Dark Venice. Deep Water - Antonia Wesseling - E-Book

Dark Venice. Deep Water E-Book

Antonia Wesseling

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Beschreibung

Willkommen in Venedig, der Stadt der Liebe – und der Lügen Als Merle für ein Auslandssemester nach Venedig kommt, hat sie vor allem eins im Sinn: einer großen Familienlüge auf den Grund zu gehen. In der Lagunenstadt trifft sie auf eine junge Italienerin, die ihr kurzerhand ein Bett im Casa Nera anbietet. Während sie von Giulia mit offenen Armen in dem alten venezianischen Hotel empfangen wird, verhalten sich ihre vier Mitbewohner Merle gegenüber kühl und distanziert, allen voran der verboten attraktive Matteo. Merle wird den Eindruck nicht los, dass er etwas vor ihr verbirgt. Und auch sie hält ihren wahren Grund der Reise geheim. Als sie in der Uni Gerüchte über die Clique hört, sind es nicht nur seine Blicke, die Merles Knie weich werden lassen. Denn dieses Semester steht mehr auf dem Spiel als ihr Herz: die Wahrheit.

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Dark Venice. Deep Water

ANTONIA WESSELING, geboren 1999, erfand schon als Kind eigene Geschichten und fing später an, Jugendbücher zu veröffentlichen. Ihre »Light In The Dark«-Reihe wurde zu einem großen Publikumserfolg. Neben der Arbeit als Autorin bloggt sie auf Instagram und YouTube (@antoniawesseling) über gute Bücher, ihre Liebe zum Schreiben und mentale Gesundheit.

WILLKOMMEN IN VENEDIG, DER STADT DER LIEBE – UND DER LÜGENAls Merle für ein Auslandssemester nach Venedig kommt, hat sie vor allem eins im Sinn: einer großen Familienlüge auf den Grund zu gehen. In der Lagunenstadt trifft sie auf eine junge Italienerin, die ihr kurzerhand ein Bett im Casa Nera anbietet.Während sie von Giulia mit offenen Armen in dem alten venezianischen Hotel empfangen wird, verhalten sich ihre vier Mitbewohner Merle gegenüber kühl und distanziert, allen voran der verboten attraktive Matteo. Merle wird den Eindruck nicht los, dass er etwas vor ihr verbirgt. Und auch sie hält den wahren Grund ihrer Reise geheim. Als sie in der Uni gefährliche Gerüchte über die Clique hört, sind es nicht nur seine Blicke, die Merles Knie weich werden lassen. Denn dieses Semester steht mehr auf dem Spiel als ihr Herz: die Wahrheit.»Düstere Spannung und knisternde Romantik machen Dark Venice zu einem fesselnden Pageturner! Dieses Buch verbindet Plot-Twist und Leidenschaft auf eine Art, die das Herz schneller schlagen lässt.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Ayla Dade

Antonia Wesseling

Dark Venice. Deep Water

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

1. Auflage Oktober 2024© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © Antonia WesselingE-Book-Konvertierung powered by PepyrusAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95818-788-7

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Vorwort

Teil 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

Teil 2

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

Danksagung

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorwort

Vorwort

Es folgt das ungewöhnlichste und längste Vorwort, das ich je geschrieben habe: 2018 wurde ich wegen Magersucht und schweren Depressionen in einer Klinik behandelt. Es war mein dritter stationärer Aufenthalt und der Glaube, gesund zu werden, schwand. Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, ist es, als würde ich mich an ein anderes Leben erinnern. Eines, das, genau genommen, gar kein echtes Leben mehr war.

Während der jahrelangen Krankheit habe ich irgendwann geglaubt, nichts anderes mehr zu sein als meine Essstörung. Schließlich ging es in allen Gesprächen nur noch um sie. Sie war das, was andere Menschen in mir sahen. Dieses Gefühl machte es mir unmöglich, sie loszulassen.

In einer Gruppentherapie tat ich es irgendwann doch: Ich erzählte statt von meiner Krankheit vom Schreiben. Von meinem großen Traum, eine erfolgreiche Autorin zu werden und von der Angst, dieses Ziel niemals zu erreichen.

Als einer der Therapeuten vorschlug, ich könne eine Lesung in der Klinik organisieren, freute ich mich sehr. Ein paar Tage später setzte ich den Plan bereits in die Tat um und las meinen Mitpatienten aus meinem damals zuletzt erschienenen Venedig-Fantasyroman vor. Ich hatte die Geschichte mit fünfzehn geschrieben, Jahre nachdem ich selbst das erste und einzige Mal in der Stadt gewesen war. Warum ich mich trotzdem für Venedig entschieden hatte? Ich erzählte den anderen von der besonderen Verbindung, die ich zu der Stadt habe. Eines der Bücher, das mich als Kind zum Schreiben gebracht hatte, führte nämlich genau dorthin.

»Wenn ich irgendwann wieder gesund bin, dann werde ich nochmal nach Venedig reisen. Ganz bestimmt«, gab ich mir vor meinem Publikum das Versprechen. Und während ich so intensiv über das Schreiben sprach, bewegte sich plötzlich etwas in mir. Etwas, das ich viel zu lange nicht mehr gespürt hatte und das auch den anderen nicht entgangen war.

»Du hast gerade zum ersten Mal, seitdem ich dich hier kennengelernt habe, ein echtes Leuchten in den Augen«, hieß es später von einer etwas älteren Mitpatientin. Einen Tag vor meinem 19. Geburtstag folgte meine Entlassung. Zur Verabschiedung gab mir jene Mitpatientin einen Umschlag, den ich erst zu Hause öffnen durfte. Als ich ihren Brief an meinem Geburtstag auseinanderfaltete, fielen mir zwei grüne Geldscheine sowie eine Karte in den Schoß. Darauf der Satz: »Ich wünsche dir eine schöne Reise nach Venedig«, der für so viel mehr stand.

Wenn ihr diese Zeilen lest, sind mehr als sechs Jahre vergangen. Ich bin fürs Schreiben dieser Dilogie dreimal nach Venedig gereist und habe jedes Mal, wenn ich die warme Luft in mich aufgesaugt habe, an sie gedacht. An die Frau, die an mich geglaubt hat, als ich es selbst nicht konnte.

Weil ich heute leider weder ihren Namen noch eine Adresse weiß, möchte ich das Buch stellvertretend allen Menschen widmen, die anderen in schweren Zeiten zuhören. Ihr seid so wichtig!

Und an diejenigen, die ihr Leuchten kurzfristig verloren haben:

Haltet durch und habt Vertrauen! Euer Venedig … es wartet da draußen!

Teil 1

1. Kapitel

Merle

Falls ich geglaubt habe, die Aufnahmen aus dem Internet könnten genügen, um eine Stadt wie Venedig auch nur annähernd zu beschreiben, so habe ich mich verflucht noch mal geirrt. Allein die Aussicht aus der Lagune raubt mir förmlich den Atem. Das Wasser glitzert in der Morgensonne, und der Himmel ist nicht nur blau, sondern komplett wolkenfrei. Im Flugzeug hat alles noch so klein ausgesehen, die vielen Brücken wirkten wie ein Netz, das sich über die Stadt spannt. Doch als ich jetzt in einem geräumigen Boot sitze und aus dem Fenster sehe, ist es, als erhebe sich mitten aus dem Nichts die Pracht einer altehrwürdigen Republik. Ich spüre den sanften Rhythmus des Bootes, das sich durch die Wasserwege Venedigs schlängelt.

Die Pension Ferrari habe ich übers Internet gefunden, nachdem ich in einigen Foren gelesen hatte, dass es sinnvoller wäre, sich vor Ort auf einen Platz im Studentenwohnheim zu bewerben.

»In Venedig gibt es eine Menge Bruchbuden«, höre ich die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf. »Wenn du Pech hast, kannst du dir dein Bett mit ein paar Ratten teilen. Wusstest du, dass es auf der Insel ein Rattenproblem gibt?« Allein die Erinnerung an unser Gespräch lässt mich die Augen verdrehen. Sie hat alles versucht, um mir das Auslandssemester madig zu reden.

»Wenn du wenigstens so was wie London ausgesucht hättest. Die italienische Kultur ist nicht mit unserer zu vergleichen. Dieses ständige Ins-Wort-Fallen wird dir auf die Nerven gehen. Vor allem das der Männer. Das sind solche Machos! Als Frau muss man sich durchbeißen. Das sage ich dir gleich vorab, damit du weißt, worauf du dich einlässt.«

»Mama!«, habe ich in dem vergeblichen Versuch, sie zum Schweigen zu bringen, eingewandt. »Ich habe nicht vor, für die Präsidentschaft zu kandidieren. Ich studiere für ein Semester dort.«

»Diese ganze Aktion ist Unsinn. Wenn du deine Grenzen austesten möchtest, dann geh zum Friseur. Lass dir eine Kurzhaarfrisur schneiden oder fliege in den Semesterferien zehn Tage nach Mallorca. Das habe ich in deinem Alter auch gemacht.«

Ich habe nicht gefragt, was es mit Grenzen testen zu tun hat, wenn sie mir wieder einmal genau vorschreibt, was zu tun ist. Dabei ging es mir von Anfang an um etwas vollkommen anderes. Vielleicht hätte ich ihr von meinem Plan erzählt, wenn sie sich ein Mal im Leben wie eine einfühlsame Mutter verhalten hätte und nicht, als sei ich eine ihrer Patientinnen.

»Weißt du, was?«, meinte ich also bei unserem Gespräch vor sechs Monaten. »Vielleicht mache ich das sogar. Und zwar nach meinem Auslandssemester in Venedig. Nach Mallorca muss ich erst mal nicht, aber kurze Haare könnten mir wirklich stehen, findest du nicht?«

Vielleicht war es kindisch gewesen, sie zu provozieren. Aber ich bin zweiundzwanzig und habe es so was von satt, ständig nach ihrer Pfeife zu tanzen. Ich bin also nach Venedig gegangen. Für meine Eltern wird sich dadurch kaum etwas ändern. Sie werden ihre perfekten Jobs machen und weiter ihr perfektes Leben leben. Das perfekte Leben, in dem ich mich immer wie ein Fremdkörper gefühlt habe. Zu laut. Zu ungeduldig und zu neugierig. Zu wenig angepasst.

In der schönsten Stadt Italiens werde ich mich nun davon freimachen.

Ich atme tief durch und verdränge die Stimme meiner Mutter aus meinem Kopf. Ab heute bin ich unabhängig und frei. Selbstaffirmation nennt meine Cousine Olivia das. Wenn du es dir ganz oft vorsagst, fühlst du es auch.

Beim Aussteigen fühle ich allerdings eher eine Kombination aus lähmender Müdigkeit und aufbrausender Panik. Vielleicht wird sich das Freiheitsgefühl einstellen, wenn ich endlich diesen monsterschweren Koffer los bin. Ganz bestimmt. Ich gehe einige Meter, wobei ich meinen Blick nur schwer von den vielen Wassertaxis lösen kann, die an die Anlegestellen tuckern und Passagiere rein- und rauslassen, als wäre es das Normalste der Welt.

Das Gedränge am Ufer ist überwältigend; Menschen strömen in Scharen aus den Booten, während andere ungeduldig darauf warten, einzusteigen. Die Luft ist erfüllt von einem vielstimmigen Gewirr, das sich über das gesamte Hafengebiet erstreckt. Man hört das Lachen von Touristen, die angeregten Diskussionen von Einheimischen und die Rufe der Bootsführer, die ihre nächsten Fahrten ankündigen.

Zum fünften Mal scrolle ich jetzt durch meine Buchungsbestätigung. Die zwei Fotos der Unterkunft sind leicht unscharf und lassen noch keine Rückschlüsse auf das vermeintliche Rattenpotenzial zu.

»Scusa.«

Ich zucke zusammen, als mir ein Mädchen von hinten auf die Schulter tippt. Sie ist ein Stück kleiner als ich, hat braun gebrannte Haut und türkis gefärbte Haare, die ihr knapp bis zu den Schultern reichen.

»Du hast etwas verloren.«

Mit einem freundlichen Lächeln reicht sie mir ein Papier, das ich gleich im nächsten Moment als meinen Notizzettel identifiziere.

Ganz unten habe ich für den Notfall in krakeligen Buchstaben den Namen und die Adresse der Pension notiert.

»Grazie.« Ich werfe dem Mädchen ein dankbares Lächeln zu und ertappe mich bei einem Gefühl der Erleichterung. Es ist das erste Mal seit Stunden, dass jemand mit mir spricht. »Kennst du dich hier aus?« Und zu meiner eigenen Verwunderung klingt mein Italienisch weniger holprig, als ich es erwartet habe. Da hat vier Jahre Fremdsprachenunterricht wohl doch etwas gebracht.

Sie nickt. »Bist du für Urlaub hier?« Ihr Blick fällt auf meinen Koffer.

»Ich … ich mache ein Auslandssemester in Venedig«, murmele ich, als würde das ihre Frage beantworten.

»È fantastico. Du wirst es hier lieben! Ganz bestimmt!«

»Das glaube ich.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Gerade suche ich erst einmal meine Pension. Kannst du mir sagen, wie ich von hier am schnellsten nach Castello komme?«

»Na klar.« Das Mädchen nickt und zieht sein Smartphone aus der Tasche. »Also, entweder du gehst den Weg zu Fuß …« Noch einmal fällt ihr Blick auf meinen Koffer. »Oder du steigst in einen Bus.«

Auf meinen verdutzten Gesichtsausdruck hin lacht sie.

»Ein Wasserbus natürlich. Das sind Boote, die kleiner sind als das AliLaguna, mit dem du sicher vom Flughafen gekommen bist.«

Mir wird klar, dass ich noch einiges über diese Stadt lernen muss.

»Wie heißt du eigentlich?«

»Merle. Und du?«

»Giulia.« Sie macht eine kurze Pause. »Du kommst aus Deutschland, oder?« Bevor ich antworten kann, erklärt sie: »Es sind viele Touristen hier. Irgendwann lernt man die Akzente zu unterscheiden. Mal ganz davon abgesehen, dass …« Grinsend deutet sie auf den kleinen Anhänger, der an meinem Rucksack baumelt. 1. FC Köln.

»Ahh! Der hängt da schon seit Ewigkeiten. Gab es damals in der Erstitüte bei uns an der Uni. Ich bin nicht wirklich Fußballfan.«

»Ich auch nicht. Aber mein bester Freund oder Situationship-Typ … keine Ahnung, als was man uns aktuell bezeichnen würde … könnte dir jetzt einen ganzen Vortrag halten.« Giulia grinst.

»So einen Kandidaten gab es bei mir auch mal.«

»Einen Fußballfreak oder einen besten Freund, der zu heiß ist, um nur der beste Freund zu sein?«

»Tatsächlich beides«, antworte ich schmunzelnd. »Ist Gott sei Dank lange her.«

Sie nimmt die Sonnenbrille, die bislang in dem Ausschnitt ihres Tops geklemmt hat, und setzt sie sich auf die Nase.

»Also … Castello hast du gesagt. Ich würde dich sofort mitnehmen, aber leider muss ich heute noch ein paar Dinge erledigen.«

Schade. Giulia ist mir auf Anhieb sympathisch.

»Kein Problem. Ich werde mich schon zurechtfinden.«

»Venedig ist ziemlich verwinkelt, dafür aber klein. Solltest du verloren gehen, tauchst du früher oder später wieder an einem belebten Platz auf.«

Ich habe keine Ahnung, ob mich Giulias Bemerkung tatsächlich beruhigen sollte, doch ich lasse mir von meiner Unsicherheit nichts anmerken.

»War schön, dich kennenzulernen.«

»Die Freude war ganz auf meiner Seite, Merle.«

Kaum ist Giulia in einer Gasse verschwunden, fühle ich mich tatsächlich etwas verloren.

Der Koffer rutscht mir beinah aus den schwitzigen Händen, und ich muss zweimal stehen bleiben, um ihn neu zu greifen.

Das hier ist die Zeit, Merle. Deine fucking Zeit! Und vor allem deine Chance!

Wir sind in Venedig. Wir, das heißt so viel wie: all diese fremden Menschen um mich herum, mein Koffer und ich. Merle Weber. Zweiundzwanzig Jahre alt. Bereit für alles, was da kommen mag.

Bereit für fast alles, revidiere ich meine eigene Aussage, als ich die Anlegestelle der Vaporetti erreicht habe. Laut Plan halten die motorbetriebenen Wasserbusse überall in Venedig. Dementsprechend voll ist die Schlange, die mich zu den Tickets führt.

Ich überlege gerade, ob ich den Weg nicht doch lieber laufen sollte, als mein Telefon vibriert. Das muss aber einen Augenblick warten, denn ausgerechnet jetzt bin ich mit dem Bezahlen dran.

Kaum habe ich mein Ticket in der Hand, angele ich das Smartphone aus der Hosentasche, nur um festzustellen, dass die Nachricht weder von meiner Cousine noch von Mama kommt. Es ist eine E-Mail mit italienischem Absender. Sofort schießt mein Puls in die Höhe. Habe ich etwas vergessen? Im Kopf gehe ich die lange To-do-Liste durch, die ich vor der Abfahrt mehrfach geprüft habe. Ich habe alle Anträge und Formulare ausgefüllt, sowohl die für die Uni Köln als auch die, die man in der Università Ca’ Foscari Venezia von mir brauchte.

Es dauert bestimmt eine halbe Minute, bis der Text der Mail vollständig geladen ist. Eine halbe Minute, in der meine Finger immer schwitziger werden.

Nervös beginne ich, die ersten Zeilen zu lesen. Begriffe wie Wasserschaden, Renovierungsarbeit und Verzögerung sorgen für einen eiskalten Schauer auf meinem Rücken, und es dauert einen Moment, bis die Bedeutung dieses Schreibens auch in den hinteren Bereich meines Gehirns vordringt.

 … müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Ihr gebuchtes Zimmer derzeit nicht zur Verfügung steht …

Distinti saluti,

Valeria Ferrari

2. Kapitel

Matteo

»Kannst du nicht ein einziges Mal eine klare Aussage treffen?« Lauras Worte dröhnen in meinem Kopf wie ein heftiges Gewitter. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und steht höchstens dreißig Zentimeter von mir entfernt. Es wäre so einfach, sie jetzt zu küssen. So einfach und mindestens genauso falsch. Das hier fühlt sich nicht mehr richtig an. Hat es sich überhaupt jemals richtig angefühlt?

»Schrei doch bitte nicht so laut!« Ich muss versuchen, sie zu besänftigen.

In ihren Augen steht so viel Zorn, dass sie fast schon bedrohlich wirkt. Diese Seite von Laura bin ich nicht gewohnt. Zu Beginn war es richtig harmonisch zwischen uns. Bis …

»Ich rede so laut, wie ich will.«

»Du machst aber meine Freunde wach. Durch die Wände dringt mehr, als du denkst«, raune ich und wünschte, ich hätte sie heute Abend nicht mit ins Casa Nera genommen. Ich habe das nicht gewollt. Und doch hätte ich wissen müssen, dass es so endet. Weil es immer so endet.

»Das ist mir so was von egal«, zischt sie und hebt drohend den Zeigefinger. »Sollen sie doch wissen, was für verdammte Spielchen du mit mir treibst, Matteo.«

Sie spuckt mir meinen Namen vor die Füße. Wie ein Kaugummi, das den Geschmack verloren hat und sich im Mund fad anfühlt.

»Mein Gott, wie naiv ich gewesen bin! Ich dachte, du magst mich wirklich.«

Ich schlucke. Was soll ich dazu sagen? Dass ich ihr nicht das geben kann, was sie sucht? Das erscheint mir gerade nicht als besänftigende Antwort.

»Als Nächstes willst du mir sicher sagen, dass es nicht an mir liegt, sondern an dir. Richtig?«

»Und wenn es stimmt?«, frage ich und bete, dass das hier gleich vorbei ist. Dass ich es irgendwie schaffe, Laura zu beruhigen. Mich zu beruhigen. Ich hasse das, was ich hier tue. Ich hasse es so sehr, dass ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Die Schuldgefühle an mir abprallen zu lassen. Sie sind nichts, womit ich mich jetzt beschäftigen kann. Wir haben fast Mitternacht, und wenn meine Freunde merken, dass ich schon wieder Stress mit einer Frau habe, komme ich irgendwann in Erklärungsnot.

»Ich will einfach nur wissen, was in dir vorgeht.« Lauras Augen verengen sich misstrauisch. »Ich dachte, du wolltest das alles auch.«

Was ich will und was geht, das sind zwei verschiedene Dinge. Aber das spreche ich natürlich nicht laut aus. Stattdessen sage ich lieber gar nichts. Alles, was ich ihr geben kann, sind Plattitüden, und die hat sie nicht verdient. Keine Frau hat das. Keine Frau hat jemanden wie mich verdient. Es tut mir leid, dass ich ihr das nicht sagen kann.

»Ich weiß echt nicht, was ich an dir gefunden habe.«

Ihre Worte sprühen wie heiße Funken gegen meine Brust, bringen meine Haut zum Zerplatzen. Ich halte dem Schmerz nicht stand.

»Dafür warst du aber gerade noch ziemlich scharf darauf, meine Zunge zwischen deinen Schenkeln zu spüren.«

Die Ohrfeige kommt überraschend, wenn auch wahrscheinlich nicht ganz unverdient. Aber was soll ich tun? Haltlos gegen diese Mauer rennen und mir den Kopf aufschlagen? Vielleicht wäre das heldenhafter, als den Spieß einfach umzudrehen. Aber ich habe nie behauptet, ein Held zu sein. Gerade würde es mir schon reichen, nicht unterzugehen.

Ich wollte ihr nicht wehtun, verdammt noch mal, das schwöre ich! Doch irgendwie endet es immer in dieser Sackgasse, aus der ich anders nicht mehr rauskomme. Immer und immer wieder. Wie in der ewig langen Zeitschleife eines Spielfilms. Doch wer auch immer dieses Drehbuch geschrieben hat – ich finde es beschissen.

Schnell lasse ich sie los und schiebe sie in Richtung Tür. »Bitte geh«, dringt es aus meinem Mund.

Lauras dunkle Augen fixieren mich so wutentbrannt, als ob sie mir gleich ein zweites Mal eine verpassen wolle. Doch das tut sie nicht. Sie steht einfach nur da, hocherhobenen Hauptes, bis sich ihre Lippen zu einem zynischen Lächeln formen.

»Weißt du, was, Matteo? Du tust mir leid. Unfassbar leid!« Sie dreht sich mit Schwung in Richtung Tür um.

Mein Herz schlägt so schnell, dass ich kaum noch Luft bekomme. Aber das darf sie mir nicht anmerken. Sie nicht. Und auch all die anderen nicht.

Einen Moment verharrt sie in ihrer Bewegung.

»Niemand, absolut niemand zwingt dich, dieses Arschloch zu sein.« Sie sieht sich nicht nach mir um, reißt die Klinke nach unten und verschwindet mit harten Schritten im Flur. Endlich.

Eine Antwort hätte sie sowieso nicht bekommen. Denn es gibt nichts, was ich darauf sagen könnte, außer, dass sie mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit recht hat. Niemand zwingt mich, ein Arschloch zu sein. Das kriege ich gut allein hin.

3. Kapitel

Merle

»Ganz ruhig, Merle. Ganz ruhig!«, murmele ich leise vor mich hin. »Es ist alles in Ordnung. Du hast ein funktionierendes Telefon und bist keine zwei Stunden von zu Hause entfernt.«

Mit dem verdammten Flugzeug! Weil ich in einem nahezu fremden Land bin! Komplett auf mich allein gestellt!

Hitze steigt in mir auf, und ich versuche, meinem rasenden Herzen zu versichern, dass alles gut wird. Ich stehe nicht mitten in der Pampa, sondern in einer italienischen Kulturstadt. In der ich niemanden kenne.

Mein Telefon vibriert.

Mama: Bist du gelandet? Schreib mir bitte, wenn du angekommen bist!

Ich drücke die Nachricht weg, um sie nicht versehentlich zu öffnen. Auf die Sorge – oder besser gesagt Kontrolle – vonseiten meiner Eltern kann ich jetzt wirklich verzichten. Ich weiß genau, dass Mama mir einen Spruch wie »habe ich es dir doch gleich gesagt« oder »in London wäre das sicher nicht passiert« stecken würde. Stattdessen schreibe ich eine E-Mail an die Website, über die ich die Pension gebucht habe. Zu meiner Überraschung erhalte ich tatsächlich ziemlich schnell eine Antwort.

Ich überfliege die Zeilen und schnappe empört nach Luft, als ich etwas von einem internen Kommunikationsfehler und der Bitte um Verständnis lese. Zum Teufel, was?

Ich versuche, mir Mut zuzusprechen. Was solls? Worüber will ich mich eigentlich beschweren? Na schön, ich stehe mit einem viel zu schweren Koffer an der venezianischen Lagune und habe für diese Nacht keine Unterkunft. Aber dafür bin ich in Venedig. Im Land der Pizza und Pasta. Ich werde Eiscreme bis zum Abwinken essen, einen hoffentlich noch warmen Herbst in Italien erleben und endlich Antworten auf eine Frage erhalten, die mich seit dem Tod meines Großvaters beschäftigt. Eine Frage, die monatelang alles in mir aufgewühlt hat.

Außerdem wird es auf dieser Insel wohl nicht nur ein Hotel geben. Natürlich nicht. Ich werde einfach in die nächste Pension hi­neingehen und mir ein neues bezahlbares Zimmer buchen.

Als ich die Promenade hinunterlaufe, fühlt sich mein Hals trockener an als eine Wüstenoase. Ich steuere das erstbeste Restaurant an.

Es ist ein rot gemauertes Haus, nur wenige Meter von der Vaporetto-Haltestelle entfernt. Die Fenster sind grün umrahmt, der Putz ein wenig heruntergekommen, aber dennoch mit einem gewissen Charme verbunden.

Ich mustere die vielen Stühle, die unter einer hellen Markise stehen. Als ich meinen Blick erneut über die Promenade streifen lasse, entdecke ich eine große Terrasse, die durch einen Gehweg vom Haus getrennt ist. Wie ein übergroßer Balkon erhebt sie sich über dem Lagunenwasser und bietet noch mehr Platz für Gäste.

Ich halte an und warte, bis ein Mann, ungefähr so alt wie mein Vater, aus dem Eingang tritt. Er trägt eine bordeauxfarbene Schürze und hat dunkles, leicht ergrautes Haar.

»Scusi«, setze ich zu einer Entschuldigung an und gewinne sofort seine Aufmerksamkeit.

»Prego? Wie kann ich helfen?«

»Ahh.« Plötzlich ist es, als seien mir alle italienischen Vokabeln auf einmal entfallen. »Könnte ich vielleicht ein Wasser bekommen?«, stottere ich.

Der Mann deutet auf den letzten freien Platz, direkt neben dem Eingang, und nickt. »Warte kurz! Ich bin sofort bei dir.«

Unschlüssig lasse ich mich auf den Stuhl sinken. Als er nicht sofort wiederkommt, zücke ich mein Handy, um das Internet nach freien Unterkünften zu durchsuchen. Ich klicke mich von Seite zu Seite und muss frustriert feststellen, dass sämtliche halbwegs bezahlbaren Zimmer bereits belegt sind.

»Verdammter Mist! Das kann doch nicht wahr sein«, fluche ich leise und ernte dafür den fragenden Seitenblick einer älteren Dame. Ich zwinge mich schnell zu einem Lächeln und wende mich wieder meinem Handy zu. Gott, ich bin so froh, dass mich die Leute hier nicht verstehen können.

Als mein Wasser kommt, stürze ich den Inhalt in einem Zug hinunter.

»Noch eins?«, fragt der Herr von der Bedienung im Vorbeigehen.

Ich schüttele den Kopf. »Dafür hätte ich eine andere Frage.«

»Gern.«

»Wissen Sie zufällig, wo ich ganz spontan ein Zimmer buchen kann?«

Neugierig sieht der Mann an mir herab. »Wie spontan muss es denn sein? Für diesen Sommer?«

Mir entfährt ein nervöses Lachen. »Eigentlich brauche ich es für diese Nacht. Meine Reservierung wurde eben storniert.«

»Ach herrje. Das tut mir leid. Aktuell dürfte das ziemlich schwierig werden. Die Stadt ist immer noch brechend voll. Das wird erst im späten Herbst besser. Wenn du Glück hast, kannst du es bei einem der Airbnbs um die Ecke versuchen. Manchmal wird da spontan noch etwas frei. Aber warte nicht zu lang! Es soll die ganze Nacht regnen.«

»Danke«, sage ich und gebe mir Mühe, nicht allzu verzweifelt zu klingen.

Kaum habe ich meine Rechnung beglichen, ziehe ich meinen Koffer in die Richtung, in die der freundliche Mann mich geschickt hat.

Ich habe keine Ahnung, was genau ich erwartet habe, doch das, was sich mir in der Seitenstraße offenbart, ist definitiv anders. Vielleicht, weil ein Teil von mir zumindest auf eine klitzekleine Beschilderung gehofft hat.

Alles wirkt verlassen, kein Mensch ist zu sehen. Wie um alles in der Welt soll ich hier nur jemanden erreichen?

Kurz spiele ich mit dem Gedanken, meine Mutter anzurufen. In den etwas gehobeneren Hotels wird sicher noch etwas frei sein. Ich könnte sie um Geld bitten, hoffen, dass sie mir für die erste Nacht etwas vorstreckt. Am besten vier- oder gleich sechshundert? Wenn ich mir die Preise im Netz so anschaue, werde ich die gewiss brauchen. Aber abgesehen davon, dass das eine Stange Geld ist, könnte ich es nicht ertragen, mir schon wieder Vorwürfe von ihr anzuhören. Was auch immer meine Mutter gegen diese Stadt hat, ich werde ihr keinen Grund geben, meinen Traum weiter kaputtzureden.

Müde lasse ich mich an meinem Koffer herab und sinke mit dem Po auf den gepflasterten Asphalt. Mit ein bisschen Glück schaut einer der Besitzer noch heute vorbei. Und mit ein bisschen mehr Glück ist genau in der Wohnung dann auch noch ein Bett frei.

Auf meinem Smartphone leuchtet eine WhatsApp meiner Cousine auf.

Livi: Was geht? Ich erwarte Berichterstattung!

Merle: Abgesehen davon, dass ich diese Nacht wohl auf der Straße schlafen muss, ist alles bestens.

Ich schicke ihr einen Screenshot von der verfluchten Mail.

Spätestens als Livis Videoanruf auf meinem Bildschirm aufblinkt, weiß ich, wie unüberlegt ich gehandelt habe. Es ist doch klar, dass meine Cousine sich Sorgen macht. Ich drücke den Anruf weg.

Merle: Hab nur noch 12 % :(

Livi: Bitte sag mir, dass das ein Scherz ist.

Merle: Ich krieg das hin. Bitte mach dir keinen Kopf.

Livi: Wenn du mit »Kopf machen« meinst, dass ich nicht kurz davor sein soll, in das nächste Flugzeug nach Venedig zu steigen, dann muss ich dich leider enttäuschen. Ich mache mir bereits einen Kopf.

Merle: Willst du Mann und Kind dann mitbringen, damit wir zu viert auf der Straße schlafen?

Olivia ist nicht nur vier Jahre älter als ich, sondern bereits verheiratete Mutter einer zauberhaften Tochter im Kleinkindalter.

Livi: Du bist wirklich wahnsinnig! Ruf mich sofort an, wenn du was gefunden hast. Weiß deine Mutter Bescheid?

Merle: Bin ich lebensmüde?

Livi: Ich frage Robert, ob er jemanden kennt. Du weißt doch, der hat überall irgendwelche Verwandte.

Merle: Danke dir! Und wie gesagt … Keine Panik! Ich bin schon ein großes Mädchen.

Ein großes Mädchen mit einem großen Koffer.

Ich lehne den Kopf gegen den Bauch meines Koffers.

»Sag bloß, du hast die Vaporetti nicht gefunden.«

Eine helle Frauenstimme lässt mich zusammenzucken. Ein einziger Wimpernschlag genügt, um sie Giulia zuzuordnen. Ihre türkisfarbenen Haare gibt es sicher kein zweites Mal in Venedig.

»Was machst du denn hier?«, rutscht es mir perplex heraus. Ich stemme mich vom Boden hoch, klopfe die Hände an meinen Shorts ab und sehe sie etwas schief an.

»Katzen füttern.« Wie zur Bestätigung hebt Giulia eine silbrig schimmernde Schüssel.

Erst jetzt bemerke ich den kleinen Tiger, der bislang ein bisschen Abstand zu uns gehalten hat.

»Er ist ein Streuner. Ein ziemlich unbeholfener Streuner, wenn du mich fragst.« Sie kippt sich eine Ladung Futter in die Hand und geht in die Hocke. »Die meisten Straßenkatzen finden zwischen den Touristen genug. Aber Grigio ist bei Fremden erstmal scheu.«

»Grigio?« Der Graue. Der Name leuchtet mir ein. Der Kater ist nicht groß, sehr dünn und hat einfarbiges graues Fell. Aber wieso hat er einen Namen, wenn er kein Zuhause hat?

Bevor ich fragen kann, hält sie mir die Tüte hin. »Willst du auch?«

Zögerlich nehme ich sie entgegen. »Und du bist sicher, dass er nicht krank ist?«

Giulia schüttelt den Kopf. »Sicher kann ich nicht sein. Aber angesichts der Tatsache, dass er öfter bei uns in den Betten liegt und bislang keiner von uns gestorben ist …« Sie hält kurz inne, als wäre sie erschrocken über ihre eigene Bemerkung. »Wie dem auch sei … Was machst du hier?« Ihr Blick wandert von mir über meinen Koffer bis hin zu dem Hoodie, den ich vor wenigen Minuten noch als eine Art Kopfkissen zweckentfremden wollte und der neben meinem Koffer liegt.

»Mein Zimmer wurde storniert.«

»Bitte was? Wann?«

»Vor etwa …« Ich kontrolliere die Uhrzeit auf meinem Smartphone. »… eineinhalb Stunden.« In wenigen Worten fasse ich Giu­lia die letzten Ereignisse zusammen.

»Das kann doch nicht deren Ernst sein. Was sagst du, welche Pension war das?«

Kaum habe ich ihr die Frage beantwortet, seufzt sie schwer. »Merda! Die Familie hat es aktuell nicht leicht. Lange Geschichte.«

»Und das haben sie heute erst festgestellt?« Weil ich dafür, dass Giulia am allerwenigsten mit der Sache zu tun hat, ein wenig zu vorwurfsvoll klinge, schiebe ich noch ein »Sorry, ich bin nur super kaputt« hinterher.

»Das wäre nach so einer Anreise jeder.« Giulia fährt dem Kater, der mittlerweile mutig um unsere Beine streicht, sanft über den Kopf. »Du weißt also nicht, wo du die Nacht über bleiben sollst?«

Mein Schweigen scheint Giulia zu genügen. »Fakt ist: Du kannst auf gar keinen Fall hier auf der Straße bleiben. Jedenfalls nicht, wenn du nicht beklaut werden willst.«

»Und ich dachte immer, den Herrn der Diebe gäbe es nur im Buch«, versuche ich, die Stimmung mit einem – zugegebenermaßen blöden – Spruch aufzulockern.

»Den Herrn der was?«

»Bloß eine Geschichte.« Ich nehme mir vor, online nachzusehen, ob der Roman ins Italienische übersetzt wurde, sobald ich ein Bett zum Schlafen gefunden habe.

»Diebe gibt es überall, wo Touristen sind. Also pass gut auf deine Wertsachen auf.«

»Okay«, sage ich und blinzele zu dem Kater, der mittlerweile zu schnurren begonnen hat. So, wie es aussieht, muss ich die Nacht zumindest nicht allein verbringen. Ob man Katzen, ähnlich wie Wachhunden, das Aufpassen beibringen kann?

Als habe Giulia meine Gedanken gelesen, beißt sie sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Du hast nur den einen Koffer?«

»Und meinen Rucksack hier.«

Sie atmet tief durch. »Na schön. Vielleicht haben wir Glück, und sie werden es nicht einmal bemerken.«

Ehe ich nachfragen kann, was sie meint, haben sich ihre Finger schon um den Griff meines Koffers geschlossen. Der Kater hebt neugierig den Kopf, als habe er viel schneller begriffen, was das hier werden soll.

»Vergiss es, Grig. Du wirst hierbleiben. Ein Gast pro Nacht muss vorerst reichen.«

4. Kapitel

Merle

Sonne. Als ich die Augen aufschlage, ist überall Sonne.

Kein Wunder. Die Vorhänge zuzuziehen war das Letzte, woran ich gestern Nacht gedacht habe. Moment mal … Vorhänge? Da sind keine Vorhänge. Ich reibe mir den Sand aus den Augen und brauche einen Moment, bis sich mein Verstand von dem tiefen Schlaf erholt hat. Ich bin nicht zu Hause. Nicht im Hotel. Und zum Glück auch nicht in dieser finsteren Gasse. Nein, wir sind gegangen. Ein paar Hundert Meter, schätze ich.

Schlagartig sind die Erinnerungen an die späten Abendstunden wieder da. So schlagartig, dass ich mich mit Schwung aufsetze und beinah mit dem Kopf gegen ein Regalbrett stoße.

Giulia, die mit einem Schlüssel eine gebogene Stahltür aufschließt. Der große, ziemlich düstere Flur, in dem jeder Schritt laut hallt. Die breite, mit Teppich ausgelegte Holztreppe, die wir in den ersten Stock hinaufgegangen sind. Die Zimmertür, vor der Giulia stehen geblieben ist.

»Du kannst hier schlafen, wenn du mir versprichst, dass du vor acht Uhr raus bist. Wenn dich einer der anderen sieht, reißen sie mir den Kopf ab.«

Shit. Shit. Shit. Automatisch greife ich nach meinem Handy, doch der Bildschirm ist tot. Fuck. Dabei brauche ich nicht einmal eine Uhr, um zu wissen, dass es bereits nach acht ist. Mein Handy muss vor dem Wecken den Geist aufgegeben haben. Ob Giulia weiß, dass ich noch hier bin? Und wieso habe ich nicht genauer nachgefragt, wer genau »die anderen« sind? Ihre Familie?

Bei der Vorstellung, Giulia könnte mich gegen den Willen ihrer Eltern ins Haus gelassen haben, zieht sich alles in mir zusammen.

Panisch schiebe ich mir die Decke von den Beinen. Noch immer trage ich die kurzen Jeansshorts und das rosa Spaghettitop, für das ich mich gestern noch in Deutschland entschieden habe. Ich schwinge ein Bein nach dem anderen aus dem Bett und beginne, das Zimmer zu inspizieren.

Ob sich von der dunkelblauen Bettwäsche, den leicht verstaubten Holzmöbeln und einem leeren Stifteetui auf dem Schreibtisch irgendetwas über dieses Haus und seine Bewohner ableiten lässt? Mit Ausnahme von der Tatsache, dass hier dringend mal wieder geputzt werden sollte, wirkt alles merkwürdig anonym. Diese Dinge könnten quasi jedem gehören. Ich öffne den Kleiderschrank und finde zwei Hoodies, die schätzungsweise einem jungen Mann gehören. Vielleicht Giulias Bruder? Falls ja, ist er schon eine ganze Weile nicht mehr hier gewesen, überlege ich und puste eine zentimeterhohe Staubschicht von der Kleiderstange. Mein ungutes Gefühl verstärkt sich weiter, bis ich mitten in der Bewegung innehalte. Meine Gedanken sind plötzlich bei meinen eigenen Sachen, genauer gesagt bei meinem Koffer, hängen geblieben. Wo ist er? Blitzartig suche ich den Boden ab, finde aber nur meinen Rucksack.

Dann fällt es mir wieder ein. Mist! Giulia hat ihn neben der Treppe stehen gelassen, um unnötigen Krach zu vermeiden. Wäre ich pünktlich aus dem Haus verschwunden, hätte niemand irgendetwas bemerkt.

Auf Socken husche ich zu dem großen Fenster und blicke auf die Straße. Abgesehen davon, dass es mindestens fünf Meter bis zum Boden sind, kann ich ohne mein Gepäck nicht gehen. Sosehr ich es auch vermeiden möchte, mir wird keine andere Wahl bleiben, als denselben Weg zu nehmen, über den ich letzte Nacht mit Giulia hergekommen bin.

Ob ich wohl noch kurz mein Smartphone an die Steckdose hängen kann?

Plötzlich ertönt im Flur ein lautes Poltern, kurz darauf höre ich eine dunkle Männerstimme, die mich meinen Gedanken schlagartig verwerfen lässt.

Wer auch immer da spricht, redet viel zu schnell, als dass ich verstehen könnte, was los ist. Wobei es auch ohne Italienischkenntnisse ein Leichtes wäre, zu begreifen, dass die Person verärgert ist. Verärgert ist gar kein Ausdruck.

Ich will nicht lauschen. Wirklich nicht. Doch wenn ich herausfinden will, wo genau ich hier gelandet bin und wie ich, ohne Ärger zu machen, verschwinden kann, muss ich wissen, was in diesem Haus los ist.

Ein paar Sekunden zögere ich, bevor ich mich der Zimmertür nähere und den Kopf seitlich gegen das Holz lehne.

»Merda! Bist du jetzt komplett durchgedreht?« Es ist die gleiche Stimme, die ich schon eben gehört habe. Eine Stimme, die so rau ist, dass sich mir etliche Nackenhaare aufstellen. »Was von dem, worüber wir gesprochen haben, hast du nicht verstanden?« Sie klingt zu jung, um Giulias Vater zu gehören. Entweder handelt es sich bei dem Kerl um ihren Bruder … oder aber …

Ich versuche mir Giulias Worte ins Gedächtnis zu rufen. Hat sie nicht einen Typen erwähnt, mit dem sie etwas am Laufen hat?

Mich beschleicht ein unbehagliches Gefühl. »Bitte«, flehe ich tonlos. »Lass mich nicht der Grund für diesen Streit sein.«

Meine Gebete werden im Keim erstickt, als auch Giulia das Wort ergreift. »Jetzt komm mal runter! Was hätte ich denn tun sollen? Sie auf der Straße sitzen lassen? Ich habe ihr das Bett für eine Nacht versprochen. Eine einzige Nacht.«

»Und diese Nacht geht bis elf Uhr vormittags?«

Sooft ich es auch versuche, der dicke Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat, lässt sich nicht herunterschlucken. Jetzt besteht kein Zweifel mehr: Die beiden streiten meinetwegen. Glühende Hitze breitet sich in meinem Körper aus. Dass die beiden nun deutlich leiser sprechen, macht es nur noch schlimmer. Ohne die Entscheidung vorher im Kopf abzuwägen, drücke ich die Klinke nach unten und schiebe die Tür einen Spalt auf.

Aus dem Flur lassen sich die Stimmen besser lokalisieren. Sie klingen dumpf, undeutlich wie ein Einheitsbrei aus italienischen Vokabeln. Erst als ich die Treppe erreiche, habe ich die Chance, das Gespräch weiterzuverfolgen.

»Sie hatte einen harten Tag und kennt hier niemanden außer mir.«

»Dich kennt sie auch nicht.«

»Du weißt genau, was ich sagen will. Mein Gott, Diego, jetzt tu nicht so, als hättest du sie an meiner Stelle nicht mitgenommen.«

Der Typ heißt also Diego.

»Es wird dich vielleicht wundern, aber nein, das hätte ich nicht. Weil wir eine Abmachung hatten. Eine Abmachung, an die sich im Haus alle halten. Ich korrigiere mich: alle außer dir.«

»Und was ist, wenn mir das hier mittlerweile zu blöd ist?«

Ein spöttisches Schnauben hallt zu mir hinauf an den Treppenabgang. »Glaubst du, mir macht es Spaß, der Spielverderber zu sein?« Er macht eine kurze Pause. »Und falls das als Antwort nicht reicht: Es ist mein Haus. Und solange du hier wohnst, hältst du dich an meine Regeln.«

Dieses Haus gehört ihm? Dieser Umstand vereinfacht die Situation nicht gerade. Mein Magen zieht sich kräftig zusammen.

»Du kannst mich mal!«

»Reiß dich zusammen, Giulia!« Anders, als seine Worte es vermuten lassen, klingt er jetzt etwas versöhnlicher. »Und klär die Sache mit dem Mädchen. Am besten zügig. Wir können keine Fremden im Casa Nera gebrauchen.«

Schwarzes Haus, übersetze ich stumm, ehe die ersten Schritte hörbar werden. Ich will auf dem Absatz kehrtmachen, unbemerkt zurück im Zimmer verschwinden, doch der knarzende Parkettboden macht mir einen Strich durch die Rechnung. Ich schlage mir die Hand vor den Mund und verharre wie erstarrt in dieser Position.

Geh, Merle. Lauf los oder sorg dafür, dass du auf der Stelle unsichtbar wirst. Tu irgendwas, was dich aus diesem Flur bewegt!

Doch es ist schon zu spät.

Giulia und ein Mann, offenbar Diego, kommen die Treppe hoch und direkt auf mich zu. Der Hausbesitzer ist ein paar Jahre älter als wir, jedoch höchstens dreißig, hat kurze schwarze Haare und tiefe Wangenknochen, die sein Gesicht bedrohlich schmal wirken lassen.

»Na bravo! Und schon haben wir eine neugierige Lauscherin unterm Dach. Ich bin gespannt, wie du das den anderen erklären wirst.«

Aus den dunklen, eng stehenden Augen sprühen wütende Funken. Schuldbewusst beiße ich mir auf die Lippe.

»Es … es tut mir leid«, wende ich mich an Giulia. Was diesen Diego angeht, scheine ich jegliche Chance verspielt zu haben. Wenn man überhaupt davon ausgehen kann, dass ich jemals eine hatte. »Mein Akku ist leer, und ich habe den Wecker nicht …« Mitten in meiner Erklärung breche ich ab, weil mir klar wird, dass eine Rechtfertigung wie diese gerade ungefähr so angebracht ist wie das heimliche Lauschen an sich. »Gib mir ein paar Minuten, und ich bin hier raus, okay?«

Ich wage es kaum, diesen Diego anzusehen. Es kann nicht allein diese raue Stimme sein, die ihn so finster wirken lässt. Ob es an der dunklen Kleidung liegt? Er trägt ein schwarzes Hemd, dessen oberste Knöpfe geöffnet sind. Jetzt erst habe ich die Gelegenheit, einen Blick auf den silbrigen Anhänger zu werfen, der ihm um den Hals baumelt. Ist das ein Kreuz?

»Na klar. Willst du vielleicht vorher noch dein Handy aufladen? Oder hey, wie wäre es mit einem Frühstück?« Die Ironie in seinem Tonfall lässt keinen Zweifel daran, wie wütend er ist.

»Jetzt mach mal halblang. Du tust ja gerade so, als hätte sie ein Verbrechen begangen«, verteidigt Giulia mich.

»Wer weiß, vielleicht tue ich nicht nur so. Wer sagt mir, dass sie nichts hat mitgehen lassen?«

Plötzlich keimt auch in mir eine solche Wut auf, dass ich spöttisch auf den Kreuz-Anhänger deute. »Von wegen Nächstenliebe und so. Was eine Heuchelei.« Das war vielleicht ein Tick zu viel. Wenn nicht sogar gleich zwei.

»Heuchelei?«, wiederholt er mit gerunzelter Stirn.

»Findest du nicht? Du machst Stress, weil ich meine einzige Chance auf einen Schlafplatz angenommen habe?«

»Willst du deine Situation gerade ernsthaft mit der der Jungfrau Maria gleichsetzen?«

Auch wenn ich nicht sonderlich gläubig bin, gebe ich zu, dass der Vergleich etwas hinkt.

»Komm schon, die Nummer mit der stornierten Buchung kann sich doch jeder einfallen lassen. Nicht zu glauben, dass du so naiv bist«, widmet Diego sich wieder Giulia.

»Das Zimmer wäre in Valerias Pension gewesen.«

Kaum haben die Worte Giulias Mund verlassen, verändert sich etwas in Diegos Miene. Ich kann nicht sagen, was es ist. Nicht einmal, ob seine Gesichtszüge weicher werden oder sich sogar noch mehr verspannen. Sein Ausdruck ist einfach … anders.

»Sagt wer?«, knurrt er.

»Ich hab’s gesehen.« Entweder bilde ich es mir nur ein, oder Giu­lia vermeidet es wirklich, mich anzusehen. Liegt es daran, dass sie gestern Abend mit keinem Wort erwähnt hat, dass sie diese Valeria anscheinend kennt? »Ich habe die E-Mail gesehen. Eine E-Mail mit der Stornierung.«

Diegos Nasenflügel weiten sich, er ballt seine Fäuste, als koste es ihn erhebliche Anstrengung, nichts Unüberlegtes zu sagen.

»Na gut. Ich hoffe, sie findet schnell was Neues. Bis dahin wird sie hoffentlich keinen Ärger machen.« Er redet über mich, als stände ich nicht direkt vor ihm im Flur. Und doch ändert das nichts an dem indirekten Zugeständnis, das er gerade gemacht hat.

»Ich kann bleiben?« Ungläubig bahnen sich diese drei Wörter einen Weg aus meinem Mund.

»Du darfst. Ob du es wirklich willst, werden wir dann sehen.«

»Das war nicht einfach nur seltsam, Livi. Das war wirklich unheimlich. Wie kann man dermaßen schnell seine Meinung ändern?«

Kaum hatte mein Telefon sich wieder eingeschaltet, leuchtete Livis Name auf dem Display auf. Ein Videoanruf. Eigentlich wären ein paar Minuten Ruhe zum Runterkommen gar nicht schlecht gewesen, aber ich konnte meine Cousine unmöglich schon wieder abwimmeln.

»Erst einmal will ich eine Entschuldigung dafür, dass ich deinetwegen eine fast schlaflose Nacht hatte. So beschissen habe ich das letzte Mal geschlafen, als bei Finchen die ersten Zähne gekommen sind. Ich war kurz davor, deine Mutter anzurufen, Merle.«

»Aber du hast es nicht getan?«, frage ich mit angehaltenem Atem.

»Glaub mir, Cousinchen: Hätte ich es getan, wärst du jetzt nicht mehr in diesem Casa Dingsbums, sondern im nächsten Flieger nach Hause.«

»Casa Nera«, korrigiere ich und sehe zu, wie mein Akkustand von sechs auf sieben Prozent springt.

»Das ist mir vollkommen egal. Zu deinem nächsten Geburtstag bekommst du von mir eine Powerbank. So viel steht jetzt schon fest.«

»Aber bitte nicht so ein Penis-Ding, das Ems dir geschenkt hat.«

»Erstens war das ein Geschenk zum Junggesellinnenabschied, und zweitens … Zweitens hätte dir dieses Penis-Ding gestern Abend den Arsch gerettet. Und mir die Nacht.« Meine Cousine schnappt gespielt beleidigt nach Luft. Dabei habe ich längst eingesehen, dass sie recht hat. Wäre Livi nachts in einer wildfremden Stadt unterwegs, würde ich mir die gleichen Sorgen machen. »Aber jetzt mal zurück zum Thema … Du hast dich entschieden, dort zu bleiben?«

»Mir wird erst mal keine andere Wahl bleiben.«

»Es kann doch nicht sein, dass es in ganz Venedig kein einziges Zimmer mehr gibt.«

»Kein bezahlbares Zimmer«, korrigiere ich. Allein bei der Vorstellung, dass es Menschen gibt, die für eine einzige Nacht mehrere hundert Euro bezahlen können, wird mir ganz schummrig. »Hat Robert denn etwas gefunden? Du hattest geschrieben, er würde sich erkundigen.«

Livis Seufzen ist Antwort genug. »Sobald es was Neues gibt, melde ich mich. Und wer weiß … Vielleicht kannst du dich mit diesem Diego ja doch noch anfreunden.«

»Wer’s glaubt, wird selig. Ich kann es kaum erwarten, die anderen kennenzulernen.« Von Giulia weiß ich mittlerweile, dass sie in dem Haus zu fünft wohnen. »Vier Typen und nur eine einzige Frau. An Giulias Stelle würde ich bei so viel Testosteron durchdrehen.«

»Dito. Hast du schon ausgepackt?«

Anstelle eines Kopfschüttelns halte ich die Kamera meines iPhones auf den Koffer. »Immerhin habe ich den da jetzt wieder bei mir.«

»Das Abenteuer Venedig kann also losgehen?«

Ich zucke mit den Schultern. »Dafür bin ich doch hier, oder?«

»Und ob. Ich zähle auf dich, Sherlock!«

Ich stelle mein iPhone auf den kleinen Nachttisch neben dem Bett, gehe zum Fenster und zeige Olivia die Aussicht direkt aufs Wasser. »Weißt du, was ich mich frage? Warum lässt man so ein schönes Zimmer leer stehen? Man könnte es doch vermieten.«

»Vielleicht brauchen sie das Geld nicht.«

»Und deshalb verschwendet man es?«

»Sieht so aus, als wären sie nicht sonderlich scharf auf Gäste … Wäre es dir als Erklärung lieber, sie hätten hier eine Leiche begraben?«

»Haha!«, überspiele ich das mulmige Gefühl, das bei Livis Worten erneut aufmuckt. »Oder aber meine Mutter hat recht, und nachts kriechen hier dicke Ratten durch die Rohre.«

»Ihhgitt.« Livi schüttelt sich.

»Apropos Mutter. Ich muss jetzt mal auflegen«, murmele ich und lasse mich auf das Bett sinken. »Ich werde zumindest das Nötigste auspacken und mich dann bei meinen Eltern melden.«

»Sie hält es immer noch für keine gute Idee, oder?«

»Meine Mutter?«

Livi nickt.

»Hat sie jemals etwas gutgeheißen, das mir etwas bedeutet hat?« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Grüß Robert von mir. Und mein Lieblingspatenkind.«

Kaum haben wir aufgelegt, schicke ich zwei Fotos in den Familienchat. Eins von meinem Zimmer und eine Aufnahme, die den Blick aus dem Fenster zeigt. Beide Bilder laden eine halbe Ewigkeit, bis endlich ein Haken auftaucht. Mein letztes Highspeed scheint für das kurze Videogespräch mit Livi draufgegangen zu sein. Ob es in diesem Haus WLAN gibt? Und wenn ja – will ich wirklich danach fragen?

Ich setze mich im Schneidersitz auf das Bett und ziehe den Reißverschluss meines Koffers auf. Auch wenn ich in ein paar Tagen hoffentlich ein anderes Zimmer gefunden habe, werde ich zumindest endlich saubere Kleidung und Kosmetik herausnehmen.

Zwischen einem Stapel Tops fällt mir eine kleine rosa Geschenktüte in die Hände. Neugierig nehme ich sie heraus und suche nach einer Beschriftung oder einem Zettel. Nichts.

Kurz überlege ich, ob es möglich ist, dass Mama mir ein Geschenk für die Reise gekauft hat. Als ich die Tüte öffne, fällt mir zuerst eine winzige Karte in die Hände, kaum größer als ein Kleideretikett.

Hallo, Lieblingscousine,

damit du alles haargenau für mich festhalten kannst und später nichts vergisst!

Deine Livi

PS: Deine Mutter hat versprochen, dir meine kleine Überraschung unauffällig zuzustecken. Bin gespannt, ob es ihr gelungen ist.

Mein Herz füllt sich mit einer vertrauten Wärme. Das moosgrüne Notizbuch, das ich jetzt in den Händen halte, ist eigentlich überhaupt nicht meine Farbe, und doch hat es etwas an sich, das ich wirklich mag. Ich fahre mit den Fingern über den Schriftzug auf dem Hardcovereinband. A goal without a plan is just a wish, steht dort geschrieben.

Viel Platz für die Erlebnisse, die hier auf mich warten. Begeistert durchwühle ich meine Sachen nach meinem Stiftemäppchen und zaubere einen Fineliner hervor.

Der restliche Kofferinhalt muss warten. Denn auch wenn ich erst wenige Stunden in Venedig bin, gibt es schon eine Menge zu erzählen.

5. Kapitel

Matteo

Es gibt Tage, an denen ich das Casa Nera meide. Tage wie heute, an denen ich morgens früh aufstehe, eine Runde joggen gehe und nach einer kurzen Dusche in die Uni verschwinde. Meist bin ich dann einer der Ersten im Hörsaal. Eine Tatsache, die ich mir vor geraumer Zeit nicht hätte vorstellen können. Das Leben ändert sich … Manchmal so langsam, dass man es kaum bemerkt. Manchmal aber auch von der einen auf die andere Sekunde.

»Guten Morgen.« Ein Typ mit roten, kurz geschorenen Haaren sieht auf, als ich hereinkomme.

Heute doch nicht der Erste.

»Morgen«, murmele ich, überrascht, dass es Studenten an dieser Uni gibt, die tatsächlich noch mit mir reden.

»Eine fast ausgestorbene Gattung«, hat Romeo diese Ausnahmen neulich genannt.

»Dafür schmachten ihn aber immer noch ganz schön viele Mädels an«, meinte Leandro daraufhin.

»Das wundert dich? Seit wann muss man die Person, die man vögelt, mögen? Sie wollen von ihm rangenommen werden und ihn nicht zum Vater ihrer Kinder haben.«

Ich habe so getan, als würde Romeos Kommentar mich kaltlassen, doch das hat er nicht. Genau genommen tut er das immer noch nicht.

Jetzt ist es kurz vor acht Uhr, die Vorlesung beginnt in einer Viertelstunde, und es trudeln immer mehr Studenten in den Raum. Die meisten sehen aus, als wären sie gerade erst gut ausgeschlafen aus dem Bett gekrochen. Ich hingegen fühle mich bereits vollkommen erledigt.

Streng genommen war dieses Gefühl aber schon nach dem Aufstehen da, denn das ist etwas, das diese Fluchttage gemeinsam haben: Sie wiegen schwer auf meinen Schultern und meiner Brust.

Vielleicht habe ich schlecht geträumt und kann mich nicht mehr erinnern. Kein Wunder, denn alles, was mit der Nacht zu tun hat, fällt wie durch eine Falltür aus meinem Bewusstsein. So, wie ich es mir in den letzten Monaten beigebracht habe.

»Du kannst vielleicht deine Gedanken von dir weglenken, aber Gefühle … Gefühle lassen sich nicht einfach so aussperren.« Etwas in dieser Art hat Mamma zu mir gesagt, als ich noch ein Kind war.

Ich schlage das Buch zu, betrachte den Einband und fahre mit den Augen die einzelnen Buchstaben des Titels nach. Wirtschaftswissenschaften.

Ich habe immer gern studiert, doch aktuell fühlt sich alles, was ich hier lese, so belanglos an, dass ich mich oft frage, ob ich es nicht einfach lassen sollte.

Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, vibriert mein Smartphone neben mir auf dem Tisch. Ich spüre die Blicke der anderen Studenten auf mir. Es ist alles wie immer (zehn Monate können sich wie ein immer anfühlen), und ich hätte nie gedacht, wie egal mir die anderen sein würden. Wie egal mir ihre Verachtung sein würde.

Ich greife nach meinem Smartphone und sehe auf das Display.

C: Muss dringend mit dir reden.

Fuck. Während ich den Bildschirm entriegele, beschleunigt sich mein Herzschlag.

Matteo: Bin im Hörsaal im Hauptgebäude. Dringend wie jetzt oder dringend wie in neunzig Minuten?

C: Schreib mir nach der VL, okay?

Ich schüttele den Kopf. Warum auch immer ich überhaupt diese Frage gestellt habe, die Antwort ändert nichts daran, dass ich unmöglich in dieser Vorlesung sitzen kann, während Chiara etwas auf der Seele brennt.

Matteo: Vergiss, was ich gesagt habe. Wo bist du?

Als Chiaras Standort in unserem Chat lädt, öffne ich ihn sofort. Dreihundert Meter Entfernung.

Matteo: Gib mir fünf Minuten.

Zehntausend Euro.

Verfluchte Scheiße, das ist verdammt viel Geld. Mehr als mein ganzes Erspartes.

»Kriegst du das hin?« Unser Gespräch ist zwei Stunden her, und ich höre ihre flehende Stimme noch immer in meinem Kopf.

»Mach dir darum bitte keine Sorgen.« Was zur Hölle habe ich mir dabei nur gedacht?

Beruhige dich, Matteo. Du hast es die letzten Monate geschafft. Dann packst du das jetzt auch.

Als ich im Casa Nera ankomme, steuere ich als Erstes das Esszimmer an. Diego sitzt in seinem Sessel, ein Glas Gin in der linken Hand.

»Es ist nicht mal sechzehn Uhr, und du lässt dich schon volllaufen?

»Gott hab sie selig, aber du bist nicht meine Mutter«, schnauft Diego, ohne aufzusehen.

»Hast du keine Klienten?«

»Ich habe dich, Romeo und Leandro. Das genügt als Lebensaufgabe.« Er lacht trocken auf, und mir fällt nichts ein, das ich erwidern könnte.

»Willst du auch?« Diego deutet auf den Gin.

Ich schüttele den Kopf.

»Das Zeug würde dich mal etwas locker machen.« Ein Lächeln umspielt Diegos Mundwinkel. Er weiß genau, was es mit mir macht, wenn er so tut, als wäre nichts passiert.

»So locker wie dich, meinst du? Ich verzichte.« Mein Kiefer beginnt zu zucken. Angestrengt zwinge ich mich, ruhig zu bleiben. Ich bin nicht ohne Grund zu Diego gekommen.

»Wobei kann ich dir helfen?« Ohne mit der Wimper zu zucken, stellt er sein Glas ab. Das Klirren sticht in mein Ohr wie ein scharfes Messer. »Deshalb bist du doch hier, oder? Ich meine, wenn einer von euch hier mit diesem Blick auftaucht, gibt es immer irgendein Problem, das Onkel Diego lösen muss.«

Onkel Diego. Von wegen. Giulias und Leandros Cousin ist nur wenige Jahre älter als wir, und doch … sosehr ich wünschte, er hätte unrecht, bin ich doch genau deshalb hier.

»Ich brauche Geld«, platzt es aus mir heraus.

»Wie viel?«

»Zehntausend.«

Diego hebt eine Augenbraue. Weniger vor Entsetzen, mehr aus Überraschung. »Wow, ich hoffe, sie war es wert.«

»Du bist ein Arsch.«

»Ein Arsch, der dir zehntausend Kröten geben soll. Hättest du ein Wort gesagt, hätte ich dir eine für umsonst besorgt. Du musst dich eher an die Touristen halten. Oder an die Mädels von außerhalb. Die kriegen vom Klatsch und Tratsch kaum etwas mit.«

Seine Worte hinterlassen nichts als Wut in mir.

»Ich wünschte, du würdest dir manchmal selbst zuhören. Aber falls ich dich damit beruhigen kann: Die Frauen, mit denen ich schlafe, tun es freiwillig. Sie kommen auf andere Art und Weise auf ihre Kosten.«

Aus Diegos Mund klingt es, als wären Frauen an sich nichts als Ware. Vielleicht irre ich mich jedoch auch, und es sind Menschen generell, mit denen er nicht klarkommt.

»War doch nur ein Scherz, Bro. Lass mich dich doch etwas ärgern. Ich weiß ja, dass dein goldener Pimmel sie alle haben kann.«

»Was ist jetzt mit dem Geld?«

»Du kannst dreitausend haben, wenn du mir verrätst, wofür du die Kohle brauchst.«

Ich atme tief durch. Diego die Wahrheit zu sagen, würde nichts ändern.

»Weißt du, wie man Gerüchte am besten erstickt? Nicht, indem man sie bekämpft. Man ignoriert sie. Lebt über sie hinweg. Und genau das solltet ihr auch tun.«

Nein, ich werde dieses Gespräch mit Diego nicht noch einmal führen. Mir seine Vorträge kein einziges Mal mehr anhören.

»Vergiss es!«

»Was ist mit den dreitausend?«

»Ich sagte, vergiss es!«

»Schön.« Diego greift erneut nach seinem Gin und kippt den Inhalt in einem Zug hinunter. »Bevor du gehst, muss ich dich noch vorwarnen.«

Ich drehe mich argwöhnisch zu ihm um.

»Sobald die anderen hier sind, sollten wir uns unterhalten.«

»Worüber?«

Diegos Augen verengen sich zu Schlitzen. »Das besprechen wir, sobald wir vollständig sind.« Als hätte er meine Gedanken gelesen, korrigiert er sich im nächsten Moment. »Romeo und Leandro sind erst zum Abendessen zurück. Wir reden dann über die kleine Überraschung, die Giulia uns beschert hat.«

»Überraschung?«, frage ich alarmiert.

Diego nickt langsam. »Ich verrate schon mal so viel: Sie wird keinem von euch gefallen.«

6. Kapitel

Merle

Die Università Ca’ Foscari Venezia verteilt sich auf mehrere Gebäude quer über die ganze Stadt. Obwohl es laut Navi meines Smartphones vom Casa Nera nur achthundert Meter bis zum Hauptgebäude sind, bin ich bereits eine knappe halbe Stunde unterwegs. Mit großer Wahrscheinlichkeit liegt das aber nur daran, dass meine Aufmerksamkeit an jeder Ecke von etwas Neuem an sich gerissen wird. Mal ist es der Geruch von frischer Pizza, mal ist es das gebrochene Englisch eines Venezianers, der versucht, mich zu einer überteuerten Gondelfahrt zu überreden. Zuletzt biege ich auch noch vollkommen falsch ab und lande in einer Sackgasse. Weil ich nicht vorhabe, die letzten Meter zu schwimmen, bleibt mir wohl oder übel nichts anderes übrig, als auf dem Absatz kehrtzumachen.

Am Ende einer anderen schmalen Gasse erreiche ich endlich einen Torbogen, auf dem der Name der Universität steht. Erleichtert atme ich durch und kippe den Inhalt einer frisch gekauften Wasserflasche bis auf den letzten Schluck hinunter. Die Kohlensäure brennt angenehm in meinem trockenen Hals.

Ich hätte nicht gedacht, dass die neue Uni eine solche Nervosität in mir auslösen würde.

Kaum habe ich den ersten Fuß durch das Tor gesetzt, fasse ich einen Entschluss: Was auch immer mich die nächsten Wochen und Monate erwarten wird, ich werde diese Zeit in mich aufsaugen. So tief wie die warme italienische Luft, von der weder Herz noch Lunge je genug kriegen werden.

Der Innenhof ist zu meiner Überraschung weniger überfüllt, als ich es mir vorgestellt habe. Vielleicht liegt es an der Uhrzeit, vielleicht bin ich durch den Trubel der Kölner Uni aber auch einfach andere Bilder gewohnt. Auf der linken Seite des Hofes befindet sich eine hohe Mauer, die mit ihren nach oben hin gezackten Backsteinen aussieht, als sei sie das Überbleibsel einer mittelalterlichen Burg. Durch ein vergittertes Tor kann ich das Wasser und die Brücke sehen, über die ich eben noch gelaufen bin.

Ein Durcheinander an Stimmen lässt meinen Blick nach rechts schweifen. Ich entdecke eine Gruppe Studenten, die es sich an einer Reihe Tische bequem gemacht hat. Sie scheinen zu konzentriert auf ihr Gespräch zu sein, um Notiz von mir zu nehmen.

Als ich eine mittelgroße Eingangshalle betrete, kommt mir zum ersten Mal der Gedanke, dass es vielleicht doch nicht so schlau war, mitten im Semester herzureisen. Die meisten Studenten, die sich über das Erasmus-Programm beworben haben, sind seit zwei Wochen hier, und wenn ich richtig informiert bin, hat es zu Beginn auch einige Veranstaltungen zum Kennenlernen gegeben. Ich kann nur hoffen, dass ich trotzdem noch ein paar nette Leute treffen werde.

»Scusi!« Eine Dame, direkt vorn an der Information, ist auf mich aufmerksam geworden. »Kann man Ihnen behilflich sein?« Sie sitzt in einer Art Glaskasten und mustert mich durch den Rahmen einer dünnen Brille.

Mein Herzschlag beschleunigt sich. Muss ich mich hier irgendwo anmelden? Ganz automatisch nicke ich.

»Ich … äh … ich bin über das Förderprogramm für ein Auslandssemester hier.«

»Jetzt noch? Ende September?«

Na schön, ich werde mich wohl oder übel näher erklären müssen.

»Ich bin kurzfristig für jemanden nachgerückt.«

»Verstehe.« Vielleicht bilde ich es mir nur ein, vielleicht wird die Miene der Dame aber auch tatsächlich etwas weicher. »Die Vorlesungssäle sind im ersten Stock. Einige Veranstaltungen finden auch außerhalb statt.«

»Danke?« Es klingt, als würde ich eine Frage stellen. Mit einem freundlichen Lächeln gehe ich an ihr vorbei und bin froh, auf der rechten Seite die Treppe zu entdecken.

Kaum habe ich die letzte Stufe verlassen, bereue ich es, die Frau am Empfang nicht nach dem Schwarzen Brett gefragt zu haben. Zwischen den Seiten eines Collegeblocks finde ich den Aushang meiner Wohnungssuche, den ich bereits in Deutschland vorbereitet habe. Ich überfliege die Zeilen und seufze bei der Erinnerung dran, wie ich sie hoffnungsvoll in den PC getippt habe. Zu diesem Zeitpunkt bin ich davon ausgegangen, dass ich mit der Pension als Sicherheit wenig Druck hätte, sofort ein geeignetes Zimmer zu finden. Dass die Umstände sich ein klitzekleines bisschen geändert haben, liegt mir nach wie vor schwer im Magen. Ich zucke zusammen, als die Tür eines Raumes aufgestoßen wird und mehrere Dutzend Studenten den Flur fluten.

Zwischen den vielen Stimmen und Gesichtern versuche ich auszumachen, wer am ehesten nach einem Auslandssemester aussieht.

Ich presse mir den Aushang eng an die Brust und versuche, ein gelassenes Lächeln aufzusetzen. Kaum hat sich der Trubel gelegt, fällt mir das Lächeln allerdings auch schon wieder aus dem Gesicht.

»Uff.« Wieso wird es in Filmen und Serien eigentlich immer so dargestellt, als seien die Neuen für alle wahnsinnig interessant?

Nicht, dass ich scharf auf übertriebene Aufmerksamkeit bin, aber es wäre zumindest schön, wenn mich die ein oder andere Person kurz wahrnähme.

»Zwanzigtausend Studierende«, höre ich plötzlich jemanden auf Englisch hinter mir sagen. Erschrocken drehe ich mich um. Ich bin nicht wirklich davon ausgegangen, dass dieser jemand mit mir spricht. Umso überraschter bin ich, als ich einen Typen mit schulterlangen braunen Locken entdecke. Er lehnt nur wenige Meter von mir entfernt an einer Wand und betrachtet mich, als habe ich eine Art Sensationslust in ihm geweckt.

Ich scheine also doch nicht unsichtbar zu sein.

»Bitte?«

»Hast du dich das nicht gerade gefragt?« Ein Lächeln zuckt in seinen Mundwinkeln. »Ich meine, die meisten, die hierherkommen, stellen sich die Uni deutlich kleiner vor. Aber es sind tatsächlich etwa zwanzigtausend Studenten, die hier eingeschrieben sind. Und damit meine ich allein diese Uni hier. Es gibt noch zwei andere Hochschulen auf der Insel. Wie viele da studieren, kann ich dir aber nicht sagen.« Das Lächeln wird ein ganzes Stück breiter, als er meine verdutzte Miene sieht. »Sorry für das Infodumping. Ich dachte, vielleicht interessiert es dich. Du bist doch neu, oder?«

Eine Welle der Erleichterung durchflutet mich.

»Zwanzigtausend Studenten, und du erkennst sofort ein neues Gesicht?«

Er stößt sich von der Wand ab und kommt einige Schritte auf mich zu. »Ich habe einen Blick für Details.« Amüsiert zwinkert er mir zu.