Wenn ich uns verliere - Antonia Wesseling - E-Book
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Wenn ich uns verliere E-Book

Antonia Wesseling

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Beschreibung

Wenn die Welle droht dich mitzureißen, brauchst du einen Anker, der dich hält  Als Maggie ihren neuen Job in einem Kölner Café́ annimmt, ahnt sie nicht, vor welche Herausforderung sie das Leben stellt: Die Studentin trifft dort Leo wieder. Den jungen Mann, mit dem sie vor zwei Jahren eine unvergessliche Nacht verbracht und den sie in ihr dunkelstes Geheimnis eingeweiht hat. Während Leo noch immer die Frage beschäftigt, warum ihn die unberechenbare Frau so plötzlich von sich gestoßen hat, ist auch Maggie wieder von ihren intensiven Gefühlen überwältigt. Dabei könnte Leos Nähe gefährlich für sie werden. Er weiß zu viel über die Nacht, in der ihre Schwester starb. Doch gleichzeitig weiß er auch noch längst nicht alles. 

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Seitenzahl: 517

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Wenn ich uns verliere

Die Autorin

ANTONIA WESSELING, geboren 1999, lebt in Köln. Schon als Kind erfand sie eigene Geschichten und veröffentlichte ihre ersten Jugendbücher.Neben der Arbeit als Autorin bloggt sie auf Instagram (@antoniawesseling) und YouTube (@tonipure) über gute Bücher, ihre Liebe zum Schreiben und mentale Gesundheit.

Antonia Wesseling

Wenn ich uns verliere

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH Berlin 1. Auflage September 2022© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-95818-698-9

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Hinweis

Playlist zum Buch

Mai, vor zwei Jahren

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

2. Teil

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

EpilogVier Monate später

Nachwort

Danksagung

Hilfsangebote

Empfindliche Themen

Weil du mein Weihnachten bist

Maggie

Leo

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Hinweis

Widmung

Für alle, die Maggies Farben sehen können.

Für alle, die es nicht können, aber trotzdem nicht aufhören, es zu versuchen.

Und besonders für L. Du weißt, warum.

Hinweis

Ihr Lieben,

in diesem Buch werden auch Themen besprochen, die für manche Menschen belastend sein können. Falls ihr euch vorab informieren möchtet, findet ihr am Ende des Buches auf Seite 439 eine genaue Auflistung. Ihr solltet euch allerdings bewusst sein, dass diese Seite Spoiler für die gesamte Geschichte enthält. Wir möchten, dass ihr das bestmögliche Leseerlebnis habt.

Eure Antonia und das Forever-Team

Playlist zum Buch

Up – Olly Murs, Demi Lovato

The Woods – Hollow Coves

Broken – Lovelytheband

Schatten ohne Licht – Madeline Juno

Skinny Love – Birdy

Control – Zoe Wees

Umbrella – Rihanna, JAY-Z

Never Forget You – Zara Larsson, MNEK

Halt dich an mir fest – Revolverheld, Marta Jandovà

An deiner Seite – Batomae

I Hate u, I love u – Garett Nash, Olivia O’Brien

I Don’t Believe You – P!nk

Bad at Love – Halsey

Scars To Your Beautiful – Alessia Cara

In My Blood – Shawn Mendes

Someone You Loved – Lewis Capaldi

I Hate You, Don’t Leave Me – Demi Lovato

Mai, vor zwei Jahren

1. Kapitel

Maggie

Es ist Mitte Mai, und die Kälte umhüllt mich wie ein unsichtbares Hemd. Jemand hat das Fenster geöffnet, die Luft weht unangenehm in den Raum, und ich habe am ganzen Körper Gänsehaut. Doch die eigentliche, die schmerzhafte und unerträgliche Kälte kommt von innen.

Ich sitze auf der Couch einer Kommilitonin und frage mich, was ich hier eigentlich soll. Klar, wir studieren die nächsten drei Jahre zusammen, und es wäre sicher nicht schlecht, ein paar Kontakte zu knüpfen. Dennoch fühle ich mich hier so fehl am Platz, als habe es das Leben der alten Maggie nie gegeben. Als habe es mich nicht gegeben. Die Maggie, die unbeschwert lacht, Spaß hat, Leichtigkeit fühlt.

Wahrscheinlich habe ich deshalb mit diesen Menschen, in dieser Wohnung, in diesem Augenblick nichts gemeinsam. Fast kommt es mir vor, als würden die anderen eine Sprache sprechen, die ich nicht verstehe. Sie lachen über Scherze, die ich nicht komisch finde. Sie sprechen über Themen, die für mich nicht greifbar sind. Doch das Schlimme ist: Ich weiß, dass nicht sie die Seltsamen sind, sondern ich.

»Maggie, richtig? Du kommst auch nicht von hier, oder?« Der Typ, der sich mir als Simon vorgestellt hat, sieht mich von der Seite an und grinst.

Er ist groß und dünn, hat blonde lockige Haare und ein schwarzes Tattoo am Hals. Ich glaube, es ist ein Adler, doch so genau kann ich das nicht erkennen.

Ich nicke, lasse die Flasche Bier auf meinen Schoß sinken und klemme sie zwischen meinen Beinen ein. Wenn ich eines in den sechs Wochen hier gelernt habe, dann, dass ich meine Heimatstadt nicht nennen kann, ohne mir einen Spruch einzufangen.

»Sieht man mir das sofort an?« Ich versuche zu lächeln.

Simon kippt sich den letzten Schluck aus seiner Flasche in den Rachen und schüttelt den Kopf: »Du warst die Einzige, die ein Bier bestellt hat und kein Kölsch.«

»Erwischt.« Jetzt lächle ich wirklich. »Ich komme aus der verbotenen Stadt.« Als Simon nicht reagiert, füge ich hinzu: »Also aus Düsseldorf. Du weißt schon … Köln und Düsseldorf …« Ich hebe die Hände und lasse die Finger wackeln, als hätte ich etwas Gruseliges gesagt. »Woher kommst du?«

»Aus Aachen. Aber vor einem Jahr fürs Studium hergezogen.«

»Dann hast du vorher etwas anderes studiert?«

Simon nickt. »Linguistik. Ich kann mir aber jetzt etwas anrechnen lassen. Und du? War Erziehungswissenschaft deine erste Wahl?«

Als ich zu einer Antwort ansetzen will, stellt jemand die Musik leiser. Endlich! Es ist so anstrengend, ein Gespräch zu führen, wenn man gegen den Lärm anschreien muss.

»Zeit für ein Spiel«, ertönt eine weibliche Stimme.

Ich lehne mich langsam zurück. Das Sofa, auf dem ich sitze, fühlt sich ziemlich durchgesessen an. Der Stoff ist an einigen Stellen zerrissen und muffelt nach kaltem Zigarettenqualm.

»Welches Spiel?« Ein Kerl, der zuvor mit zwei weiteren in einer Ecke gestanden hat, löst sich aus der Gruppe. »Sollen wir einen Stuhlkreis bilden und uns alle vorstellen?«

»Hey, das wird witzig.« Ein Mädchen steht auf. »Wir spielen Wahrheit oder Pflicht. Wer kneift, muss trinken.«

Das kann ja heiter werden … Eigentlich trinke ich selten Alkohol. Es ist weniger der Geschmack, den ich nicht mag, sondern der Kontrollverlust. Menschen legen ihre Hemmungen ab, tun unüberlegte Dinge. Ich tue unüberlegte Dinge schon ohne Alkohol. Wie soll das erst betrunken werden?

Nervös greife ich nach den Chips neben mir. Ich glaube, ich bin die Einzige, die seit der Ankunft ununterbrochen in die Schale greift. Die Snacks beruhigen mich.

Was soll’s! Niemand hier kennt mich, ich kenne niemanden. Im Zweifel kann ich die Wahrheit einfach neu erfinden.

Langsam setzen sich die Ersten um uns herum auf das Sofa oder quetschen sich auf den Boden. »Wir können die Flasche drehen.« Ein dunkelhaariger Typ trinkt den letzten Schluck seines Biers und legt dann die Glasflasche auf den Tisch und gibt ihr einen Schubs.

Ich halte den Atem an, als die Flasche Schwung aufnimmt.

Als der Hals auf ein Mädchen mit schwarzer Kurzhaarfrisur zeigt, atme ich erleichtert aus.

Sie scheint ihr Schicksal gelassen zu nehmen, rückt den Ausschnitt ihres grauen Tops zurecht und grinst. »Lasst euch was einfallen! Ich nehme Pflicht.« Gespannt lehnt sie sich zurück in ihren Sessel.

Wie durch einen Schleier der Anspannung nehme ich wahr, wie jemand etwas sagt. Das Mädchen zeigt zuerst einen Vogel, löst sich aber dann von seinem Sitz und sieht sich in der Gruppe um.

Irritiert zucke ich zusammen, als Simon plötzlich vor ihr steht und sie mit einem fordernden Grinsen ansieht.

»Ich bin ein guter Küsser.«

»Das hoffe ich für dich«, antwortet sie und schlingt die Arme um seinen Hals.

Auweia. Ich muss hier weg.

Der Kuss dauert nur ein paar Sekunden. Trotzdem ist es im Zimmer so mucksmäuschenstill, dass ich mich kaum noch zu atmen traue.

»Hier gibt’s nichts mehr zu sehen«, triumphiert Simon und verbeugt sich im Raum. Die beiden gehen auf ihre Plätze zurück, und es ist, als sei nichts geschehen.

»Du kannst ruhig drehen«, erklärt das Mädchen und deutet auf Simon.

Das Glas klirrt auf dem dunklen Holztisch. Wieder verkrampfe ich meine Beine und fixiere die dämliche Bierflasche, als könne sie mich jeden Augenblick erstechen. Mein Herz rast, als die Drehung sich verlangsamt. Und dann … dann kommt es so, wie es kommen muss: Der Flaschenhals zeigt auf mich.

»Wooow.« Das Grölen der anderen dringt kaum zu mir durch. »Unser nächstes Opfer.«

Ich weiß nicht, warum mir so schwindelig ist. Kann das schon am Alkohol liegen? Meine Finger sind schwitzig, und ich will plötzlich nur noch hier weg.

»Wahrheit«, höre ich meine eigene Stimme sagen. Sie klingt fester, als ich erwartet habe.

Wahrheit … Niemand kann kontrollieren, was du sagst. Niemand.

»Ich darf die Frage stellen«, ruft Simon. »Ich habe gedreht.«

»Ey, Alter, schrei nicht so. Wir sind hier nicht im Kindergarten.« Ich zucke zusammen, als sich ein muskelbepackter Kerl neben Simon auf das Sofa fallen lässt.

Simon zögert. »Wenn du einen Moment in deinem Leben zurückdrehen könntest, welcher wäre das?«

Der Muskeltyp verzieht das Gesicht: »Ich wusste, dass das Spiel öde ist. Die Frage ist lahm.« Völlig übertrieben legt er den Kopf in den Nacken und beginnt zu schnarchen. Ein paar Leute lachen, einige schimpfen, er solle die Klappe halten.

Die Blicke wenden sich mir zu, und ich … ich weiß nichts mehr. Als habe man mir die Fähigkeit zum Denken einfach genommen. Ausgesaugt. Mein Körper ist unfähig, sich zu rühren, dabei habe ich den starken Drang, aufzuspringen und mich zu übergeben.

Aber ich sitze fest und versuche, einen Anker zu finden.

Der Boden. Meine Füße stehen fest auf dem Holz. Meine Hände. Ich kralle die Finger ins Sofa, so fest, dass meine Knöchel weiß hervortreten. Die Wände. Sie sind hellgrau gestrichen. Die Standuhr. Ich höre ihr gleichmäßiges Ticken. Oder ist das nur in meinem Kopf?

»Wenn du nicht antwortest, musst du trinken«, sagt Simon und schiebt mir ein Kölsch rüber. Der Geruch des Alkohols strömt mir in die Nase. Ich rieche die Angst. Die Erinnerung. Ich rieche den Kontrollverlust. Und dann … verliere ich mich.

Ich sehe mich um: Es ist dunkel geworden. Ich stehe auf der Straße vor dem Haus meiner Kommilitonin und weiß nicht mehr, wie ich hierhergekommen bin. Es ist das dritte Mal, dass so was passiert ist. Das dritte Mal, seit die große bunte Welt aufgehört hat, sich für mich zu drehen.

Hastig atme ich die Frühlingsluft ein und schließe für einen Moment die Augen.

Es ist alles gut. Ich bin in Sicherheit.

Langsam lasse ich mich auf den Bordstein sinken und achte darauf, gleichmäßig zu atmen. Ich lege meine Hände an meinen Hals und erschaudere wegen der Kälte meiner Fingerspitzen. Es ist so, als sei mit der Angst jegliches Blut aus meinen Adern gewichen. Aber ich bin da. Und das ist das Wichtigste.

Wie bin ich nur auf die bescheuerte Idee gekommen, auf diese Hausparty zu gehen? Nach diesem Abend möchte ich keinen der anderen Gäste je wiedersehen. Super Voraussetzungen für mein erstes Semester in einer neuen Stadt …

Plötzlich jagt ein Stechen durch meine Brust. Wo ist meine Tasche? Habe ich sie mitgenommen? Auf keinen Fall werde ich heute noch einen Schritt in diese Wohnung setzen. Gestresst springe ich auf, drehe mich und haste ein paar Meter zurück zu dem Mehrfamilienhaus, in dem sich meine Kommilitonen sicher fragen, warum das schräge Mädchen ohne ein Wort und wie in Trance die Party verlassen hat.

In der Dunkelheit suche ich den Boden ab. Im schwachen Licht der Straßenlaternen ist es nicht einfach, so viel zu erkennen.

Ich mache einen Schritt nach vorne und stolpere. Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich mich schon mit den Knien auf das Kopfsteinpflaster aufschlagen, doch reflexartig schwingt mein linkes Bein vor, und ich knicke nur ungeschickt ab.

Verdammt. Wo kam diese Bordsteinkante plötzlich her? Ein höllischer Schmerz schießt durch meinen Fuß.

Stöhnend lasse ich mich zurück auf den Boden sinken und spüre an meiner rechten Hand etwas, das sich wie meine Tasche anfühlt. Tatsächlich. Als ich meine kleine schwarze Kunstledertasche an mich ziehe, schießen mir vor Erleichterung Tränen in die Augen.

Sie muss mir bei meiner panischen Flucht von der Party von der Schulter gerutscht sein. Schnell ziehe ich den Reißverschluss auf und greife nach meinem Smartphone.

Ich brauche definitiv ein Taxi.

Mit den stechenden Schmerzen in meinem Knöchel kann ich unmöglich bis zur nächsten Bahnstation humpeln. Ich wünsche mir nichts mehr als in meiner kleinen Einzimmerwohnung zu sein, die ich seit Kurzem mein eigenes Reich nenne.

Die nächsten Minuten passiert nichts. Irgendwann öffnet sich mir gegenüber eine Haustür, und eine Frau im Bademantel eilt zur Mülltonne. Ob sie mich überhaupt entdeckt hat, wie ich reglos auf der anderen Straßenseite sitze und in den Nachthimmel schaue?

Mit einem Mal fällt mir auf, dass ich nicht mehr friere. Die Stille der Nacht beruhigt mich, sodass allmählich auch mein Unbehagen und die innere Kälte von mir abfallen. Erschöpft schließe ich die Augen.

Erst das Blenden zweier Scheinwerfer lässt mich aufblicken. Ich hebe die Hand, um dem Fahrer ein Zeichen zu geben, und beeile mich, trotz des pochenden Fußes aufzustehen. Das Auto fährt vor, und ich will gerade einsteigen, da schiebt sich von der anderen Seite eine Gestalt aus der Dunkelheit an mir vorbei. Direkt auf die Rückbank des Wagens.

»Hey«, protestiere ich lauthals. »Das ist mein Taxi.« Ich lege einen Zahn zu, öffne die Autotür und starre den Typen an, der es sich gerade auf meinem Platz bequem macht.

Er hat kurze braune Haare, sonnengebräunte Haut und ein verschmitztes Lächeln.

»Das ist meins«, wiederhole ich irritiert.

Mein Gegenüber betrachtet mich kurz. Dann legt es die Stirn in Falten: »Oder meins. Ich war zuerst hier.«

»Ich habe dieses Taxi aber bestellt«, entgegne ich und kann nicht fassen, dass dieser Blödmann jetzt auch noch mit mir diskutieren will.

Der Fahrer wirft einen verärgerten Blick nach hinten. »Haben wir es gleich?«

»Ich habe ein Taxi bestellt«, erkläre ich mit möglichst ruhiger Stimme.

»Und ich auch«, hängt sich der Typ einfach an.

Nur mein pochender Fuß hält mich davon ab, wie ein störrisches Kind auf den Bürgersteig zu stampfen. Ich beiße die Zähne zusammen, um nichts Unüberlegtes zu sagen. In solchen Augenblicken die Fassung zu bewahren, kostet mich all meine Selbstbeherrschung.

»Macht das bloß unter euch aus. Ich habe keine Zeit für dieses Affentheater«, grunzt er. »Aber bisschen zackig, wir haben Freitagabend. Wenn ihr euch nicht entscheiden könnt, steigt ihr beide wieder aus.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust und warte darauf, dass der Idiot aus meinem Taxi aussteigt, doch er bewegt sich nicht.

»Ist das wirklich dein Ernst?«, fauche ich.

Endlich rutscht der Typ auf der Rückbank etwas in meine Richtung. Er stellt einen Fuß auf die Straße und mustert mich erneut. Seine markanten Wangenknochen treten hervor. »Wohin willst du denn, freches, blondes Mädchen?« Am liebsten würde ich ihm auf der Stelle in seine braunen Augen spucken, stattdessen reiße ich mich zusammen.

»Ich möchte nach Hause. Mit meinem Taxi«, erwidere ich scharf.

»Du siehst aber vermutlich ein, dass ich zuerst hier gesessen habe, oder?«

Die aufbrausende Wut brennt in meinem Bauch wie ein Feuer.

Bloß nicht die Kontrolle verlieren.

»Ach, und deshalb gehört es dir?« Ich kann nicht glauben, dass mir das gerade wirklich passiert.

Wider meine Erwartung steigt der Typ aus dem Wagen. Er ist einen halben Kopf größer als ich. Mit der rechten Hand gibt er der Tür einen energischen Schubs. Jetzt erst fällt mir der graue Rucksack auf, den er sich auf die rechte Schulter schwingt.

»Moment, Moment. Steht hier nicht irgendwo ein Kennzeichen?«, sagt er und zückt sein Smartphone.

Bevor ich antworten kann, heult der Motor des Autos auf, und das Taxi braust davon.

2. Kapitel

Leo

Verdutzt blicke ich dem Wagen hinterher und brauche einen Augenblick, bis ich begreife, was sich hier gerade abgespielt hat.

»Mann, hatte der schlechte Laune.«

»Sag mal, spinnst du eigentlich?«

»Hey, hast du das gesehen? Er ist einfach los, nicht ich.« Abwehrend hebe ich die Hände. Ich muss zugeben, dass ich so was noch nie erlebt habe.

»Du hast mir mein Taxi vergrault«, faucht das Mädchen.

»Oder du meins.« Ich lächle. Doch sie sieht nicht gerade entspannt aus. Genervt schüttelt sie den Kopf und hält mir ihr Telefon direkt unter die Nase. Denn tatsächlich: Laut Bestätigungsmail muss es wirklich ihres sein. Gewesen sein. Oops! Jetzt stehen wir hier …

»Okay, hör zu, du Blödmann«, sagt sie in sachlichem Ton. »Ich werde mir jetzt ein neues Taxi rufen, und diesmal näherst du dich dem Wagen nicht, verstanden? Ich weiß nicht, was so schwer daran sein kann, aber wenn du willst, helfe ich dir dafür auch, ein eigenes zu bestellen.«

»Schon gut! Das kriege ich allein hin. Tut mir leid, ich habe es einfach eilig gehabt.« Ich hole tief Luft und sehe ihr ins Gesicht. Moment mal … Ist sie verletzt, oder verzieht sie wegen mir das Gesicht so leidvoll?

»Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Es geht«, brummt sie. »Abgesehen davon, dass ich spät am Abend mit einem Fremden um ein Taxi streiten musste, habe ich mir vermutlich eben den Fuß verstaucht.«

Ich sehe mich um. »Gerade eben? Hier?«

Sie verdreht die Augen und seufzt. »Bordsteinkante. Bin umgeknickt.«

»Ohhh«, entfährt es mir. Ich hätte ihr das Taxi einfach überlassen sollen. »Dann nimm du einfach mein Taxi. Das müsste ja gleich kommen.«

Ich zücke mein Telefon und öffne die App. »Nur noch …« Jetzt verziehe ich das Gesicht. »Verdammt, was ist denn hier los? Meine Bestellung wurde storniert?«

»Na super!«

Verlegen kratze ich mich am Kopf. »Wohnst du weit von hier?«

»Eine halbe Stunde mit der Bahn. Dann noch ein ganzes Stück gehen. Das kann ich aber mit dem Fuß vergessen.« Das hartnäckige Funkeln in ihren Augen ist faszinierend.

»Es tut mir wirklich leid. Warum hast du denn nichts gesagt?«

»Dein Ernst? Ich konnte ja nicht wissen, dass man bei einer Taxibestellung in Köln ein Gesundheitszeugnis vorlegen muss.«

Ihre Schlagfertigkeit und ihr Selbstbewusstsein sind verdammt sexy, auch wenn sie gerade mit Sicherheit nicht auf diese Art von mir wahrgenommen werden will.

»Pass auf«, entfährt es mir. Ich hebe entschuldigend die Hände. »Lass es mich wiedergutmachen!«

Kurz scheint sie zu überlegen. Ich bilde mir ein, dass die Abscheu aus ihrem Blick verschwindet.

»Ich habe wirklich nicht noch mehr Zeit zu verschwenden. Also hau einfach ab, okay?«, sagt sie dann jedoch in einem strengen Ton.

Sie will sich gerade von mir abwenden, da versuche ich es ein letztes Mal: »Ich kann dich doch jetzt nicht einfach so weghumpeln lassen.«

Eigentlich rechne ich damit, dass sie mir einen Vogel zeigt oder wortlos davonstapft, doch plötzlich werden ihre Gesichtszüge weicher.

»Tut es sehr weh?«, frage ich und verschränke meine Hände im Nacken.

Sie zuckt mit den Schultern, sieht dabei aber wirklich erschöpft aus. Wer weiß, vielleicht hatte sie auch einen beschissenen Abend. Sie sieht so aus, als wäre sie auf einer Feier gewesen.

»Weißt du, wenn mein Abend nicht eine reine Katastrophe gewesen wäre, würde ich dein schuldbewusstes Gesicht fast charmant finden.« Langsam streicht sie sich eine Strähne ihres langen Haares hinters Ohr.

»War das etwa ein Kompliment?« Meine Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln.

»Vergiss es! Das war höchstens eine Erklärung, warum ich mir überlegen könnte, dir zu verzeihen.«

»Damit kann ich leben.« Erstaunlich gut sogar.

Ich stelle meinen Rucksack ab und gehe vor ihr auf die Knie.

»Folgt in deiner Welt nach Vergebung gleich ein Heiratsantrag?«

Sie scheint Humor zu haben. Ich schnaufe amüsiert. »Eigentlich wollte ich mir nur den Fuß ansehen. Darf ich?«

Wider Erwarten lässt sie zu, dass ich ihr Hosenbein bis zum Knie hochschiebe und einen Schuh abstreife.

Vorsichtig verlagert sie ihr Gewicht auf den verletzten Fuß, um im nächsten Augenblick ein gequältes Gesicht zu ziehen.

»Man kann äußerlich nichts erkennen. Wir sollten die Verletzung dennoch mit Eis kühlen. Außerdem solltest du das Bein hochlegen, damit der Fuß nicht anschwillt.«

Sie betrachtet mich erstaunt. »Bist du Arzt?«

Ich schüttele den Kopf. »Nein. Aber ich studiere Medizin.«

Langsam hebt sich ein Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. Sie sieht unfassbar niedlich aus, wenn sie so guckt.

»Magdalena.« Sie hält mir eine Hand hin, und ich greife danach. »Aber lieber Maggie.«

»Ich bin Leonard. Aber lieber Leo.«

3. Kapitel

Maggie

Vielleicht habe ich eine Vorliebe für seltsame Menschen, weil ich mir selbst dann weniger seltsam vorkomme. Mein ganzes Leben lang galt ich als ungewöhnlich oder komisch. Im Kindergarten, so behauptet es zumindest meine Mutter, mochte ich immer nur mit den Kindern spielen, die möglichst bunte Kleidung trugen. In der Grundschule erzählte ich, mein Traumberuf sei Stripperin, und auf der weiterführenden Schule hatte ich eine Phase, in der ich jede Woche meine Haare in eine neue schrille Farbe umfärbte.

»Kennst du dich hier gut aus?«, reißt Leo mich aus den Gedanken.

Ich schüttele den Kopf. »Genau genommen bin ich neu in Köln.«

Er sieht mich nachdenklich an. »Lass mich raten … Du studierst Psychologie?«

Jetzt kann ich mir ein Lachen nicht verkneifen: »Fast. Um ehrlich zu sein, hätte ich das gerne gemacht, aber mein Durchschnitt war nicht gut genug.«

»Das ist mies. Dann warst du also keine Überfliegerin?«

Ich hebe eine Augenbraue. »Leider nein. Chronisch lernfaul würde es deutlich besser treffen. Zumindest während der Schulzeit. Mich hat das meiste nicht interessiert. Aber jetzt habe ich mit Erziehungswissenschaft begonnen und möchte Kinder- und Jugendtherapeutin werden.«

»Wow, dann hast du ja konkrete Pläne. Finde ich cool.« Seine Worte klingen aufrichtig und interessiert. »Und zu deinem Fuß … Vielleicht kann ich ja etwas wiedergutmachen, wenn ich kurz nach Hause laufe und etwas zum Kühlen besorge?«

»Das würdest du tun?«, frage ich.

Er zuckt mit den Schultern und fährt sich über den Dreitagebart. »Ich wohne hier direkt.«

Zögerlich nicke ich. »Wäre es okay, wenn ich mitkomme?«

Unvernünftig, Maggie. Sehr unvernünftig. Aber na und?

Leo sieht mich verwundert an. »Sicher. Ich dachte nur … Haben deine Eltern dir nicht beigebracht, dass man nicht mit fremden Menschen nach Hause geht?«

Meine Mundwinkel zucken. »Haben deine Eltern dir nicht beigebracht, dass man fremden Menschen kein Taxi klaut?«

»Mich beschleicht das Gefühl, dass mich dieser unverzeihliche Fehler verfolgen wird«, sagt er gespielt beleidigt. Dabei lächelt er amüsiert, sodass seine haselnussbraunen Augen aufblitzen. »Aber wie du willst … Ich kann dir auch in der Wohnung einen Druckverband anlegen.«

Ich kann nicht anders, als ihn attraktiv zu finden. Und das, obwohl mein Verstand sich mit größtem Bemühen dagegen wehrt. Als ich merke, dass ich ihn anstarre, zucke ich heftig zusammen.

Leo hält mir seinen Arm hin, sodass ich mich an ihm festhalten kann.

Als ich seine warme Haut an meinem Arm spüre, schießt ein Prickeln durch meinen Körper.

»Wenn du nicht aus Köln kommst, wo bist du dann aufgewachsen?«, unterbricht er meine Gedanken.

»In Düsseldorf«, antworte ich schnell. »Und du?«

Wir können nur sehr langsam gehen. Ich hüpfe auf dem rechten Bein neben Leo her, während er mir Halt gibt.

»Frankfurt. Ich bin allerdings schon vor drei Jahren mit meinem Bruder hergezogen.«

»Auch fürs Studium?«, frage ich.

Leo nickt. »Wir studieren beide Medizin.«

»Dann warst du der Überflieger.«

»Keine Ahnung. Es gab eine Zeit, da hat mir das Lernen Spaß gemacht. Vor allem mit meinem Bruder zusammen. Wir sind Zwillinge, Benedikt und ich.«

Plötzlich ist der Kloß in meinem Hals wieder da. Unweigerlich muss ich an Paulina denken. Auch wenn meine kleine Schwester zwei Jahre jünger als ich gewesen ist, standen wir uns immer sehr nah.

Ich wappne mich innerlich auf die Frage, ob ich auch Geschwister habe, doch sie kommt nicht. Stattdessen deutet Leo auf Lichter, die wir im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses sehen können. »Gleich daneben ist mein Apartment.«

»Wohnst du mit deinem Bruder zusammen?« Ich ertappe mich bei dem Wunsch, lieber mit ihm alleine sein zu wollen.

Leo schüttelt den Kopf. »Zum Glück nicht. Wir brauchen beide ein bisschen Freiraum. Aber seine Wohnung ist nicht weit von hier, und wir sehen uns häufig.«

Leo hilft mir die Stufe hoch und schließt dann die Haustür auf. »Der Fahrstuhl funktioniert manchmal nicht. Ich versuch‘s mal.« Während ich mich an das Geländer der Treppe klammere, ist Leo in zwei Schritten am Aufzug. Ich sehe zu, wie er zuerst nur einen Finger, dann mit der ganzen Faust auf den Drücker hämmert.

»Mach nichts kaputt«, warne ich und bin im gleichen Augenblick felsenfest davon überzeugt, dass ich in diesen Fahrstuhl nicht einsteigen werde. »Ich nehme die Treppe.«

Leo dreht sich zu mir um. »Mit deinem Fuß?«

»Kennst du diese Filmszenen, in denen die Protagonisten plötzlich im Aufzug hängen bleiben?«

»Zuerst starren sie sich verlegen an, dann küssen sie sich, und am Ende sind beide halb nackt?«

»So in etwa«, sage ich und ziehe mich die erste Stufe der Treppe hoch.

»Was hast du gegen dramatische Liebesfilme?«

»Gar nichts«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Ich denke nur, dass wir kein Teil davon werden sollten.«

Jetzt höre ich Leo lachen. »Wenn es nur einen Fahrstuhl braucht, damit du dich in einen, zugegebenermaßen äußerst attraktiven, Mann verliebst …«

Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihm um: »Der Punkt ist, ich möchte meinen Kindern nicht erzählen, dass ich ihren Vater nur kennengelernt habe, weil er mir ein Taxi klauen wollte.«

Leo kratzt sich am Kopf. »Der Punkt geht an dich.« Er überholt mich rechts auf der Treppe und steht plötzlich direkt neben mir: »Du musst das nicht machen. Ich kann dich hochtragen.«

Mein verräterisches Herz fängt an zu pochen.

»Besser nicht«, höre ich mich sagen. Die Vorstellung, dass Leo mich bis ins zweite Stockwerk trägt, löst so ein Unbehagen in mir aus, dass ich eiligst versuche, mich die nächste Stufe hochzuziehen. Wer weiß, ob ich ihm nicht viel zu schwer bin … Obwohl Leo eigentlich ziemlich athletisch aussieht. Sportlich schlank, aber nicht so gepumpt wie die meisten Kerle aus meinem früheren Fitnessstudio. Oh Gott, ich muss endlich aufhören, ihn so abzuchecken!

Als wir seine Wohnungstür erreichen, schiebt Leo sich an mir vorbei und steckt langsam den Schlüssel in sein Schloss.

Dann hält er inne. »Kannst du vielleicht kurz hier warten?«

Ich schmunzele. »Lass mich raten: Du hast eine Freundin, die verreist ist, und du musst erst alle gemeinsamen Fotos zukleben?«

Er grinst. »Fast.«

»Oh, mein Gott, vielleicht ist sie sogar da, und du sperrst sie ins Badezimmer?«

»Was wäre ich dann für ein Freund?« Jetzt lacht Leo.

»Einer, der seine Freundin betrügt?«

Er sieht mich herausfordernd an: »Wieso meinst du, dass ich sie betrügen würde? Bisher habe ich einem verletzten Mädchen nur meine Hilfe angeboten.«

Mir schießt die Hitze in den Kopf, und ich hoffe, dass Leo nicht bemerkt, wie rot ich plötzlich geworden sein muss. Warum sind meine Vorstellungen schon längst wieder fünf Schritte vorausgewandert?

Als die Tür aufspringt, schiebt er sich durch einen dünnen Spalt ins Innere seiner Wohnung, und ich höre einen Moment später ein hastiges Rascheln. »Ich hatte heute keinen Besuch mehr erwartet«, ruft er durch die geschlossene Tür. Einen Augenblick später steht er wieder vor mir. Diesmal hält er mir die Tür auf, sodass ich eintreten kann.

Leos Wohnung ist ein bisschen größer als mein Einzimmer­apartment, dafür aber wesentlich unordentlicher.

»Kreatives Chaos«, sagt er mit einem Schmunzeln.

»Wie lange wohnst du hier schon?«

»Seit ich in Köln bin. Knapp drei Jahre.«

Ich nicke und fahre mit den Händen über eine hölzerne Ablage. »Es ist schön hier«, spreche ich meine Gedanken laut aus.

Die Wände sind weiß gestrichen, der Boden ist aus hellem Laminat. Leo hat eine kleine Sitzecke, bestehend aus zwei Sesseln und einer Stoffbank ohne Rücklehne.

»Wie kannst du das bezahlen?«, entfährt es mir. Im nächsten Augenblick wird mir bewusst, wie indiskret die Frage gewesen ist. »Ich meine, allein für meine fünfundzwanzig Quadratmeter geht hier in der Stadt ein halbes Vermögen drauf.«

»Meine Eltern bezahlen alles, solange ich mein Studium in Regelstudienzeit schaffe.«

»Setzt dich das nicht auch enorm unter Druck?«, frage ich laut und sehe mich in der Wohnung nach Fotos oder anderen persönlichen Gegenständen um. Vergebens.

»Ein wenig, ja.« Er zögert kurz. »Aber das ist schon in Ordnung.« Dann verschwindet er in einem zweiten Raum, um keine zehn Sekunden später mit einer Schale Eis wieder aufzutauchen.

»Du kannst dich auf den Sessel setzen.«

Langsam humpele ich zu der Sitzecke, um mich im nächsten Moment auf den weichen Stoff fallen zu lassen.

Leo kniet sich vor mir auf den Teppich, zieht erneut den Schuh von meinem Fuß und wickelt diesen behutsam in ein helles Küchenhandtuch mit Eis.

Als die Kälte auf meine Haut trifft, ziehe ich erschrocken Luft durch die zusammengepressten Zähne ein.

»Gleich wird es besser.« In seiner Stimme steckt so viel Fürsorge, dass mir ganz warm ums Herz wird. »Halt das mal fest.«

Ich beuge mich vor, um das Tuch mit dem Eis an meiner Verletzung zu fixieren.

»Es fühlt sich vermutlich schlimmer an, als es ist.« Leo setzt sich in den Sessel neben mich und mustert mich von der Seite. »Ich habe mal Fußball gespielt. Jedes Wochenende nach einem Spiel durfte mein Vater mir einen umgeknickten Fuß, eine Schürfwunde oder Ähnliches versorgen.« Um seine Mundwinkel zeichnet sich ein Lächeln. »Wahrscheinlich kannst du gleich wieder besser laufen und bist morgen putzmunter.«

Ich schlucke. »Ja, hoffentlich.«

»Möchtest du etwas trinken?« Leo hat kaum gesessen, da steht er wieder auf und holt zwei Gläser. »Ich habe leider nichts da … also nur Wasser.«

»Wasser ist perfekt. Wo wolltest du eigentlich hin?« Ich deute zur Tür. »Mit dem Taxi, meine ich.«

»Nur zu Freunden«, murmelt er und fährt sich durchs Haar. »Ich war viel zu viel mit dem Lernen beschäftigt und spät dran. Hätte sich wahrscheinlich eh nicht mehr gelohnt. Und deine Party? Scheint ganz schön lahm gewesen zu sein.«

»Es war keine richtige Party. Nur ein paar aus meinem Studiengang, die sich besser kennenlernen wollten.«

»Aber warum bist du so früh gegangen? Sag bloß nicht, dass du noch etwas Wichtiges vorhattest?«

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Er hat recht. Es ist erst kurz nach elf.

Ich zucke mit den Schultern. »Es lag weniger an den anderen Leuten … eigentlich sind alle sehr nett gewesen. Aber Wahrheit oder Pflicht …« Ich breche ab, als wäre alleine der Name des Spiels Erklärung genug für meinen missglückten Abend.

»War auch nie mein Ding. In der Siebten musste ich meiner Deutschlehrerin ein Liebesgeständnis machen. Kannst du dir vorstellen, wie sich ein schüchterner zwölfjähriger Junge da fühlt?« Er prustet los. »Danach war ich ein für alle Male durch mit dem Spiel.« Immer noch belustigt dreht er das Glas Wasser in seiner Hand. »Gibt es etwas in deinem Leben, was du heute gerne rückgängig machen würdest?«

Gänsehaut überkommt mich. Genau dieser Satz ist es gewesen, der mich vor weniger als einer Stunde in die schlimmsten Stunden meines Lebens zurückkatapultiert hat.

»Oder viel interessanter: Welcher Aufgabe musstest du dich heute stellen?« Amüsiert nimmt er einen Schluck.

»Keiner.« Erst als mir meine knappe Antwort über die Lippen gerutscht ist, merke ich, wie abweisend ich wirken muss.

»Tut mir leid«, füge ich deshalb schnell hinterher. »Ich wurde bei dem Spiel an etwas erinnert.« Der Kloß in meinem Hals ist wieder da. Der Druck hinter meiner Stirn, die Faust in meinem Bauch. Die Angst. Die Wut. Ich bekomme kaum noch Luft, weil mich die innere Spannung so zerreißt. Einen Moment sagt niemand etwas.

»Das ist okay«, erwidert Leo schließlich.

»Ich muss dann mal los.«

Viel zu hastig stehe ich auf, spüre auf der Stelle das Pochen in meinem Knöchel, doch ich ignoriere es.

Der Schmerz in meinem Bein ist nichts gegen die endlose Leere, die ich zu gut kenne.

Meine Beine fühlen sich zittrig an, als ich den Sessel zurückschiebe und zur Tür schwanke.

Leo ist in wenigen Schritten neben mir. Ich rieche sein After­shave, spüre seine Hand auf meiner Schulter. Ich will nicht, dass er sie wegzieht.

»Du musst darüber nicht sprechen.« Er lächelt vage. »Über den Abend. Das Spiel.«

Ich sehe ihn an. Ich höre auf zu denken. Ich beuge mich vor. Und ich ertränke den Schmerz in einem Kuss.

4. Kapitel

Leo

Ich erwidere ihren impulsiven Kuss mit einem Hunger, der mir neu ist. Gierig atme ich ihr Parfüm ein und vergrabe meine Hände in ihrem langen Haar.

»Maggie.« Ihr Name dringt wie ein Stöhnen aus meinem Mund.

Doch sie unterbricht den Kuss nicht, drückt lustvoll ihre Fingernägel in meinen Rücken und küsst mich fordernder.

Mein Herz kitzelt in meiner Brust, und ich will mehr. Mehr von dieser Frau, die meine Gedanken in so kurzer Zeit vollkommen benebelt hat.

Maggie lehnt sich gegen die Wand, ohne sich dabei von mir zu lösen. Sie stöhnt leise, als sie meinen Pullover ein Stück hochschiebt und langsam mit der rechten Hand über meinen nackten Bauch fährt. Meine Erektion pulsiert heftig in meinem Schritt. Langsam lösen sich unsere Lippen voneinander, und sie sieht mich ausgehungert an.

Ich bin so verblüfft, dass ich nicht dazu gekommen bin, mir die Frage zu stellen: Gehe ich zu weit? Dieses Mädchen ist unberechenbar. In einem Augenblick bin ich felsenfest davon überzeugt, sie nie mehr wiederzusehen, im nächsten spüre ich ihren zarten Körper so eng an mir, als würde sie sich festklammern und Lass mich nicht gehen sagen.

Ist das hier wirklich etwas, das wir tun sollten?

»Ich brauche dich.« Es ist keine einfache Bitte, sondern eine klare Aufforderung. »Maggie«, flüstere ich ihren Namen. Diesmal bin ich es, der seine Hände vorsichtig unter ihr Top gleiten lässt. Ihre Haut ist warm und weich. Ich streife zuerst über ihren Bauch, dann spüre ich den Stoff ihres Bustiers.

Ihre Küsse werden gieriger, hastiger und mutiger.

Mit einer Hand befreie ich sie aus ihrem Top, ziehe sie eng an mich und lasse das Verlangen durch jede Faser meines Körpers jagen. Ich greife Maggie vorsichtig unter die Arme und trage sie mit wenigen Schritten in mein kleines Schlafzimmer.

Wie eine schnurrende Katze sitzt sie vor mir auf dem Bett und beginnt, mir den obersten Knopf der Hose zu öffnen.

Oh Mann. Wenn sie nur wüsste, wie unheimlich sexy ich ihre Selbstsicherheit finde.

»Hast du Kondome da?«

Ein Grinsen huscht über mein Gesicht.

»Unterm Bett.«

Sie bückt sich, während ich ein wenig nachhelfe und mir meine Hose von den Beinen streife.

Ich knie mich aufs Bett und nehme Maggie die Packung mit den Kondomen aus der Hand.

»Lieblingsfarbe?«

Anstatt einer Antwort schmunzelt sie nur, lässt sich in meine Decke fallen und verschränkt die Arme hinter ihrem Kopf.

Ihr Brustkorb hebt und senkt sich im Takt ihrer Atmung. Ich verliere sie keine Sekunde aus den Augen. Die Enge in meinen Boxershorts macht es mir unmöglich, an etwas anderes zu denken.

Langsam bewege ich mich auf sie zu, beuge mich über sie und betrachte für einen Moment ihr schönes Gesicht.

»Hast du noch Schmerzen?«

Sie schüttelt den Kopf.

Ihre Finger fahren über den Bund meiner Boxershorts. So vorsichtig, dass der Druck sich immer weiter aufbaut und ich unruhig werde. Keuchend schließe ich kurz die Augen, spüre sie an meinen Beinen auf und ab streifen. Die Spannung ist unerträglich. Ich greife nach ihrem Arm, umfasse ihre Gelenke mit einer Hand, sodass sie sich nicht mehr regen kann. Mit Zeige- und Mittelfinger fahre ich genussvoll zwischen ihre Schenkel. Sie zuckt und windet sich unter mir, dann entfährt ihr ein gestöhntes »Bitte«.

Ich befreie mich aus meinen Shorts, widme mich zuerst ihren Jeans, dann dem schwarzen Spitzentanga. Ich komme nicht dazu, ihren Körper zu bewundern, denn die Gier danach, endlich in ihr zu sein, überrollt mich wie eine Welle.

Und während wir, zwei Fremde, die eigentlich nichts voneinander wissen, miteinander verschmelzen, fühlt es sich so perfekt an, dass ich nicht aufhören kann, mich zu fragen, ob das hier gerade wirklich passiert.

Ich wache auf von ihrem leisen Schluchzen.

»Maggie?« Ganz vorsichtig lege ich meine Hand auf ihre Schulter. Sie ist immer noch unbekleidet, allerdings hat sie sich meine Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. »Ist alles okay?«

Sie zuckt mit den Schultern.

»Wenn du nicht mit mir sprichst, sitzen wir gleich in einem See voller Tränen«, sage ich sanft. »Und dann schwimmst du mir davon.«

»Meinst du?« Sie schnieft. »Aber vielleicht will ich das ja.«

»Vor mir davonschwimmen?«

Sie nickt vage. »Nicht nur vor dir. Vor allen. Auch vor mir.«

Ich beuge mich vor, schiebe mit der Nasenspitze die Bettdecke ein Stück zur Seite und presse einen Kuss auf ihren tränennassen Hals.

»Das musst du aber nicht. Wir können auch einfach hier liegen bleiben, und du erzählst mir, was dich so traurig macht?«

Die Decke bewegt sich, und ihre linke Hand schiebt sich unter dem Stoff in meine Richtung. Als sich unsere Fingerspitzen berühren, durchfährt mich ein Kribbeln.

»Wir kennen uns doch gar nicht.« Bevor sie ihre Hand wegziehen kann, habe ich nach ihr gegriffen und drücke sie ganz fest.

»Genau. Und wenn du das willst, werden wir uns nie wiedersehen.« Verständnislos sieht sie mich an. Schnell suche ich eine Erklärung: »Manchmal sind es fremde Menschen, denen man sich am besten öffnen kann. Immerhin haben wir bei denen nichts zu verlieren.«

Einen Augenblick sagt keiner von uns etwas, bis sie zögerlich die Stille durchbricht: »Hast du ein Geheimnis, Leo? Ein Geheimnis, das dich immer wieder einholt?«

Ich halte den Atem an. Worauf läuft das Ganze hier hinaus?

»Nein, ich denke, so ein Geheimnis habe ich nicht«, antworte ich wahrheitsgemäß.

»Siehst du.« Mit einem Ruck lässt sie meine Hand los, dreht sich zur Seite und schweigt.

Ich mache keine Anstalten, sie zu berühren, sondern spreche einfach weiter: »Ich habe einen Traum, von dem nie jemand erfahren darf, weil ich sonst einige Menschen enttäuschen würde. Menschen, die mir wichtig sind. Insofern ist es sinnlos, darüber nachzudenken. Vielleicht könnte man das als Geheimnis bezeichnen.«

Ihren Körper durchfährt eine leichte Regung, doch sie bleibt abgewandt.

»Woher weißt du das?« Noch immer kann ich nur ihren Hinterkopf mit den blonden, mittlerweile verstrubbelten Haaren sehen.

»Was weiß ich?«, frage ich nach.

»Woher weißt du, dass es sinnlos ist?« Sie hat aufgehört zu weinen. Zumindest ist ihre Stimme wieder klar.

Ich möchte antworten, wünsche mir, dass unser Gespräch jetzt nicht aufhört, doch ich habe keine Antwort darauf.

»Weißt du, was ich glaube?«, durchbricht sie das Schweigen. Erst jetzt dreht sie sich mir wieder zu, und ich betrachte ihre wunderschönen grünen Augen, die durch die Tränen noch größer und glänzender aussehen.

Sie holt tief Luft: »Dass die Vorstellung, es wäre sowieso alles sinnlos, dich davor schützt, es auszuprobieren und zu versagen.«

Ihre Worte sind ein Messerstich in meiner Brust. Weil ich in dem Augenblick, in dem sie verklungen sind, weiß, dass sie recht hat.

Meine Antwort ist ein zaghaftes Nicken. »Warum so klug, freches, blondes Mädchen?«

»Ich beschäftige mich halt mit so was, Blödmann«, murmelt sie.

Meine Mundwinkel zucken, und ich kann ein kleines Lächeln nicht unterdrücken.

»Und du willst es mir sicher nicht erzählen?«, frage ich, in der Hoffnung, sie wendet sich nicht wieder von mir ab. »Dein Geheimnis gegen meins. In diesem Raum, versiegelt mit Schweiß und …« Ich sehe mich suchend um.

»Sperma?« Jetzt grinst sie.

»Genau. Zwei Fremde, die nicht nur Intimitäten austauschen, sondern auch das Gepäck ihrer Seele.«

»Du solltest Philosoph werden.«

»Vielleicht.«

»Leo?«

»Ja, Maggie.«

»Bist du sicher, dass du das hören willst? Dann erzähle ich dir jetzt meine Geschichte.«

5. Kapitel

Maggie

»Ich bin schuld an dem Tod meiner kleinen Schwester.« Als die Worte meinen Mund verlassen haben, weiß ich, dass es kein Zurück mehr gibt. Ohne nachzudenken, lasse ich es geschehen und öffne meine Erinnerungen an die Nacht, die mein Leben für immer zerstört hat.

»Wie meinst du das?«, fragt Leo vorsichtig. Er erscheint plötzlich ziemlich überrumpelt. Kein Wunder, dieser Satz ist einfach zu schnell aus mir herausgebrochen. So, als könne ich erst jetzt wieder besser atmen.

»Meine kleine Schwester hat einen Autounfall gebaut, weil ich sie nicht abgeholt habe. Das ist jetzt ein halbes Jahr her.« Meine Worte pulsieren im Hals, schießen wie ein prall gefüllter Wasserball an die Oberfläche, sodass es kein Zurück mehr gibt.

»Ich war an diesem Abend bei Theresa, meiner Freundin. Wir waren damals heimlich zusammen.« Mein Herz liegt schwer in meiner Brust. Es ist surreal, diese Worte nach all den Monaten endlich in den Mund zu nehmen. Niemals hätte ich gedacht, dass ich es überhaupt schaffe, mit jemandem darüber zu sprechen. »Wir hatten einen schönen Abend. Ich konnte mich nicht von ihr trennen, wir sind ziemlich frisch verliebt gewesen. Also habe ich meine Schwester gebeten, ein Taxi zu nehmen. Das hat sie aber nicht getan. Sie ist betrunken in ihr Auto gestiegen.« Ich habe aufgehört zu weinen, doch in diesem Moment würde ich mir wünschen, meine Gefühle von den Tränen wegspülen lassen zu können.

Ich vergrabe mein Gesicht in Leos Kissen. Am liebsten möchte ich auch diesen Abend, diese Nacht so schnell wie möglich verdrängen.

»Was tust du da?« Seine Stimme ist nah an meinem Ohr. Ich muss ihn wegstoßen, ihm sagen, dass er verschwinden soll. Aber was, wenn er auf mich hört? Wenn er nicht versteht, dass das Einzige, was ich im Grunde wirklich möchte, ist, dass er nicht aufhört, jetzt bei mir zu sein?

Ich atme lauter in das Kissen, möchte meine Antwort hier und jetzt in diesem dunkelblauen Stoff ersticken.

»Maggie, hör mir zu. Das ist nicht deine Schuld.«

Und dann sind da seine Worte. Seine Worte, die nichts als Lügen sein können. Lügen, die wie Messerstiche unter meine Haut dringen. Seine Hände fahren über meinen Rücken. Langsam und zärtlich. Doch plötzlich fühlen sich Berührungen an wie Schmutz, den ich von meinem schuldigen Körper abwaschen muss.

Mein Kopf hebt sich langsam vom Kissen. Er ist so schwer, dass ich enorme Kraft aufwenden muss, ihn nicht sofort wieder sinken zu lassen.

»Hast du mir nicht zugehört, Leonard? Ich habe den Tod meiner kleinen Schwester zu verantworten. Es ist meine Schuld, dass sie gestorben ist. Mit achtzehn. Sie war fast noch ein Kind. Und ich habe sie nicht abgeholt.« Ich möchte, dass er anfängt, genau das zu verstehen. Ich möchte, dass er anfängt, in mir das Monster zu sehen, das ich wirklich bin.

»Das tut mir so leid, wirklich. Ich verstehe, wie schlimm das sein muss.«

Er versteht mich.

»Und natürlich habe ich dir zugehört.«

Er hört mir zu.

»Aber ich bin mir ganz sicher, dass du zu hart zu dir bist.«

Er versteht mich nicht. Er hört mir nicht zu.

»Wenn du nicht einmal in dem Auto gesessen hast, wie kannst du dann irgendeine Schuld tragen?«

»Ich habe sie nicht abgeholt«, sage ich noch einmal.

»Das, was dir passiert ist, Maggie, ist furchtbar. Niemand sollte so etwas erleben müssen. Aber es lag doch nicht in deiner Verantwortung.«

Ganz langsam füllen sich meine Lungen wieder mit Luft. Dabei hatte ich nicht einmal gemerkt, dass ich zuvor den Atem angehalten habe.

Warum tun seine Worte so gut? Warum sauge ich alles, was er sagt, so hungrig in mich auf, als habe ich nur einen einzigen Buchstaben davon verdient? Sie dürfen nicht guttun. Sie dürfen es nicht. Lügen dürfen nicht guttun.

Und da sind sie wieder: die Tränen. Sie laufen über meine Wange. Erst kräftig, dann immer schwächer, bis meine Augen trocken brennen.

»Bertolt Brecht hat gesagt: Ein Mensch ist erst tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.«

»Ich werde niemals aufhören, an sie zu denken.«

Leo nickt. »Erzähl mir von ihr. Was ist deine schönste Erinnerung an sie?«

Darüber muss ich kurz nachdenken. Ich lehne mich vorsichtig gegen das Kopfteil des Bettes, schließe die Augen und versuche, die Bilder in meinem Kopf zuzulassen.

Der Schmerz nagt an mir. Doch ich schiebe ihn nicht weg. Stattdessen halte ich meine Hand auf die brennende Brust und sortiere meine Erinnerungen.

»Ich habe mal zu Nikolaus eine Rute bekommen. Damals war ich sechs oder sieben. Meine Mutter meinte, dass der Nikolaus dieses Jahr sehr enttäuscht von mir gewesen ist, weil ich nicht artig war.«

Langsam öffne ich die Augen und betrachte Leo. Er hat eine Augenbraue hochgezogen, als wolle er sagen: Welche Eltern ziehen so was wirklich durch?

»Ich nahm das als Kind einfach so hin und schämte mich. Paulina aber hat den ganzen Tag geweint. Anstatt mit ihrem Geschenk zu spielen und ihren Süßkram zu essen, schrieb sie mit ihren ersten krakeligen Buchstaben einen Brief an den Nikolaus.« Um meine Mundwinkel zuckt ein Lächeln.

»Und deine Eltern?«, fragt Leo.

»Am nächsten Tag bekam ich doch noch ein Geschenk. Sie behaupteten, der Nikolaus habe es sich anders überlegt und würde diesmal ein Auge zudrücken.«

Keiner von uns beiden sagt etwas.

Schnell wische ich mir mit der linken Hand eine Träne aus meinem Gesicht. »Weißt du eigentlich, dass du die einzige Person bist, vor der ich innerhalb des letzten halben Jahres geweint habe?«

Leo lächelt unsicher. »Meinst du, ich sollte mich freuen oder an mir zweifeln?«

Ich tue so, als würde ich überlegen. »Zumindest solltest du dir deiner vertrauenerweckenden Ausstrahlung bewusst sein, bevor du das nächste Mal ein Mädchen von der Straße aufreißt.« Unweigerlich muss ich schlucken. Das nächste Mal.

Weil dieser Abend einer von vielen ist. Ob Leo so was regelmäßig macht? Ich bin die Letzte, die sich darüber auslassen dürfte. Immerhin bin ich diejenige, die unüberlegt und impulsiv mit einem Mann nach Hause gegangen ist, den sie gerade fünf Minuten kannte.

»Okay, ich werde es mir merken«, antwortet er leise.

Ich hebe meinen Kopf und betrachte ihn kurz. »Was denkst du gerade?«

Er schaut mich an. »Deine Geschichte hat mich betroffen gemacht, und ich habe Sorge, etwas Falsches zu sagen.«

Zögerlich lehne ich mich an seine Schulter. Ich fröstele, und ich ziehe die Bettdecke ein Stück höher.

»Ist dir kalt? Es ist schon spät«, horcht Leo nach.

»Möchtest du, dass ich gehe?«

»Möchtest du denn gehen?«

Ich schüttele den Kopf. »Die Nacht macht einsam.«

»Findest du? Ich mag diese Tageszeit eigentlich«, überlegt er.

Nachdenklich zucke ich mit der Schulter. »Die Nacht verändert etwas. Wenn die Welt draußen stiller wird, höre ich meine Gedanken umso lauter.«

Er nickt. »Vielleicht ist genau das der Grund, warum ich die Nacht so mag. Die Stille inspiriert mich.«

Ich halte für einen Moment inne. Die Vorstellung ist wahnsinnig schön.

»Sie inspiriert dich wozu?«

»Dann schreibe ich.«

Vorsichtig hebe ich den Kopf und sehe ihn von der Seite an. »Du schreibst?«

Sein Nicken kommt zögerlich. »Das, Maggie, ist mein Traum.«

»Was schreibst du denn?«

Er zögert. Ich rechne damit, dass er sich mir wieder verschließt. »Wenn du willst, kann ich dir morgen einen Text zeigen.«

»Unbedingt. Ich bin mir sicher, du machst das gut.« Die Worte sind ohne nachzudenken aus mir herausgekommen, und ich meine es ehrlich. Leo hat eine Art, sich ausdrücken, die mehr verspricht.

Als ich aufsehe und in Leos warme Augen blicke, weiß ich, dass er diesen Satz zum ersten Mal gehört hat. Ich spüre, wie viel ihm meine Worte bedeuten. Und ich hasse den Gedanken, dass ich aus seinem Leben wieder verschwinden muss. Weil wir nur zwei Fremde sind, zwei Fremde, die nicht nur Intimitäten austauschen, sondern auch das Gepäck ihrer Seele.

6. Kapitel

Maggie

Als ich wach werde, spüre ich zum ersten Mal seit Stunden wieder meinen verletzten Fuß. Das leichte Pochen in meinem Knöchel erinnert mich an die Geschehnisse des vergangenen Abends.

Es ist nicht das erste Mal gewesen, dass ich mit einem fremden Typen geschlafen habe. Aber es war das erste Mal, dass ich mich und meine Seele in nur einer einzigen Nacht so in jemandem verloren habe. Ich habe Leo mein Herz ausgeschüttet und fühle mich verdammt nackt.

Leo muss das Fenster geöffnet haben. Aus einem großen Dachfenster zieht frische klare Luft in das kleine Zimmer. Ich drehe mich samt Decke zur Seite und suche das Bett nach Leo ab, doch er scheint schon aufgestanden zu sein. Der Abdruck seines Kopfes auf dem Kissen bestätigt mir allerdings, dass ich mir den Abend, den Sex, unser Gespräch … das alles nicht bloß eingebildet habe.

»Bist du wach?« Sein dunkelbrauner Haarschopf lugt durch den Türspalt.

»Nein«, grummele ich und kneife die Augen zu.

»Es ist schon nach dreizehn Uhr.«

Oh Mann, ich habe viel zu lang geschlafen.

»Magst du Frühstück?«

»Wer mag kein Frühstück?«

Normalerweise bleibe ich nie so lange bei einem Typen. Die Situation nach dem Aufwachen ist schließlich das Unangenehmste überhaupt. Doch heute ist nichts wie normalerweise.

Ich hebe den Kopf vom Kissen, setze mich langsam auf und schaue mich zum ersten Mal bewusst in Leos Schlafzimmer um. Der Raum ist nicht groß, keine zwölf Quadratmeter, schätze ich. Alles ist ziemlich minimalistisch gehalten, es gibt keine Dekoration, keine Bilder oder einen Kalender an der Wand. So bietet das Zimmer allerdings ausreichend Platz für das große Bett, einen alten Holzschrank, einen komplett leer gefegten Schreibtisch und einen großen Spiegel an der Tür.

Müde reibe ich die Augen und versuche, mich selbst in meinem Anblick wiederzufinden. Vergeblich. Alles an meinem Spiegelbild erscheint mir fremd.

Irgendwo unter einem Berg von Kissen und Decken finde ich mein Shirt. Hastig ziehe ich es über und richte meine strubbeligen Haare.

»Du hast nicht zufällig eine Bürste?«, rufe ich in den Nebenraum und ziehe mit den Fingern die hartnäckigen Knoten aus dem Gestrüpp auf meinem Kopf.

»Klar. Gleich neben den Tampons.« Blödmann! Hätte doch sein können.

Ich klettere aus dem Bett und entdecke auf dem Boden meine auf links gezogenen Jeans. Die Erinnerung daran, wie Leo sie mir am Abend zuvor gierig von den Hüften gezogen hat, lässt mir die Röte in die Wangen schießen. Holy Shit! Ich sollte einfach verschwinden und nie mehr herkommen.

»Was ist falsch daran, als nicht menstruierende Person Tampons zu besitzen? Das ist sehr besucherinnenfreundlich.«

Leo erschrickt, als ich plötzlich hinter ihm stehe. »Immerhin habe ich einen Mülleimer im Badezimmer. Noch nie benutzt, aber einsatzbereit«, sagt Leo stolz.

»Ich gebe zu, das beeindruckt mich mehr, als es sollte.« Ein Grinsen stiehlt sich auf mein Gesicht.

»Magst du Toast?« Leo hält mir die Packung direkt vor die Nase. Als ich die Stirn runzele, fügt er schmunzelnd hinzu: »Natürlich nicht so. Ich habe auch einen Toaster.«

»Erst Mülleimer, dann Toaster … Sag bloß, du hast auch eine Mikrowelle«, scherze ich.

Leo legt seine Hände auf meine Schultern und dreht mich einmal um hundertachtzig Grad. »Sonst noch Wünsche?« Er lächelt, als seine Finger auf den dicken Kasten klopfen, der gleich vor mir steht.

»Du hattest recht«, sage ich.

»Womit?«, fragt Leo.

»Mit dem Fuß. Manchmal pocht es noch leicht, aber ich kann wieder normal laufen.«

»Das war meine Wundermedizin.« Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus.

»Welch Selbstüberschätzung«, spotte ich und verdrehe grinsend die Augen.

Auf Leos kleiner Küchenablage finde ich ein Serviertablett mit Schokocreme, Marmelade und Erdnussmus.

Während Leo das Frühstück zubereitet, decke ich den Tisch.

Beim Essen selbst sagt keiner von uns etwas. Leo isst konzentriert sein Toastbrot, und ich scrolle unachtsam durch meinen Instagram-Feed, ohne überhaupt wahrzunehmen, was ich hier wirklich sehe. Hauptsache, ich scheine beschäftigt und Leo glaubt nicht, mich unterhalten zu müssen.

Ich habe den Ton abgeschaltet und klicke mich wahllos durch ein paar Storys.

Als die Sonnenstrahlen auf den kleinen Esstisch fallen, erfüllt sich etwas in mir mit so viel Wirklichkeit und Verstand, dass ich nur eines will: den gestrigen Abend aus unseren Köpfen ausradieren.

Vielleicht hat Leo in einer Sache recht: Die Nacht verändert etwas. Sie lässt das Leben unwirklich erscheinen, sodass die Realität am nächsten Morgen noch brutaler auf einen einstürzt.

Als ich endlich den Blick über mein Smartphone hebe, merke ich, dass Leo mich beobachtet. »Wie geht es dir heute?«

Ich hoffe, er spürt nichts von meiner Unsicherheit und Sorge.

»Gut«, lüge ich und nehme einen Schluck von meinem Orangensaft. »Ich bin nur müde. Die Nacht war kurz.«

»Aber schön.«

»Hm?« Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe.

»Sie war schön. Die Nacht mit dir.«

Beinah verschlucke ich mich an dem Saft. Mein Körper steht innerhalb von wenigen Sekunden unter Strom.

»Wie meinst du das?« Meine Stimme ist kratzig. Dabei gebe ich mir größte Mühe, ruhig zu bleiben. Wirklich.

»Also, ich meine nicht das, was du erzählt hast …«, setzt er an und sucht nach den richtigen Worten. »Sondern halt der ganze Rest …«

Mein Herz klopft so schnell, dass ich fürchte, er könne es hören. »Ja.« Mehr bekomme ich nicht heraus. Meine Finger haben sich unter dem Tisch zu einer dicken Faust verkrampft. »Ich muss mal«, unterbreche ich ihn, bevor weitere Worte aus meinem Mund dringen können. Ich möchte jetzt bloß nicht reden. Vor allem nicht über unser Gespräch letzte Nacht.

»Du weißt ja, wo das Bad ist.«

So schnell mich meine wackeligen Beine tragen, mache ich mich auf ins Badezimmer. Die aufsteigende Übelkeit treibt mir kalten Schweiß auf die Stirn. Ich lehne mich gegen das Waschbecken, versuche meine hektische Atmung zu beruhigen und gehe gedanklich meine Möglichkeiten durch. Ich kann zurück zu Leo gehen, mich höflich von ihm verabschieden und auf der Stelle verschwinden. Köln ist eine große Stadt. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns wiedersehen, ist gering.

Warum bohrt sich mir bei diesem Gedanken so viel Enttäuschung in die Brust? Ich spüre, wie sich wieder Druck hinter meinen Augen bildet. Was auch immer gestern geschehen ist … es ist, als sei eine Mauer eingebrochen. Die Gefühle, vor denen ich mich so lange geschützt habe, brechen über mich herein. Schnell drehe ich den Wasserhahn auf, stelle die Temperatur kälter und halte das Gesicht in den Wasserstrahl.

Das eisige Wasser brennt auf meiner Haut wie Feuer, doch ich ziehe den Kopf nicht zurück, sondern warte, bis jegliche Spuren von Tränen aus meinem Gesicht verschwunden sind.

Als ich erneut einen Blick in den Spiegel werfe, spüre ich, wie viel Wut in meinem Bauch hochkocht. Wut. Da ist so viel Wut.

Ich bin so unendlich wütend auf mich.

Meine Muskeln verhärten sich, die Anspannung fließt durch meine Adern wie schäumendes Blut, und ich kneife die Augen fest zusammen. Das ist nur ein Gefühl, versuche ich mich zu beruhigen. Nur ein Gefühl. Doch es fühlt sich an, als gäbe es nichts anderes mehr. Als sei ich dieses Gefühl.

Für einen Augenblick schaffe ich es nicht mehr, Luft zu holen. Ich umfasse mit der rechten Hand mein linkes Handgelenk und drücke so fest zu, dass die Knöchel weiß hervortreten.

Etwas spüren. Fühlen, dass ich noch real bin und nicht endgültig den Verstand verloren habe.

Der Schmerz pulsiert in meinem Arm, doch ich höre nicht auf, mir wehzutun. Du hast es verdient. Du bist ein schlechter Mensch! Du hast Schuld! Schuld an allem! Du musst das tun!

Das Gefühl erreicht seinen Höhepunkt. Ich falle. Nicht wirklich. Nur in meinem vernebelten Hirn.

Der Druck weicht aus meinen Zellen, und ich hole erstickt Luft. Da sind sie. Ich kann meine Beine wieder fühlen. Die Faust in meinem Bauch löst sich langsam, und es gelingt mir endlich wieder, einen klaren Gedanken zu fassen.

Leo, der in der Küche auf mich wartet. Wenn ich nicht rechtzeitig im Badezimmer verschwunden wäre …

Ich habe die Kontrolle verloren. Doch jetzt. Jetzt bin ich wieder da.

7. Kapitel

Leo

Als ich höre, wie die Badezimmertür leise aufgeschlossen wird, lasse ich meinen Toast sinken und halte inne. Ich habe keine Ahnung, was mich jetzt erwartet. Die Situation vorhin hat mich überfordert. Alles hier überfordert mich. Ich bereite mich innerlich auf ein Krisengespräch vor und überlege kurz, mit welchen Worten ich am wenigsten Schaden anrichten kann, da erweist sich meine Sorge als unbegründet.

Wider meine Erwartung tritt mir eine putzmuntere Maggie entgegen.

»Meine Güte, ich habe immer noch so einen Hunger.« Hastig setzt sie sich zurück an den Esstisch und zieht den Teller ran.

Ich bin verwirrt. Trotzdem beschließe ich, nichts zu sagen, und nehme erneut einen Bissen von meinem Toast.

»Siehst du, wie die Sonne durch das Fenster scheint? Der Tag ist viel zu schade, um hier drinnen zu sein«, flötet sie und wirft immer wieder einen Blick über ihre Schulter. »Wir haben doch bestimmt zwanzig Grad.«

Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob mich ihr Sinneswandel freuen oder mir Sorgen bereiten soll, deshalb zögere ich, bevor ich sage: »Wenn du magst, können wir nach dem Frühstück rausgehen.«

Wir.

Kaum haben die Worte meinen Mund verlassen, beiße ich mir auf die Zunge. Wenn du willst, musst du mich nach diesem Abend nie mehr wiedersehen. Das habe ich ihr gestern versprochen.

Mein Herz fängt an, wie wild in meiner Brust zu klopfen, und ich bereite mich innerlich auf eine Abfuhr vor.

Doch zum zweiten Mal an diesem Morgen überrascht Maggie mich.

»Unbedingt. Das klingt toll. Ich habe von Köln noch nicht viel gesehen. Klar, den Dom, ein paar Geschäfte von innen … Aber du kennst doch sicher coolere Spots, oder?«

Ihr Strahlen erfüllt mich mit Wärme. Es ist kein aufgesetztes Lächeln, nein, ich bin mir absolut sicher, dass das Gefühl, was ich in ihren funkelnden Augen sehe, echt ist.

Die Traurigkeit ist aus ihren Gesichtszügen gewichen, und ich erkenne in ihr wieder die Maggie, die mir mit ihren frechen Kontern viel zu sehr unter die Haut gegangen ist.

»Ich habe tatsächlich in den letzten Jahren die eine oder andere schöne Stelle entdeckt.« Immer noch überrascht stehe ich auf, fege die Krümel vom Tisch und räume die Teller in die Spüle.

Entzückt klatscht sie in ihre Hände. »Toll! Ich bin bereit.«

Als wir in der Innenstadt ankommen, ist es Nachmittag. Die Sonne strahlt so intensiv auf uns herab, dass ich meinen Pullover ausziehen muss. Unser erster Anlauf ist der Drogeriemarkt. Ich habe Maggie nur irritiert angesehen, als sie plötzlich vor den großen Scheiben stehen blieb und in ihrer Tasche kramte. »Willst du mitkommen? Ich muss mir eine Bürste kaufen.«

Eigentlich gefällt mir ihre strubbelige Frisur ziemlich gut. Sie sieht unfassbar sexy aus, wenn sie vor mir läuft und ich die kleinen Knötchen in ihrem Haar betrachte. Weil ich genau weiß, wie sie hineingekommen sind.

»Ich warte draußen. Das dauert ja vermutlich nicht lange«, sage ich und blicke mich vor dem Geschäft um.

Eine ältere Frau sitzt auf dem Boden, bittet mich um eine Spende. Ich verstehe nicht, was sie sagt, krame aber eine Münze aus der Tasche.

Mit meiner Vermutung, der Einkauf würde nicht lange dauern, lag ich allerdings ziemlich falsch. Es ist zwar nur eine Viertelstunde vergangen, als ich durch die Glasscheibe Maggies Silhouette an der Kasse entdecke, aber die Zeit kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit.

Für einen Moment betrachte ich sie durch die Scheibe und verliere mich in der Vorstellung, was wäre, wenn wir uns ab jetzt häufiger sehen würden. Würden unsere Wochenenden ab jetzt immer so aussehen? Am Morgen nach einer Wahnsinnsnacht etwas zerstreut wach werden und dann den ganzen Tag gemeinsam verbringen?

»Da bin ich wieder.« Plötzlich steht Maggie vor mir, drückt mir mit einem »halt mal kurz« ihre Tasche in den Arm und versucht, ihre neu erstandene Bürste von einem Etikett zu befreien.

Ich sehe zu, wie sie sich hartnäckig durch das widerspenstige Haar bürstet.

»Den Dom hast du schon gesehen, aber wenn du magst, können wir zum Rheinufer gehen. Ich wette, da bist du noch nicht gewesen«, schlage ich vor.

»Das klingt super.«

Wir kämpfen uns am Neumarkt vorbei durch die überfüllte Schildergasse, schlängeln uns durch die Menschenmassen in Richtung Rheinbrücke. Die ganze Zeit über muss ich darauf achten, Maggie nicht zu verlieren. Immer wieder springt sie zu einem Schaufenster, begutachtet die Schuhe, Taschen oder Bikinis (ist es verwerflich, dass ich mir vorstelle, sie würde einen davon anprobieren?) und verschwindet zwischen anderen Menschen.

Mittlerweile habe ich Gefallen an ihrem Sinneswandel gefunden und versuche, die aufgelockerte Stimmung einfach zu genießen.

Die Terrassen am Rheinufer sind prall gefüllt. Wir scheinen nicht die Einzigen zu sein, die sich über das gute Wetter freuen.

Ein Mann mit langen dunklen Haaren, die er sich zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, steht in kurzen Shorts vor einer Staffelei und schwingt einen Kohlestift.

Ich habe ihm nur einen flüchtigen Blick zugeworfen, doch als Maggie mich am Ärmel zieht, bleiben wir stehen.

»Wow.« Auf ihrem Gesicht breitet sich ein Staunen aus.

Sie deutet auf das Porträt, das er zeichnet. »Siehst du die verschiedenen Hell- und Dunkeltöne? Das alles schafft er mit einem einzigen Stift.«