Dark Surrender - Lust - Maya Banks - E-Book

Dark Surrender - Lust E-Book

Maya Banks

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Beschreibung

WENN DIE VERGANGENHEIT DIE ZUKUNFT BESTIMMT Kylie Breckenridge hat in ihrer Kindheit Schreckliches erlebt. Noch immer kämpft sie mit den Dämonen ihrer Vergangenheit, lebt zurückgezogen und lässt niemanden an sich heran. Doch dann muss sie für einen Auftrag plötzlich eng mit ihrem neuen Chef Jensen Tucker zusammenarbeiten, der Gefühle in ihr weckt, die sie für immer verloren glaubte - Geborgenheit und Lust. Und zum ersten Mal beginnt die Fassade der Unnahbarkeit, die Kylie so sorgfältig um sich herum aufgebaut hat, zu bröckeln ...

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

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Die Autorin

Die Romane von Maya Banks bei LYX

Impressum

MAYA BANKS

Dark Surrender

LUST

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Jana Kowalski

Zu diesem Buch

»Was willst du von mir?«, brachte sie heiser hervor. Er sah ihr entschlossen in die Augen. Streng und unerbittlich. »Dich. Nur dich, Kylie. Und alles, was du zu geben hast.«

Kylie Breckenridge hat in ihrer Kindheit Schreckliches erlebt. Noch immer kämpft sie mit den Dämonen ihrer Vergangenheit, wird von ihnen verfolgt und beherrscht. Der Einzige, dem sie je vertraut hat, war ihr Bruder Carson. Doch seit dessen Tod vor drei Jahren hat Kylie sich vollkommen von der Außenwelt zurückgezogen. Niemals wieder will sie einen anderen Menschen an sich heranlassen, nur um ihn dann erneut zu verlieren. Als ihre Firma einen großen Auftrag an Land zieht, wird Kylies Entschluss allerdings auf eine harte Probe gestellt: Denn plötzlich muss sie eng mit Jensen Tucker zusammenarbeiten, ihrem neuen Chef, von dem sie sich eigentlich mit aller Macht fernhalten wollte. Jensen verunsichert Kylie zutiefst. Wenn der Blick seiner dunklen Augen auf ihr ruht, fühlt es sich an, als könne er durch ihre verschlossene Fassade hindurch direkt in ihre Seele blicken. Aber obwohl sich Kylie dagegen wehrt, weckt seine Nähe schon bald Gefühle in ihr, von denen sie dachte, dass sie ihr für immer gestohlen worden seien – Geborgenheit und Lust. Kylie beginnt, ihren eisernen Panzer Stück für Stück abzulegen. Doch kann sie es nach all dem Schmerz, den sie erfahren musste, wirklich wagen, sich einem Mann hinzugeben?

Für Sandra – die Mutter meines Herzens.

1

»Sie sehen furchtbar aus«, meinte Jensen Tucker, der in der Tür zu Kylie Breckenridges Büro stand, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Kylie bedachte ihn mit einem Blick, bei dem ein Mann mit einem nicht ganz so ausgeprägten Selbstbewusstsein glatt eingeknickt wäre. Doch Jensen ließ ihre eisige Ablehnung ihm gegenüber völlig ungerührt. Er benahm sich so, als würde er gar nicht bemerken, dass er ihr mächtig auf die Nerven ging. Nein, eigentlich nahm sie an, dass er ganz genau wusste, wie sehr er ihr auf den Wecker fiel, es aber vorzog, dies einfach zu ignorieren. Ein richtig sturer, unglaublich überheblicher Mann, der es gewohnt war zu führen. Genau die Sorte Mann, der sie um jeden Preis aus dem Weg ging.

Nur handelte es sich bei ihm um ihren Boss, dem sie leider nicht aus dem Weg gehen konnte. Wieder verzog sie unwirsch das Gesicht. Sie hatte immer für Carson gearbeitet; für Carson und Dash. Und nach dem Tod ihres Bruders hatte sie nur noch Dash als Boss gehabt. Das war ihr sehr recht gewesen.

Jensen sollte wirklich eine eigene persönliche Assistentin einstellen, doch es schien ihn überhaupt nicht zu stören, seine Arbeit bei Kylie abzuladen und sie damit bis an die Grenzen des Erträglichen zu reizen.

»Wow, danke«, erwiderte sie in einem Tonfall, der dem wütenden Funkeln in ihren Augen in nichts nachstand. »Schön zu wissen, dass ich den Anforderungen hier genüge.«

Jensen kam in ihr Büro geschlendert, obwohl er nicht dazu aufgefordert worden war. Andererseits, hätte er auf eine Aufforderung warten müssen, wäre er nie hereingekommen. Kylie hatte ihm sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihn nicht in ihrer Nähe haben wollte. Noch etwas, das er zu ignorieren vorzog.

Er setzte sich in einen der Sessel, die vor ihrem Schreibtisch standen, und in Gedanken nahm sie sich vor, diese Sessel umgehend entfernen zu lassen. Sie waren unnötig. Nur Jensen und Dash empfingen Auftraggeber. Es gab überhaupt keinen Grund, weshalb jemand ihr Büro betreten sollte. Sie tat ihre Arbeit ruhig und effizient, ohne je die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Jensen schien jedoch aus irgendeinem Grund entschlossen zu sein, in ihren persönlichen Bereich einzudringen. Ein Umstand, der sie im Laufe der Wochen, seit er in Dashs Beratungsfirma eingestiegen war, zunehmend genervt hatte.

»Sie schlafen nicht genug«, erklärte er in dem gleichen unverblümten Tonfall, mit dem er ihr mitgeteilt hatte, dass sie furchtbar aussah.

Er musterte sie durchdringend, sein Blick glitt über ihre Gesichtszüge, und sie wusste, was er sah … was sie jeden Morgen im Spiegel sah. Augen, die von der Vergangenheit heimgesucht wurden. Ständig schienen tiefe Schatten unter ihnen zu liegen. Sie wusste, wie sie aussah. Sie brauchte diesen arroganten Mistkerl nicht, damit er es ihr sagte.

»Mir war nicht klar, dass mein Aussehen oder meine Schlafgewohnheiten irgendetwas mit meinen Aufgaben hier zu tun haben.«

Die sarkastische Bemerkung war verschwendet, denn Jensen ließ sie einfach an sich abperlen, wie er es mit allen anderen Dingen auch tat. Nie hatte sie irgendwelche Gefühlsregungen bei ihm bemerkt. Sie hatte ihn noch nie traurig oder ärgerlich gesehen, nie voller Ungestüm oder freudiger Erregung. Es gab nur diesen einen ruhigen Blick, der zu viel sah … der bis in die Tiefen ihrer Seele und in ihre Gedanken vorzudringen schien. Sie hasste das. Sie fühlte sich dann wie ein Insekt, das man durch ein Mikroskop betrachtete. Sie traute ihm sogar zu, dass er wusste, wann sie sich die Hände waschen ging.

Er war ein Mensch, dem nichts entging. Er war ruhig und aufmerksam. Er blieb im Hintergrund und beobachtete die anderen. Für den Beruf, den er gewählt hatte, war das genau richtig. Aber Kylie verunsicherte seine Art. Sollte sein prüfender Blick doch den Projekten vorbehalten sein, mit denen man ihn und Dash als Berater betraute. Die Firmen, die als Kunden an sie herantraten, brauchten seinen unvoreingenommenen und scharfen Blick. Sie dagegen nicht und wollte ihn ganz gewiss auch nicht.

»Sie leisten verdammt gute Arbeit, Kylie. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen je Grund gegeben habe, mein Vertrauen in Ihre Fähigkeiten anzuzweifeln. Sollte das doch der Fall gewesen sein, entschuldige ich mich dafür. Dash und ich wären ohne Sie aufgeschmissen.«

Das unerwartete Lob ließ sie vor Überraschung zusammenzucken, eine unerwünschte Röte stieg in ihre Wangen und wärmte sie. Sie wollte das kurze Aufwallen von Freude angesichts seines versteckten Kompliments nicht wahrhaben.

»Wann haben Sie das letzte Mal geschlafen?«, hakte er noch einmal nach, während er sie weiter durchdringend musterte.

»Letzte Nacht«, erwiderte sie leichthin. »Wie ich es jede Nacht tue.«

»Blödsinn.« Sie riss die Augen weit auf, als sie ihn ärgerlich knurren hörte.

»Es wäre für mich schwer vorstellbar, dass Sie überhaupt ein paar Stunden schlafen. Warum nehmen Sie sich nicht ein paar Tage frei? Fahren irgendwohin. Entspannen sich. Machen Urlaub. Dash hat mir erzählt, dass Sie sich noch nie freigenommen haben … nur als Carson starb.«

Kylie zuckte zusammen. Sie war nicht in der Lage, den schmerzhaften Anflug der Trauer zu dämpfen, der sie mit der Wucht eines Fausthiebs traf.

»Ja, man darf es laut sagen«, erklärte Jensen mit beinahe brutaler Offenheit. »Er ist tot, Kylie. Joss’ Leben geht doch auch weiter. Warum schaffen Sie das nicht?«

Sie schlug mit beiden Händen auf den Tisch, stand auf und starrte ihn an, ohne auch nur eine Sekunde lang klein beizugeben.

»Er war meine Familie«, fauchte sie. »Meine ganze Familie. Er war das Einzige, was mir geblieben war. Er war der einzige Mensch, der mich geliebt hat, der mich beschützt hat, und jetzt ist er fort. Wenn Sie meinen, ich könnte das einfach so vergessen und weiterleben, als würde sein Tod mich nicht berühren, dann können Sie meinetwegen zur Hölle fahren.«

»Na, endlich eine Gefühlsregung, Kylie. Auch wenn Sie nur vor Wut fauchen. Aber zumindest benehmen Sie sich nicht mehr wie eine verdammte Maschine auf Autopilot. Würde es Sie umbringen, wenn Sie sich wie der Rest der Menschheit benähmen? So ist das Leben. Schlimme Dinge passieren, man fegt die Scherben zusammen und macht weiter. Wie alle anderen es auch tun. Sie sind nichts Besonderes. Sie sind nicht die Einzige mit einer beschissenen Vergangenheit, die noch dazu einen geliebten Menschen verloren hat.«

Vor Wut legte sich ein Schleier vor ihre Augen, und sie sah alles nur noch verschwommen. Der Zorn ließ sie erstarren, sodass sie einen Moment lang wie gelähmt war und der Kloß in ihrem Hals, der sie fast erstickte, es ihr unmöglich machte zu antworten.

»Wie können Sie es wagen?«, tobte sie. »Für wen halten Sie sich, dass Sie meinen, sich ein Urteil über mich erlauben zu können? Sie wissen überhaupt nichts über mich. Verschwinden Sie aus meinem Büro, und kommen Sie nie wieder hier rein. Wenn Sie etwas wollen oder brauchen, schicken Sie mir eine E-Mail, rufen mich an oder schreiben eine SMS. Aber kommen Sie nie wieder in mein Büro.«

Er reagierte nicht auf ihren Ausbruch. Erstaunt beobachtete sie, wie sich auf seinen Lippen ein schwaches Lächeln ausbreitete.

»Ich weiß verdammt viel mehr über Sie, als Sie meinen. Aber Sie haben recht. Ich weiß nicht alles. Aber das habe ich vor zu ändern. Von jetzt an. Sie und ich werden die nächsten paar Wochen sehr eng zusammenarbeiten, weil Dash und Joss auf Hochzeitsreise gehen. Wir versuchen gerade, einen Auftrag von Simpson & Gerrick Oil an Land zu ziehen. Eine große Sache. Die sind gerade dabei, sich gesundzuschrumpfen, und wollen nur die guten Mitarbeiter behalten. Die unproduktiven wollen sie loswerden. Aufgaben sollen neu verteilt werden. Es muss entschieden werden, wer geht und wer bleibt. Diese Aufgabe übernehmen Sie und ich.«

Kylie sah ihn mit großen Augen an. »Ich habe überhaupt keine Erfahrung mit so etwas. Ich arbeite im Hintergrund, Jensen. Und das wissen Sie. Ich leite das Büro. Sie und Dash erledigen die Drecksarbeit.«

»Und Sie haben nicht genug Mumm dazu, nicht wahr, Kylie?«

Sie wurde rot. Schwächen einzugestehen stand nicht gerade oben auf der Liste der Dinge, die sie anderen enthüllte.

»Sie führen sich immer wie ein Biest auf und gehen sogar auf die Leute los, die Sie lieben. Ich frage mich, warum? Haben Sie so viel Angst davor, jemanden zu lieben, jemanden nahe an sich herankommen zu lassen, weil Sie ihn wieder verlieren könnten, wie Sie Carson verloren haben? Denn mich halten Sie nicht zum Narren, Kylie. Mich nicht. Hinter diesem Äußeren, das hart wie Stahl wirkt, verbirgt sich eine verletzliche, großherzige Frau … und die will ich aus der Reserve locken. Und das werde ich. Da können Sie Gift drauf nehmen, Schätzchen. Sie und ich werden uns ab jetzt viel häufiger sehen, also gewöhnen Sie sich daran.«

»Raus hier«, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Ich muss mich in meinem Büro mit so etwas nicht abgeben.«

Er zuckte die Achseln. »Es spielt keine Rolle, wo es gesagt wird. Das ändert nichts an dem, was kommen wird. Und das werden Sie und ich sein, Kylie. Ich hole mir, was ich will, und ich scheitere dabei nie.«

Sie stieß ein wenig damenhaftes Schnauben aus. Ihr Blutdruck stieg, und ihr stockte fast der Atem. Seine Worte machten ihr Angst, und doch hatten sie etwas, das ihren Herzschlag um ein paar Takte beschleunigte.

Jensen Tucker verkörperte alles, was sie bei einem Mann nicht wollte. Nicht, dass sie überhaupt einen Mann gewollt hätte. Vor allem keinen dominanten, überheblichen Anführer. Auf keinen Fall würde sie sich jemals wieder auf eine Situation einlassen, in der sie verletzt werden konnte; und egal, welche Frau sich auf Jensen einließ, sie würde auf jeden Fall verletzt werden. Himmel, sie würde bei lebendigem Leib aufgefressen werden. Jensen würde sie verspeisen und binnen zehn Sekunden wieder ausspucken.

»Sparen Sie sich den Atem«, erklärte sie mit eisiger Stimme. »Dazu wird es nicht kommen. Und so wahr ich hier stehe … sollten Sie etwas Derartiges noch einmal andeuten, werde ich Sie so schnell wegen sexueller Belästigung anzeigen, dass Sie nicht wissen, wo Ihnen der Kopf steht.«

Sie war überrascht, als sich auf seinem Gesicht ein Grinsen ausbreitete. Er musterte sie mit trägem Blick, wobei er sie von oben bis unten ansah und ihr das Gefühl gab, sie mit seinen Blicken auszuziehen.

»Sie sollten noch etwas über mich wissen, Schätzchen. Ich liebe Herausforderungen. Wenn man Nein zu mir sagt, ist es, als würde man vor einem wütenden Stier eine rote Fahne schwenken.«

»Ich bin nicht Ihr Schätzchen. Sparen Sie sich das für eine Frau auf, die Wert darauf legt, denn ich tue das bestimmt nicht.«

Sein Grinsen wurde breiter, und sie hätte schwören können, dass es das erste Mal war, dass sie den Mann tatsächlich lächeln sah. Er war immer so ruhig und in sich gekehrt. Er wirkte nie finster, aber er lächelte auch nie. Er trug immer eine unergründliche Miene zur Schau, die sie in den Wahnsinn trieb, weil sie nie wusste, was er dachte.

Erst jetzt hatte sie den Eindruck, dass er über sie nachgedacht hatte. Gründlich in Gedanken ging sie ihre Lieblingsschimpfwörter durch und fügte der Liste zur Sicherheit noch ein paar weitere hinzu.

»Lassen Sie es mich, da Sie ja Herausforderungen lieben, mit ganz einfachen Worten ausdrücken: Ich bin keine Herausforderung, Jensen. Ich werde auch nie eine Herausforderung sein, weil Sie nicht einmal dann eine Chance bei mir hätten, wenn Sie der einzige Mann auf Erden wären. Sie sind völlig von Sinnen. Was zum Teufel findet ein Mann wie Sie an mir? Laut Ihrer eigenen Aussage habe ich Angst vor meinem eigenen Schatten. Ich bin ängstlich, sehe offensichtlich furchtbar aus und habe so viele Probleme, dass man damit ein ganzes Boulevardmagazin füllen könnte.«

Er stand auf und ignorierte ihren Ausbruch, was sie noch wütender machte. Er schien von ihren scharfen Worten völlig unbeeindruckt. Dann beugte er sich über den Tisch, sodass kaum noch ein Zwischenraum blieb. Es überraschte sie, als er mit einem Finger über die dunklen Ränder unter ihren Augen strich.

»Holen Sie sich Hilfe, Kylie«, sagte er mit sanfter Stimme. »Gehen Sie zum Arzt. Besorgen Sie sich etwas, damit Sie schlafen können. Suchen Sie sich einen Seelenklempner, wenn das die Lösung ist. Sie können nicht ewig so weitermachen. Früher oder später fahren Sie damit gegen die Wand. Sie werden zusammenbrechen, und das war’s dann mit Ihnen. Wenn Sie es nicht für sich selber tun, tun Sie es für die Menschen, die Sie lieben und sich Ihretwegen große Sorgen machen.«

Dann drehte er sich um, marschierte aus ihrem Büro und schlug mit einem leisen Knall die Tür hinter sich zu, ehe sie etwas auf seine letzte, besonders unsinnige Bemerkung erwidern konnte.

Sie sackte auf ihrem Bürosessel zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. Ihre Erschöpfung war plötzlich so groß, dass sie noch nicht einmal mehr den Kopf hochhalten konnte.

Er hatte ja recht, und das ärgerte sie noch viel mehr. Sie bewegte sich gerade auf einem sehr schmalen Grat, bei dem ihre Gesundheit auf dem Spiel stand. Sie konnte nicht mehr richtig schlafen. Ständig schreckte sie aus Albträumen hoch. Sie träumte von den Dämonen ihrer Vergangenheit und wie diese sie immer noch beherrschten.

Aber zu einem Seelenklempner gehen? Ihren Arzt um Schlaftabletten bitten? Das käme einem Eingeständnis ihrer Niederlage gleich, und sie war kein Mensch, der aufgab. Auf gar keinen Fall. Sie nicht. Sie hatte die Hölle überlebt und das eben überstanden. Oder nicht?

Oder war sie vielleicht doch noch die Gefangene, die sie als Kind gewesen war? Die schrecklichen Taten ihres Vaters standen ihr noch so deutlich vor Augen, als wäre es gestern passiert. Denn sie konnte nicht vergessen. Sie kam nicht darüber hinweg. Sie konnte einfach nicht mit ihrer Vergangenheit abschließen.

Sie schloss die Augen, als eine neue Woge der Erschöpfung über sie hinwegrollte. Schlaf. Sie brauchte nur eine Nacht ohne die Albträume, die sie regelmäßig heimsuchten. Vielleicht würde sie auf dem Nachhauseweg kurz bei einer Apotheke anhalten und sich ein nicht verschreibungspflichtiges Schlafmittel besorgen. Dann ließ sich der beschämende, von Schwäche zeugende Besuch beim Arzt ebenso vermeiden wie Termine bei so einem verdammten Seelenklempner, bei dem sie auf der Couch liegen und ihre Seele entblößen würde.

Auf gar keinen Fall. Eher würde die Hölle zufrieren, als dass sie zuließ, dass jemand von ihrer Scham und ihren Qualen erfuhr.

Was hatte diese Frau nur an sich, das ihn fast an den Rand des Wahnsinns trieb? Jensen war in Gedanken versunken, während er zu seinem Büro zurückging. Er hatte einen Haufen Papierkram zu erledigen, Verträge, die durchgesehen und unterzeichnet werden mussten, falls keine Änderungen nötig waren. Die nächsten zwei Wochen, während Dash und Joss in den Flitterwochen waren, hatte er das Heft in der Hand.

Dash war glücklich. Widerlich glücklich … nachdem er den gigantischen Bockmist, den er angestellt hatte, wiedergutgemacht hatte. Joss war eine gute Frau. Die beste. Dash hatte wirklich ein Mordsglück, dass ihm sein Herzenswunsch in Erfüllung gegangen war. Er hatte eine wunderschöne, unterwürfige Frau gefunden, die Dash alles gab. Ihr Vertrauen, ihre Liebe und ihre Hingabe.

Mit anderen Worten: das absolute Gegenteil von der Frau, die in letzter Zeit in Jensens Gedanken so viel Raum einnahm.

Kylie Breckenridge entsprach jedem Klischee einer Kratzbürste, und trotzdem bekam er jedes Mal, wenn sie ihn mit einem ihrer vernichtenden Blicke bedachte, eine Erektion. Er wollte sie so sehr, dass er in ihrer Gegenwart kaum mehr atmen konnte. Und das machte ihn sauer.

Eine Frau wie sie war ganz und gar tabu für ihn. Sie war das absolute Gegenteil von den Frauen, denen er es gern besorgte. Und er nannte es besorgen, denn mehr war es nicht. Sein Herz war nie beteiligt. Sein Bedürfnis, in jeder Situation die Kontrolle zu behalten, schloss jeden warmen, benommenen Gedanken aus.

Nicht, dass er sich bei den Frauen, bei denen er seine Dominanz auslebte, wie ein Mistkerl aufgeführt hätte. Er achtete darauf, sie zu umsorgen, materiell abzusichern und sexuell zu befriedigen.

Aber Kylie?

Verdammt. Ein dominanter Mann, der es gewohnt war, die Führung zu übernehmen, war das Letzte, was sie wollte. Wenn sie überhaupt einen Mann wollte … woraus er ihr keinen Vorwurf machte. Dash hatte ihm von Kylies Kindheit erzählt. Er hatte vor Wut gezittert, als er hörte, dass sie von dem einzigen Menschen in ihrem Leben, dem sie absolut hätte vertrauen sollen, der ihr Schutz und Geborgenheit hätte geben müssen, missbraucht und gebrochen worden war … ihrem Vater.

Doch wenn er sie anschaute, konnte er hinter ihre aggressive Fassade sehen, und was er da erblickte, berührte ihn so sehr, dass es fast schmerzte. Es weckte in ihm den Wunsch, sie zu halten, ihr seine Wertschätzung zu geben und ihr zu zeigen, wie es mit einem Mann sein konnte, der nur ihr Bestes wollte … wie es mit einem Mann sein konnte, der sie gernhatte.

Verdammt, hatte er sie denn gern? Das war die alles entscheidende Frage. Sie lag ihm zwar am Herzen, doch in welchem Ausmaß? Stellte sie, wie er gesagt hatte, nur eine Herausforderung dar? Etwas, das er erobern wollte, ehe er sich die nächste Frau nahm? Er war ein Mann, den Herausforderungen zur Höchstform auflaufen ließen. Dadurch war er schon in jungen Jahren so erfolgreich gewesen. Wie ernst war es ihm also mit Kylie Breckenridge? Diese Frage musste er beantworten, denn sie war keine Frau, mit der man leichtfertig umging. Sie hatte genug Schmerzen erlitten, um zwei Leben damit zu füllen, und er wollte auf keinen Fall ein weiterer Mann sein, der sie vernichtete.

Er war nicht der Mann. Der, der sie wieder in Ordnung brachte. Da machte er sich nichts vor. Das konnte sie nur allein schaffen. Aber sie musste erst einmal den Wunsch haben, wieder in Ordnung zu kommen, und bis jetzt hatte sie keine Anstalten dazu gemacht. Das verstärkte sein Verlangen einzuschreiten, die Verantwortung zu übernehmen und sie in die richtige Richtung zu drängen.

Das Verlangen, über sie zu bestimmen, war übermächtig. Der Wunsch so stark, dass er sein ganzes Denken beherrschte und ihn mit freudiger Erregung erfüllte, obwohl er wusste, dass Kylie keine Frau war, die sich dominieren ließ. Sie war keine Frau, die sich unterwarf. Nie und nimmer. Nicht körperlich. Aber Dominanz war viel mehr als das körperliche Drumherum, das mit einer Beziehung dieser Art häufig einherging. Emotionale Hingabe war viel mehr, und vielleicht war es das, wonach er sich sehnte, wenn er in ihre umwölkten Augen sah.

Sie brauchte einen Mann, der sie wertschätzte, sie vor allen Schmerzen schützte und ihr Geborgenheit gab. Einen Ort, an den sie sich flüchten konnte. Sie brauchte einen Mann, dem sie sich zuwenden und in dessen Fähigkeit, sie vor jeder Bedrohung zu beschützen, sie unbeirrbares Vertrauen haben konnte. Auch vor Bedrohungen, die nicht körperlicher, sondern emotionaler Natur waren und viel schlimmeres Leid zufügten, als physischer Schmerz es je vermochte.

Sie war unendlich zerbrechlich. So verletzlich. Er beobachtete sie. Er beobachtete sie verdammt häufig, und wenn sie nicht merkte, dass andere sie beobachteten, verlor sie die eisige Fassade, und er erhaschte einen Blick auf das verängstigte junge Mädchen hinter dem forschen Äußeren.

Sie war kompliziert, vielschichtig, ein Rätsel, das er unbedingt entschlüsseln wollte. Aber wie?

Seine übliche Vorgehensweise würde bei ihr bestimmt nicht funktionieren. Er konnte sich ihr nicht einfach nähern, die Kontrolle übernehmen, ihr seine Regeln vorschreiben und ihr erklären, wie es ab jetzt laufen würde. Genau das hatte er gerade eben versucht, und es hatte sich ungefähr so angefühlt wie gegen eine Betonwand zu laufen.

Sie würde ihm mit einem rostigen Messer die Eier abschneiden, wenn er sie noch einmal in dieser Weise bedrängte, tja, und das konnte er ihr ja wohl auch kaum zum Vorwurf machen. Sie hatte keinen Grund, ihm in irgendeiner Form zu trauen, aber er wollte verdammt sein, wenn er nicht hinter die sorgfältig von ihr errichteten Schutzmauern gelangen wollte. Nur bei Menschen, die ihr sehr nahestanden, ließ ihre Wachsamkeit nach, und in solchen Momenten erhaschte er einen Blick auf die wahre Kylie.

Sanft. Weich. Absolut loyal und sehr fürsorglich gegenüber denen, die sie liebte.

Er wollte ihr zeigen, dass nicht alle Männer Schweine waren. Er wollte ihr zeigen, dass Dominanz nicht mit Schmerz und Demütigung gleichzusetzen war. Dass Dominanz viel mehr war. Emotionale Hingabe war das höchste Gut, aber sie machte Menschen auch umso verletzlicher. Und das würde ihr genauso viel Angst machen wie die körperlichen Aspekte von Dominanz und Unterwerfung.

Sie war eine Frau, bei der er sehr behutsam vorgehen musste. Seine übliche Vorgehensweise konnte er bei ihr vergessen. Er musste sich etwas Neues einfallen lassen. Sie war, wie er gesagt hatte, eine Herausforderung. Eine, die er unbedingt bewältigen wollte. Wie er das bewerkstelligen sollte, war ihm allerdings nicht klar. Noch nicht. Er war keiner, der leicht aufgab. Es war sein Ernst gewesen, als er ihr erklärt hatte, dass er sich holte, was er wollte, und dabei nie scheiterte.

Doch es gab für alles ein erstes Mal, sagte irgendein Sprichwort. Aber es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn er das erste Mal in seinem Leben ausgerechnet an Kylie Breckenridge scheiterte.

2

»Kylie, können Sie bitte in mein Büro kommen?«, fragte Jensen über die Gegensprechanlage.

Er wusste, dass sie sich über die Aufforderung ärgern würde, aber sie war diejenige gewesen, die klargemacht hatte, dass er sich von ihrem Büro – ihrem Reich – fernhalten sollte. Also ließ er sie zu sich kommen. Diese Bitte eines Vorgesetzten an seine Assistentin konnte man kaum als unzumutbar bezeichnen.

»Sofort, Sir«, erwiderte sie in dem spröden Tonfall, bei dem er stets lächeln musste.

Sie war so entschlossen, ihre Beziehung, wenn man denn überhaupt von einer Beziehung reden konnte, unpersönlich zu halten und nur als Arbeitsverhältnis zwischen Boss und Angestellter zu betrachten.

Er wusste, wie unangenehm ihr Dashs längere Abwesenheit war, denn er bildete normalerweise einen Puffer zwischen Jensen und Kylie. Die meisten Bitten an sie kamen von Dash – auch wenn es um Aufgaben ging, die für Jensen zu erledigen waren –, weil Dash sie beschützen wollte.

Aber genug war genug. Wenn sie auf Dauer zusammenarbeiten wollten – und er war fest entschlossen dazu –, würde Kylie lernen müssen, mit ihm zurechtzukommen. Und er hatte vor, sie zu motivieren. Sie war äußerst intelligent. Sie hatte einen Abschluss in Betriebswirtschaftslehre, und seiner Meinung nach war sie damit für ihre gegenwärtige Position überqualifiziert. Aber sie fühlte sich wohl darin, und er wusste, dass es ihr so gefiel.

Ihr gefiel indes nicht, was sie aus dem Bereich herausholte, in dem sie sich sicher und behaglich fühlte. Sie mochte Routine – ein Wesenszug, der für sie beide galt, obwohl es sie ärgern würde, dass sie beide überhaupt irgendeine Gemeinsamkeit hatten.

In Wahrheit hatten sie noch viel mehr Gemeinsamkeiten, als Kylie wusste oder zugeben würde. Sie waren beide sehr diszipliniert und liebten es, alles zu kontrollieren. Er war bereit, sich auf einen geistigen Wettstreit mit ihr einzulassen … einen Wettstreit, den er gewinnen wollte. Er hoffte nur, dass er sie nicht zu sehr bedrängte, sodass sie ihren Job schließlich hinschmiss.

Kurz darauf erschien Kylie in seiner Tür. Sie wirkte verschlossen und ungerührt, als sie ihn mit kühlem Blick ansah.

»Sie haben mich gerufen, Sir?«

»Sie können das Sir weglassen«, meinte er trocken. »Zu Dash sagen Sie doch auch nicht Sir. Mein Name reicht. Nennen Sie mich Jensen, oder benutzen Sie gar keinen Namen.«

Sie presste die Lippen aufeinander, und er seufzte.

»Artet denn mit Ihnen alles zu einem Streit aus, Kylie? Das war doch nun eine ganz einfache Bitte. Los, sagen Sie meinen Namen«, forderte er sie auf. »Es wird Sie nicht umbringen.«

»Sie haben mich gerufen … Jensen?«

Ihre Stimme klang gepresst, als sie seinen Namen aussprach, als müsste sie sich dazu zwingen. Immerhin war es ein Anfang.

Er bedeutete ihr, sich in den Sessel vor seinem Schreibtisch zu setzen. Zögernd trat sie vor und hockte sich auf die Kante, wobei sie die Hände geziert in den Schoß legte. Sie wirkte wie ein verängstigtes Tier, das beim ersten Anzeichen von Gefahr davonspringen würde. Er bezweifelte, dass ihr klar war, wie deutlich sie ihre Angst zeigte. Ihre Augen waren weit aufgerissen, die Nasenflügel bebten, und er konnte das Klopfen des Pulses an ihrem Hals sehen.

»Ich werde mich nicht über den Tisch hinweg auf Sie stürzen«, versprach er leise.

Sie runzelte ärgerlich die Stirn. »Sollten Sie das versuchen, würde ich Ihnen einen Tritt verpassen.«

Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. Erstaunt riss sie die Augen auf. Sie wirkte … schockiert.

Er wurde schnell wieder ernst und sah sie neugierig an. »Was hatte der Blick denn zu bedeuten?«

Sofort senkte sie den Kopf und schwieg.

»Kylie?«, hakte er nach.

Seufzend hob sie den Kopf, sah ihn aufmüpfig an und reckte das Kinn.

»Es ist einfach so, dass ich Sie noch nie habe lachen sehen. Oder richtig lächeln. Vorhin in meinem Büro habe ich das erste Mal erlebt, dass Sie leicht interessiert wirkten. Sie zeigen eigentlich nicht viele Emotionen. Man weiß nie, was Sie gerade denken.«

Er zog eine Augenbraue hoch. Also hatte sie ihn auch eingehend gemustert. Sie wusste genug über ihn, um ihn erkennen zu lassen, dass sie viel Zeit damit verbracht hatte, ihn und seine Reaktionen zu beobachten.

Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, und er merkte, dass er sie damit erneut überraschte.

»Mir ist schon mehr als einmal vorgeworfen worden, ein gefühlloser, verkrampfter Mistkerl zu sein«, erklärte er amüsiert. »Vielleicht bringen Sie eine andere Seite von mir ans Licht, die sonst keiner sieht.«

Diese Andeutung schien sie zu verdrießen.

»Was wollten Sie von mir?«, hakte sie nach. Sie war offensichtlich bestrebt, das Gespräch sehr kurz zu halten.

Sein Plan sah nicht vor, dass sie wieder in die Sicherheit ihres Büros zurücksauste und den Rest der Welt ausschloss. Er wusste, dass sie sich jeden Tag auf direktem Wege nach Hause begab. Sie hatte kein Privatleben, es sei denn, man ließ die Verabredungen zum Lunch mit Chessy und Joss, ihren beiden besten Freundinnen, gelten. Tatsächlich waren diese beiden Freundinnen die einzigen Menschen, zu denen Kylie Kontakt hatte.

Sie musste ein einsames Leben führen, und er hasste die Vorstellung, dass es so war. Er hasste es, dass die Vergangenheit ihre Zukunft bestimmt hatte – und immer noch bestimmte – und dass sie nicht in der Lage zu sein schien, das, was sie in der Kindheit geprägt hatte, abzustreifen.

Er klopfte auf den Stapel Papiere, der vor ihm lag.

»Ich möchte, dass Sie sich diese Mitarbeiterprofile ansehen. Wie ich schon in Ihrem Büro gesagt hatte, will S&G Oil eine Raffinerie verkleinern. Sie müssen hundert Millionen an Ausgaben einsparen und suchen deshalb nach Möglichkeiten, Aufgaben zusammenzulegen. Sie wollen mindestens dreißig Stellen einsparen und unnötige Ausgaben kürzen, und das sollen wir für sie erledigen.«

Seine Bitte verblüffte sie offensichtlich.

»Aber, Jensen, ich verstehe nichts von diesen Dingen. Ich erledige nur Verwaltungsaufgaben.«

Er lächelte wieder und beobachtete, wie sie auf seine Miene reagierte. Sie war ihm gegenüber nicht gleichgültig, und das ärgerte sie wahrscheinlich umso mehr.

»Ich möchte, dass Sie es lernen«, erklärte er sanft. »Als Carson noch lebte, hielten er und Dash nach einem dritten Partner Ausschau. Genug zu tun gab es allemal. Nach Carsons Tod musste Dash viel zu viel allein bewältigen und sich wahnsinnig anstrengen, um den Laden am Laufen zu halten, bis er mich dazuholte. Aber es besteht immer noch Bedarf für einen dritten Partner, und Sie bringen die nötigen Voraussetzungen mit. Ihnen fehlt es nur an Erfahrung.«

Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Er bildete sich nicht wenig darauf ein, dass ihm dieses Wunder gelungen war. Der Frau fehlten sonst nie die Worte.

»Sie wollen, dass ich Partnerin werde?«, stieß sie mit etwas schriller Stimme hervor.

»Ich kann es nicht versprechen«, erwiderte er ruhig. »Betrachten Sie es als Ihre Feuerprobe. Es wird nicht heute oder morgen und wohl auch nicht innerhalb der nächsten paar Monate passieren, aber es gibt keinen Grund, nach einem anderen Partner zu suchen, wenn wir jemand Fähiges haben, der bereits für uns arbeitet. Sie wissen über alle Vorgänge in diesem Büro Bescheid, Kylie. Jede einzelne Information geht über Ihren Tisch. Sie kennen unsere Kunden. Sie planen unsere Meetings, kennen alle Besonderheiten des Geschäfts. Es gibt keinen Grund, warum Sie nicht befördert werden sollten.«

Sie sah auf den Stapel Papiere, den er ihr über den Schreibtisch geschoben hatte. Es handelte sich um Informationen, die sie für ihn und Dash gesammelt und geordnet hatte. Natürlich war sie mit dem Vorgang vertraut.

Er hätte schwören können, dass ihre Augen vor Aufregung funkelten, doch der Eindruck war vorbei, ehe er ihn richtig wahrgenommen hatte.

»Was möchten Sie von mir?«, fragte sie mit heiserer Stimme.

»In drei Tagen ist ein Treffen mit dem Finanzchef von S&G anberaumt. Ich möchte, dass Sie mich zu diesem Treffen begleiten. Sie haben drei Tage, um sich mit dem Unternehmen vertraut zu machen … den Stellen, Gehältern und Aufgaben der Angestellten, die auf der Liste stehen. Wie hoch die fixen Kosten für sie sind und was an zusätzlichen Ausgaben dazukommt. Ich möchte, dass Sie einen eigenen Plan aufstellen und ihn mir in zwei Tagen vorlegen. Ich will Ideen von Ihnen hören, die wir diskutieren, ehe Sie und ich uns mit der Finanzbuchhaltung zusammensetzen.«

Sie starrte ihn fassungslos an. »Sie betrauen mich mit so einem riesigen Auftrag?«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich Ihre Ideen einfach absegnen werde«, erwiderte er ruhig. »Nur, dass ich sie hören will. Wir werden uns alles ganz genau ansehen und schauen, wo wir uns einig … und wo uneins sind. Dann werden wir gemeinsam einen Plan aufstellen, der Ihre und meine Ideen enthält, ehe wir zu diesem Treffen gehen.«

»Damit habe ich nicht gerechnet«, sagte sie leise.

Aber er konnte das Funkeln in ihren Augen sehen. Sie liebte Herausforderungen genauso sehr wie er. Er hatte sich nicht geirrt. Der Posten als Büroangestellte war an sie verschwendet. Das war eine viel zu bequeme Stellung. Die anfallenden Arbeiten konnte sie im Schlaf erledigen. Sie brauchte diese Herausforderung. Etwas, das ihr Blut in Wallung brachte und sie daran erinnerte, dass sie lebte.

»Ich glaube an Sie, Kylie. Können Sie dasselbe über sich sagen?«

Dieses Mal flammte ein Feuer in ihrem Blick auf, und er konnte sich ein triumphierendes Grinsen kaum verkneifen. Oh ja, sie liebte Herausforderungen, und vielleicht war noch nie so eine Herausforderung an sie herangetragen worden. Dash hatte sie viel zu sehr geschont. Nicht, dass er von Dash erwartet hätte, sie wie ein Leuteschinder zu behandeln, doch nach Carsons Tod hatte er Kylie förmlich in Watte gepackt, und Dash hatte durchblicken lassen, dass das von Carson zu Lebzeiten auch nicht anders gehandhabt worden war. Keiner der beiden Männer wollte irgendetwas tun, das die zerbrechliche Frau hätte verletzen können.

Aber diese Zerbrechlichkeit barg die intelligente, temperamentvolle Frau unter der Oberfläche, die Jensen an den Tag bringen wollte. Dash würde ihm bestimmt Vorhaltungen machen, wenn er wüsste, was Jensen gerade tat, aber die nächsten zwei Wochen war Jensen am Ruder, und Dash würde nichts von dem mitbekommen, was das Unternehmen betraf … schließlich war er in den Flitterwochen. Und Jensen beabsichtigte, das Beste aus diesen zwei Wochen herauszuholen.

»Ich kann es schaffen«, sagte sie, und man hörte ihr die Entschlossenheit an. »Wann wollen Sie meine Vorschläge mit mir besprechen?«

»Am Mittwoch, bei einem Abendessen im Capitol Grill. Ich weiß, dass Sie und Ihre Freundinnen das Lux Café mögen, aber ich möchte etwas Ruhigeres, wo man mehr unter sich ist, wenn wir etwas so Vertrauliches zu bereden haben. Ich kann uns einen Tisch in einer ruhigen Ecke besorgen, wo man nichts von unserem Gespräch mitbekommt.«

Kylie runzelte die Stirn, und er konnte förmlich sehen, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf drehten.

»Wo wären wir ungestörter als hier im Büro?«, fragte sie. »Ein Abendessen ist doch gewiss nicht notwendig.«

»Nein«, stimmte er ihr zu. »Aber ich möchte es gern.«

Darauf hatte sie nichts zu erwidern, aber er konnte sehen, dass ihr die Vorstellung, mit ihm essen zu gehen, nicht gefiel.

»Ich werde den Tisch für sieben Uhr reservieren«, fuhr er fort, als würde er ihr Unbehagen überhaupt nicht bemerken. »Ich werde mir Ihre Vorschläge vorher durchlesen, um sie dann mit Ihnen beim Essen zu besprechen. Die endgültige Analyse erstelle ich dann vor unserem Treffen mit dem Finanzchef. Donnerstag früh hole ich Sie ab, um mit Ihnen zusammen zur Finanzbuchhaltung von S&G zu fahren.«

Er konnte erkennen, dass sie innerlich einen heftigen Kampf ausfocht. Sie wollte nicht mit ihm zu Abend essen, ihn nicht einmal außerhalb der Arbeit treffen. Die gemeinsame Fahrt zu ihrem Meeting gefiel ihr auch nicht, aber die Chance, die er ihr bot, wollte sie sich ebenfalls nicht entgehen lassen.

Unschlüssig und verwirrt biss sie sich auf die Unterlippe. Er hatte niemals so heftig wie jetzt den Wunsch verspürt, die Hand auszustrecken, mit dem Daumen ihre Unterlippe zu befreien und den Schmerz wegzuküssen, den sie ihrem zarten Fleisch zugefügt hatte. Seine körperliche Reaktion auf diese Vorstellung folgte prompt, und er war froh, dass er hinter seinem Tisch saß, sodass sie es nicht sehen konnte. Ansonsten hätte sie wohl sofort Reißaus genommen, um danach auch gleich ihre Kündigung einzureichen.

Er seufzte und befahl seinen unteren Körperregionen, sich zu benehmen. Das brachte natürlich gar nichts, denn diese Frau hatte es ihm einfach angetan, und er konnte nicht einmal sagen, warum. Sie war eine Herausforderung. Das musste es sein. Und er konnte einer Herausforderung einfach nicht widerstehen. Noch während er die unerklärliche Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte, zu rationalisieren versuchte, wusste er, dass er sich etwas vormachte.

Sie weckte seinen Beschützerinstinkt. Sie weckte den Wunsch, sie zu hegen, ihr Wertschätzung entgegenzubringen und sie vor allen körperlichen und seelischen Schmerzen zu beschützen.

Verdammt noch mal … er wollte ihr zeigen, dass nicht alle Männer Schweine waren. Dass nicht für alle dominanten Männer die physischen Aspekte der Dominanz im Vordergrund standen. Es war die emotionale Hingabe, auf die es ihm bei Kylie ankam. Er würde keine Zeichen auf ihrem Körper hinterlassen, nie ihre Bewegungsfreiheit einschränken, indem er sie fesselte. Nie ihr zartes Fleisch peitschen. Er würde niemals etwas tun, das ihr Angst einflößte oder ihr das Gefühl von Verletzlichkeit und Ohnmacht gab, das sie in der Vergangenheit durch ein Ungeheuer hatte erfahren müssen. Er würde niemals etwas tun, das sie an den Missbrauch erinnerte. Er würde eher sterben, als dies zuzulassen. Auch er hatte mit Dämonen aus seiner Vergangenheit zu kämpfen, und es hätte ihm beinahe körperliches Unwohlsein bereitet, einer Frau etwas anzutun, das als Missbrauch ausgelegt werden konnte.

Er wollte sie … weiter nichts.

»Na gut«, meinte sie schließlich mit belegter Stimme, bei deren Klang er nur noch steifer wurde, denn es schwang Kapitulation darin mit. Keine wirkliche Unterwerfung, aber viel fehlte nicht, und das beflügelte ihn, ließ das Blut schneller durch seine Adern fließen, weil er zumindest fürs Erste gewonnen hatte.

»Wir treffen uns dann um sieben im Restaurant«, sagte sie.

Sie begegnete seinem Blick, als wollte sie ihn herausfordern, wegen dieser Ansage mit ihr zu streiten. Doch er lächelte sie nur an. Er gewährte ihr diesen kleinen Sieg, weil er den größeren bereits für sich verbuchen konnte. Ein Abendessen. Mit ihr. Zu zweit. Klar würden sie über Geschäftliches sprechen, aber er hatte auch vor, dieser faszinierenden Frau auf den Zahn zu fühlen, herauszufinden, wie sie tickte. Und am nächsten Tag würde er sie abholen und zu diesem Meeting fahren, was bedeutete, dass sie den ganzen Tag von ihm abhängig sein würde.

Ihm gefiel die Vorstellung. Sie gefiel ihm viel zu sehr … diese Abhängigkeit von ihm. Er würde sie auf keinen Fall enttäuschen, sodass sie es bedauerte, ihm widerwillig vertraut zu haben. Ach, ihm war schon klar, dass sie ihm noch nicht richtig vertraute. Das würde das größte Hindernis sein, das er zu bewältigen hatte … in ganz kleinen Schritten, indem er einen kleinen Sieg nach dem anderen errang.

»In Ordnung, um sieben«, stimmte er ihr zu.

Sie war überrascht. Es war ihr deutlich anzusehen. Sie hatte sich bereits gewappnet, darüber mit ihm streiten zu müssen, die Schultern zurückgenommen und eigensinnig das Kinn gereckt. Sogar das erregte ihn und überwältigte ihn fast.

Er mochte unterwürfige Frauen, aber Unterwürfigkeit bedeutete keinesfalls Selbstaufgabe. Ihm gefielen unabhängige Frauen, die in der Lage waren, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Unterwürfige Frauen – zumindest die, mit denen er zusammen war – hatten sich dafür entschieden, sich zu unterwerfen. Sie hatten sich entschieden, sich ihm ganz und gar hinzugeben. Und das war eine überwältigende Erfahrung.

Er wollte eine starke Frau. Eine, die ihn und was er zu bieten hatte, nicht brauchte, sondern wollte. Das war der entscheidende Unterschied. Er wollte eine Frau, die für sich selber einstehen konnte und ihren Platz verteidigte. Eine, die ihm auf halbem Wege entgegenkam.

Und was bekam sie im Gegenzug dafür? Er würde ihr die Welt zu Füßen legen. Sie würde nie um etwas bitten müssen, wenn er es ihr geben konnte. Er würde sie verwöhnen, anbeten, ehren und schätzen.

Er sehnte sich danach, das für Kylie zu tun. Er sehnte sich seit dem ersten Mal danach, als er sie bei Dash kennengelernt hatte. Er hatte die tiefen Schatten unter ihren Augen gesehen und die innere Qual, die sie vor allen anderen verbarg. Und er hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als den Schmerz zu lindern, unter dem sie gelitten hatte und immer noch litt.

Aber dafür würde von seiner Seite unendlich viel Geduld vonnöten sein. Geduld hatte nie zu seinen Stärken gehört, aber bei der Richtigen würde er die Geduld Hiobs aufbringen.

Sie nahm die Papiere an sich und ging den Inhalt durch. Er konnte sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete und sie alles in sich aufnahm. Ihm war klar, dass sie eine äußerst intelligente Frau mit einem unternehmerischen Verstand war. Sie wusste genau wie er, dass sie mit ihren gegenwärtigen Aufgaben unterfordert war. Auch wenn sich die Dinge nicht so entwickeln sollten, wie es seine Absicht war, würde sie eines Tages eine Bereicherung für die Firma darstellen und als Partnerin infrage kommen. Falls er sie nicht vorher in die Flucht schlug.

»Wenn das alles war«, meinte sie gedankenverloren und immer noch in die Papiere vertieft, »werde ich jetzt wieder in mein Büro gehen und anfangen, das alles durchzusehen. Ich werde Ihnen meine Ideen dann bei unserem Abendessen am Mittwoch erläutern.«

Er lächelte wieder und musterte dabei ihre bezaubernden Gesichtszüge. Einen kurzen Moment lang waren die Schatten, die immer da zu sein schienen, gewichen und durch Feuereifer ersetzt worden. Er konnte ihre freudige Erregung, die Spannung, die sie erfasst hatte, spüren. Sie wollte sich beweisen. Seine Herausforderung ließ sie aufblühen, und er konnte es kaum erwarten, das Ergebnis zu sehen.

Er wusste, dass sie ihn nicht enttäuschen würde … dass sie viel intelligenter war, als Carson oder Dash ihr je zugetraut hatten. Keiner von beiden hatte sie damit herabsetzen wollen, noch hatten sie an ihren Fähigkeiten gezweifelt. Sie waren nur emotional zu beteiligt und allzu bedacht darauf gewesen, sie zu beschützen. Das verstand er und stimmte ihnen bis zu einem gewissen Punkt zu.

Aber sie hatten ihr keinen Gefallen damit getan, sie so rigoros abzuschirmen. Sie brauchte Herausforderungen. Sie brauchte ein Ventil für ihren analytischen Verstand und ihre Intelligenz. Die Aufgaben, die sie jetzt hatte, konnten auch von einer Aushilfskraft erledigt werden … Telefonanrufe entgegennehmen, Termine machen, unterschriftsreife Verträge erstellen und dem Büro vorstehen.

Er bot ihr viel mehr als das an.

Gleichberechtigung.

Wann hatte sie sich jemals jemand anders ebenbürtig gefühlt? Sie war immer das Opfer gewesen. Aus gutem Grund. Es war an der Zeit, aus dieser Rolle auszubrechen … die Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich der Gegenwart zu stellen.

Wenn er etwas dazu beitragen konnte, würde er über alle Maßen stolz auf sie sein … ob sie nun eine Beziehung miteinander eingingen oder nicht.

3

Sie konnte es nicht fassen, dass sie diesen Wahnsinn mitmachte. Kylie kam vor dem Capitol Grill zum Stehen, und der Türsteher öffnete ihre Wagentür, um ihr herauszuhelfen. Nachdem sie ihren Parkschein entgegengenommen hatte, begab sie sich ins abgedunkelte Innere des Restaurants.

Eine Lokalität, die einen förmlich spüren ließ, dass sie reichen, alten Knackern vorbehalten oder zumindest auf diese spezielle Zielgruppe ausgerichtet war. Die Einrichtung war sehr maskulin, Porträts von reichen alten Knackern zierten auch die Wände. Verlegen sah sie an sich hinab und fragte sich, ob sie auch passend angezogen war. Die anderen Frauen im Wartebereich trugen Cocktailkleider, hatten teuren Schmuck angelegt und die Haare elegant hochgesteckt.

Kylie trug ihr Haar offen. Manchmal band sie es auch zu einem Pferdeschwanz zusammen, aber nicht einmal sie war so unbedarft, in einem solchen Restaurant mit einem Pferdeschwanz aufzutauchen. Das Kleid, das sie trug, war schlicht und schwarz ohne Schnickschnack. Es reichte bis zu den Knien, die es locker umspielte, sodass sie damit richtig gehen konnte, im Gegensatz zu manchen hautengen Kleidern, in denen man nur Trippelschrittchen machen oder sich auf die Nase legen konnte.

Ihre Schuhe waren flach, glitzerten aber etwas. Glitzernde Schuhe waren eine Schwäche von ihr. Welche mit Absatz? Nein. Sie würde sich nur in Verlegenheit bringen, sollte sie mit hohen Absätzen zu laufen versuchen. Aber Sandalen mit Strass oder Flipflops? Davon hatte sie einen ganzen Schrank voll. Jeden Tag trug sie bei der Arbeit ein anderes Paar. Ihre andere Schwäche, die sie Joss zu verdanken hatte, waren angemalte Zehennägel. Jede Woche wählte sie eine andere Farbe, aber ihre Lieblingsfarbe war Knallrosa. Grellrosa Zehen hatten etwas Neckisches, und das war das Gewagteste, das sie sich zugestand.

Der Rest ihrer Garderobe war ein Musterbeispiel für eine Frau, die keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Insbesondere keine männliche Aufmerksamkeit.

Jensen schien aus dem Nichts aufzutauchen, als er sich aus dem Schatten löste und plötzlich vor ihr stand. Sie schluckte, denn sie hatte plötzlich einen ganz trockenen Mund, weil er bei der Arbeit einen lässigen Business-Stil pflegte, was in der Regel Hemd – ohne Krawatte – und eine schlichte Hose bedeutete. Doch heute Abend trug er einen schwarzen Anzug, der von Reichtum und Privilegien sprach. Außerdem betonte seine dunkle Kleidung etwas, das sie bereits wusste … er war kein Mann, mit dem man leichtfertig umging. Er war jemand, der sie mühelos wie einen Käfer zerquetschen konnte.

Doch als er lächelte, veränderten sich die strengen Züge und die fast brutale Schönheit seines Gesichts, sodass er auf einmal deutlich zugänglicher wirkte. Wie jemand, der sie nicht bei lebendigem Leib verspeisen würde. Vielleicht nicht.

Es war dumm von ihr, so etwas überhaupt zu denken, ihre Vorsicht fahren zu lassen, nur weil er ihr eines seiner seltenen Lächeln schenkte. Sie musste sich immer in Erinnerung rufen, dass er ein geborener Jäger war. Stark. Unerbittlich. Und so leicht in der Lage, sie zu verletzen.

»Schön, dass Sie da sind«, sagte er in entspanntem Tonfall, während er ihren Ellbogen locker umfasste und sie tiefer in das dunkle Innere des Restaurants führte.

Sie gingen an größeren Tischen vorbei, an denen Geschäftsleute saßen und andere förmlich gekleidete Gäste. Paare, die romantisch zu Abend aßen, und Kellner, die im Hintergrund mit teurem Wein darauf warteten, die Gläser nachzufüllen. Das war Carsons Welt – eine Welt, die er für sich selber erschaffen hatte. Aber es war nie auch ihre Welt gewesen, selbst wenn Carson entschlossen gewesen war, sie mit ihr zu teilen.

Er hatte sich aus den Verhältnissen, aus denen er kam, lösen und die Lebensumstände ihrer Kindheit hinter sich lassen wollen. Und Kylie? Sie schien sich in einer Warteschleife zu befinden, die sogar sie erkannte, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte.

Sie hatte nie den endgültigen Schritt in die Gegenwart getan oder auch nur versucht, sich ihr bereitwillig zu stellen. Sie war immer noch in dem Albtraum ihrer Vergangenheit gefangen, wie gelähmt und nicht in der Lage, darüber hinwegzukommen.

Dass Jensen es ihr in ihrem Büro vor zwei Tagen auf den Kopf zugesagt hatte, machte es für sie nicht leichter, seinen prüfenden Blick zu ertragen. Er sah einfach zu viel, und sie fühlte sich unwohl dabei.

Jensen half ihr galant beim Platznehmen, indem er, nachdem sie sich gesetzt hatte, ihren Stuhl nach vorn schob, dann ging er um den Tisch herum und setzte sich ihr gegenüber hin. Zumindest hatte er es ihr erspart, sich ihr schräg gegenüber hinzusetzen. Aber jetzt war sie genötigt, ihn direkt anzusehen und seinem durchdringenden Blick zu begegnen.

Sie schaute sich schnell um und stellte voller Unbehagen fest, wie vertraut sie miteinander wirken mussten. Eine gemütliche Ecke in einem schwach beleuchteten Restaurant, in dem die Tische, die in ihrer Nähe standen, nicht besetzt waren. Es war ein Ort, an dem sie, wie er versprochen hatte, nicht belauscht werden würden. Hatte er auch dafür gesorgt, dass die Tische um sie herum frei blieben oder war das einfach nur ein glücklicher Zufall?

Nein … er war kein Mann, der auf sein Glück vertraute und etwas dem Zufall überließ. Er hatte alles arrangiert, wie alle anderen Dinge in seinem Leben auch … wie es ihm gefiel und nach seinen Vorstellungen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken angesichts der unverhüllten, schieren Macht, die er ausstrahlte. Dies – und er – jagten ihr höllische Angst ein.

Ja, dies sollte ein Geschäftsessen sein, und indem sie sich das immer wieder gesagt hatte, war sie in der Lage gewesen sich darauf einzulassen. Aber als sie ihm jetzt in einer eindeutig romantischen Umgebung gegenübersaß, wurde ihr klar, dass diese Besprechung sehr wohl in den Geschäftsräumen der Firma hätte abgehalten werden können.

Sie hasste es, dass er sie so nervös machte. Hasste es, sich diese Schwäche eingestehen zu müssen. Sie war ihr ganzes Leben lang schwach gewesen, obwohl sie es immer unter ihrer Kratzbürstigkeit und gelegentlichem zickigen Verhalten versteckt hatte. Sie war nicht stolz darauf, aber das war besser, als sich einem anderen gegenüber verletzlich zu zeigen.

»Entspannen Sie sich, Kylie«, sagte Jensen und zog damit ihren Blick auf sich.

Befremdet sah sie die Wärme in seinem Blick. Jensen war zwar kein herzloser, kalter Mistkerl, aber er hatte es vervollkommnet, diesen Eindruck zu erwecken. Jeder würde es sich zweimal überlegen, ehe er ihm in die Quere kam. Normalerweise wirkte seine Miene undurchdringlich und gab keinerlei Hinweis auf seine Gefühle, wenn er sie denn überhaupt hatte.

Aber jetzt? Es stand eine seltsame, anscheinend auf sie gerichtete Zärtlichkeit in seinem Blick. Was ihr da entgegenschlug, kam Mitgefühl sehr nahe, und das ließ sie zurückweichen, denn Mitleid war wirklich das Allerletzte, was sie von diesem Mann wollte.

»Haben Sie mich etwa gerade mit einem finsteren Blick bedacht?«, fragte er, seine Lippen zuckten vor Erheiterung.

»Nein. Ja. Vielleicht«, murmelte sie.

»Entspannen Sie sich«, sagte er wieder, und sein Tonfall wurde so sanft, wie sein Blick eben noch gewesen war. »Ich werde Sie nicht beißen. Außer Sie bitten mich darum … ganz lieb«, fügte er mit einem Grinsen hinzu.

Ihre Miene wurde noch finsterer, ehe sie merkte, dass er sie nur aufzog. Das tat er in letzter Zeit, seit er angefangen hatte, mit Dash zu arbeiten, immer häufiger.

»Vielleicht übernehme ich ja das Beißen«, meinte sie mit einem süffisanten Lächeln und bemerkte die Doppeldeutigkeit ihrer Worte erst, als es schon zu spät war. Sie hatte sich vorgestellt, wie ein wütender Hund nach ihm zu schnappen, und nicht daran gedacht, dass Beißen auch etwas … Sexuelles hatte.

Doch er hatte es eindeutig in dieser Richtung aufgefasst, denn er sah sie plötzlich mit einem so glühenden Blick an, dass ihr wieder ein Schauer über den Rücken lief. Ja, dieser Mann war gefährlich … viel zu gefährlich für sie, um ihn auch nur ansatzweise zu reizen.

Es war besser, ihn zu ignorieren und über die Arbeit zu sprechen. Was ja der eigentliche Grund war, weshalb sie in diesem blöden Restaurant saßen.

Glücklicherweise reagierte er nicht auf ihre unbedachte Bemerkung. Aber dieser Blick … er hatte immer noch diesen Ausdruck in den Augen, diesen eindeutig glühenden Blick, fast als würde er sich vorstellen, von ihr gebissen zu werden, und es genießen.

Oh ja, sie musste aufhören, ihre Gedanken in diese Richtung schweifen zu lassen, und das Gespräch wieder aufs Thema lenken.

»Sie haben also meine Analyse gelesen«, stellte sie fest und schlug einen geschäftlichen Tonfall an. »Was halten Sie davon?«

Er zögerte einen Moment und entschloss sich dann offensichtlich, sie gewähren zu lassen. Wieder etwas, bei dem sie sicher war, dass er selten so reagierte. Er wirkte auf sie wie ein Kontrollfreak. War sie etwa nur von solchen Menschen umgeben? Von Tate, dem Ehemann ihrer besten Freundin, wusste sie, dass er alles kontrollierte. Chessy hatte in ihrer Beziehung bereitwillig darauf verzichtet. Aber Dash … über den musste sie immer noch den Kopf schütteln. Erst vor Kurzem war ans Licht gekommen … oder zumindest ihr klar geworden …, dass er genauso dominant war wie Tate. Noch schockierender war für sie allerdings, dass Joss genau das wollte.

Ihre Vogel-Strauß-Politik in Bezug auf das Leben hatte sie offensichtlich manches gar nicht wahrnehmen lassen, und sie war froh darüber. Oder etwa nicht?

So vieles veränderte sich um sie herum, in ihrem kleinen Freundeskreis. Dash und Joss waren verheiratet. Glücklich verheiratet. Jensen war in die Firma eingestiegen und ersetzte Carson. Und nur Kylie war dieselbe geblieben. Die durchschaubare, langweilige, überängstliche Kylie.

Sie verzog angewidert das Gesicht, und Jensen runzelte die Stirn.

»Sie glauben, sie hätte mir nicht gefallen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Entschuldigung, ich habe gerade an etwas anderes gedacht.«

»Wollen Sie mir sagen, woran? Es scheint nichts Angenehmes gewesen zu sein.«

»Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, was für ein Feigling ich bin und dass ich mein ganzes Leben lang den Kopf in den Sand gesteckt habe.«

Ihr Eingeständnis schockierte sie. Sie konnte es nicht fassen, dass die Worte so aus ihr herausgesprudelt waren. So etwas machte sie nie. Sie war entsetzt, dass sie einem völlig Fremden gerade ihre größte Schwäche gestanden hatte. Nein, ein völlig Fremder war er vielleicht nicht, aber er war eindeutig niemand, den sie als einen Menschen sah, dem sie sich anvertraute. Und sie konnte es noch nicht einmal darauf schieben, Alkohol getrunken zu haben, denn sie hatten noch keinen Schluck Wein zu sich genommen.

»Sie sind zu streng mit sich, Kylie«, erklärte er sanft.

Sie schüttelte den Kopf und winkte ab. »Bitte, vergessen Sie einfach, dass ich das gesagt habe. Ich kann es selber nicht fassen. Wir sind doch hier, um über Geschäftliches zu sprechen. Was halten Sie denn nun von meiner Analyse?«

Er warf ihr einen durchdringenden Blick zu, der ihr sagte, dass er unter ihren spröden Panzer bis tief in ihr Inneres schauen konnte. Ihr furchtsames, dem Wahnsinn nahes Inneres. Und das war nicht das, was sie andere Menschen sehen lassen wollte. Nie wieder. Nur Carson hatte sie jemals so gesehen. Er und ihr Vater.

Sie musste den Schauder unterdrücken, der sie schon durchzuckte, wenn sie nur an dieses Monster dachte. Es kostete sie all ihre Kraft, sitzen zu bleiben und Jensen erwartungsvoll und voll gesammelter Gelassenheit anzuschauen, während in ihrem Innern ein Tumult tobte.

»Sie ist sehr sorgfältig und umfassend«, erwiderte er. »Und trifft den Nagel auf den Kopf. Ich gestehe, dass ich – vor allem, nachdem Sie gesagt hatten, Sie hätten nicht das Herz für solche Dinge – nicht davon ausgegangen war, dass Sie trotzdem alles objektiv betrachten und gleich zum entscheidenden Punkt der Stelleneinsparungen kommen würden.«