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Wenn deine Welt in Dunkelheit versinkt, brauchst du jemanden, der dir die Sonne zeigt Für Melina wird ein Traum wahr, als ihre Kochvideos im Netz viral gehen und es so aussieht, also könnte sie bald von ihrer Leidenschaft leben. Lieber als mit ihren Followern verköstigt sie ihre neuesten Kreationen jedoch mit ihrem Freund Ben. Doch der hat mit anstrengenden Prüfungen zu kämpfen und zieht sich immer mehr von ihr zurück. Mel leidet darunter, nicht mehr zu ihm durchzudringen, ihm nicht helfen zu können. Während Ben kaum noch das Haus verlässt, sucht Mel Ablenkung in der Welt der Influencer. Ihre große Liebe steht plötzlich vor einer großen Herausforderung: Dem Leben selbst. »Die Geschichte von Mel und Ben hat mich mit ihrer beinah schmerzhaften Echtheit von der ersten Sekunde an tief berührt.« Sarah Stankewitz
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Seitenzahl: 491
Wo du uns findest
ANTONIA WESSELING, geboren 1999, lebt in Köln. Schon als Kind erfand sie eigene Geschichten und veröffentlichte ihre ersten Jugendbücher. Neben der Arbeit als Autorin bloggt sie auf Instagram und Youtube (@antoniawesseling) über gute Bücher, ihre Liebe zum Schreiben und mentale Gesundheit.
Antonia Wesseling
Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH Berlin
1. Auflage Mai 20232. Auflage 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-95818-734-4
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Playlist
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
Nachwort
Stimmen von Betroffenen
Danksagung
Hilfsangebote
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Playlist
»Ich fand es schlimm, dass (geschrieben wurde), es sei ein ›trauriges Geständnis‹, dass ich zur Therapie gegangen bin (…). Das soll doch eher ein Zeichen von Stärke sein oder von Mut, den man ergreift, um sich helfen zu lassen.«
Wincent Weiss
Gewinner – Clueso
Wie es mal war – Wincent Weiss
Pläne – Wincent Weiss
Warum – Wincent Weiss
Auf anderen Wegen – Andreas Bourani
Ich muss immer an dich denken – SDP
Nie vergessen – Glasperlenspiel
Still – Jupiter Jones
Wie soll ein Mensch das ertragen – Philipp Poisel
Deine Nähe tut mir weh – Revolverheld
Ich will nur – Philipp Poisel
Ich will nur dass du weißt – SDP
Niemals Allein – SOPHIA
Falling Apart – Michael Schulte
Leer – Ambre Vallet
– vor zwei Jahren –
Die Musik dröhnt höllisch laut aus den Boxen. Wer sich heute Abend nicht vollends heiser schreien möchte, hat nur mit stummen Handbewegungen die Chance, sich zu verständigen. Obwohl ich davon ausgehe, dass die wenigsten hier sind, um Klatsch und Tratsch auszutauschen.
Spaß haben, für ein paar Stunden dem strengen Lernpensum entkommen und alltägliche Gedanken im Kölsch ertränken. So lautet normalerweise die Mission, wenn ich mit meinen Jungs freitagabends feiern gehe. Meist sind wir auf einer legendären Medizinerparty oder in einem der vielen Clubs der Stadt. Wären wir anspruchsvoller, hätte es uns sicher nicht in diesen heruntergekommenen Keller gezogen, doch hier sind wir nun.
Jedenfalls Aaron und ich. Wo Max und Daniel abgeblieben sind, kann ich nicht genau sagen. Ein Nicken in Richtung Bar genügt, dass Aaron mir folgt. Hier ist nicht nur der Bass leiser, sondern auch der Geruch von verschwitzten Körpern wird um einiges erträglicher.
Die ersten Kölsch sind ziemlich schnell leer. Der Alkohol gibt sein Bestes, um den Abend in Schwung zu bekommen. Dabei sollte ich mir die Frage stellen, wie geschickt es ist, mich gleich zu Beginn des neuen Semesters so volllaufen zu lassen. Mit einem Kater kann ich das Lernen morgen vergessen. Ich lasse mich auf den Hocker vor dem Tresen sinken und bestelle die nächste Runde. Aaron finanziert sein Studium gerade so mit BAföG und ist deshalb häufig ziemlich knapp bei Kasse. Also geht diese hier auf mich.
Ich schiebe unsere leeren Kölschgläser über die Bar und mache auf uns aufmerksam.
»Wie viele?«, fragt der Barkeeper.
»Diesmal nur vier Ginger Ale«, sage ich und sehe mich nach dem anderen Teil unserer Gruppe um. Ich entdeckte Max und Daniel hinten auf der Tanzfläche. Daniel gibt alles, um Max auf andere Gedanken zu bringen.
Seit er von seiner Freundin Elena verlassen wurde, ist er für uns kaum wiederzuerkennen. Kein Wunder, denn als Elena sich vor einem halben Jahr für ein Auslandssemester nach Paris aufmachte, war nicht abzusehen, dass sie sich vom nächstbesten Franzosen ein Kind machen lässt. Für Max am wenigsten. Er fiel ziemlich tief, als sie ihm zuerst via WhatsApp das Ultraschallbild zuschickte und ihm dann noch rasch offenbarte, die Zwillinge seien nicht von ihm. Ja, richtig. Streng genommen ließ sie sich sogar zwei Kinder machen.
Natürlich war das richtig mies von ihr. Aber wir sprechen nicht darüber. Vor allem nicht vor Max. So viele Nummern er hier im Club auch einstecken mag, wir wissen genau, dass er immer noch an sie denkt, wenn er sich abends einen runterholt. Viel schlimmer ist, dass er seitdem des Öfteren das Maß verloren hat. Und genau deshalb fange ich an, mir Gedanken zu machen.
»Wir sollten sie suchen«, erkläre ich und greife zwei Gläser. »Max und Daniel.«
»Bist du heute auf Kuschelkurs?«, fragt Aaron grinsend und nimmt ebenfalls zwei Limonaden von der Theke.
»Nein«, sage ich und rolle die Augen. »Aber wenn die hier nicht gleich mal eine Trinkpause einläuten …«, ich hebe die Gläser, »kann ich auch dich vom Boden aufwischen.«
»Gar nicht wahr!«, verteidigt sich Aaron. »Aber ich wüsste auch gerne, wo die beiden sich rumtreiben.«
Wir schieben uns an ein paar Mädels vorbei, die offenbar damit beschäftigt sind, ihre Instagramstorys mit Bildern und Videos des heutigen Abends zu füttern.
Zwei der Mädchen lösen sich aus der Gruppe. Zumindest glaube ich das im ersten Moment, bis ich merke, dass sie nicht zu den anderen gehören, sondern sich, genau wie ich, nur den Weg zur Tanzfläche erkämpfen.
Mit ihren rosa Haaren, die in dem flackernden Licht metallic glänzen, fällt mir die Größere der beiden zuerst auf. Mein Blick streift die vielen Tätowierungen, die ihren Arm zieren, bevor ich ihre dunkelhaarige Freundin mustere.
»Wieso bleibst du stehen?«, ruft Aaron über den Lärm hinweg und läuft mir beinah in den Rücken. »Wenn wir die beiden nicht finden, ist die Limo hier pisswarm.«
Nur mit Mühe kann ich meinen Blick von der Dunkelhaarigen abwenden. Aus dem Augenwinkel registriere ich, wie sie auf der Tanzfläche ihre Hüfte schwingt und den Kopf lachend in den Nacken wirft. Sie trägt eine enge Jeans und ein lockeres weißes Top, das ihre gebräunte Haut betont. Okay wow! Vielleicht wird der Abend interessanter als gedacht …
»Geh schon mal vor!«, rufe ich Aaron zu. Laut genug, dass er mich verstehen kann.
Ich werfe immer wieder einen verstohlenen Blick auf die Tanzfläche und nehme im Laufen einen Schluck. Ginger Ale. Shit! Wobei ich über das Stadium »Mut antrinken« nach dem achten Kölsch sowieso hinaus bin.
Um einen lockeren Anmachspruch bin ich in der Regel nicht verlegen. Das gruselige »ich starre dir in die Augen, bewache nachts dein Bett und bitte dich nebenbei, dich von mir fernzuhalten« zieht nur in Filmen wie Twilight und Co, aber sie vorsichtig von der Seite anrempeln, höflich um Entschuldigung bitten und zur Wiedergutmachung ein Getränk anbieten funktioniert auch dann, wenn man kein Glitzer-Vampir mit Cringefaktor 1000 ist.
»Da sind sie doch.« Aarons Stimme reißt mich aus meinen Überlegungen. Wo kommt der denn plötzlich her? Hatte ich ihn nicht vorgeschickt? Ich beschließe, meine Pläne auf später zu verschieben und erst mal nach den anderen zu sehen.
»Was steht ihr hier rum? Wollt ihr die Toiletten hüten?«, rufe ich den Jungs zu, als wir uns ihnen nähern. Ich werde stutzig. Max ist leichenblass. Fuck. Das habe ich mit »Maß verlieren« gemeint.
Sein graues Shirt scheint durchgeschwitzt, dabei stehen die zwei ziemlich abseits im luftigen Flur.
»Was ist denn passiert?«, fragt Aaron. »Sag bloß, du hast 'ne Abfuhr bekommen. Nimm’s nicht persönlich, die meisten hier sind bestimmt nicht einmal volljährig.«
»Lass gut sein«, raune ich in seine Richtung und bemerke, wie Max, wenn überhaupt möglich, noch blasser wird.
Er ist mit seinen ein Meter fünfundsiebzig der Kleinste und vor allem der Schmalste von uns. Kein Wunder, dass es ihn so schnell umhaut. Als er sich wie ein nasser Sack auf die Knie sinken lässt, versuche ich ihn mit einem groben Schulterklopfer dazu zu bewegen, sich wieder aufzurichten. »Ein bisschen frische Luft, und wir kriegen dich wieder hin.« Ich will ihn am Arm hochziehen, doch Daniel hält mich zurück. »Willst du, dass er uns gleich auf die Füße reihert? Er braucht nur ein Glas Wasser«, schlägt er stattdessen vor und dreht sich wieder zur Bar um.
Schnell nicke ich. »Vielleicht ist das wirklich die beste Idee. Wir sind gleich wieder da«, sage ich und schnappe mir Aaron. Zwar müssen wir uns wieder durch die Menge schlängeln, aber immerhin erhasche ich so einen erneuten Blick auf die Dunkelhaarige, die mittlerweile ein bisschen abseits mit ihrer Freundin ebenfalls eine Limo trinkt. Ich mustere sie im Gehen von der Seite, versuche einen Wortfetzen aufzuschnappen. Zu gerne würde ich einmal ihre Stimme hören oder ihren Namen in Erfahrung bringen.
»Wir hätten Max nicht allein lassen sollen«, überlege ich laut.
Aaron dreht sich zu mir um und runzelt die Stirn. »Das haben wir nicht, Daniel war bei ihm. Und ich denke nicht, dass mit einem Babysitter irgendjemandem geholfen wäre. Wir sind immerhin nicht seine Mutter.«
»Aber wir wussten, dass es ihm beschissen geht.«
»Jetzt komm mal runter. Er beruhigt sich schon wieder. Immerhin hat er sich keinen Zugang gelegt.«
Nach den Klausuren hatten im vergangenen Semester einige Kommilitonen wirklich übertrieben und sich auf einer privaten Feier intravenös Alkohol verabreicht. Eine absolut kranke Idee. Spätestens nachdem zwei Studierende, die ich nur flüchtig kannte, die Nacht im Krankenhaus verbracht hatten, sollte allerdings auch jedem Idioten klar sein, dass das reichlich bescheuert gewesen ist. Aber wenn man mich fragt, würde ich es als natürliche Selektion bezeichnen.
»Können wir hier Brot bekommen? Und Wasser?«, bitte ich den Barkeeper.
»Keine Ahnung, ob es euch aufgefallen ist, aber von Ginger Ale wird man in der Regel nicht betrunken«, sagt er, ohne die Miene zu verziehen. Sein Tonfall hingegen verrät, wie unglaublich witzig er sich findet. Haha! Ich nehme mir vor, ihn lustig zu finden, sobald wir Max wieder auf die Beine bekommen haben. Bis dahin habe ich keine Zeit für den Quatsch.
»Wäre sehr freundlich«, erkläre ich und ziehe einen Geldschein heraus.
Der Typ winkt ab. »Geht aufs Haus!« Eine gekühlte Plastikflasche mit stillem Wasser, die vermutlich ihre Daseinsberechtigung in genau solchen Situationen findet, taucht auf der Theke auf. »Brot haben wir nicht mehr. Sorry!«
Aaron greift nach der Flasche und nickt dankend. »Wollen wir mal hoffen, dass das reicht.«
Auf der Tanzfläche ist es etwas leerer geworden. Ich gehe davon aus, dass es an dem Song liegt, den anscheinend nicht nur ich noch nie zuvor gehört habe. Zumindest hat es den Vorteil, dass wir jetzt schneller vorankommen.
»Gehört der Typ zu euch?«
Fragend wende ich mich der Stimme zu, um im nächsten Augenblick verblüfft festzustellen, dass sie dem rosahaarigen Mädchen gehört, das mit der heißen Brünetten unterwegs ist. Ich schaue zu Max, der wirklich fertig aussieht. Aaron reicht ihm gerade die Wasserflasche, die er kaum an seinen Mund halten kann …
»Hast du Interesse?«, schnellt eine ironische Frage von mir zurück. Es ist höllisch anstrengend, die ganze Zeit so schreien zu müssen. »Könnte aber sein, dass er gerade anderweitig beschäftigt ist.« Könnte nicht nur sein. Ist so.
»Heute nicht«, antwortet sie und blickt sich zu ihrer Freundin um. Ich sehe, wie sie genervt die Augen verdreht.
»Wir wollten eigentlich nur Hilfe anbieten«, erklärt die Brünette stirnrunzelnd.
Jetzt, wo ich sie aus der Nähe sehen kann, finde ich sie sogar noch attraktiver. Die weichen Gesichtszüge und das warme Braun ihrer Augen wirken freundlich und irgendwie vertrauenswürdig.
»Hilfe?«, wiederhole ich etwas perplex, als Aaron plötzlich wieder neben mir auftaucht. Die Mädchen tauschen Blicke aus, die ich nicht sofort einordnen kann. »Ihr seht nämlich allesamt etwas überfordert aus.«
Na gut! Damit mag sie nicht einmal unrecht haben. Doch bevor ich etwas sagen kann, mischt sich Aaron ein. »Er hat einfach etwas über den Durst getrunken. Mit einer leichten Alkoholvergiftung kommen wir als Ärzte auch allein klar.«
Der spöttische Ausdruck auf dem Gesicht der Rosahaarigen scheint meinen Kumpel herausgefordert zu haben. Normalerweise prahlen wir nicht mit unserem Studium.
»Ben? Wir bräuchten mal eine weitere Hand«, höre ich Daniel rufen. »Beeilung!«
Ich werfe einen entschuldigenden Blick in Richtung der Mädchen. »Lieb gemeint, aber ich denke, wir kommen allein klar.«
Schnell drehe ich mich um, nehme aus dem Augenwinkel aber wahr, wie die beiden Mädels sich an den Tisch nahe am Ausgang stellen.
Ich unterdrücke den Impuls, einen Blick zurückzuwerfen, und verfluche die Tatsache, dass der Abend ausgerechnet jetzt eine andere Richtung nehmen musste.
Als wir die Jungs erreichen, versucht Daniel erneut, Max aufzurichten.
»Wir sollten ihn vielleicht auf die Toilette bringen. Da erregen wir weniger Aufsehen«, schlage ich vor. Wenigstens kann man sich auch hier schon halbwegs normal unterhalten.
»Und weniger Frauen«, sagt Daniel mit einem vorwurfsvollen Blick zu uns.
Ich hebe abwehrend die Hände und helfe, Max an der Wand hochzuziehen. Noch nie haben sich knapp fünfundsechzig Kilo so schwer angefühlt.
»Mir ist schlecht«, presst Max hervor. Seine Augen sind geschlossen und die Worte gequält. »Ich glaube, ich muss …«
Bevor er weiterreden kann, hat Aaron ihm wieder die Wasserflasche an die Lippen gehalten.
Ich knie mich auf den Boden vor die Wand und ziehe Max ein Stück zur Seite, damit seine Füße den Durchgang zu den Toiletten nicht versperren. Sein Kopf kippt benommen auf die Schulter.
»Gleichmäßig atmen«, kommandiere ich und nehme Aaron die Wasserflasche aus der Hand. Schnell drehe ich den Deckel ab und lasse etwas Flüssigkeit über Max’ Stirn laufen.
Er zuckt kurz zusammen, öffnet die Augen und verliert seinen Blick. »Mir isso schlecht.« Undeutliche Worte stolpern aus seinem Mund gerade noch rechtzeitig, sodass ich einen Schritt zurückspringen kann, bevor er sich aus vollem Hals übergibt.
Der Geruch von Erbrochenem dringt stechend in meine Nase. Kurz glaube ich, ebenfalls meinen Mageninhalt verlieren zu müssen, drehe mich aber schnell genug um.
Verdammt!
So wie wir gerade noch versucht haben, Max aus dem Geschehen zu ziehen, spüre ich plötzlich sämtliches Interesse auf uns liegen. Max ist hochrot angelaufen, und auch die anderen Jungs stehen etwas hilflos im Gang.
»Hey!«, donnert eine laute Stimme zu uns rüber.
Shit! Shit! Shit! Wieso müssen wir ausgerechnet an diesem Abend so viel Pech haben? Als der Kerl mit dem schwarzen Hemd sich uns noch ein Stück nähert, weiß ich unsere privaten Hauspartys schlagartig noch mehr zu schätzen. Weniger Gaffer und vor allem weniger Mittfünfziger, die sich einmischen.
»Sorry, Mann. Wir wissen nicht, was er gegessen hat. Vielleicht den Magen verdorben«, setzt Aaron zur nächstbesten Erklärung an.
»Ja, den kann man sich mit hartem Zeug hier schnell verderben.«
»Er hatte einen ziemlich schlechten Tag«, beteuere ich und deute auf Max, der noch immer kaum auf die Beine kommt.
»Einen schlechten Tag habe ich auch, wenn Gäste ihre Grenzen nicht kennen. Mann, Jungs! Ihr seid doch keine sechzehn mehr! Ich gebe euch fünf Minuten, und dann seid ihr aus meinem Club verschwunden!«
Spitze. Der Kerl ist also auch noch der Besitzer von einem Club, den wir, so wie es aussieht, ab sofort nur noch von außen sehen werden.
»Tut uns wirklich leid«, setze ich zur Verteidigung an, werde jedoch zum zweiten Mal an diesem Abend überrascht.
»Die Jungs gehören zu uns, Willi! Es tut mir leid, wir haben uns etwas übernommen. Ich kümmere mich drum, okay?«
Irritiert starre ich das Mädchen mit den rosa Haaren an. Sie und ihre Freundin scheinen uns nicht aus den Augen gelassen zu haben.
»Zu euch?« Willis Blick wird ein wenig weicher. »Oh, man, Louisa. Dann passt das nächste Mal wirklich besser auf deine Freunde auf.« An uns gerichtet, schüttelt er nur seinen Kopf. »Das wird weggemacht, verstanden?«
Wir nicken synchron.
Kaum ist dieser Willi schnaufend verschwunden, treten die Mädels zu uns. Zumindest habe ich jetzt den Namen von Miss Rosa.
»Keine Hilfe brauchen, soso«, spottet Louisa und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Wir konnten ja nicht ahnen, dass du hier was zu sagen hast«, werfe ich ein.
»Der Boss ist Lous Onkel«, erklärt die Brünette und mustert mich. Sie deutet auf die Tür zum Außenbereich, der wie in den meisten Clubs viele Gelegenheitsraucher schafft. »Wie viel habt ihr getrunken, dass er es nicht bis dahin geschafft hat?«
Ich zucke nur mit den Schultern und beobachte, wie Max sich endlich wieder auf die Beine rappelt.
»Und ihr seid Ärzte?«, hakt sie nach. »Ihr seid doch nicht mal fünfundzwanzig, oder?«
Ich bin gerade mal dreiundzwanzig.
Ausgerechnet jetzt mischt sich Daniel ein. »Wir studieren noch«, korrigiert er, und ich wünsche mir augenblicklich, dass die grässliche Musik seine Antwort verschluckt. Warum musste Aaron auch auf dicke Hose machen? Die Mädels können sich ein Grinsen natürlich nicht verkneifen. Klasse.
Es fehlt nicht viel, und dieser Abend fällt an Twilight vorbei, ins Drehbuch von Köln 50 667.
Betreff: Kennenlernen für Extradeppen.
Während Louisa losläuft, um Putzzeug zu holen, bleibt ihre Freundin mit etwas Entfernung zu uns stehen. Ich kann nicht anders, als immer wieder einen Blick in ihre Richtung zu werfen. Doch bevor ich den Entschluss fassen kann, sie noch einmal anzusprechen, ist Louisa mit Eimer und Lappen wieder da.
»Gründlich!«, sagt sie im schmunzelnden Befehlston und stellt die Sachen auf dem Boden ab. »Ich habe vor meinem Onkel meinen Kopf für euch hingehalten. Willi ist echt genervt.«
Max nickt schuldbewusst und greift nach dem Eimer. Sein Gesicht hat mittlerweile wieder Farbe angenommen, und die Sauerei ist zum Glück schneller beseitigt als gedacht. Die ganze Zeit über spüre ich den wachsamen Blick der beiden Freundinnen auf uns.
»Genug für heute. Lasst uns gehen, okay?«, fragt Daniel in die Runde und deutet hinter sich.
»Vermutlich besser so«, antwortet Max geknickt. Auch Aaron stimmt zu, greift nach dem Eimer und bringt ihn ordnungsgemäß zurück, bevor Louisa uns darin eigenhändig den Kopf waschen kann.
»Kriege ich noch einen Moment?«, bitte ich die Jungs, als sie sich langsam zum Ausgang bewegen.
»Einen Moment wofür?«, horcht Daniel nach.
»Er will sich die Freundin klären«, kombiniert Aaron und verdreht die Augen.
»Ernsthaft jetzt? Mädchen gibt es hier jede Woche.«
Ich schenke meinen Freunden ein unschuldiges Lächeln und bleibe ihnen eine restliche Antwort schuldig.
»Beeil dich!«, höre ich Daniel rufen, als ich zwischen einer Gruppe Neuankömmlinge abtauche. Das habe ich vor, und wenn ich sichergehen will, dass Louisas Freundin nicht wieder in der Masse verschwindet, muss ich das auch.
Meine Augen entdecken die Dunkelhaarige sofort, nun ein bisschen weiter im Geschehen, dafür aber ohne Beisein von Miss Rosa.
»Habt ihr was vergessen?« Sie lächelt mich an. Ein viel zu freundliches Lächeln dafür, dass wir uns heute nicht von der charmantesten Seite gezeigt haben. Vielleicht ist dieser Gesichtsausdruck aber auch einfach ihre Art? Zu gern würde ich das herausfinden.
Ich nicke, woraufhin sie mich fragend ansieht.
»Deine Nummer.« Eine ungewohnte Aufregung pulsiert in meinen Adern. Wie bereits erwähnt: Normalerweise bin ich deutlich gelassener, wenn ich Frauen anspreche. Normalerweise habe ich aber auch nicht so einen Abend hinter mir.
»Hm?«
Fuck. Hat sie die Frage nicht verstanden, oder war das ein etwas unbeholfener Korb?
Ich sag doch, die Nummer mit dem Anrempeln hätte besser funktioniert. Hitze schießt in meine Wangen. Auf einmal erscheint mir auch die Luft viel dicker als vorhin. »Moment! Hat hier vielleicht wer einen Stift?«
Bravo, Benedikt! Sollte sie dir tatsächlich eine Abfuhr erteilen, gibt es jetzt sogar noch Zeugen.
Immerhin drückt mir jemand einen Kugelschreiber in die Hand. Instinktiv hole ich Luft, bevor ich den Stift hebe und auf ihren Arm deute. »Darf ich?«
Sie sieht perplex aus, nickt jedoch.
»Meld dich einfach, wenn du Bock hast.« Kaum haben die Worte meinen Mund verlassen, frage ich mich, ob es viel zu sehr danach klingt, als wolle ich ihr gerade eine schnelle Nummer anbieten.
Nicht, dass ich daran kein Interesse hätte … Es ist nur, dass ich eigentlich …
»Mache ich.«
Ich gehe einen Schritt zurück und sehe zu, wie sie sich über die Stelle auf ihrer Haut streicht, auf die ich gerade meine Nummer gekritzelt habe. Ich sollte zurück zu den anderen, vorher will ich ihr aber zumindest noch eine Information entlocken.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Mel«, sagt sie und hebt die Hand. Überrascht nehme ich wahr, wie sie hinter mir jemandem zuwinkt.
»Mel wie Melanie oder Melissa?« Ich werfe neugierig einen Blick über die Schulter, doch entdecke niemanden, der ihr gewinkt haben kann. »Oder einfach Mel?«, schiebe ich hinterher und drehe mich wieder zu ihr um. Zumindest glaube ich das. Denn als ich mein Gesicht wieder in die Richtung bewege, in der ich sie vermute, muss ich feststellen, dass sie verschwunden ist.
Wie von der Tanzfläche radiert. Auf und davon. Verwirrt runzele ich die Stirn. Das Licht flimmert, die Tanzfläche hat sich längst wieder gefüllt, und ein neuer Popsong dringt aus den Boxen. Viele Argumente sprechen dafür, diesen Abend als außerordentlichen Reinfall zu betrachten. Doch ich? Ich kann mir auf einmal ziemlich gut vorstellen wiederzukommen.
Ich starre auf die Benachrichtigung, die schon vor fast zwei Minuten auf meinem Smartphone aufgeblinkt hat.
Oh mein Gott.
Das ist nicht wahr.
Das kann nicht wahr sein.
Mein Puls rast, und in meinen Ohren rauscht es, als stünde ich direkt vor dem offenen Meer.
Mit zittrigen Händen fahre ich über das Display und klicke auf den Titel des Videos, von dem ich meine Augen kaum lösen kann.
Jonte ist seit zwei Jahren einer der angesagtesten YouTuber schlechthin. Bekannt geworden ist er durch seine humorvollen Videos, in denen er auf andere Creators im Netz reagiert. Doch mittlerweile ist er auch in Werbespots im Fernsehen zu sehen, und die Teenager tragen sogar Pullis mit seinem Logo.
»Ben!« Meine Stimme klingt leicht panisch. »Ben! Wo bist du?«
Ich kann mir das Video unmöglich ansehen. Ich kann nicht. Nicht ohne Ben.
Mit flatterndem Herzen stoße ich mich vom Schreibtisch ab und stürme aus dem Schlafzimmer. Beinahe falle ich über Viktor. Der dicke rote Kater liegt mitten im Türrahmen und hebt irritiert den Kopf, als sein Frauchen sich im letzten Augenblick abfängt und einem Sturz entgeht.
»Benedikt!« Wie kann er mich in dieser kleinen Wohnung nicht hören? Ich erreiche unsere Küchenzeile und atme erleichtert aus, als ich ihn vor dem Toaster entdecke.
»Hast du was gesagt?« Mein Freund hebt seine Kopfhörer vorsichtig an und wirft einen Blick über die Schulter. Mit der freien Hand klappt er das Sandwich zu, das er sich gerade belegt hat.
»Und ob ich etwas gesagt habe!«, erkläre ich aufgeregt. »Das Essen kann warten. Du musst mitkommen. Ich muss dir was zeigen.« Mein Herz rast immer noch, als ich an seinem Shirt ziehe und versuche, ihn Richtung Schlafzimmer zu bewegen.
»Etwas zeigen? Kann das nicht warten? Ich habe den ganzen Vormittag gelernt und bin echt hungrig«, knurrt er widerwillig. »Lass mich das Sandwich wenigstens mitnehmen.«
Ich gestatte ihm keine Widerrede. Essen können wir doch später. Und zwar dann, wenn die Aufregung erst einmal verdaut ist. Wenn das jemals der Fall sein wird.
»Wie viele Follower waren es gestern Abend, als du dich das letzte Mal eingeloggt hast?«, frage ich und spüre, wie meine Mundwinkel so in die Wange stechen, dass es beinahe schmerzt.
»Puh«, überlegt Ben und macht ein fragendes Gesicht. »Knapp zehntausend?«
Ich verdrehe grinsend die Augen. »Neuntausendachthundertsechzig.« Wahnsinn! Als ich vor sechs Monaten den Kanal erstellt habe, hätte ich mir niemals erträumt, dass sich so viele Menschen für meine Kochvideos interessieren. Schließlich sollte das alles hier nur ein Hobby werden. Doch je greifbarer die Zehntausend-Marke wurde, desto mehr wurde der Ehrgeiz entfacht, sie tatsächlich einmal zu erreichen. Die letzten Tage habe ich sogar eine Art Protokoll darüber geführt.
»Setz dich hin«, befehle ich und schiebe Ben den Schreibtischstuhl unter den Po. Mein Freund lässt sich verwirrt sinken.
»Mach es nicht so spannend. Kam das letzte Video gut an?«, fragt Ben und will nach der Maus greifen. Im letzten Augenblick ziehe ich sie ihm mitsamt Tastatur weg.
»Warte!« Meine Hände zittern wieder, als ich das Passwort meines Computers eingebe und die YouTube-Startseite aufrufe.
»Was. Sagst. Du. Jetzt?«
Ben betrachtet zuerst die falsche Seite des Bildschirms. Ungeduldig deute ich auf das Anzeigebild des Videos, das vor zehn Minuten online gegangen ist.
»Ich reagiere auf: VLOG – Mein FREUND backt vegane Muffins und es geht schief / Jonte«
Anstatt weiterhin auf den Computer zu starren, sehe ich nun Ben an und warte auf eine Reaktion in seinem Gesicht.
»Das ist ein Scherz, oder?«, fragt er und reißt mir die Maus aus der Hand. »Du willst mich reinlegen und filmst das.«
Misstrauisch sieht er sich im Schlafzimmer nach einer versteckten Kamera um.
Schnell schüttele ich den Kopf und lasse mich auf seinen Schoß sinken. »Teddy? Hatten wir nicht gesagt, dass wir keine Pranks machen? Ich verspiele kein Vertrauen für Klicks.«
Ben nickt. »Okay. Tut mir leid.« Er sieht vollkommen verwirrt aus. »Hast du es schon angesehen?«
»Natürlich nicht«, sage ich. »Das machen wir doch zusammen.« Auch wenn @melvloggt eigentlich mein Projekt ist, hat Ben mich von Anfang an unterstützt. Mir Mut zugesprochen. Die Zweifel beiseitegeschoben und sich sogar das ein oder andere Mal vor die Kamera gewagt. Und das, obwohl er zu Beginn alles andere als begeistert gewesen ist. Das ständige Filmen lenke ihn vom Medizinstudium ab, erklärte er. Also versprach ich ihm, er werde mit dem ganzen Kram wenig zu tun haben.
Nie hätte ich mir träumen lassen, dass jemand wie Jonte auf ein Video von uns reagiert.
»Mach mal an«, flüstere ich nervös und muss mich zusammenreißen, nicht allzu fest in Bens Oberschenkel zu kneifen. Zuerst kommt die Werbung. Nach ein paar Sekunden können wir sie wegklicken. Jonte, eigentlich heißt er Johannes, taucht im Video auf. Er sitzt wie immer mit dicken Kopfhörern vor seinem Desktop und begrüßt die Zuschauer, die live zugesehen haben.
»Ich will wissen, wie er uns gefunden hat«, überlegt Ben und spult ein paar Sekunden vor.
Wir können mitlesen, wie jemand im Chat meinen Kanal vorschlägt. Kurz darauf ruft Jonte die Startseite auf und liest die letzten Videotitel vor.
»Wollen wir vegane Muffins ansehen?«, fragt er seinen Chat. Er fordert seine Community auf, ausreichend Snacks zum Zuschauen zu holen.
Als genügend Zuspruch kommt, klickt Jonte das Video an.
Ich beiße mir fest auf die Zähne, als mein eigenes Gesicht auf dem Bildschirm aufleuchtet. Zwar habe ich mich an den Anblick meiner selbst in den letzten Monaten gewöhnt, und sogar daran, meine Stimme im Schnitt zu hören, doch jetzt ist es etwas vollkommen anderes. Zu wissen, dass diesen Ausschnitt heute viele Tausend Menschen gesehen haben, schnürt mir vor Aufregung fast die Luft ab.
»Hallo, ihr Lieben«, höre ich meine eigene Begrüßung. »Schön, dass ihr wieder bei @melvloggt eingeschaltet habt. Heute habe ich noch mal einen besonderen Gast für euch. Mein Freund Benedikt wird nämlich seine Backkünste unter Beweis stellen.« Ich grinse breit. Nicht ich, sondern die Melina im Video.
Ben taucht im Hintergrund auf. »Sie hat mich gezwungen«, witzelt er.
»Gar nicht wahr«, widerspreche ich. »Er freut sich mindestens so sehr wie ich.«
Ben vergräbt sein Gesicht in den Händen. Vermutlich ist es für ihn genauso befremdlich, sich vorzustellen, wie viele Menschen uns zusehen und an unserem Leben teilnehmen. Das Video läuft weiter. Jonte kommentiert belustigt Bens Bemühungen, die angebrannten Muffins durch eine Zuckerglasur passabel aussehen zu lassen.
»Die haben doch gut geschmeckt«, verteidigt sich Ben und legt seine Hände auf meine Schulter.
»Mega«, bestätige ich grinsend und erinnere mich noch zu gut an die Zuckerschock-Teigklumpen, die tagelang in unserer Küche gestanden haben. Bis sie schließlich so hart waren, dass wir mit ihnen in den Krieg hätten ziehen können.
Ben liest einige Kommentare aus dem Chat durch.
Die meisten schreiben engagierte Kommentare, und man könnte meinen, wir haben sie wirklich gut unterhalten.
»Wenn ihr Bock habt, die beiden weiterzuverfolgen, schaut doch gerne mal auf dem Kanal vorbei. Sie freuen sich sicher über ein Abo«, fordert Jonte seine Community auf und scrollt erneut durch die Übersicht unserer letzten Videos.
Ich rutsche unruhig auf Bens Schoß hin und her. »Aktualisier mal!«
Wir halten gespannt den Atem an, als Ben die Startseite meines Kanals aufruft. Es lädt. Viel zu lang. Verdammt! Wir wohnen in einer Großstadt. In Köln. Kann man nicht erwarten, dass das Internet hier halbwegs funktioniert?
Ich reiße die Augen auf, kralle meine Fingernägel jetzt doch fest in Bens Arm und muss im nächsten Moment lachen.
Das kann nicht sein, oder?
Das Video ist erst vor einer halben Stunde online gegangen, und unsere Abonnentenzahl hat sich seitdem beinahe verdoppelt.
»Komm schon! Das ist ein Witz«, platzt Ben hervor. »Da hat dir jemand Follower gekauft.« Irritiert lehnt er sich zurück und atmet tief durch.
Ich übernehme die Kontrolle über die Tastatur und klicke mich durch unsere Videos. Die Klicks steigen. Minütlich kommen neue Kommentare. »Nein. Schau doch!«, sage ich ebenso fassungslos. »Das ist echt. Unglaublich! Aber echt.«
Und trotzdem wage ich es kaum, mich über das plötzliche Wachstum zu freuen. Als könne ich damit riskieren, doch nur aus einem schönen Traum zu erwachen.
»Damit hast du nicht gerechnet?«, necke ich Ben und ziehe ihn an mich. »Vielleicht werden wir jetzt berühmt.«
»Bloß nicht!« Ben winkt vorsichtig ab. »Dieser Kanal sollte ein Hobby werden. Neben dem Studium.«
Ich verdrehe lächelnd die Augen. »Du Spielverderber. Natürlich wird er das bleiben.« Trotzdem wäre es doch schön, noch mehr Leute mit meinen Videos zu erreichen. Wenn es um verrückte Fantasien geht, kann mein rationaler Freund mich selten verstehen. Anders als sein Zwillingsbruder Leo ist Ben Realist. Würden die beiden Jungs sich mit den dunklen Haaren, denselben haselnussfarbenen Augen und den markanten Wangenknochen nicht so verdammt ähnlich sehen, würde einem niemand glauben, dass die beiden Brüder sind.
»Ich freue mich für dich.« Ben streicht mit seiner Hand durch mein langes braunes Haar. »Wirklich. Du hast das verdient wie niemand sonst.« Ehe ich mich’s versehe, greift er mir unter die Arme, schiebt mich zur Seite und erhebt sich vom Schreibtischstuhl. Aufgeregt folge ich ihm zurück in den Flur. »Und trotzdem würde ich jetzt immer noch gerne mein Sandwich essen. Ich muss gleich weiterlernen.«
»Komm schon«, antworte ich. »Zuerst muss ich noch einen Post schreiben. Oder einen Vlog starten? Wir könnten uns direkt bedanken und alle Neuen herzlich willkommen heißen.«
Ben bleibt stehen und beißt sich auf die Lippe. »Können wir das auch später machen?«
Hm. Ich versuche, mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Ben hat die letzten Wochen sehr viel zu tun. Nicht nur, weil sein Praktisches Jahr im Krankenhaus noch mehr Zeit und Nerven beansprucht als das Studium selbst. Sondern auch, weil bald das letzte Staatsexamen ansteht.
Ich hatte nie Zweifel, dass er das schafft. So wie er bisher jede Klausur mit Bravour bestanden hat. Und trotzdem weiß ich, dass sein hoher Anspruch an sich selbst ihn viel Energie kostet.
»Abgemacht.« Ich werfe ihm eine Kusshand zu. »Setz dich aufs Sofa. Ich bringe dir das Sandwich.«
Ben schenkt mir ein dankbares Lächeln und lässt sich in unserer Sitzecke nieder.
Seit ich vor fast einem Jahr bei ihm eingezogen bin, hat sich in der kleinen Wohnung einiges verändert. Auf den Fensterbänken stehen Pflanzen. Am meisten mag ich die kleine Monstera, die übergangsweise in einem neongelben Plastikbecher stehen muss. Erst vor ein paar Tagen ist der schöne Keramiktopf, den meine Mutter uns getöpfert hat, zu Bruch gegangen.
Leben mit Katze kann gefährlich sein.
Aber auch die Bilder an den Wänden sind erst durch mich ergänzt worden. Auf den Fotos, die in schmalen Rahmen über dem Fernseher hängen, sind wir beide zu sehen. Ein einfaches Selfie im Unipark. Ein Polaroid beim Backen. Mein liebstes Foto entstand letztes Jahr vorm Eiffelturm. Ben fand es so peinlich, dass ich eine freundliche Französin bat, uns davor küssend zu fotografieren. Doch ich finde, es hat sich gelohnt. Ich liebe das Bild. Gleich daneben hängt ein Sonnenaufgang in Acryl auf großer Leinwand. Leos Freundin Maggie hat es uns zu Weihnachten geschenkt – sie ist eine echte Künstlerin. Man sieht auf Anhieb, wie viel Herzblut und Liebe in ihrer Arbeit steckt.
»Wir sind morgen mit ihnen zum Essen verabredet«, erinnere ich Ben. »Das weißt du noch, oder?« Fragend drehe ich mich zu ihm um. Er blickt schon wieder auf sein iPad. Wie immer.
»Mit wem?«
Mir wird klar, dass er gar keine Chance hatte, meinem Gedankengang zu folgen. »Mit Leo und Maggie.«
Ben nickt. »Ach so, ja. Natürlich.«
Ich öffne den Schrank, um Geschirr rauszuholen, und schiebe die heißen Sandwiches auf je einen Teller.
Der Geruch von warmen Tomaten und frischem Brot erfüllt meine Nase, und erst jetzt bemerke ich, wie hungrig ich bin. Durch die Aufregung am Vormittag scheine ich wirklich alles um mich herum vergessen zu haben. Ich lasse mich neben ihn auf die Couch fallen und schiebe Ben den Teller zu.
»Danke«, murmelt Ben.
Er ist so in seinen Text vertieft, dass ich ihn einige Sekunden von der Seite betrachte. Ben sieht erschöpft aus. Müde. Und trotzdem so konzentriert. Wie so oft frage ich mich, wie viel Disziplin es ihn kosten muss, trotz immenser Anstrengung durchgehend abzuliefern. Ich bin mir sicher, dass es den beiden Jungs guttut, mal wieder Zeit miteinander zu verbringen.
So unterschiedlich sie vom Charakter manchmal sein mögen, verbindet sie einiges miteinander. Bevor Ben und ich beschlossen haben, zusammenzuziehen, hat Leo für einige Monate hier gewohnt. Als er entschied, sein Studium abzubrechen, stand er für eine Weile quasi auf der Straße. Er konnte seine Miete nicht selbst bezahlen und verlor auf der Stelle jegliche Unterstützung der Eltern. Die Winters sind unheimlich streng. Während ich mit viel familiärer Liebe und Zuneigung aufgewachsen bin, haben die Jungs von Kindheit an gelernt zu funktionieren. Koste es, was es wolle. Bis Leo es irgendwann nicht mehr tat und die hohen Erwartungen seines perfektionistischen Vaters enttäuschte. Kein Medizinstudium. Kein Studium überhaupt. Leo wollte schreiben. Und das konnte er. Das kann er immer noch. Das weiß ich, weil ich einige seiner Texte gelesen und geliebt habe.
Ich bin mir sicher, Ben würde sie auch mögen.
Wenn er Zeit finden würde, sich zu entspannen und damit zu beschäftigen.
»Alles okay?« Ich bin aufgestanden, habe meine Hände auf Bens Schultern gelegt und massiere ihm sanft den verspannten Nacken. »Sollte man als Mediziner nicht auch wissen, dass es ungesund ist, keine Pausen zu machen? Das weiß ja sogar ich. Und ich habe keine Ahnung von …« Ich beuge mich vor, um auf dem iPad etwas lesen zu können. Doch genau in dem Augenblick schließt Ben das Dokument.
»Über Pausen kann ich nachdenken, wenn das hier vorbei ist«, murmelt er und steht auf. »Sorry, Schatz. Ich geh rüber ins Schlafzimmer, ja? Dann kannst du hier ungestört dein Video drehen.«
»Okay«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln.
– vor zwei Jahren –
»Gib schon her, ich will nur schauen«, beteuere ich und nehme Lou das Handy aus der Hand. Wir sitzen auf dem Teppich vor ihrem Sofa und scrollen uns durch die Dating-App, die ich mir vor ein paar Tagen runtergeladen habe. Streng genommen scrollt bisher nur Louisa, denn sie hat mir das Handy vor ein paar Minuten aus den Fingern gerissen.
»Soso … Nur schauen. Als Nächstes erzählst du mir dann auch, du seist nicht so eine. Klischeehafter geht’s gar nicht. Dabei weiß ich wirklich nicht, was du hast.« Meine beste Freundin grinst, wirft erneut einen Blick auf das Display meines Smartphones und schüttelt dann den Kopf. »Man, Mellibelli. Have fun! Du willst nicht nur schauen. Du willst rausgehen und den Jungs zeigen, wer du bist. Und als Allererstes wirst du bitte dieses Foto austauschen! Das hab aber nicht ich von dir gemacht, oder?«
»Doch!« Jetzt muss ich selbst lachen. Das Foto zeigt mich mit meinem Kater Viktor, und um ehrlich zu sein, finde ich es wirklich hübsch. »Ach und überhaupt, was soll das eigentlich heißen? Wer ich bin? Du tust ja gerade so, als würde ich mich sonst im Haus verstecken.«
Louisa hebt eine Augenbraue. »Darf ich dich an den Typen aus dem Club erinnern? Es war fast schon peinlich offensichtlich, dass er dich scharf fand. Und was machst du?«
Abwehrend hebe ich die Hände. Ich denke ungern an den Moment vor zwei Wochen zurück, in dem ich mich einfach aus dem Staub gemacht habe, nachdem der – zugegebenermaßen ziemlich attraktive – Medizinstudent mir erst seine Nummer auf den Arm geschrieben und mich dann nach meinem Namen gefragt hat.
Mir sind eben für einen kurzen Moment die Nerven durchgegangen. Andererseits, wenn er ernsthaft interessiert war, warum zum Teufel hat er mir eine falsche Nummer gegeben?
»Vielleicht ist sein Handy kaputt. Oder er hat sich einfach verschrieben«, greift Lou meinen Gedanken auf. Es ist nicht das erste Mal, dass wir darüber sprechen, wir sind diese Unterhaltung schon mehrfach durchgegangen.
»Männer haben immer irgendwelche Ausreden«, erkläre ich ein wenig stur. »Wahrscheinlich hat er sich an dem Abend den halben Club klargemacht. Arrogant genug war er ja.«
Lou öffnet ihren rechten Dutt, der ihr durch unser Rumhängen auf dem Sofa so locker geworden ist, dass es wirkt, als würde die rosafarbene Haarkugel ihr gleich vom Kopf fallen. »Hunde, die bellen, beißen nicht.«
Während sie die rosa Haarsträhnen neu aufdreht, fängt meine beste Freundin plötzlich an zu bellen. Ich zucke erschrocken zusammen. »Du hast doch einen Knall!« Ein amüsiertes Lächeln kitzelt in meinen Mundwinkeln. Aber eigentlich möchte ich nicht zugeben, dass sie womöglich recht hat. Einfach abzuhauen war wirklich nicht die feine englische Art.
»Du könntest damit anfangen, wirklich auf die Männer zu schauen und nicht auf ihre Hunde …« Lou beugt sich erneut über mein Smartphone und entsperrt den Bildschirm. »Obwohl der hier wirklich süß ist.« Sie klickt mit ihren schwarz lackierten Nägeln auf das Foto des Typen, dessen Profil wir uns eben angesehen haben. »Das ist ein Mischling, oder?«
Ich werfe erneut einen Blick auf das Bild und nicke. »Bestimmt noch ganz jung.« Das schwarz-weiße Hündchen, das zu seinen Füßen sitzt, hat flauschige Schlappohren und blickt zuckersüß in die Kamera. Zugegeben, das Tier hat es mir wirklich mehr angetan als sein Herrchen. Dabei lächelt der blonde Typ recht nett in die Kamera.
»Also?« Lou lehnt sich an das Sofa und lässt ihren Kopf auf die Sitzfläche sinken.
»Jaja«, gebe ich mich geschlagen. »Die App bekommt eine Chance. Aber das Foto mit Viktor bleibt. Dann weiß ich direkt, ob mein Gegenüber Katzen mag.«
Als meine Freundin nicht reagiert, löse ich mich aus dem Schneidersitz und lasse mich auf die Couch plumpsen.
»Wie du meinst. Ich will nur, dass es dir gut geht«, erklärt Lou.
»Mir geht es gut«, beharre ich. Die Trennung von Chrissi, nein, Christopher, wir haben beschlossen, dass es Zeit ist, ihn beim vollen Namen zu nennen, weil es die emotionale Bindung endgültig cuttet, ist schon zwei Jahre her. Zwei Jahre, dass dieser Blödmann am Telefon Schluss gemacht hat, weil er fürs Studium nach München ziehen wollte.
»Eine Fernbeziehung ist für uns beide nichts«, beharrte mein Ex, als er zwei Wochen später seine Klamotten aus meiner Wohnung holte. Beeindruckend, wie Christopher das über meinen Kopf hinweg einfach so entschieden hatte. Aber stimmt schon: »Eine Fernbeziehung ist für uns beide nichts« klingt vielleicht auch eleganter als »Ich brauche jemanden zum Bumsen in der Nähe«. Und aus heutiger Sicht kann ich einfach nur froh sein. »Den Kater kannst du natürlich behalten«, willigte er noch großzügig ein.
Den Kater. Viktor ist seitdem der einzige Mann in meinem Leben. Ohne ihn hätte ich meinen Glauben an das männliche Geschlecht schon lange verloren.
Du kannst nicht alle über einen Kamm scheren, habe ich vor Kurzem entschieden – zwei Jahre nach der Trennung –, die Dating-App installiert und mir ein Profil angelegt.
»Willst du was spielen?« Lou beugt sich vor und zieht die Schachtel mit dem Monopolygeld aus dem Bücherregal. Es ist eine alte Version des Spiels. Der Originalkarton ist laut Lou irgendwann von selbst zerfallen.
Wir spielen häufiger zusammen. Und weil es zu zweit weniger Spaß macht, übernimmt jede von uns zwei Spieler, die wiederum auch in Konkurrenz zueinander stehen. Was wirklich eine Herausforderung ist, denn ich ertappe Lou jedes Mal dabei, wie sie an ihre andere Figur kein Geld bezahlt oder das Gefängnis frühzeitig verlässt.
Obwohl ich – mit beiden Figuren – haushoch verliere, haben wir an diesem Nachmittag unheimlich viel Spaß.
Trotzdem verfalle ich auf dem Rückweg in eine Grübelei.
Lou meint es nur gut mit mir, aber sie macht sich umsonst Sorgen. Ich bin nicht allein. Schließlich habe ich sie. Und Viktor. Meine Eltern. Die Uni. Ich habe gar keine Zeit für eine Beziehung.
Und selbst wenn, man kann so was nicht erzwingen.
Aber du darfst auch nicht weglaufen, mahnt meine innere Stimme.
Dabei möchte ich mich doch einfach nur nicht mehr auf einen dieser Typen einlassen, die mich bei der kleinsten Schwierigkeit fallen lassen … so wie Christopher.
Erst als ich schon zwei Straßen von der Wohnung meiner besten Freundin entfernt bin, fällt mir ein, dass ich mit dem Rad hergekommen bin. Dieses ganze Wischwasch auf der albernen Dating-App hat mich schon völlig verrückt gemacht.
Mit eiligen Schritten laufe ich zurück zu dem Zaun, an dem ich den rostigen Drahtesel festgebunden habe. Ich drehe das Schloss auf die richtigen Zahlen und schiebe mich auf den Sattel. Mit dem Rad ist es nicht weit bis nach Hause. Ich wohne noch immer bei meinen Eltern, und wenn ich Glück habe, haben sie mir noch Reste vom Abendessen übrig gelassen. Wobei das Thema Essen bei uns in letzter Zeit viel zu häufig für Diskussionen gesorgt hat.
Mein kleiner Bruder leidet von Geburt an unter Epilepsie, und meine Mutter kontrolliert seine Ernährung schon immer sehr streng.
Ich trete heftiger in die Pedale, atme die Herbstluft ein und lasse mir vom kühlen Wind die Haare aus dem Gesicht pusten. Ich kann es kaum glauben, dass wir schon Mitte Oktober haben. Neulich habe ich doch noch Shorts getragen, und jetzt ertappe ich mich bei der Überlegung, meine Schals für den Winter aus dem Schrank zu kramen.
»Ich bin wieder zu Hause«, rufe ich, als ich ein paar Minuten später die Haustür aufschließe.
Es herrscht absolute Ruhe. Dabei ist eigentlich immer jemand da.
Mit knurrendem Magen gehe ich in die Küche und entdecke meine Mutter, vertieft in ein Magazin.
»Hallo«, versuche ich es noch einmal.
Endlich sieht sie auf. »Oh, hi, Süße! Ich habe gar nicht gemerkt, dass du da bist.«
»Gerade erst reingekommen. Gibt’s noch was zu essen?«
Und schon habe ich ihre Aufmerksamkeit wieder verloren.
»Das hier musst du dir mal ansehen. Es ist ein sehr spannender Bericht über eine Ärztin, die …«
Ich hätte es mir denken können. Mam ist wieder einmal in einen medizinischen Erfahrungsbericht vertieft. Meine Eltern haben bereits einiges mitgemacht, was die Krankheit meines Bruders angeht. Manche Epileptiker reagieren nur sehr schlecht auf die Medikamente. Bei David mussten die Ärzte bereits verschiedene Präparate ausprobieren, während sie uns gleichzeitig erzählen, dass die Wahrscheinlichkeit einer wirksamen Behandlung abnimmt, je mehr Versuche es braucht. Wir machen uns alle Sorgen um ihn.
»Klar! Ich schaue es mir an«, verspreche ich, obwohl ich nicht wirklich glaube, dass uns das weiterbringt. Doch ich weiß, dass es meiner Mutter hilft, die Last nicht allein zu tragen. Und wenn ich ihr auch damit nur ein kleines bisschen helfen kann, werde ich mir noch Dutzende dieser Berichte durchlesen. »Muss nur erst noch was essen.«
Bevor sie reagieren kann, habe ich den Topf mit den Nudeln entdeckt – low carb Linsennudeln, passend zum Diätplan.
Während die Sauce in der Mikrowelle brutzelt, erzählt mir meine Mutter von ihrem Tag. Ich erfahre, dass sie meinen Bruder früher von der Schule holen musste, weil er auf dem Pausenhof gestürzt ist.
»Er war richtig benommen. Die Lehrer dachten, es wäre ein Anfall.« Ma ist ganz weiß im Gesicht, während sie spricht.
»Das gibt nur eine Delle.« David steht plötzlich putzmunter in der Küche. »Außerdem war es keiner. Ich bin nur ausgerutscht.«
»Und wenn es einer gewesen wäre? Hattest du deine Medikamente dabei?«
»Bei dem Wetter und all den matschigen Blättern auf dem Boden legt man sich schnell auf die Nase, Mama«, sage ich ruhig. David wirft mir einen dankbaren Blick zu.
»Kann ich auch noch was haben?« Er deutet auf den Topf.
»Aber wir haben doch erst vor einer Stunde gegessen«, wirft unsere Mutter ein.
»Eben. Vor einer Stunde. Ich habe aber jetzt Hunger.«
»Dann nimm wenigstens mehr von dem Gemüse!«
»Ich esse auf dem Zimmer«, sage ich und nehme meinen angerichteten Teller. Der Geruch der dampfenden Tomatensoße lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.
In meinem Zimmer angekommen, stelle ich den Teller auf den Schreibtisch und ziehe mein Smartphone aus der Tasche. Sechs Benachrichtigungen in den letzten zehn Minuten. Drei davon sind von Lou. Nächstes Jahr möchte sie auf ein Konzert von dieser Rockband gehen, deren Namen ich mir die letzten Wochen einfach nicht merken konnte, und fragt mich, ob ich mitkomme.
Die vierte Benachrichtigung ist von meinem Telefonanbieter. Mein Datenvolumen beträgt weniger als zwanzig Prozent, und ich werde aufgefordert nachzubuchen, wenn ich weiterhin in Highspeed surfen möchte.
Und die letzten beiden Benachrichtigungen stammen tatsächlich von einem neuen Match.
Neugierig schiebe ich den Balken zur Seite und entriegle mein Handy.
Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, dem Typen auf dem Bild überhaupt ein Like gegeben zu haben.
Seine blonden, etwas gelockten Haare erinnern mich an Christopher. Sein Lachen allerdings nicht. Es wirkt seltsam aufgesetzt, und sein selbstverliebter Blick flüstert mir zu, dass er hier »nur was Lockeres« sucht.
Ich antworte nicht auf seine Nachricht. Das ist zwar gemein, aber ich bin absolut sicher, dass Lou ihn gelikt hat und nicht ich. Also schiebe ich mein schlechtes Gewissen beiseite. Augenrollend klicke ich mich stattdessen durch die zahlreichen Bilder von jungen Männern, die mir mal oberkörperfrei, mal nur in Schwarz-Weiß und manchmal von ungünstigen Selfies entgegengrinsen.
Ohne genau hinzusehen, wische ich die Fotos zur Seite, bis ich plötzlich zusammenzucke.
»Das ist doch nicht wahr«, entfährt es mir. Wie groß kann ein Zufall nur sein?
Das Anzeigebild ist nur recht klein, der Abend im Club schon ein paar Tage her … und doch habe ich ihn sofort erkannt: Ben. Falsche-Nummer-Ben. Die Aufnahme zeigt ihn vor einer einfachen Backsteinmauer. Die dunklen Augen und Haare, das dezente, aber dennoch selbstbewusste Lächeln … Nur den Dreitagebart trägt er auf dem Bild nicht. Ich muss zugeben, dass ich ihn immer noch ganz süß finde.
Und trotzdem stelle ich erleichtert fest, dass Lou ihm noch kein Like gegeben hat. Wahrscheinlich wurde er mir gerade zum ersten Mal vorgeschlagen. Vielleicht ist er in diesem Moment sogar irgendwo in der Nähe?
Angespannt gehe ich auf sein Profil. Ich will bloß nichts Falsches anklicken. Ein weiteres Bild finde ich hier nicht.
»Ben, 23, Medizinstudent.«
Mehr steht nicht in seinem Profil. Wie langweilig. Nicht einmal sein Instagram hat er verlinkt. Aber immerhin weiß ich jetzt, dass zumindest der Name stimmt. Ich überlege kurz, dann gebe ich mir einen Ruck und wische das Bild nach rechts. Wenn er an mir vorbeiwischt, sind wir kein Match, und er dürfte mein Like doch eigentlich nicht sehen, oder? Mein Herz macht einen kurzen Hüpfer und sackt mir dann ziemlich tief in den Magen, als mir das Bild eines neuen Typen angezeigt wird.
Ich nehme an, das heißt, dass wir kein Match haben. Er hat seine Meinung seit dem Abend im Club also tatsächlich geändert.
Oder hat er mich genauso schnell erkannt und mir das plötzliche Verschwinden im Club krummgenommen. Tja, damit muss ich wohl jetzt leben. Ich schließe die App und lege das Smartphone auf meinen Schreibtisch. Beinah hätte ich vor Ablenkung meine Spaghetti vergessen. Gierig schlinge ich die ersten Nudeln herunter.
Was er wohl in der App sucht? Ich weiß, dass viele dort nur auf eine schnelle Nummer aus sind, den Kick oder vielleicht auch einfach nur Erfahrung. Das ist nichts für mich. Nicht, weil ich das verteufeln würde, sondern einfach, weil ich es mir schlicht und ergreifend nicht vorstellen kann, mit jemandem ohne tiefere Bindung eine Nacht zu verbringen. Vor allem, nachdem mich die Trennung von Christopher so hart mitgenommen hat, ist mir klar geworden, wie verletzlich mein Herz ist.
Vielleicht habe ich an dem Abend im Club doch die richtige Entscheidung getroffen, indem ich einfach abgehauen bin.
Ich überlege schon, die App von meinem Smartphone zu löschen, da vibriert es plötzlich auf meinem Schreibtisch. Erschrocken zucke ich zusammen, dann greife ich danach und tippe auf den Bildschirm.
Du hast ein neues Match!
Mein Herz macht einen Sprung. Verdammt, warum spüre ich da doch einen kleinen Funken Hoffnung in mir glühen, dass es Ben ist?
Viel zu schnell dafür, dass es mir doch eigentlich vollkommen egal sein könnte, öffne ich die App und bekomme erneut Bens Bild präsentiert. Ben. Mein Match. Streng genommen mein erstes wirkliches Match, denn Lous Eingriffe zählen vermutlich nicht mit. Und die Hunde?
Ich schiebe den Teller mit den Nudeln zur Seite und öffne das Postfach. Geschrieben hat er mir noch nicht, aber das lässt sich doch schnell ändern. Um ehrlich zu sein, habe ich noch nie einen Typen angesprochen. Online erscheint mir das auf einmal viel einfacher. Und anders als im Club kann ich doch direkt einen Rückzieher machen, wenn es mir zu schnell geht, oder?
Ganz ohne deine Kumpels unterwegs?, tippe ich, ohne die Nachricht abzuschicken.
Nein, das klingt blöd.
Schön, dich nüchtern zu sehen, klingt zu sehr nach einer Belehrung. Ich lösche die Buchstaben aus dem Feld und tippe erneut:
So schnell sieht man sich also wieder …
Diesmal schicke ich ab, schließe schnell die App und schiebe das Smartphone von mir weg. Ich weiß genau, dass ich sonst darauf starren und auf eine Antwort warten werde. Der Geschmack von Blei dringt in meinen Mund, und mir fällt auf, dass ich nachdenklich auf die Ecke eines Stiftes gebissen habe. Das ist der Grund, warum ich mich mittlerweile von Jungs fernhalte. Ich mache mir zu viele Gedanken.
Mein Handy vibriert, und mein Herz macht erneut einen Hüpfer.
Laut deiner Beschreibung steht das Mel weder für Melissa noch für Melanie,
lese ich seine Antwort.
Verwirrt blicke ich auf unseren Chat, als erneut eine Nachricht eintrifft.
Die Antwort bist du mir schuldig geblieben, weil du plötzlich verschwunden bist.
Oh!
Ich hätte es dir erklärt, wenn deine Nummer richtig gewesen wäre,
tippe ich und widerstehe dem Drang, mich für mein Weglaufen zu entschuldigen.
Sag bloß, du wolltest dich melden, Mel wie Melina!,
spielt er den Ball einfach zurück.
Ich habe gedacht, das macht man so, wenn ein Typ einem seine Nummer auf die Haut tätowiert!
Er braucht unheimlich lang, um zu tippen. So lang, dass ich mich frage, ob er einen ganzen Roman verfasst hat.
Nur, wenn der Typ einem auch gefällt :D
Ohne es zu wollen, muss ich lächeln. Seine Schlagfertigkeit gefällt mir.
Ich hatte noch keine Chance, es herauszufinden.
Was für ein Unding! Die Nummer war aber richtig!
Ich runzle die Stirn. Eigentlich hat er keinen Grund, mich anzulügen. Oder?
Eine Zahlenfolge erscheint auf meinem Bildschirm. Fix vergleiche ich sie mit der Nummer, die ich noch am Abend im Club eingespeichert habe.
Du kannst mir vieles erzählen, aber die dritte Ziffer ist niemals als 1 lesbar, sondern garantiert eine 7.
Ich muss zugeben, dass ich ein klitzekleines bisschen erleichtert bin. Der Fauxpas mit der Handynummer scheint tatsächlich ein unglücklicher Fehler gewesen zu sein.
Entschuldige! Ich habe meine Nummer noch nicht so häufig auf Körperteile geschrieben.
Schon wieder bringt er mich zum Schmunzeln.
Gehört das etwa nicht zum Studium, Fast-Arzt-Ben?
Leider nicht. Aber jetzt, wo ich weiß, dass es zu drastischen Missverständnissen führen kann, werde ich vorschlagen, das aufzunehmen.
Wäre eine Überlegung wert :D
Ob er auch an der staatlichen Uni studiert? Oder ist er auf einer privaten? Zumindest sind wir uns noch nie über den Weg gelaufen. Was aber auch daran liegen könnte, dass unsere Fakultäten in unterschiedlichen Gebäuden sind. Außerdem sind die Medizinstudierenden meist eher unter sich.
Und du? Studierst du auch?
Germanistik. Ich interessiere mich am meisten für Literatur.
Nervös beiße ich mir auf die Unterlippe.
Das passt zu dir.
Ich habe keine Ahnung, ob diese Reaktion beleidigend oder als Kompliment gemeint ist.
Die einzigen Bücher, die ich lese, sind für die Uni. Und das ist schon eine ordentliche Menge.
Wie gefällt dir das Studium?,
frage ich und merke, dass der blöde Bleistift schon wieder zwischen meine Zähne geraten ist.
Es ist toll.
Ich habe keine Ahnung, warum mich seine Antwort so überrascht, aber damit habe ich nicht gerechnet. Wahrscheinlich, weil die meisten Studierenden schnell über das viele Lernen klagen. Und hey, auch wenn ich die ersten Semester wirklich gute Noten hatte, geht es mir manchmal doch genauso.
Sicher anstrengend, oder?,
frage ich nach.
Es geht. Dinge, die uns wirklich wichtig sind, fallen uns bekanntlich ja etwas leichter.
Dann ist es dir also sehr wichtig?
Ja.
Ein Mann der Worte.
Und warum willst du Arzt werden?
Ich gehe im Kopf einige Antwortmöglichkeiten durch und überlege, was einen wohl motiviert, sich durch ein so knallhartes Studium zu beißen. Als Arzt verdient man gutes Geld, es ist ein angesehener und sicherer Beruf. Wahrscheinlich lässt sich als Medizinstudent das ein oder andere Mädchen im Club beeindrucken. Und obwohl es so naheliegend ist, rechne ich zum zweiten Mal an diesem Abend nicht mit seiner Antwort.
Weil ich Leben retten will.
Seit Wochen ist mein Kopf so voll wie der beinah explodierende Papierkorb, den ich längst hätte ausleeren müssen.
Müssen. Sollen.
Alles nur Imperative in meinem Gehirn, die jede einzelne Zelle weiter strapazieren.
»Hast du die Einkäufe schon weggepackt?«, ruft Mel von der Küchenzeile aus. Sie wühlt vermutlich in den Vorräten herum. Die Geräusche dringen unverhältnismäßig laut an mein Ohr. Dabei sind es nur raschelnde Tüten aus dem Supermarkt und keine Alarmsirenen.
Ich antworte nicht. Weil mich alles, was ich sage, Kraft kostet. Kraft, die ich nicht habe.
»Teddy? Du hast die Sachen weggeräumt, oder?«
Habe ich. Nachdem sie mich zigmal darum gebeten hat.
»Sind im Regal!«, rufe ich und setze dann die Kopfhörer auf. Dabei höre ich beim Lernen keine Musik. Sie helfen mir einfach nur dabei, äußere Reize abzuschirmen. Und das kann ich gebrauchen.
Seit einer Stunde starre ich wieder auf das Tablet und versuche, mir die Zeilen einzuprägen. Doch das ist längst nicht mehr so leicht, wie es einmal war. Es mag arrogant klingen, weil so viele an dieser Hürde scheitern, doch ich bin nicht einmal beim Physikum großartig ins Schwitzen gekommen. Zu Beginn des Studiums habe ich die Inhalte der Vorlesungen wissbegierig in mich aufgesaugt, habe keine Minute verpassen wollen. Ich habe im höchsten Energielevel funktioniert. Weil ich es wirklich liebte. Das, was ich tat. Was ich noch immer tue. Nur dass der Berg, den ich jahrelang mühelos hinaufgejoggt bin, mich auf einmal so viel Kraft kostet.
Erschrocken zucke ich zusammen, als sich eine Hand auf meine Schulter legt.
»Was hörst du da?« Melina lächelt. Schon wieder versucht sie, einen Blick auf die Vorlesungsunterlagen zu werfen. Vielleicht kann sie auch einfach nicht glauben, dass ich immer noch an den gleichen Inhalten sitze wie gestern. Und vorgestern. Und letzte Woche. An denselben fünf Folien.
»Nichts Besonderes«, sage ich und lasse die Kopfhörer wieder in den Nacken sinken. »Was gibt’s?«
»Nichts. Weißt du, wo wir uns heute Abend treffen? Leo sagt, du wolltest dich drum kümmern.«
Fuck.
Für einen Moment schaffe ich es, mir nichts von dem Schrecken anmerken zu lassen. Doch Mel kennt mich lang genug, um diesen Gesichtsausdruck zu verstehen.
»Stimmt etwas nicht?«, fragt sie besorgt.
»Oh nein!« Mein Körper verkrampft sich. »Ich hab’s vergessen. Es … es tut mir so leid.«
»Was hast du vergessen?« Sie legt den Kopf schief, behält ihr Lächeln aber auf den Lippen.
»Das Restaurant. Verdammt! Ich habe vergessen anzurufen.«
Mel sieht mich einen Augenblick wortlos an. Dann seufzt sie. »Oh Mann! Teddy, du bist echt ein Schussel in letzter Zeit. So was passiert immer öfter.«
Ja, denke ich. Das tut es. Und zwar, weil mir der ganze Stress wie Dünnschiss aus dem Arsch schießt.
»Es tut mir wirklich leid«, murmele ich, anstatt mich zu erklären, und stehe auf. »Wir haben noch vier Stunden. Sicher ist noch was frei.«
Ich höre Melina etwas sagen, kann sie aber nicht verstehen. Vielleicht sind ihre Worte auch gar nicht an mich gerichtet, sondern vielmehr an sich selbst.
Ich verziehe mich mit meinem Smartphone ins Schlafzimmer. Hier habe ich ausreichend Ruhe, um das Internet nach den Nummern zu durchforsten. Außerdem bin ich beim Telefonieren lieber allein. Als ich die erste Nummer wähle, rast mein Herz so schnell, als erwarte mich eine wichtige Prüfung.
Diese Angst kenne ich seit einigen Wochen – oder Monaten?
Die Angst, kein Wort mehr herauszubekommen und mitten im Gespräch umzukippen. Manchmal fange ich an zu schwitzen, manchmal überkommt mich die Panik wie eine übergroße Welle, und ich verliere meinen Halt. Dann frage ich mich, ob die anderen Menschen sehen können, wie sich alles in mir zusammenzieht. Die meiste Zeit fühlt es sich nämlich so an. Als hätte ich das Denken verlernt. Vielleicht, weil mein Kopf so voll und damit beschäftigt ist, die letzten Inhalte des Studiums zu verarbeiten.
»Rufst du dort an?«, höre ich Mels Stimme hinter der Tür. Ich will sie bitten zu gehen. Wenn ich weiß, dass sie mich hören kann, ist es unmöglich, diese verdammte Nummer zu wählen.