letzte bisschen Stolz zusammen und ließ ihn stehen. Ohne zurückzuschauen, rief ich:»Geschenkt!«
Dann verschwand ich im Aufzug und hämmerte wie wild auf die Tasten ein, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, in welchem Stockwerk ich erwartet wurde. Hauptsache entkommen, lautete die Devise. Mittlerweile war ich fünf Minuten zu spät und mir dämmerte, dass es keine andere Möglichkeit gab: Ich musste zurück in die Lobby, um mich dort anzumelden.
Die Fahrstuhltüren öffneten sich erneut und ich stellte beruhigt fest, dass der teuflische Mistkerl verschwunden war. Die Empfangsdame hinter dem ausladenden Tresen musste alles mitangesehen haben. Jedoch sah sie mich mit derselben professionellen Gleichgültigkeit an, mit der sie jeden bedachte, der es wagte, sie zu stören, während sie Sudokus löste.
»Hi, mein Name ist Eleanora Hawthorne. Ich habe einen Termin um neun Uhr mit Mr. Savage.«
Beinahe rechnete ich damit, dass sie tadelnd auf die Uhr sah. Doch sie behielt ihr eisiges Pokerface.
»Herzlich willkommen, Miss Hawthorne. Man erwartet Sie in der vierzehnten Etage.«
Beim Betreten des obersten Stockwerks versank ich in einem Morast aus dunklem Teppichboden und biederer Wandvertäfelung, wie man sie heutzutage höchstens noch in britischen Herrenclubs vorfand. Das alles passte nicht zu einem modernen Marketingunternehmen. Der Flur führte zu einem geräumigen Büro, das die halbe Etage einnahm. Ein Panoramafenster, das sich über die gesamte Breite des Büros erstreckte, entschädigte für den altmodischen Stil. Vom Schreibtisch aus hatte man eine unglaubliche Aussicht auf Washington.
Verloren stand ich mitten im Raum und sah mich um. Von meinem Arbeitgeber war keine Spur zu sehen. Mein Blick wanderte über den minimalistisch ausgestatteten Schreibtisch. Ein Laptop, zwei Smartphones, ein Notizbuch mit Kugelschreiber und … Kopfhörer lagen darauf.
Eine Hitzewelle lief meinen Rücken hinunter. Mir wurde flau im Magen.
Das durfte nicht wahr sein. Es waren meine weißen Kopfhörer, die vor mir lagen.
Sollte ich weglaufen?
Sollte ich mich entschuldigen?
Unentschlossen stand ich im Raum und hatte das Gefühl, der Boden würde schwanken. Möglicherweise war es das Beste, mich krank zu melden.
Zu spät, schoss es mir durch den Kopf, als sich eine Tür öffnete.
»Es tut mir leid, dass Sie warten mussten. Ist Kaffee in Ordnung?«
Mit zwei Tassen in der Hand kam der teuflische Mistkerl, dem ich in der Lobby begegnet war, auf mich zu. Meine Stimme versagte und ich nickte.
»Sie hatten es so eilig, dass ich den anderen Aufzug genommen habe. Allerdings wollte ich gerade einen Suchtrupp losschicken, da Sie sich irgendwo zwischen Erdgeschoss und vierzehntem Stock in Luft aufgelöst haben«, scherzte er und stellte die Tassen ab.
Tatsächlich wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mich in Luft aufzulösen.
»Setzen Sie sich.« Er deutete auf einen der Sessel vor seinem Schreibtisch.
Ich folgte der Aufforderung, unfähig, irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Er blieb stehen und lehnte sich an die Schreibtischkante.
»Nehmen Sie Milch? Zucker?« Amüsiert betrachtete er mich mit seinen eisblauen Augen und streckte mir die Hand entgegen. »Hadrian Savage.«
Sein Händedruck war derart fest, dass ich meine Hand beinahe wegzog. Doch ich hielt ihm stand. So wie ich seinem forschenden Blick standhielt, während er mich unverhohlen musterte.
»Und Sie sind Eleanora Hawthorne?«
»Meistens, ja. Unter diesen Umständen tendiere ich eher dazu, jemand anders zu sein.«
Hadrian lachte. »Dabei haben Sie bei unserer ersten Begegnung auf jeden Fall einen bleibenden Eindruck hinterlassen.«
Er nahm den Kopfhörer, wickelte das Kabel um seine Handfläche und betrachtete es.
»Welcher Name wäre Ihnen denn lieber?«
»Irgendwas mit Smith ist okay. Das macht es leichter abzutauchen.«
Ich spürte meine Wangen glühen. Wie hatte es zu solch einem Fiasko kommen können?
»Wie wäre es mit Jane?«, spielte er mit.
»So wie Jane Doe? Ich glaube, das ist ein Maß an Anonymität, das ich nicht erreichen möchte. Ich habe mir zwar vor fünf Minuten gewünscht zu sterben, aber der Kaffee hat mein Leben wieder lebenswert gemacht.«
In diesem Moment wünschte ich mir, Hadrian Savage wäre ein kauziger Buchhaltertyp mit zu hohem Haaransatz. Aber er war das exakte Gegenteil.
»Es wäre zu schade um Ihre faszinierenden Augen, wenn Sie aus dem Leben scheiden würden.« Seine Worte fuhren mir unter die Haut. Streiften diesen Ort in mir, der spürte, ehe sich mein Verstand einschaltete.
Ganz offensichtlich flirtete Hadrian Savage mit mir. In welche emotionale Achterbahn war ich hier bloß hineingeraten?
Er war älter als ich. Jedoch alles andere als kauzig. Ich schätzte ihn auf maximal Mitte dreißig. Der dunkelgraue Anzug saß perfekt und betonte sein breites Kreuz. Das weiße Shirt darunter ließ seine Bauchmuskeln erahnen. Ich zwang mich, meinen Blick von ihm zu lösen und versuchte das in mir tobende Chaos zu sortieren. Ihm direkt in die Augen zu schauen machte es definitiv nicht besser. Das eisige Blau war durchdringend. Sein kinnlanges, schwarzes Haar war nach hinten gestylt und betonte den gepflegten Dreitagebart.
Ich ruderte zurück in den sicheren Hafen der Arbeit. »Darf ich Sie fragen, wie Sie auf mich aufmerksam geworden sind? Ich meine … ich freue mich natürlich über das Jobangebot.«
An dieser Stelle beschloss ich, den Mund zu halten und mich nicht selbst zu sabotieren. Mir schien es nahezu unmöglich, sich solch ein Projekt zu angeln. Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, warum SAVAGE eine Studentin ohne Abschluss engagiert hatte.
»Unsere Social-Media-Abteilung ist auf ihr Online-Portfolio gestoßen und war der Meinung, dass Sie perfekt zu uns passen.«
Als ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte, wurde mir schlagartig Hadrians Nähe bewusst. Seine Augen ruhten auf meinem Gesicht. Er schien jede Gefühlsregung zu beobachten. Fast so, als interessierte er sich ausschließlich für mich und nicht für den Umbau seiner Agentur.
Mir war klar, wenn sich unsere Blicke erneut begegneten, wäre es mir unmöglich, mich zu konzentrieren. Sicherheitshalber suchte ich mir einen Punkt in der Ferne, den ich fixierte. Das Kapitol war eine gute Alternative zu Hadrians markanten Gesichtszügen. Zurück in den Profimodus, ermahnte ich mich.
Mit zittrigen Händen nahm ich die Tasse, trank einen Schluck und fuhr fort: »Ich würde zu Beginn unserer Zusammenarbeit gern ein Gefühl dafür bekommen, welchen Stil Sie bevorzugen.«
Hadrian stand auf, schlenderte zur Glasfront und wandte sich mir zu. Mit einer allumfassenden Geste deutete er auf den Raum.
»Das alles trägt die Handschrift meines Vaters. An dieser Stelle kommen Sie ins Spiel. SAVAGE soll meine Handschrift tragen.«
»Das sollte kein Problem sein. Damit ich verstehe, was zu Ihnen passt, muss ich herausfinden, wer Sie wirklich sind …«
»Nein, das werden Sie nicht«, unterbrach er mich.
Über Hadrians Gesicht huschte ein Schatten. Er verschränkte die Arme vor dem Körper. Sein Blick war kalt, abweisend.
Was war da gerade passiert? Hatte er das Gefühl, dass ich ihn anmachte? Dass er so hart dazwischen gefahren war, irritierte mich.
»Ich meinte, dass ich mich über Ihren Stil austauschen möchte, um Sie in die Gestaltung mit einzubeziehen.«
»Das klingt vielversprechend«, kommentierte Hadrian im charmanten Tonfall.
Was war das für eine Stimmungsschwankung?
Eigentlich war ich gut darin, die Gefühlslage anderer Menschen zu erkennen. Meine Mutter hatte mir ihre Sensibilität vererbt – was nicht immer von Vorteil war. Oft kam ich mir wie ein Stimmungsring vor, der jede Emotion annahm, die er berührte. Ich spürte ungefiltert die Trauer, die Wut. Aber auch das Glück. Manchmal wünschte ich, da wäre ein Filter zwischen mir und der Welt, damit ich nicht alles fühlte.
»Hat man Sie darüber informiert, dass Ihnen für die Projektdauer ein Apartment zur Verfügung steht? Ich kann Ihnen gleich die Schlüssel aushändigen und mit Ihnen die Wohnungsübergabe machen.« Hadrian wechselte abrupt das Thema.
Die Aussicht auf einige Monate Privatsphäre ließen mich beinahe jubilieren. Ich verkniff mir ein breites Grinsen, um keinen bedürftigen Eindruck zu vermitteln. Ohne meine Antwort abzuwarten, griff Savage seine Autoschlüssel und führte mich zum Ausgang.
Wir fuhren in Hadrians schwarzem Mustang zu meinem Apartment. Auf dem Weg zeigte er mir Orte, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte: das Weiße Haus, das Kapitol und das Washington-Monument. Gekrönt wurde die private Stadtrundfahrt von meinem persönlichen Highlight – dem Smithsonian.
Ich hatte die Serie Bones verschlungen und musste mich zusammenreißen, beim Anblick des Museums nicht laut zu jubilieren. Sie hatten es als Vorbild für die Serie benutzt.
»Sie stehen also auf ausgestopfte Tiere?«, fragte Hadrian amüsiert, als er meinen verzückten Gesichtsausdruck bemerkte.
»Nicht direkt. Das ist eher etwas für meine Schwester. Kennen Sie Bones? Diese Serie über eine Anthropologin, die Leichen untersucht?«
»Natürlich. Ich habe jede Folge gesehen. Immerhin spielt sie direkt vor meiner Haustür.«
Mein Herz machte einen Sprung. Ich bemühte mich, nicht wie ein Honigkuchenpferd zu grinsen. Hadrian Savage sah nicht nur so attraktiv aus wie Seeley Booth. Er wusste sogar, dass er der Hauptdarsteller meiner Lieblingsserie war. Der Fakt, dass er offensichtlich einen ähnlichen Filmgeschmack hatte wie ich, begeisterte mich.
»Aber was meinten Sie damit, dass sich ihre Schwester für ausgestopfte Tiere interessiert? Das scheint mir ein ziemlich morbides Hobby zu sein.«
»Meine Schwester hat sich mit dem Präparieren von Tieren beschäftigt.«
Mehr musste Hadrian nicht wissen. Er hätte nicht begriffen, warum Riley als Kind tote Tiere aufgesammelt hatte, um sie wieder zum Leben zu erwecken. Sie hatte geglaubt, dass mit Magie alles möglich war.
»Ihnen ist klar, dass ich mir jetzt Ihre Schwester als eine ältere Lady mit Schrotflinte, Karohemd und orangefarbener Weste vorstelle, die samstags auf Stockenten-Jagd geht?«
Wir lachten beide. Sollte er ruhig glauben, dass Riley eine Trophäensammlerin war. Besser, als ihm erklären zu müssen, woher wir uns mit Magie auskannten.
»Hier um die Ecke ist mein Lieblingsdiner. Dort bieten sie – so weit ich weiß – keine Ente an, dafür aber den besten Burger in D.C. … Was halten Sie davon?«
Hadrian lenkte den schwarzen Mustang in eine Seitenstraße und parkte am Straßenrand.
»Ich bin gespannt, ob der Burger mit dem aus Dark River Falls mithalten kann.«
»Kommen Sie nicht aus New York?«, hakte Hadrian nach.
»Nein, ich stamme aus einem Nest in West Virginia, aus dem ich geflüchtet bin. Furchtbar. Aber Burger bekommen sie hin.«
»Gut. Heute Abend um acht werde ich Sie davon überzeugen.«
Beim Betreten des Apartments strömte mir ein angenehmer Geruch entgegen. Ich stellte meinen Weekender im Flur ab und inspizierte den geräumigen Wohnraum. Obwohl es minimalistisch eingerichtet war, strahlten die unverputzten Backsteinwände eine gemütliche Atmosphäre aus. Es war mir immer wieder ein Rätsel, dass Industriedesign die Fähigkeit besaß, zweckmäßig und gleichzeitig warm zu erscheinen.
Durch die Fensterfront hatte man einen atemberaubenden Ausblick auf den Park, der trotz des verregneten Morgens malerisch wirkte mit dem rotbraunen Herbstlaub.
»Dort drüben ist ein HomePod auf dem Sie ihre Hörbücher abspielen können. Vielleicht sollten Sie bloß mit der Lautstärke aufpassen.«
Savage grinste diabolisch.
Gespielt entnervt verdrehte ich die Augen.
»Wir wollen ja nicht, dass die Nachbarn etwas Falsches denken«, führte ich seinen Gedanken fort.
»Ob es falsch ist, liegt bei Ihnen.«
Herausfordernd sah er mich an, ehe sein Gesicht hinter der Kühlschranktür verschwand. Diesmal war ich mir sicher, dass er flirtete. Wo sollte das enden? Vermutlich grübelte ich zu viel.
Ich beschloss, seinen Kommentar zu übergehen.
»Für Sie auch ein Bier?«
»In New York trinken wir kein Bier vor zwölf. Aber wenn es der Chef so will, kann ich mich nicht widersetzen.«
Er öffnete die Bierflaschen und reichte mir eine.
»Betrachten Sie es als direkten Befehl.«
Er prostete mir zu und ich stieß meine Bierflasche gegen seine, wobei sich unsere Blicke trafen. Die Geste fühlte sich intim an und schien mir unangebracht, da er mein Boss war … Und doch genau richtig.
»Auf gute Zusammenarbeit, Mr. Savage«, sagte ich und klang dabei bemüht neutral.
»Hadrian, wenn Sie wollen«, bot er an und sah mir erneut in die Augen.
Röte stieg in meinen Wangen auf.
»Jane Doe, wenn Sie wollen.«
Wir lachten beide. Hadrian wirkte wie ausgewechselt. Weniger kontrolliert und rational.
»Im Ernst, Miss Hawthorne. Wie soll ich Sie nennen?«
»Im echten Leben heiße ich Nora.«
»Und was ist das hier, wenn es nicht das echte Leben ist?«
Ich hielt kurz inne. »Irgendein vollkommen abgedrehtes Märchen, schätze ich.«
Hadrian sah mich fragend an.
»Na ja, ich bekomme einen Traumjob und ziehe von meiner WG in diese Luxusunterkunft. Anstelle eines Schuhs verliere ich Kopfhörer …«
»Und hier folgt der Part, bei dem der Ritter in der Not ins Spiel kommt«, stellte er siegessicher fest.
»Genau genommen war es ein Prinz, der jetzt ins Spiel kommt.«
Er hob kapitulierend die Hände.
»Okay, okay. Ich kenne mich mit Märchen nicht besonders gut aus. Meine Eltern hatten es nicht so mit dem Vorlesen.«
Warum ging das alles derart schnell? Ich konnte diesen Mann, der immer mehr seine seriöse Distanz ablegte, nicht einschätzen.
»Warum haben sie dir nicht vorgelesen? Hatten sie keine Zeit?«, sprudelte es aus mir heraus, ehe ich begriff, dass dies schon lang nicht mehr in die Rubrik Leichtes Gespräch fiel, sondern geradewegs in Richtung Deep Talk schlitterte. Das Elf-Uhr-Bier hatte meine Zunge eindeutig zu sehr gelockert.
»Verschieben wir den Seelenstriptease besser auf den dritten Drink heute Abend.« Ich war Hadrian dankbar, dass er das Gespräch zurück in seichtere Gewässer schiffte.
»Nach dem dritten Drink erzähle ich dir all meine dunklen Geheimnisse.«
»Gut zu wissen. Ich werde daran denken.« Er beäugte kritisch meinen Weekender. »Ist das dein ganzes Gepäck? Reisen Frauen für gewöhnlich nicht mit mindestens zwei Koffern?«
»Ich weiß nicht, was gewöhnliche Frauen tun. Aber ich brauche nicht viel. Die Kunst liegt in der Zusammenstellung und natürlich in einer vorhandenen Waschmaschine.«
Wir grinsten beide und tranken unser Bier.
Als Hadrian die Flasche absetzte, stellte er ernst fest: »Mir ist aufgefallen, dass du alles andere als gewöhnlich bist. Sogar recht speziell.«
Er warf mir einen vielsagenden Blick zu und ich bemühte mich, es zu übergehen. Hadrian war tabu. Ich wollte diesen Job unbedingt, und etwas mit dem Boss anzufangen, war mehr als unvernünftig.
»Ähm … ich zeige dir mal ein paar Ideen«, stammelte ich.
Hadrian rückte näher an mich heran, als ich das MacBook auf der Kücheninsel abstellte. Ich gab das Passwort ein und öffnete verschiedene Entwürfe, die ich vorbereitet hatte.
»Man kann hier gut erkennen, dass ich die alten Strukturen des Gebäudes erhalten werde, um den industriellen Charakter zu unterstreichen«, erklärte ich und deutete auf eines der Bilder.
Die improvisierte Präsentation interessierte ihn nicht im Geringsten. Von der Seite musterte er ausschließlich mein Gesicht. Ohne Vorwarnung klappte er den Bildschirm zu.
»Lass uns die Arbeit auf morgen verschieben. Du bist gerade erst angekommen.« Seine Stimme klang samtig. Wie ein weicher, warmer Whisky oder das Knistern von Kaminfeuer. Er berührte mein Handgelenk, was mir einen wohligen Schauer bescherte. »Nimm ein Bad, entspann dich. Mach dir einen schönen Tag. Später zeige ich dir, was Washington kulinarisch zu bieten hat.«
»Aber ich …«
»Keine Widerrede«, unterbrach Hadrian meinen Einwand. »Im Schrank findest du einen Bademantel und Pflegeprodukte, die einem Spa würdig wären. Gönn dir eine Pause. Wir sehen uns nachher.«
Schon war Hadrian verschwunden.
Ratlos stand ich in dem neuen Apartment und sah mich um. Als mein Blick auf den HomePod fiel, musste ich lachen. Das Hörbuch würde ich definitiv erstmal nicht abspielen.
Aus dem Weekender nahm ich eine Salbeikerze und zündete sie an. Ich glaubte bedingt an Magie, Geister und all diesen Kram. Grandma hatte mir jedoch Rituale beigebracht, die ich immer beherzigte. Und dazu gehörte es, die bösen Geister mit Salbei aus einer Wohnung zu vertreiben, ehe man einzog. Keine Ahnung, ob es so etwas wirklich gab. Aber ich war nicht scharf darauf, es auf die schmerzhafte Art herauszufinden.
Zufrieden beobachtete ich die flackernde Flamme und nahm mein Bier. Dann zog ich den flauschigen Bademantel an und kuschelte mich auf die Couch. Auf der Suche nach Zerstreuung schaltete ich wahllos von einem Fernsehprogramm zum nächsten.
Eine Nachrichtensendung erregte meine Aufmerksamkeit. Die Gegend, aus der die Reporterin berichtete, kam mir seltsam bekannt vor. Sie stand auf einer Brücke im Wald.
Das ist unser Wald, dachte ich.
Ein ungutes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Sie deutete in Richtung der Hütte, in der sich früher meine Schwestern mit ihren Freunden getroffen hatten. Es war ihre Hütte. Davor war ein Zelt errichtet, aus dem ein Ermittler im weißen Ganzkörperanzug hinaustrat.
Mit ernster Miene fuhr die Reporterin fort: »… sowohl die Identität des Opfers, als auch die Umstände des Todes sind bisher ungeklärt. Wir bitten Sie, Hinweise an die Polizei von Dark River Falls weiterzuleiten.«
Wie versteinert saß ich auf der Couch.
Dark River Falls.
Der Ort, dem ich vor Jahren entkommen war, drängte sich mit voller Wucht zurück in mein Leben. Wie ferngesteuert griff ich nach meinem Handy, um Riley anzurufen. Sie konnte mir erklären, was los war. Mein Herz klopfte vor Aufregung, während ich darauf wartete, dass sie den Anruf annahm.
»Hey Nora! Wie geht es dir? Wie läuft es mit dem neuen Job?«, erkundigte sich meine Schwester.
Ohne auf ihre Frage einzugehen, kam ich direkt aufs Wesentliche zu sprechen. »Ich habe die Nachrichten gesehen. Was ist passiert? Ist alles okay bei euch?«
Für einen Augenblick herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Ich hörte, wie meine Schwester tief einatmete.
»Mach dir keine Sorgen. Die Reporter sind die reinsten Plagegeister. Sie hängen überall in der Stadt herum. Sogar bei Charlotte im Books & Brews. Kannst du mir sagen, wo ich jetzt guten Kaffee herbekommen soll? Und ich brauche dringend Buchnachschub. Mein SuB ist beängstigend niedrig.«
»Dein was?« Ich verstand gar nichts.
»Stapel ungelesener Bücher. Was dachtest du denn?«, fragte meine Schwester belustigt.
»Richtig. Dein Bücher- und Kaffeeentzug sind aktuell das größte Problem. Es ist ja nicht so, als ob in eurer direkten Nachbarschaft eine Leiche gefunden wurde.«
»Man muss Prioritäten setzen. Und ich werde ebenso enden, wenn ich auf meinen Kaffee verzichten muss.«
Ich wusste, dass meine Schwester ein noch größerer Kaffeejunkie war als ich. Doch das erschien mir einen Hauch zu theatralisch in Anbetracht der Umstände.
»Himmel, Riley! Es ist jemand umgekommen!«
Es entstand eine Pause.
Kleinlaut erklärte sie: »Ich weiß. Ich wollte bloß nicht deinen großen Tag verderben. Der neue Job ist deine Chance und außerdem … ach, egal.«
»Nein, es ist nicht egal. Was wolltest du sagen?«
»Außerdem reicht es, wenn eine von uns unter den Fragen der Reporter leidet. Sie quetschen hier jeden aus. Inklusive Kat. Ich wollte dich nicht damit belasten.«
Das ergab Sinn. Mich hatte Rileys Gleichgültigkeit für einen Moment irritiert. Denn das war nicht ihre Art. Sie hatte Kat beigestanden, als ihre Welt zusammengebrochen war. Monatelang war sie nicht von ihrer Seite gewichen, hatte sie aufgebaut. Sie war mitfühlend, nicht cool. Allerdings war sie es damals nicht bei mir gewesen …
Ich durfte nicht so nachtragend sein, oder?
»Keine Angst, das tust du nicht. Die Meldung in den Nachrichten hat mich eh aus der Bahn geworfen. Hast du eine Idee, um wen es sich handelt? Wer hat die Leiche entdeckt? Und wo genau war das?«
»Eleanora! Du bist ja schlimmer als die Klatschpresse!«
»Bin ich nicht. Ich mache mir nur Sorgen um dich und Kat«, verteidigte ich mich.
»Das musst du nicht. Wanderer haben den Toten im Wald gefunden. Er muss dort ewig gelegen haben und ist nun durch die starken Regenfälle freigespült worden.«
»Woher weißt du das alles? Die Reporterin sagte, dass die Todesumstände ungeklärt seien«, fragte ich verwundert. Irgendetwas stimmte nicht. So verhielt sich meine Schwester, wenn sie Geheimnisse vor mir hatte. Ich kannte ihre Art, das Vertuschen, die hastigen Themenwechsel von ihr und Kat, sobald ich unerwartet in ihr Zimmer geplatzt war. Sie hatten mich schon immer ausgegrenzt. Aber vielleicht interpretierte ich aufgrund meiner Erfahrungen zu viel hinein.
»Du weißt doch wie schnell sich in dieser Stadt eine gute Geschichte verbreitet. Zieh die Hälfte davon ab und du hast die Wahrheit«, erklärte Riley.
»Hmm«, kommentierte ich nachdenklich. »Ist es bei eurer Hütte passiert?«
»Es ist nicht unsere Hütte. Jeder aus Dark River Falls traf sich da.«
Jeder außer mir, ergänzte ich im Stillen.
Ich war mir ausgeschlossen vorgekommen, wenn Kat und Riley in den Wald losgezogen waren, um sich mit Jungs zu treffen. Weil sie älter gewesen waren, durften sie auf Dates gehen, Jungs küssen. Von all dem hatte auch ich fantasiert. Mir fiel Kats Freund Tom ein. Er war so schön gewesen und ich hatte meine große Schwester um ihn beneidet … Und dann war er fort.
»Jedenfalls liegt er schon lange dort …«
»Er? Ihr wisst also, wer es ist?«, unterbrach ich Riley.
»Nein, ich meinte damit bloß der Tote. Es könnte natürlich die Tote sein, da hast du recht. Wir wissen auch nicht mehr.«
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich auf den Nägeln kaute, und zwang mich, damit aufzuhören – eine schlechte Angewohnheit, die mich einholte, wenn ich angespannt war. Diese Stadt glich einem finsteren Schatten, den ich nicht loswurde. In den letzten Monaten hatte ich mich mit Riley angefreundet. Doch jetzt spürte ich erneut die tiefe Verletzung der Vergangenheit in mir aufflammen. Nein, das würde ich nicht noch einmal durchmachen. Dafür war ich zu weit gekommen – New York, mein Studium. Ausreichend Kilometer und Semester lagen zwischen mir und den Dramen aus Dark River Falls. Niemals wieder wollte ich mich so fühlen.
Waren Riley und ich nicht auf einem guten Weg, für einen Neustart?
Nein. Ich würde das lauernde Gefühl nicht an mich heranlassen. Obwohl ich mich dagegen wehrte, spürte ich, wie ich meine Schutzmauern wieder hochzog.
Ich räusperte mich. »Hat Kat einen Verdacht? Sie ist sonst so treffsicher in ihren Vermutungen. Denkt sie, es könnte …« Ich unterbrach mich selbst. »Schon gut, nicht so wichtig.«
Ich wollte keine alten Wunden aufreißen, indem ich Tom erwähnte. Riley und mir war klar, dass sein Name in Leuchtbuchstaben im Raum schwebte. Kat hatte genug durchgemacht, als sie ihn verloren hatte. Ich wollte Riley nicht ermutigen, sie auf das Thema anzusprechen.
»Kat kann ihren Miss-Marple-Instinkten zurzeit nicht folgen, weil sie bis zum Hals in der Buchhaltung der Gärtnerei steckt. Granny hat uns ein ganz schönes Chaos hinterlassen.«
Vor einem halben Jahr war Grandma gestorben und hatte mir und meinen Schwestern Hawthorne House vererbt. Kat und Riley übernahmen die alte Gärtnerei, die seit mehr als einem Jahrhundert im Familienbesitz war. Jetzt schlugen sie sich mit der recht lose geführten Buchhaltung herum.
Erst zu Grannys Beerdigung war ich nach Dark River Falls zurückgekehrt. Zumindest hatte ich dort mit Riley Nummern ausgetauscht und von da an immer häufiger mit ihr Kontakt.
Für mich hatte dieser Ort immer Entbehrung bedeutet und ich war froh gewesen, als ich zum Studieren nach New York zog. Seitdem hatte ich den kleinen Ort gemieden, wie der Teufel das Weihwasser. Der Tod hatte mir schon einmal das Herz gebrochen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es ein zweites Mal brechen konnte.
Doch das war es.
Vor sechzehn Jahren hatten wir unsere Eltern durch einen Autounfall verloren. Damals waren wir zu Granny ins Hawthorne House gezogen. Sie hatte mir Gutenachtgeschichten erzählt und mir Pflaster aufs Knie geklebt, wenn ich mit den Rollschuhen hingefallen war. Sie war es gewesen, die uns alles über Heilkräuter und Botanik beibrachte … Bis sie gestorben war.
»Erzähl mir lieber, wie es bei dir läuft!«, beschwor mich meine Schwester und riss mich damit aus meinen finsteren Gedanken.
»Ziemlich gut. Ich habe sogar ein riesiges Apartment gestellt bekommen!«, verkündete ich.
»Süße, im Vergleich zu deinem Zimmer in New York ist selbst eine Hundehütte ein Luxusapartment.« Riley lachte, hielt dann aber inne. »Du weißt, dass du jederzeit nach Hause kommen kannst, oder?«
Zuhause – ich wusste nicht, was das für mich bedeutete.
Nach der Beerdigung hatte ich mich erfolgreich darum gedrückt, zurückzukehren. Ich wollte nicht das klaffende, schwarze Loch sehen, das meine Großmutter hinterlassen hatte, sondern die Erinnerung an sie am liebsten konservieren.
Tapfer schluckte ich den Kloß in meinem Hals herunter und bemühte mich um einen lockeren Tonfall.
»Kat und du kommt bestimmt besser ohne mich zurecht. Ihr seid ein super Team, und ich würde euch bei diesem Gartenkram eh nur im Weg stehen.«
»Wie kommst du denn auf solch einen Quatsch? Du gehörst zu uns und …«
»… ihr liebt mich und würdet alles für mich tun«, ergänzte ich die Phrase, die Riley niemals müde wurde, zu wiederholen.
Wenn wir uns sprachen, betete sie jedes Mal wie ein Mantra herunter, wie wichtig ich ihnen war. Dennoch wusste ich, dass die beiden eine Verbindung hatten, mit der ich nicht mithalten konnte.
»Ist euch denn nie etwas aufgefallen? Ich meine, ihr seid früher oft im Wald unterwegs gewesen.«
»Ach, das ist ewig her. Erzähl mir lieber mehr über Washington«, sagte Riley heiter, als wäre alles in bester Ordnung.
Ich wusste, dass sie mir auswich. Dennoch freute ich mich über ihr Interesse an meinem Leben. Ich bemühte mich, die Angst vor einer weiteren Enttäuschung zu überwinden und mich ihr gegenüber zu öffnen.
»Ich habe keine Ahnung, wie die Entwürfe ankommen, und bin nervös. Außerdem ist der Boss ziemlich heiß. Ich habe mich zwar bis auf die Knochen blamiert, aber er scheint darüber hinwegzusehen.«
»Kannst du mir das bitte genauer erklären? Details!«, forderte Riley.
»Ach, er ist attraktiv und ich glaube, er flirtet. Es ist aber nichts Ernstes. Heute Abend gehen wir etwas essen.«
»Für nichts Ernstes geht er ganz schön ran«, kommentierte Riley lachend. »Wenn du willst, kann ich dir einen Liebestrank mischen!«
»Ich brauche keine Zaubertränke! Es ist ein Geschäftsessen, bei dem wir über Tapeten, Böden und Wandfarben reden. Klingt nicht nach Verbal-Erotik, oder?«
Riley ließ nicht locker und bohrte weiter.
»Wie sieht dieser heiße Boss denn aus? Ich hoffe, er ist keiner von der Sorte, die ihr Ego mit einem Porsche aufpolieren müssen, weil sie sonst nichts zu bieten haben.«
»Glaub mir, er könnte einen rostigen Familien-Van fahren«, konterte ich.
»Jetzt spann mich nicht auf die Folter. Wie alt ist er? Hat er eine Glatze? Möchte er, dass du ihn Daddy nennst?«
»Riley! So alt ist er nicht. Er ist höchstens Mitte dreißig. Und er hat diesen durchdringenden Blick. Als könnte er in dich hineinsehen. Ich weiß, dass das kitschig klingt. Aber es ist wahr. Ich habe noch nie so blaue Augen gesehen.«
»Ach komm! Seine blauen Augen haben dich beeindruckt? Vermutlich hat der Typ einen Personaltrainer und einen Körper wie ein griechischer Gott!«
»Schon möglich. Ich hoffe bloß nicht, dass er sich dementsprechend ernährt. Wenn er das Kaninchen-Menü ohne Dressing bestellt, kann ich ja schlecht einen Burger mit Pommes nehmen, oder?«
Wir kicherten beide. Es war schön, unbeschwert mit Riley zu reden.
»Mach dir keinen Kopf. Und wenn er Heuschrecken isst … Wen juckt es?«
»Ich fürchte, mich würde es stören falls ich ihn danach küsse und Beinchen zwischen seinen Zähnen stecken. Schluss jetzt! Das wird ein Geschäftsessen, nichts weiter!«
Mir war klar, dass mein Erklärungsversuch ungehört im Raum verhallte, da Riley immer noch kicherte, als wir auflegten.
Hadrian
Zwei Tage zuvor …
Wollen Sie nicht auch langsam Feierabend machen, Mr. Savage?« Heather stand im Türrahmen und warf mir ihr Zehntausend-Dollar-Lächeln zu, das – dank des Bleachings – die Strahlkraft eines Atomkraftwerks besaß. »Lust, auf einen Absacker im Densons?«
Eher hätte ich meinen Whisky in einer Badewanne voller Skorpione eingenommen.
»Sorry, heute nicht. Ich habe noch zu tun.« Ich legte meine beste gespielte Trauermiene auf.
Ich hatte den verheerenden Fehler begangen, sie vor ein paar Wochen nach Hause zu fahren, weil es spät geworden war und sie um diese Uhrzeit nicht allein unterwegs sein sollte. Da draußen liefen zu viele Irre herum. Seitdem lauerte sie mir regelmäßig abends auf, um eine Wiederholung zu erzwingen.
Doch Heather verkörperte das exakte Gegenteil von dem, was mich reizte. Sie war quirlig, durchgestylt, grell und künstlich. Nichts an ihr war echt. Sie war eine fähige Officemanagerin und schaffte es, den Überblick zu behalten, wo ich verloren war und die Kunden fraßen ihr aus der Hand. Aber das war alles.
Als das Telefon im Vorzimmer klingelte, betätigte sie den Knopf ihres Headsets und sagte ihren Spruch auf.
»Guten Abend, hier spricht Heather von der Firma SAVAGE. Wie kann ich Ihnen helfen?« Es entstand eine kurze Pause. »Es ist für Sie. Ein Doktor Montrose aus Dark River Falls. Möchten Sie den Anruf annehmen?«
Obwohl ich saß, hielt ich mich an der Schreibtischkante fest. Die Wände tanzten vor meinen Augen und mir wurde übel. Ich lockerte die Krawatte, um besser atmen zu können. Doch meine Brust war wie zugeschnürt.
»Alles okay, Mr. Savage? Soll ich ihm sagen, dass Sie ihn zurückrufen?«
Mein Gott. Wenn er mich anrief, konnte es nur eins bedeuten …
Ich wischte mir übers Gesicht. »Nein, nein. Schon gut. Bitte stellen Sie ihn durch.«
Mein Telefon schellte und Heather sah mich erwartungsvoll an.
»Das Gespräch ist privat«, erklärte ich gepresst. »Sie können jetzt Feierabend machen.«
Meine Officemanagerin zog eine Schnute und verließ widerstrebend den Raum.
Erst als ich sicher war, dass sie sich außer Hörweite befand, nahm ich das Gespräch entgegen. Mein Herz raste und ich hatte Mühe, ein Wort herauszubringen. Wenn es dieser Anruf war, den ich seit Jahren fürchtete, würde er alles verändern.
»Hadrian? Sind Sie es?« Der Doc klang älter. Man merkte ihm das Jahrzehnt an, das seit unserem letzten Treffen vergangen war.
»Hallo Doc. Haben Sie ihn gefunden?«, fragte ich ohne Umschweife.
»Es tut mir leid, Ihnen auf diesem Weg mitteilen zu müssen, dass wir die Leiche ihres Bruders gefunden haben. Mein aufrichtiges Beileid.«
Ich erstarrte. Da war nichts. Keine Trauer, kein Schmerz. Eine bodenlose Leere zerfraß meine Organe. Breitete sich in mir aus.
»Sind sie noch dran?« Der Doc klang besorgt.
Er kannte mich von früher. Wusste, was mir Tom bedeutet hatte.
»Ja … ich bin da. Wie haben sie ihn … aufgefunden?« Meine Stimme klang weit entfernt und fremd.
»Tom wurde im Wald bei der alten Peterson-Hütte gefunden.«
»Kann ich ihn sehen?« Noch während ich es aussprach, wusste ich, wie irrational diese Frage war.
»Davon würde ich Ihnen abraten. Er muss dort schon lange vergraben gewesen sein. Behalten Sie ihren Bruder so in Erinnerung, wie Sie ihn kannten.«
Ich atmete zu flach, zu schnell. Ein Schweißfilm hatte sich auf meinen Händen gebildet und es flimmerte vor meinen Augen. Ich schluckte. Speichel bildete sich in meinem Mund, wobei mein Magen rebellierte.
»Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, was ihm zugestoßen ist?«
Dr. Montrose zog hörbar die Luft ein. »Es ist noch alles höchst inoffiziell. Aber da ich der leitende forensische Ermittler in diesem Fall bin, möchte ich Ihnen diese Ungewissheit nicht zumuten. Wir haben Spuren neben dem Toten gefunden.«
»Wer war es? Wessen Spuren?«, drängte ich.
»Das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht eindeutig sagen. Dafür muss ich den Leichnam gründlicher untersuchen. Was in seinem Zustand jedoch nicht so einfach ist.«