Was wir uns versprechen - Antonia Wesseling - E-Book

Was wir uns versprechen E-Book

Antonia Wesseling

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Beschreibung

Wenn du dich verlaufen hast, brauchst du einen Stern, der dir den Weg zeigt  Alicia weiß schon lange, dass sie die toxische Beziehung zu ihrem Freund Timon beenden muss.  Aber wie hält man durch, wenn der andere Part dir ständig das Gefühl gibt, alleine nichts wert zu sein? Julian hingegen ist das komplette Gegenteil: Er ist fürsorglich, zuvorkommend und unheimlich feinfühlig. Ein echter Freund eben. Nur leider ohne Boyfriend Potenzial, wie Alicia ihm ziemlich schnell klarmacht. Während Julian es satthat, dass Frauen sich lieber auf Bad Boys einlassen, als mit ihm auszugehen, stellt Alicia sich erstmalig die Frage: Wie kann es so verdammt schwierig sein, sich lieben zu lassen?

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Seitenzahl: 484

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Was wir uns versprechen

Die Autorin

ANTONIA WESSELING, geboren 1999, lebt in Köln. Schon als Kind erfand sie eigene Geschichten und veröffentlichte ihre ersten Jugendbücher. Neben der Arbeit als Autorin bloggt sie auf Instagram und Youtube (@antoniawesseling) über gute Bücher, ihre Liebe zum Schreiben und mentale Gesundheit.

Antonia Wesseling

Was wir uns versprechen

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH Berlin1. Auflage Oktober 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-95818-759-7

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Playlist

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

Hilfsangebote

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Playlist

Widmung

Für Toja & Sarah

 

 

Mit ein wenig Mutkann man sein, wer man möchte.Und mit noch etwas mehr Mutkann man sogar sein, wer man ist.

Jun Hao Hung

Playlist

Alleine Bin – Wincent Weiss

Was mir gefällt – AYLIVA

Von jetzt an – Madeline Juno

Grund genug – Madeline Juno

Automatisch – Madeline Juno

Don’t Need to Be Perfect – Miricalls

Verlierer – LUNA

Apologize – OneRepublic

Waste My Time – LUMRY

Unvergleichlich – Batomae

Another Love – Tom Odell

Ohne Fallschirm – Ambre Vallet

Lüg mich an – Ambre Vallet

Wenn Du die Augen schließt – SOPHIA

Grapefruit – Julia Engelmann

1. Kapitel

3. März 2007

Liebe Alicia,

ich habe dir versprochen, diesen Brief zu schreiben, deshalb versuche ich es jetzt einfach. Es ist das erste Mal, dass ich einen Brief schreibe. Wundere dich also nicht, dass das Papier nicht so schön ist. Ich habe es aus einem Schulheft ausgerissen, denke aber, dass ich mir bald richtiges Briefpapier kaufen werde.

Du bist erst ein paar Tage weg, aber ich finde die neuen Nachbarn jetzt schon ganz schrecklich. Sie haben keine Kinder, und der Mann wirft mir immer böse Blicke zu, wenn ich durchs Fenster in dein altes Zimmer schaue. Bei uns hat es die letzten Abende viel geregnet und gewittert. Gerade poltert und grollt der Donner wieder laut über unserem Dach, und dabei muss ich daran denken, was du mir mal gesagt hast. Dass der Donner vielleicht wütend ist. Stinkewütend, sodass er ganz laut brüllen muss, um die Wut rauszulassen. So wie mein Papa, wenn ihm irgendetwas nicht gefällt.

Jetzt donnert es schon wieder. Ich habe die Sekunden nach dem Blitz gezählt. Dreizehn. Das heißt, dass das Gewitter näher gekommen ist.

So wie die Stimmen von Mama und Papa. Eben haben sie schon wieder gestritten. Es ging um die neue Schule und darum, dass die beiden die Anmeldung vergessen haben. »Hätte ich einen Mann, der mir mal unter die Arme greifen würde, wäre so was nie passiert«, meinte Mama zu mir, während Papa danebensaß. »Vielleicht wäre ich dann auch so eine Supermommy.«

»Wäre das jetzt auch noch meine Aufgabe gewesen? Hättest du nicht das ganze Geld versoffen, hättest du diese Dinge auch mal auf dem Schirm!« Papas wütendes Brüllen ist noch ganz laut in meinem Kopf.

»Soll das ein Witz sein? Ich gebe alles, um unser Leben am Laufen zu halten. Und du … du warst schon wieder bei dieser … dieser … N…«

»Na, sag’s doch! Sag, was du über sie denkst.«

»Bei dieser Frau!«

»Du wolltest Nutte sagen, was?«

»Reiß dich wenigstens vor dem Jungen zusammen.«

»Warum? Damit der Junge ein ebensolches Weichei wird wie seine Mutter?«

Ich habe alles mitgehört. Irgendwann bin ich auf mein Zimmer geschlichen, aber die Stimmen waren so laut. Ich wünschte, ich hätte bei euch klingeln und warten können, bis die beiden fertig sind mit Streiten.

Jedes Mal, wenn das Zimmer von einem Blitz erhellt wird, blinkt die silberne Folie der Schokolade auf, die ich gestern in die Ecke gedonnert habe. Mama hat sie mir gegeben, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte.

Sie liegt jetzt immer noch neben dem Playmobilritter mit seiner Rüstung.

Ich wünschte, ich hätte auch so eine Rüstung. Einen Helm, eine Weste und vielleicht sogar eine Art Schutzschild, den ich mir vor die Brust halten könnte. Bestimmt würde mir das Gewitter dann weniger Angst machen.

Oh, Alicia. Es blitzt schon wieder. Diesmal ist der Donner gekommen, bevor ich bis neun zählen konnte. Ich beiße die Zähne zusammen und kneife so fest in die Bettdecke, dass mir heiß wird. Und ich versuche, mich auf die Wanduhr zu konzentrieren. So, wie du es mir gesagt hast. Es gibt Abende, an denen mich das Ticken beruhigt. Heute funktioniert das nicht. Mein Herz schlägt immer noch so laut und wild. Vielleicht versucht es, gegen den Donner zu gewinnen.

Ich überlege, ob ich aufstehen und mich zu Mama schleichen soll, aber meine Beine zittern. Ich wünschte, Mama könnte einfach spüren, dass ich sie brauche. Wirklich, wirklich brauche.

Denkst du, dass ich Papa genau das sagen kann? Dass ich ihm Mama nicht stehlen möchte, sondern sie mir nur für ein paar Minuten ausleihen will?

So lange, bis das Gewitter vorbei ist. Höchstens noch ein paar Sekunden länger.

Alicia, ich vermisse dich so.

Weißt du schon, ob du mich im Sommer besuchen kommst?

Ich freue mich auf deine Antwort.

Dein Juli

Alicia

Ich tigere seit fast zwanzig Minuten durch den Flur und ernte mittlerweile verwunderte Seitenblicke. Dabei wünsche ich mir nur, der große Zeiger auf der Wanduhr würde sich ein wenig schneller Richtung zehn bewegen.

Unser Gespräch ist für zehn Uhr angesetzt. Spüre ich deshalb schon seit Tagen ein nervöses Flattern in mir? Vielleicht. Bin ich heute Morgen viel zu früh zur Arbeit losgegangen? Schon. Habe ich den Ärmel meiner weißen Bluse in den Becher Himbeertee getunkt? Fuck. So was von. Das musste ja passieren.

Johannes ist als Chef eigentlich entspannt. Er ist eher so der Wir-sind-alle-eine-große-Familie-Typ. Aus diesem Grund ist es noch schwieriger abzuschätzen, ob er mit meiner Arbeit hier zufrieden ist.

Ich weiß noch genau, dass ich meinen Augen kaum trauen konnte, als ich vor ein paar Wochen in unserer WG-Küche saß und einen Umschlag in der Hand hielt, auf dem dick und fett das Logo von CGN prangte, der erfolgreichsten Werbeagentur hier in Köln. Meine Hände haben so gezittert, dass Maggie mir den Umschlag am liebsten aus der Hand gerissen hätte.

»Zusage.«

Ich weiß noch genau, wie leise und ungläubig dieses Wort aus meinem Mund kam.

»Ich hab’s dir doch gesagt!«, hat Maggie gejubelt, während sie mir aufgeregt um den Hals gefallen ist. »Du wirst das so was von rocken! Daran zweifle ich keine Sekunde.«

Seit acht Wochen bin ich Teil des Teams. Und in drei Minuten beginnt mein erstes Feedbackgespräch. Drei Minuten, bis ich erfahre, wie gut ich den Einstieg tatsächlich gemeistert habe. Drei Minuten, die ausreichen, um mir zig Horrorszenarien auszumalen.

Was ist, wenn alle hochgradig enttäuscht sind? Wenn ich mir von Anfang an zu viel zugetraut habe?

»Du setzt dir deine Ziele immer viel zu hoch«, habe ich Timons Stimme im Ohr. Was ist, wenn er recht hat? Was, wenn ich wirklich kleiner hätte anfangen sollen? Zum Beispiel bei einem Start-up. Das hätte es für den Anfang auch getan, oder?

Die Tür springt auf. Zwei Minuten zu früh und damit genau richtig, um mich vor einem Nervenzusammenbruch zu bewahren.

»Alicia!« Johannes lächelt, als ich mit Wackelpuddingbeinen auf ihn zukomme und nervös einschlage. »Ich dachte schon, du läufst uns einen Trampelpfad in den Boden.«

Schlagartig schießt mir die Hitze in die Wangen.

Bleib ruhig und gelassen, sage ich mir. Tu wenigstens so, als wärst du es.

»Gibt es hier magische Wände, durch die man als Chef hindurchschauen kann?«

Jetzt muss Johannes lachen. Er ist selbst erst Mitte dreißig, hat kurze braune Haare und ein charismatisches Auftreten. Vermutlich ist Letzteres aber auch eine Voraussetzung, die man erfüllen muss, um sich in der Branche zu etablieren.

»Leider nicht. Man kann aber einiges von innen hören.« Bevor ich etwas erwidern kann, winkt er amüsiert ab. »War nur Spaß, mir ging es damals nicht anders. Willst du reinkommen?«

Mit hochrotem Kopf nicke ich und folge meinem Chef ins Innere seines Büros. Es ist nicht das erste Mal, dass ich hier bin. Seit dem Bewerbungsgespräch habe ich schon ein paar Mal Unterlagen hergebracht. Doch heute kommt mir der Raum größer vor. Oder ich mir einfach kleiner?

»Setz dich!« Johannes lässt sich auf seinen Bürostuhl sinken und beobachtet, wie ich ihm gegenüber Platz nehme.

»Danke.«

»Ich kann dir versprechen, dass deine Aufregung vollkommen überflüssig ist.«

Mein Herz macht einen Sprung. Ich versuche, meine Gesichtsmuskeln zu entspannen.

»Wir sind sehr zufrieden mit deiner Arbeit. Du bist zuverlässig, kooperativ und lieferst gute Ideen. Auch das restliche Team findet, dass du dich hervorragend einbringst. So engagierte Praktikanten haben wir hier selten.«

»Das … das ist … toll.«

»Puh! Ich bin erleichtert, dass du das sagst. Für einen Moment dachte ich, du brichst mir hier in Tränen aus.« Johannes wischt sich theatralisch über die Stirn.

»Höchstens in Freudentränen«, werfe ich schnell ein und beiße mir im nächsten Moment auf die Lippe. Hoffentlich war das nicht eine Spur zu ehrlich.

»Sehr gut!« Er greift auf die Ablage neben seinem Schreibtisch. »Du weißt, dass uns Ende des Jahres zwei Kollegen verlassen?«

Ich nicke sofort. Klar, Carina geht in den Mutterschutz, und Kevin zieht mit seiner Familie in die Schweiz.

»Wir müssen diese Stellen neu besetzen. Deshalb sind wir auf der Suche nach einem geeigneten Nachfolger für Kevin sowie einer Vertretung für Carina. Ich kann dir noch nichts versprechen, aber du stehst definitiv in der engeren Auswahl. Natürlich nur, wenn du dir überhaupt vorstellen kannst, weiter für uns zu arbeiten.«

Auf die Zunge beißen. In den Unterarm kneifen. Den Rücken gegen die kühle Sitzlehne pressen. Atmen. Das hier ist kein Traum. Ich sitze in dem Büro und werde gerade ernsthaft gefragt, ob ich weiterhin an meinem Job interessiert sei. An meinem Traumjob, wohlgemerkt.

»Ich?«, rutscht es mir ungläubig über die Lippen.

»Kannst du dir das vorstellen?« Johannes’ Nachfrage reißt mich aus den Gedanken.

»Oh mein Gott. Ja!« Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man seine Begeisterung in Vorstellungsgesprächen zurückhalten soll. Allein schon aus verhandlungstaktischen Gründen sei es sinnvoller, gemäßigt zu reagieren. Aber Holy Moly, wie zur Hölle soll das gehen, wenn man gleichzeitig die ganze Welt umarmen möchte?

»Ich dachte mir, dass du dich freust. Gleichzeitig will ich deine Erwartungen auch nicht zu hoch schrauben … Ich hoffe, dass sich die Entscheidung in den nächsten zwei Monaten fällen lässt.«

»Das ist okay. Natürlich.« Die Vorstellung, acht Wochen in Unsicherheit und Aufregung zu leben, beschert mir ein heftiges Kribbeln auf der Haut. Andererseits habe ich vor wenigen Sekunden nicht einmal mit dieser Chance gerechnet. »Ich werde mein Bestes geben! Mein Allerbestes!« Und noch viel mehr.

»Daran habe ich keinen Zweifel. Die Alicia, die wir bisher kennengelernt haben, gefiel uns schon außerordentlich gut!« Johannes lächelt, steht dann von seinem Stuhl auf. Offenbar ist unser Gespräch bereits beendet. Bemüht ruhig folge ich seinem Beispiel.

»Dann kann ich jetzt gehen?«

»Ich weiß nicht, ob du kannst. Aber ich hätte jedenfalls nichts dagegen. – Entschuldige, so was sagt man wahrscheinlich erst ab vierzig.« Er lacht herzlich auf. »Richte dem Team aus, dass ich niemanden beiße. Zumindest nicht, wenn der Pitch für die Sneakers heute noch fertig wird. Wenn wir das Projekt nicht noch mit ins Wochenende ziehen wollen, sollten wir uns jetzt noch ranhalten. Die Konkurrenz schläft nicht. Auch nicht bei CGN.«

Als ich zurück in unser lichtdurchflutetes Großraumbüro gehe, laufe ich wie auf Watte.

Niemals hätte ich damit gerechnet, dass es so gut laufen würde. Ein fester Job bei CGN? Das glaubt mir niemand.

»Praktikanten werden da niemals einfach so übernommen«, hat Timon gesagt, als ich ihm einmal von meiner heimlichen Hoffnung erzählt habe. Damals hatte ich noch nicht einmal den Vertrag für das Praktikum unterschrieben.

Was er wohl sagen wird, wenn ich ihm die Neuigkeiten verrate?

Für einen Moment gerate ich in Versuchung, meinen Freund sofort anzurufen, entscheide mich dann aber dagegen. Wenn ich diese einmalige Chance nicht vergeigen möchte, darf ich mir nun erst recht keine Fehler erlauben.

»Deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, bist du weder gekündigt noch komplett zur Sau gemacht worden?« Emily steht von ihrem Platz auf und winkt mich zu sich heran. Sie ist nur wenige Jahre älter als ich, höchstens Ende zwanzig. Und doch ist sie für mich gleich zu Beginn so etwas wie ein sicherer Hafen in der Firma geworden. Vielleicht, weil sie bereits seit über vier Jahren für die Agentur arbeitet.

»Kann man so sagen.« Ich spüre, wie sich ein aufgeregtes Kribbeln in mir ausbreitet.

In wenigen Worten fasse ich Emily und den anderen, die natürlich neugierig mithören, den Inhalt meines Gesprächs zusammen.

Ich bin so froh, hier mit offenen Armen empfangen worden zu sein. Vor allem, weil ich weiß, dass Teamwork in vielen Agenturen nicht unbedingt selbstverständlich ist.

»Das ist ja super!«, kreischt Emily, als ich kurz Luft hole und mich auf den Schreibtischstuhl neben ihr setze. »Du hast das alles so verdient! Bald bist du eine von uns!«

Emily wirft die schwarzen Haare nach hinten. Während sie sich geschickt einen Zopf bindet, lächele ich nur stumm in mich hinein.

»Das ist sie doch eh schon«, meint Henri. Im Vorbeigehen klopft er mir kumpelhaft auf die Schulter.

»Natürlich ist sie das. Aber wenn sie hier richtig anfängt, ist es trotzdem was anderes.«

Emily sieht sich um. »Wer käme denn sonst noch infrage?«

Oh! Dieser Gedanke, dass es jemand von hier sein könnte, ist mir noch gar nicht gekommen. Aus irgendeinem Grund bin ich davon ausgegangen, dass die Stellen extern ausgeschrieben werden. Mit Sicherheit wird es einen Haufen qualifizierter Bewerber geben.

»Beispielsweise Nicolas.« Susan deutet zur Tür, die gerade schwungvoll aufgestoßen wird.

Nicolas Hohenfeld ist der Sohn eines Kölner Unternehmers und hat zwei Monate vor mir sein Praktikum in der Agentur begonnen. Er ist genau das, wonach sich Hollywoods Regisseure die Finger lecken würden: der Sonnyboy aus gutem Hause. Attraktiv. Intelligent. Charismatisch.

»Hola chicas y chicos«, flötet er und lässt sich gegenüber von mir auf einen Platz fallen. Noch eine Eigenschaft, die Nicolas von mir unterscheidet. Abgesehen davon, dass ich weder eine Menge Kohle noch den richtigen Nachnamen vorzuweisen habe, fehlt mir viel zu häufig das nötige Selbstvertrauen, um die Aufmerksamkeit so auf mich zu ziehen.

»Und? Haben sie dich endlich fristlos gekündigt?«, fragt Henri verächtlich.

»Stell dir vor, sie waren kurz davor, mich zu deinem Boss zu machen«, kontert Nicolas und wirft ein Lächeln in die Runde. Susan hat recht. Dieser Typ könnte mich ohne Weiteres aus dem Rennen werfen.

»Erzähl schon!«, fordert Emily ihn auf.

»Gibt nicht viel zu sagen, denke ich.«

»Nicht viel?«

Er zuckt mit den Schultern. »Sie sind zufrieden und können sich vorstellen, mit mir weiterzumachen.«

Durch meine Brust geht ein heftiges Ziehen. Nicolas und ich kämpfen also um dieselbe Stelle. Schnell beiße ich mir auf die Unterlippe und gebe mein Bestes, mir die Panik nicht ansehen zu lassen. Dabei habe ich keine Ahnung, wie ich mich jetzt bis zur Mittagspause auf die Arbeit konzentrieren soll. Vor allem, wenn das eigene falsche Grinsen so dermaßen schmerzhaft auf den Lippen brennt.­

In dem Moment erinnere ich mich an Johannes’ Bitte, den Pitch für die Sportschuhe noch einmal durchzugehen. Eigentlich fand ich meinen bisherigen Text okay. Doch die Entwicklungen der letzten halben Stunde haben mich angetrieben, erst recht das Beste herauszuholen. Ich werde die nächsten Wochen all meine Energie und jeden Funken Inspiration in die Arbeit stecken und beweisen, dass ich das Zeug dazu habe, das hier durchzuziehen. Eine exzellente Texterin zu werden.

Alicia Hanser, Mitarbeiterin von CGN viral. Clear. Great. Near. Ich glaube, an die Vorstellung könnte ich mich gewöhnen.

Als ich in der Mittagspause versuche, Timon zu erreichen, geht nur seine Mailbox dran. Weil ich sicher bin, dass mein Freund das Ding sowieso nie abhört, mache ich mir erst gar nicht die Mühe, etwas draufzusprechen. Dafür habe ich Glück, und Maggie ist sofort online, als ich eine Nachricht in unseren Chat schreibe.

Statt einer einzelnen Antwort regnet es einen Sturm voller Nachrichten von meiner besten Freundin.

WDghwedfiugweuifdgquzwgedhwe!!!

Oh mein Gott.

!!!

Ich kanns nicht glauben!

Ok. Eigentlich wusste ich, dass du das rockst!

ICH FREUE MICH TROTZDEM SO SEHR!

Du musst das feiern!

Verdammt.

Ich bin heute Abend nicht da!

Wir holen das nach, ja? Am besten gleich morgen. Oder Sonntag?

Versprich mir, dass du dich trotzdem feierst!

Ihre überschwängliche Reaktion zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Alles an diesem Chat ist so typisch Maggie.

Na klar! Das mache ich.

Das mache ich wirklich.

Und sollte ich es wirklich schaffen, diesen Job zu ergattern, werde ich vermutlich nie mehr damit aufhören können.

Ich schreibe Timon eine kurze WhatsApp mit der Frage, ob er für später schon Pläne hat. Vielleicht könnten wir zur Feier des Tages mal wieder etwas essen gehen … Oder gemeinsam etwas kochen? Das haben wir viel zu lange nicht gemacht.

Als ich keine Antwort bekomme, lege ich das Smartphone zur Seite und setze mich wieder zurück an den Schreibtisch.

Der restliche Arbeitstag vergeht wie im Flug. Wir können den Pitch für die Sportschuhe rausschicken und sogar ein neues Projekt beginnen. Obwohl ich bei Feierabend ganz schön müde bin, schlägt mein Herz wild und glücklich, als ich die Agentur verlasse.

Nur die Tatsache, dass Timon noch immer nicht auf meine WhatsApp reagiert hat, frustriert mich.

Auf dem Weg zur Bahn wähle ich erneut seine Nummer. Als am anderen Ende der Leitung ein Rascheln zu hören ist, weiß ich im ersten Moment nicht, was mich mehr überrascht: dass ich ihn tatsächlich erreiche oder dass ich schon nicht mehr damit gerechnet habe.

»Ja?«

Das Lächeln auf meinem Gesicht wird – wenn überhaupt möglich – noch breiter.

»Ich bin’s!« Wahrscheinlich bin ich eine der wenigen Personen, die, abgesehen von seiner Mutter, überhaupt bei ihm anrufen. Mit seinen Freunden kommuniziert er hauptsächlich beim Zocken.

»Babe?«

»Ja.« Meine Stimme zittert vor Aufregung, und ich drohe jeden Moment überzulaufen, wenn ich nicht endlich von dem Feedbackgespräch erzählen kann. »Was machst du gerade? Bist du zu Hause?« Kaum ist die Frage gestellt, merke ich, dass sie ziemlich überflüssig ist. Wo soll Timon sonst sein?

»Rufst du an, um mich zu kontrollieren?«

Ich zucke zusammen.

»Kontrollieren? Nein. Natürlich nicht«, stammele ich. »Sorry, so war die Frage nicht gemeint.« Ich hole tief Luft und presse die Lippen fest aufeinander.

»Na dann.«

Verdammt. Ich hätte vorher nachdenken sollen. Eigentlich müsste mir klar sein, dass das Thema einen wunden Punkt berührt. Zwar hat Timon die letzten Wochen mehrere Bewerbungen rausgeschickt, doch bisher haben wir nichts gehört.

Gerade als ich die Haltestelle erreiche, fährt die Bahn ein.

»Ich bin auf dem Heimweg. Magst du gleich noch vorbeikommen?«, frage ich vorsichtig und spüre schon wieder, wie meine Muskeln sich verhärten. Um nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, beschließe ich, von dem Gespräch mit Johannes erst später zu erzählen. Jetzt scheint mir nicht der richtige Zeitpunkt zu sein. Ich weiß, dass ich gerade auf einem sehr dünnen Seil tanze. Eine einzige falsche Bemerkung kann in einem riesigen Streit zwischen uns enden. Einem Streit, den ich auf keinen Fall riskieren möchte.

Schnell husche ich durch die geöffneten Türen in die Bahn und schnappe mir einen freien Sitzplatz.

»Mal sehen.«

Ganz langsam lasse ich Luft aus meiner Lunge entweichen und wiederhole im Kopf seine Antwort. Mal sehen?

»Was soll das heißen?«, rutscht es mir heraus.

»Was ist daran so schwer zu verstehen? Mal sehen heißt halt mal sehen … Ich hatte eigentlich nicht geplant, noch mal rauszugehen.«

Die Enttäuschung bohrt sich wie ein spitzer Pfeil durch meine Brust. Aber ich schaffe es, zu atmen. Wahrscheinlich hat meine Frage ihn wütend gemacht.

»Kannst du denn ungefähr sagen, wann du dich entscheiden wirst?«

Ich werde mir sonst einfach etwas anderes vornehmen.

»Mal sehen.«

Dann eben erst mal keine Pläne. Auch okay. Mir ist wichtiger, dass zwischen uns alles gut ist. Und noch stehe ich auf dem Seil. Ich bin nur für einen kurzen Moment ins Schwanken geraten, kann jedoch noch verhindern, dass ich falle.

»Okay. Dann bis später?«

»Bis später.«

Wir legen auf. Ich lasse das Smartphone in meinen Schoß sinken, sehe aus dem Fenster und … balanciere einfach weiter.

2. Kapitel

Julian

In der fünften oder sechsten Klasse wurden bei uns in der Schule ständig Freundschaftsbücher herumgereicht. Vorrangig bei den Mädchen, doch auch wir Jungen wurden ab und an um einen Eintrag gebeten. Warum sich diese Erinnerung ausgerechnet jetzt in meinen Kopf drängen muss? Weil ich in dem Moment, in dem ich hinter die Frage »Was willst du später werden?« mit krakeligen Buchstaben »Lehrer« geschrieben habe, mein Schicksal besiegelt habe. Wie hätte ich als Kind auch erahnen können, was es heißt, eine Meute Teenager im Zaun zu halten? Selbst zu Beginn des Studiums hatte ich noch keine Vorstellung davon.

»Haben Sie keinen Unterricht?« Eine Stimme in meinem Rücken lässt mich zusammenzucken. Hastig drehe ich mich um. Es mag absurd klingen, aber für einen kurzen Moment fühle ich mich wie damals zu meinen eigenen Schulzeiten: auf frischer Tat beim Schwänzen ertappt. Mit nur einem klitzekleinen Unterschied …

»Oh, entschuldigen Sie, Herr Rock. Ich habe Sie von hinten gar nicht erkannt.« Die Stimme gehört zu Frau Dietrich. Mathe- und Englischlehrerin in der Unterstufe. Ziemlich tough. Zumindest habe ich mitbekommen, dass sich das unter den Schülern erzählt wird. Gerade wirkt sie eher verlegen, vielleicht auch nur überrascht. So oder so … Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um etwas zu sagen. Mich zu erklären. Beispielsweise, warum ich nicht bei meiner Klasse bin, sondern wie bestellt und nicht abgeholt vor dem Unterrichtsraum stehe und die Wand anstarre.

»Warten Sie hier auf jemanden?«

Habe ich es nicht gesagt? Wie bestellt und nicht abgeholt.

Reflexartig schüttele ich den Kopf und bringe mich dadurch natürlich erst recht in Erklärungsnot.

»N-n-n-nein«, bringe ich über die Lippen und spüre, wie mir augenblicklich die Hitze in die Wangen schießt. Reiß dich zusammen, Julian! Oder willst du es auch noch vor den Kollegen vergeigen?

»Nein?« Aus ihrem Mund klingt alles so viel leichter. Kein Wunder. Sie hat das eine Wort wahrscheinlich gerade mal so viel Anstrengung gekostet wie ein einziger Atemzug.

»Ich …« Gerade als ich zu einem Satz ansetzen möchte, dringt aus dem Klassenzimmer lautes Geschrei. Mein Herz macht einen Satz, und ich fühle mich für einen kurzen Augenblick so, als würde ich mit dem Gesicht direkt gegen eine Fensterscheibe knallen.

»Was ist denn da los?« Frau Dietrich sieht mich irritiert an und schaltet keine zwei Sekunden später in einen anderen, besorgten Modus um. »Sind da Schüler drin?«

Mein Puls schnellt in die Höhe. Ich öffne den Mund, um endlich etwas Vernünftiges zu sagen, ahne jedoch im selben Moment, dass die Blockade eher schlimmer geworden ist. In Stressmomenten habe ich noch nie ein Wort rausbekommen.

Als Frau Dietrich die Tür zum Klassenzimmer aufdrückt und mit entschlossenen Schritten in den Raum stapft, glaube ich kurz, die Demütigung habe nun endgültig ihren Höhepunkt erreicht. Es ist, als hätte jemand von der einen auf die andere Sekunde den Stecker gezogen. Wie bei einer Lampe, die auf einen Schlag in vollkommene Dunkelheit springt. Obwohl ein Lautsprecher hier vielleicht der bessere Vergleich wäre, denn der Ton ist abgedreht. Von hundert auf null. Von »alles scheißegal« auf »hier ist eine Respektsperson anwesend«.

»Kann mir mal bitte jemand erklären, was hier los ist?«, donnert die Stimme der Lehrerin durch das Klassenzimmer.

Ich mache stumm einen Schritt hinter ihr in den Raum und lasse meinen Blick kurz über die Sitzreihen schweifen. Einige Stühle sind umgeworfen, und der Inhalt eines Stiftetuis hat sich auf dem Boden verteilt. Direkt vor dem Pult liegen noch immer die kleinen Papierflieger. Während Frau Dietrich nach Luft schnappt, wandern meine Augen zielstrebig zur Tafel. So, als wüsste ein Teil von mir, dass das Chaos nur ein läppischer Anfang gewesen ist. In Großbuchstaben hat jemand folgende Worte an die Tafel geschrieben: »Was ist lächerlicher als ein Rock, der sein Röckchen vermisst? Nur ein Lehrer, der seine Sprache vergisst.«

Ich warte darauf, dass sich in mir etwas regt. Dass ein Gefühl explodiert. Angst. Wut. Traurigkeit. Scham. Dass ich zu schwitzen beginne, hektisch versuche, die Kreideschrift zu entfernen, oder einfach nur auf der Stelle vor Scham ohnmächtig werde. Doch stattdessen stehe ich wie angewurzelt da und fühle nichts. Absolut nichts außer einer unendlichen Leere.

Es ist still im Raum. Dann dringen dumpfe Stimmen zu mir hinüber. Eine davon muss Frau Dietrich gehören. Vermutlich hat sie den frechen Spruch nun auch entdeckt und erwartet, dass ich etwas sage. Doch ich kann nicht. Nicht, solange ich an diesem Ort bin.

»Niemand bewegt sich aus diesem Zimmer, bevor ich nicht weiß, wer diese Schmiererei zu verantworten hat.«

Wahrscheinlich will sie damit irgendwas besser machen. Vielleicht glaubt sie auch, mir einen Gefallen zu tun. Oder aber sie mag einfach nur nicht so tatenlos rumstehen wie ich. Ich, der Referendar, der die letzten vierzig Minuten die Aufsicht über diese Klasse hatte. Ich, der nur zu gut weiß, wer für diese Kritzeleien verantwortlich ist.

»Also?«, wiederholt Frau Dietrich an die Klasse gewandt und beginnt, abwartend durch die Stuhlreihen zu gehen. Im Klassenzimmer ist es noch immer so mucksmäuschenstill, dass man fast anfangen könnte, Mitgefühl mit den Schülern zu haben. Schnell erinnere ich mich an die Horde wild gewordener Teenager, die ich noch vor wenigen Minuten selbst erlebt habe – bis ich die Flucht ergriffen habe. Man könnte es auf meine Unerfahrenheit schieben. Darauf, dass Teenager wirklich grausam sein können, oder darauf, dass ich aus irgendeinem Grund bisher einfach nur Pech gehabt habe. Mit dem falschen Fuß aufgestanden bin. Oder mit dieser Klasse einen Härtefall erwischt habe …

Ich könnte noch zig solcher Gedanken auflisten. Schließlich habe ich mir jede einzelne Ausrede davon bereits selbst erzählt, um mich nicht dem Offensichtlichen zu stellen.

»Ist Stottern eigentlich ansteckend?«

»Wie kommen Sie eigentlich auf die Idee, uns etwas b-b-b-beibringen zu können? Könnte es nicht sein, dass wir dann am Ende auch st-st-stottern?«

»Wieso heißen Sie eigentlich Rock mit Nachnamen, wenn Sie keine Röcke tragen? Oder ist das nur eine Abkürzung, damit Sie den Namen besser aussprechen können?«

Die Demütigungen sind das eine. Wie eine schmerzhafte Ohrfeige, die zwar noch minutenlang nachglüht, gegen die man sich aber mit der Zeit eine Art Polster zulegen kann. Spätestens dann, wenn man jeden einzelnen dummen Spruch bereits gehört hat.

Schlimmer ist die Arroganz.

Die Gruppe Mädchen, die sich trotz mehrfacher Ermahnung mitten im Unterricht die Nägel lackiert, der vorlaute Kalle aus der letzten Reihe, der die Sache mit den Papierfliegern gestartet und zuletzt die Klassenkameraden aufgestachelt hat, das Spektakel zu filmen. Mit Kalle hat alles begonnen. Es ist, als hätte er meine Angst gerochen und Spaß daran gehabt, die anderen auf mich anzusetzen.

»Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wer für dieses unterirdische Chaos verantwortlich ist, Herr Rock?«

Ein leises Kichern dringt aus der Ecke der Mädels und erstickt im nächsten Moment, als Frau Dietrich sich zu ihnen umdreht. Ich weiß, dass es nur eine richtige Antwort gibt. Eine Antwort, die Karl Julius, von allen Kalle genannt, in das Büro der Direktorin und mich im besten Fall zurück ans Pult versetzt. Eine Antwort, die Frau Dietrich befriedigen und den Schülern zeigen würde, dass ich bei diesen Spielen nicht mehr lange zusehen werde.

»Ich w-w-weiß n-n-nicht.« Irgendwie schaffen die Worte es, ihren Weg aus meinem Mund zu finden.

Frau Dietrich sieht aus, als koste es sie unheimlich viel Kraft, ein Seufzen zu unterdrücken. Zum Glück ertönt in diesem Moment die Klingel zur Pause, und wenige Sekunden später wird der Flur von lautem Getrampel und Rufen erfüllt.

Ich ertappe mich bei dem Wunsch, so schnell wie möglich aus diesem Schulgebäude zu stürmen.

»Also hat niemand hier etwas zu sagen? Niemand?« Frau Dietrich kehrt zurück zum Pult, klappt die Tafel zu und baut sich mit verschränkten Armen vor der Klasse auf. »Na schön! Wenn ihr meint, dass Feigheit etwas mit kollegialem Zusammenhalt zu tun hat … bitte, dann könnt ihr die Konsequenzen mit Sicherheit ja auch gemeinsam tragen.«

Es ist halb vier, als ich mit zügigen Schritten das Lehrerzimmer verlasse. Mein Unterricht ging heute nur bis zur sechsten Stunde, und obwohl ich genug Gründe gehabt hätte, sofort danach das Schulgebäude zu verlassen, lohnte es sich nicht, schon nach Hause zu fahren.

Um vier bin ich mit den Jungs verabredet, und von der Schule aus ist der Weg zu Tarek kürzer. So konnte ich immerhin die Zeit nutzen, um die Vorbereitungen für die nächsten Stunden abzuschließen.

Ich erreiche die Fahrradständer und verziehe nicht einmal das Gesicht, als ich meinen alten Drahtesel am Lenker vom Boden hochziehe und den Dreck vom Sattel klopfe. Es ist bereits das dritte Mal, dass er mutwillig umgestoßen wurde. An einen Zufall glaube ich schon längst nicht mehr.

Die Luft hat sich in den letzten zwei Wochen abgekühlt, und es kommt mir deutlich frischer vor als im vergangenen Oktober. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein, weil die Erinnerungen an die lauen Sommernächte mit meinen Kumpels am Rhein noch ziemlich frisch sind. Es wird eine Weile dauern, bis ich mich wieder an lange Hose und Mantel gewöhnt habe.

Ich radele durch die Straßen und komme entgegen meiner Erwartung als Letzter bei Tarek an.

»Wir dachten schon, du lässt deine Schüler nachsitzen!«, ruft Philipp mir feixend entgegen, als ich noch im Treppenhaus bin.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, erreiche ich schnell die Wohnungstür. »G-ganz sicher nicht.«

»Kaum zu glauben, dass du jetzt so einer geworden bist … Nicht der Gong beendet die Stunde, sondern der Lehrer«, doziert Tarek und bringt die anderen zum Lachen. »Bitte sag mir, dass du solche Sprüche nicht bringst.« Die Jungs und ich haben uns über den Unisport kennengelernt, und ich bin der Einzige von uns, der Lehramt studiert hat.

»Und ob er das tut. Das ist eine Krankheit, die man spätestens dann bekommt, wenn man den ersten Fuß ins Lehrerzimmer setzt.« Leo grinst.

Ich boxe ihm in die Seite. »Ihr seid so witzig.«

»Wissen wir.« Tarek deutet zum Kühlschrank. »Willst du was trinken?« Als ich nicke, reicht er mir eine Flasche Limo. »Noch fünf Grad weniger, und ich beginne auf Tee umzustellen. Ich würde mich lieber wieder draußen treffen«, seufzt er.

»Wenn wir nicht ab und an vorbeikommen, hast du aber keine Motivation mehr, deine dreckigen Unterhosen zu waschen«, entgegnet Philipp und lässt sich schwungvoll aufs Sofa fallen.

»Als würde ich euretwegen irgendwas hier wegräumen.«

»Es würde der Wohnung jedenfalls nicht schaden. Kein Wunder, dass die Frauen nie lange bleiben. Bei dem Chaos braucht man Google Maps, um das Klo zu finden.«

Tarek greift nach einer leeren Pfandflasche und zielt in Phi­lipps Richtung.

»Das nächste Mal kannst du uns ja zu dir einladen, Mr. Achtzig-Quadratmeter-in-der-Innenstadt.«

»Genau das habe ich auch vor. Ihr seid herzlich eingeladen. Einunddreißigster Oktober bei Linda und mir.«

Tarek stößt einen Pfiff aus. »Sag bloß!«

»Ist eine Halloweenparty. Ziemlich spontan, aber wir haben ja noch drei Wochen. Linda wollte in der neuen Wohnung unbedingt was feiern. Ist zwar nicht so viel Platz wie bei meinen Eltern, aber genug, dass wir einen geilen Abend haben.«

»Wenn es eine Kostümparty wird, bin ich sofort dabei. Dann habe ich endlich mal wieder die Gelegenheit, den alten Captain Jack Sparrow aus dem Schrank zu kramen«, erklärt Tarek.

»Natürlich mit Kostüm. Wer ohne kommt, darf sich am Aufräumen beteiligen.«

»Dann bereite dich schon mal d-darauf vor, alles allein sauber zu machen«, werfe ich ein. Feiern und Verkleiden ist nun mal das Ding in Köln, das sich niemand entgehen lässt.

»Ihr könnt natürlich auch wen mitbringen. Linda hat ausdrücklich nach Maggie gefragt. Tareks Mundwerk zählt bereits für zwei, und Julian … wenn du willst, kannst du auch wen aus der Schule mitbringen.« Philipp lacht, bevor er einen großen Schluck seiner Limo trinkt. Ich hingegen spüre, wie sich mein Kiefer anspannt.

»Genau. Die meisten Beziehungen ergeben sich durch Jobs«, stimmt jetzt auch Leo zu.

»Na ja. Es muss jetzt nicht unbedingt eine Schülerin sein«, feixt Philipp.

»Wie läuft es eigentlich?« Ich weiß, Leo meint es nur gut, wenn er sein Interesse bekundet. Doch kaum ist seine Frage ausgesprochen, sehen die anderen mich abwartend an.

Verdammt! Ich kann es nicht ausstehen, im Mittelpunkt eines Gesprächs zu stehen. Schon gar nicht nach so einem Tag wie heute.

Wann hat es angefangen, dass mein Zukunftsplan so aus der Bahn geraten ist? Die Frage kann ich mir direkt selbst beantworten: gleich in der ersten Woche, in der ich auf mich selbst gestellt unterrichtet habe.

»Stimmt. Bisher hast du kaum etwas erzählt. Wie viele Zwerge hast du schon zum Nachsitzen verdonnert?«

»Nicht alle Schüler sind so ungehorsam wie du, Tarek!«

Auf einmal reden die Jungs komplett durcheinander.

»Läuft!«, sage ich dazwischen und hoffe, das Thema damit erst einmal zur Seite schieben zu können.

»Also ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?«, hakt Leo nach.

Achselzuckend greife ich nach meiner Limo. »Mal sehen. Muss mich erst mal z-zurechtfinden.« Die ersten Monate habe ich nur unter Anleitung unterrichtet oder als Hospitant beim Unterricht zugesehen. Erst als ich allein mit den Schülern war, ist es eskaliert.

Ein Nicken geht durch die Runde. »Der Anfang ist immer hart. An meinem ersten Tag im Krankenhaus war ich so durcheinander, dass ich dem falschen Patienten Blut abgenommen hab.« Philipp greift nach der Fernbedienung.

Schnell zwinge ich mich zu einem Lachen und richte den Blick zum Fernseher, auf dem sich gerade die Konsole verbindet.

»Aber du, du hast unsere Zukunft direkt in den Händen. Stellt euch vor, alle Kinder werden wie Tarek. Wir wären am Ende.« Philipp grinst frech in dessen Richtung.

»Du bist ein Arschloch.«

»Ein Arschloch, das zumindest seine Wäsche im Griff hat.«

»Ich werde Linda an Halloween danach fragen«, droht Tarek.

»Tu dir keinen Zwang an.«

Leo stößt mich von der Seite an. »Und was das eigentliche Thema angeht … Das wird schon. Lass dir bloß nicht zu viel gefallen, und zieh dein Ding durch. Aller Anfang ist schwer.«

Ich nicke halbherzig. In einem mögen die Jungs sogar recht haben: Schlimmer kann es wohl kaum noch werden.

4. März 2007

Hallo Alicia,

bitte wundere dich nicht, dass gleich zwei Briefe in dem Umschlag sind. Weil ich gestern Abend so plötzlich aufgehört habe, wollte ich dir noch mal schreiben. Mama sagt aber, dass ich mit den Briefmarken etwas sparsamer umgehen muss. Gestern Abend bin ich bei dem Gewitter zu Mama ins Schlafzimmer gegangen. Es hat ziemlich nach Wein gerochen. Ich finde diesen Geruch abscheulich.

Immerhin war Papa nicht da. Mama meinte, er würde auf dem Sofa schlafen.

Sie meinte, dass Papa eine andere Frau lieb hat.

Ich hab sie gefragt, wie sie das genau meint. Wieso Papa eine andere Frau liebt, wenn er doch eigentlich schon eine Familie hat. Uns, meine ich. Wir sind doch seine Familie, oder?

Vielleicht hast du aber auch recht, und ich habe das mit der Familie bisher immer falsch verstanden. Wenn deine Mama deine Mama ist, ohne dass sie dich geboren hat, dann kannst du vielleicht auch meine Familie sein? Meinst du, dass das geht? Das wäre schön.

Mama hat gesagt, dass Papa ein Arschloch ist. Ich habe gesagt, dass man das Wort doch nicht benutzen soll, aber sie hat behauptet, dass es diesmal eine Ausnahme ist. Weil Papa wirklich ein Arschloch ist. Weil er ein Mann ist und Männer Frauen wehtun.

Was ist, wenn ich als Mann auch ein Arschloch bin?

Das habe ich Mama gefragt, und sie hat versucht, mich zu beruhigen.

»Du bist der einzige Mann, der Mama niemals das Herz brechen würde.«

Genau das hat sie gesagt, und ich habe ihr versprochen, dass das für immer so bleibt. Dass ich niemals einer Frau wehtun werde.

Wie geht es dir? Bitte schreib schnell zurück.

Julian

3. Kapitel

Alicia

»Ich bin die beste beste Freundin der Welt. Okay, der Kuchen ist nur mit einer Backmischung gemacht. Singen werde ich unter keinen Umständen, und streng genommen muss ich in achtunddreißig Minuten die Bahn nehmen. Vergiss, was ich gesagt habe, ich bin wahrscheinlich die schlechteste beste Freundin der Welt. Willst du trotzdem ein Stück haben?«

Ich habe die Tür gerade erst aufgeschlossen und stehe noch mit meinen Schuhen im Wohnungsflur, da hat Maggie mich bereits mit einem ganzen Wortschwall überschüttet.

Als ich sie ein wenig überrascht ansehe, lässt sie den Teller mit Muffins (Verzeihung, der auseinandergefallene Teig soll anscheinend einen Kuchen darstellen) sinken.

Ich muss schmunzeln.

»Sind das etwa Rosinen?« Ich trete mir die Sneakers von den Füßen und grinse.

»Schokostreusel gab’s nicht mehr. Also habe ich nach einer Alternative gesucht.«

»Und da sind dir ausgerechnet Rosinen eingefallen?«

»Wenn es das nächste Mal etwas zu feiern gibt, melde das vorher bitte an!« Maggie pustet sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Sorry, wie viele Wochen im Voraus sollte ich meinen Chef fragen, ob er vorhat, mich vielleicht zu befördern?«

»Ich hätte ihm schon vor eurem Kennenlernen sagen können, dass du die Beste für den Job bist.« Maggie nimmt ein Stück Kuchen vom Teller und beißt herzhaft hinein. »Also? Willst du mich die nächsten vierunddreißig Minuten allein feiern lassen, oder nimmst du auch was?«

Rasch folge ich meiner Freundin in die Küche. Eigentlich habe ich keine Lust auf Feiern und noch weniger auf Kuchen, mein Magen fühlt sich viel zu voll und schwer an. Ihr zuliebe nehme ich trotzdem ein Stück.

»So, und jetzt musst du alles noch mal von vorn erzählen! Also ab dem Moment, in dem er es dir gesagt hat.«

»Wer was gesagt hat?«, frage ich ein wenig verdutzt nach.

»Ähmmm? Dein Chef? Das Gespräch?«

Zögernd nicke ich. »Sorry! Ich stand gerade auf dem Schlauch. Eigentlich habe ich doch schon alles erzählt.«

Maggie mustert mich mit einer Mischung aus Überraschung und Unglauben. »Dann erzähl es noch mal! Hey, was ist denn los? Du freust dich ja gar nicht.«

Schnell winke ich ab. »Doch, doch. Natürlich. Aber erst mal steht ja noch gar nichts fest. Es ging heute nur um die Möglichkeit, die rein theoretisch besteht. Wahrscheinlich wird am Ende sowieso nichts draus.«

Maggies Blick verfinstert sich. »Sag mir, dass es nicht das ist, was ich denke.«

»Was denn?« Natürlich weiß ich sofort, worauf sie hinauswill.

»Ich meine ja nur … Es wäre nicht das erste Mal, dass Timon dir einen ordentlichen Dämpfer verpasst.«

Eine dicke Faust bohrt sich in meinen Magen.

»Das stimmt so überhaupt nicht.«

»Ach nein?«, hakt Maggie nach.

Maggies Kommentare gehen mir tiefer unter die Haut, als ich zugeben will. »Du kennst ihn doch gar nicht.«

»Woran das wohl liegt … Wie lange seid ihr jetzt zusammen? Zwei Jahre? Du kannst mir doch nicht sagen, dass er bisher ernsthaft keine Zeit hatte, mal was gemeinsam mit deinen Freundinnen zu unternehmen.«

»Was ist falsch daran, wenn er die Zeit lieber mit mir allein verbringt?«

Maggie holt tief Luft. Dann winkt sie ab. »Hör zu, Süße. Ich hab dich verdammt lieb. Und du weißt, ich will mich gar nicht in euren Kram einmischen …«

»Dann lass es bitte!«, unterbreche ich sie und stehe auf.

Maggie öffnet den Mund, entscheidet sich dann aber wohl doch dafür, nichts zu sagen. Die gute Stimmung ist jetzt endgültig hinüber.

»Ich weiß, du meinst es nur gut«, versuche ich die Situation zu entschärfen. »Es ist nur etwas anstrengend, und ich hatte einen aufwühlenden Tag.«

Maggie nickt. »Tut mir leid.«

Ich kann sehen, dass sie die Worte wirklich so meint. Wie schwierig es für Maggie immer ist, sich nicht von ihren impulsiven Gefühlen steuern zu lassen, ist mir in den letzten Monaten erst so richtig bewusst geworden. Aber anders als sie es anfangs befürchtete, hat uns ihre Offenheit nur noch enger zusammengeschweißt.

Und auch wenn sie nie ein Geheimnis daraus gemacht hat, wie wenig sie von der Entscheidung hielt, war sie selbst dann für mich da, als ich kurz nach der Trennung beschloss, der Beziehung von Timon und mir noch eine Chance zu geben. Ein knappes Jahr ist das jetzt her, und zu Beginn lief es zwischen ihm und mir wirklich besser. Er war unglaublich zuvorkommend. Charmant. Einfühlsam. Mit Timon an meiner Seite habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben vollständig gefühlt. Als sei dieser Mann ein Puzzlestück, das mir jahrelang gefehlt hat.

»Der Kuchen schmeckt scheiße«, reißt mich Maggie aus meinen Gedanken. »Total trocken und viel zu süß. Ich wusste, dass man diesen Tütendingern nicht trauen kann.«

Vorsichtig lächele ich. »Ach was, ich freue mich darüber.«

»Nächstes Mal backe ich dir trotzdem einen richtigen.«

»Da sage ich nicht Nein.«

Einen Moment sitzen wir uns stumm gegenüber. Maggie hat den Blick aus dem Fenster gerichtet und bewegt sich kaum. Nur das Ticken der Wanduhr lässt mich sicher sein, dass die Zeit nicht einfach so stehen geblieben ist.

»Weißt du …« Ich räuspere mich. »Ich hab’s ihm noch nicht erzählt. Die mögliche Übernahme, meine ich. Ich dachte, persönlich wäre es schöner.« Aus irgendeinem Grund habe ich plötzlich das Gefühl, noch etwas zu eben sagen und Timon verteidigen zu wollen. Oder auch zu müssen.

Maggie lächelt müde. »Dann seht ihr euch später?«

Mein Nicken kommt viel zu überstürzt. Wie ein Reflex, der sich nicht steuern lässt. Vielleicht, weil mich ihre Frage erschreckt hat. Ich wollte Maggie nicht belügen. Schon gar nicht wegen so etwas. Es ist irgendwie passiert. Und jetzt kann ich es nicht mehr zurücknehmen. Streng genommen habe ich auch nichts Falsches gesagt. Die Einladung steht, auch wenn Timon noch überlegt. Sofort schießt mir unser kurzes Telefonat wieder in den Kopf. Timon klang ziemlich genervt. Wie er wohl auf meine Neuigkeiten reagieren wird?

»Dann viel Spaß!« Meine Freundin steht zögernd auf. »Ich muss jetzt los. Ist das okay?«

»Natürlich!«, sage ich und hoffe, dass meine Stimme fester klingt, als sie sich in meinem Hals anfühlt. »Hab einen schönen Abend.«

»Du auch!« Maggie hat gerade die Tür erreicht, da dreht sie sich noch einmal zu mir um. »Eins noch …« Sie sieht aus, als wüsste sie nicht so recht, ob sie wirklich etwas sagen soll. Doch diesmal entscheidet sie sich dafür. »Wenn ich dir in letzter Zeit das Gefühl gegeben habe, dass ich dich für irgendwas verurteile oder dir die Schuld gebe … das wollte ich nicht, okay?«

Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, was sie sagen will. Doch ehe ich etwas erwidern kann, ist Maggie bereits im Flur verschwunden. Und ich? Ich lasse den Tränen endlich freien Lauf.

Egal, wie perfekt der Tag auch begonnen haben mag, gerade hätte ich einfach nur gerne einen neuen.

18. März 2007

Lieber Julian,

ich hoffe, du bist nicht böse, weil ich jetzt erst antworte. Die Idee mit der Brieffreundschaft gefällt mir immer noch richtig gut. Es gibt so viele Dinge, die ich dir abends erzählen möchte, und jedes Mal, wenn mir dann einfällt, dass das nicht mehr geht, tröstet mich der Gedanke an unsere Briefe. Ich glaube, irgendwann wird man ein ganzes Buch damit füllen können.

Du willst wissen, was bei uns so passiert ist? Die letzten Tage haben wir die ganzen Kisten ausgepackt und waren bis spätabends beschäftigt. Zugegeben, Oli und ich haben zwischendurch in unserem neuen Garten gesessen und Marmeladenbrote gegessen. Mit Käse. Oman hat sich geschüttelt, als er uns gesehen hat. Genau wie du jedes Mal, wenn ich versuche, dich zum Probieren zu überreden. Nun ja … jetzt sind wir jedenfalls mit dem Einräumen fertig, und das Haus sieht ein bisschen mehr nach uns aus.

Zu deinen Briefen: Es tut mir schrecklich leid, dass die beiden immer noch so viel streiten. Ich hatte gehofft, dass sie sich zumindest dann anstrengen, weniger zu schreien, wenn du zu Hause bist.

Ich habe mir überlegt, dass du in den Sommerferien vielleicht auch zu uns kommen kannst. Dann hast du erst mal eine kurze Pause. Außerdem würde sich auch Mama freuen, dich zu sehen.

Ich glaube, sie traut sich nicht mehr, mich nach dir zu fragen, weil ich jedes Mal anfangen muss zu weinen. Dabei weiß ich, dass sie auch an dich denkt, und es wäre mir lieber, wenn wir einfach über dich reden würden, als dass sie mich ständig zum Turnen schickt. Oder zum Klavierunterricht. Neulich meinte sie, es gebe in der Nähe einen Reiterhof, wo ich Stunden nehmen kann. Eigentlich habe ich keine große Lust, aber vielleicht probiere ich es trotzdem mal aus. Bestimmt würde sie sich darüber freuen. Oli fällt die Eingewöhnung hier immer noch schwer. Er redet viel weniger, und ich habe Angst, dass er jetzt für immer so traurig bleibt. Deshalb will ich etwas auf ihn aufpassen, denn auch wenn er eigentlich mein großer Bruder ist, kann ich ihn besonders gut trösten. Ich denke immer an das, was du neulich gesagt hast. Dass ich das stärkste Mädchen bin, das du kennst. Seitdem bin ich noch viel mutiger geworden.

Wenn ich weiter ganz viel Mut ansammele, werde ich dir das nächste Mal etwas davon geben, wenn du willst. Vielleicht fällt es dir dann leichter, den Streit auszuhalten. Die Idee mit der Familie finde ich übrigens auch gut. Mir gefällt die Vorstellung, dass du jetzt so was wie mein Bruder bist.

Bis bald

Alicia

4. Kapitel

Julian

»Ich bin froh, dass Sie es einrichten konnten.« Die Schuldirektorin Frau Tucher ist Mitte fünfzig, hat kurze braune Haare und trägt eine runde Brille, die ihre Augen ein wenig bedrohlich wirken lässt. Wobei ich diesbezüglich vielleicht ein bisschen voreingenommen bin.

Als ich zu Beginn der Woche einen Brief aus dem Sekretariat in meinem Fach liegen hatte, wusste ich sofort, was los ist.

»Sie können sich sicher denken, weshalb ich Sie in mein Büro eingeladen habe. Richtig?«

Hätte ich die Kontrolle über meine Muskeln nicht verloren, würde ich jetzt nicken. Mein Herz wummert rasend schnell gegen meine Brust. So, als würde es alles geben, um aus mir herauszuspringen. Damit würde sich zumindest eine Möglichkeit bieten, dieser unerträglichen Situation zu entkommen.

»Als Kollegin Dietrich mir von dem Vorfall in Ihrer Klasse berichtete, habe ich mir natürlich große Sorgen gemacht. Sowohl um Sie als auch um die Schülerinnen und Schüler. Sie haben im Mai hier begonnen, ist das richtig?«

»Ja.«

»Mir ist bewusst, dass es eine große Herausforderung ist, mit einer Klasse warm zu werden. Gerade, wenn man noch so jung ist. Aber das Ganze muss natürlich … sagen wir, im Rahmen bleiben. Damit abzusehen ist, dass sich die Situation nach einer gewissen Zeit einpendelt. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

Wie unter Strom nicke ich. Alles, was sie ab jetzt sagt, dringt nur bruchstückhaft in meinen Kopf. Ich meine, ich höre diese Begriffe: »Veränderung«, »harte Arbeit«, »richtiger Job«, »Alternativen«. Wie Stiche jagen sie in mein Ohr, klingen bitter nach. Und doch will ich es einfach nicht glauben.

»Das ist nichts gegen Sie persönlich. Ich habe als Schulleiterin für alle Beteiligten nur das Beste im Sinn. Die Frage ist eben nur, was in diesem Fall das Beste für alle ist.«

»Natürlich«, bringe ich hervor und wische die feuchten Finger an dem Stoff meiner Jeans ab.

»Dann sehen Sie das ähnlich?«

Tue ich das? Ja. Nein. Ich weiß es nicht. Ich stehe so unter Strom, dass ich nicht einmal in der Lage bin, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Das soll auf keinen Fall übergriffig wirken. Ich glaube Ihnen, dass das alles nicht ganz einfach ist. Wir möchten selbstverständlich Rücksicht nehmen, solange es in unseren Möglichkeiten liegt.« Frau Tucher lächelt, und die Stiche sind kurz davor, zu ganzen Wunden aufzureißen. Andauernd liegt dieses Mitleid in ihrem Blick. Häufig nutzt sie Formulierungen wie »Menschen wie Sie« oder »Menschen mit gewissen Schwierigkeiten«. Schon bei unserem Kennenlernen habe ich mir gewünscht, sie würde die Dinge endlich beim Namen nennen. Mir sagen, dass die Schikanen der Teenager durch mein Stottern begünstigt werden. Dass Lehrkräfte Autonomie und Stärke ausstrahlen sollten und mir beides fehlt. Dass mich mit diesen Problemen niemand ernst nimmt. Ernst nehmen wird. Ernst nehmen kann.

Ich würde am liebsten von meinem Stuhl aufspringen und für immer weglaufen. Von diesem Ort, an den ich mich jahrelang gewünscht habe.

»Ich a-arbeite an mir!«, sage ich. Diesmal ein wenig fester.

»Ich bin erleichtert, das zu hören, Herr Rock. Und vor allem bin ich froh, dass wir miteinander gesprochen haben.« Wieder dieses Lächeln. So unecht, als hätte es ihr jemand mit einem dünnen Bleistift in das faltige Gesicht gezeichnet. »Sie werden schon eine Lösung finden. Vielleicht können Sie sich während der Hospitation den einen oder anderen Trick bei einem Kollegen abschauen. Viele haben jahrelange Berufserfahrung.«

Doch keiner von ihnen weiß, wie es ist, zu stottern. Wie es ist, wenn sich klare Gedanken nur wie endlose Fäden aus dem Mund ziehen lassen.

Mein verkrampfter Körper hofft, dem Gespräch mit einem Nicken möglichst zügig zu entkommen.

Ich will tief einatmen. So tief, dass meine Lungen sich mit Sauerstoff füllen und das Adrenalin zurück aus meinen Adern fließt. Doch solange ich an diesem Ort hier bin, kann ich froh sein, verdammt noch mal nicht zu ersticken.

»Wenn ich das richtig sehe, hatten Sie bisher erst zwei Lehrproben. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann schieben Sie die Unterrichtsbesuche nicht zu weit raus. Nicht dass Sie noch zusätzlich in Stress geraten.«

Sehr witzig.

Ihr Blick geht an mir vorbei zum Fenster. »Ansonsten gibt es auch immer noch andere Wege.«

»W-Wege?«

»Andere Wege, eine Zukunft zu gestalten. Sie sind nicht der Erste, der nach dem Studium feststellt, dass er den eingeschlagenen Weg noch mal überdenken muss.«

Ich frage mich, ob Frau Tucher tatsächlich der Überzeugung ist, dass ihre Worte irgendwas besser machen. Mir kommt alles, was sie sagt, wie purer Hohn vor.

Es heißt, Kinder seien grausam. Weil sie einem knallhart und ehrlich ihre Gedanken ins Gesicht sagen. Ohne Scham und Reue. Doch manchmal bin ich nicht sicher, ob ich die Floskeln, die gut gemeinten Sprüche mancher Erwachsener nicht noch viel schlimmer finde.

Frau Tucher steht von ihrem Stuhl auf und beendet damit unser Gespräch. Sie verabschiedet mich mit einem »Ich danke Ihnen für das konstruktive Gespräch«. Wieder so ein Fall von »Erwachsene sagen Dinge, die sie nicht so meinen«. Um den Schein zu wahren. Nicht anzuecken. Den einfacheren Weg zu nehmen, ohne sich in Unannehmlichkeiten zu verwickeln.

Und ich? Ich bin genauso, als ich höflich lächelnd von meinem Platz aufstehe und mit einem holprigen »Ich habe zu danken, schönen Tag noch« das Büro der Schuldirektorin verlasse.

26. Juli 2007

Liebe Alicia,

danke für deine Postkarte. Ich habe dir viel zu lange nicht geschrieben. Leider hatte ich vergessen, dich nach der Adresse von eurem Hotel zu fragen, deshalb konnte ich dir gar nicht antworten. Es freut mich aber total, dass ihr eine schöne Zeit hattet. Von der riesigen Sandburg musst du mir unbedingt ein Foto zeigen, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Ich habe mir für deinen Geburtstag schon ein ganz besonderes Geschenk überlegt. Ich bin mir sicher, es wird dir gefallen!

Jetzt aber mal zu einem Thema, das ganz und gar nicht schön ist: Hat bei euch letzte Woche auch wieder die Schule angefangen? Um ehrlich zu sein, hatte ich die letzten Tage richtige Bauchschmerzen. Ich habe so gehofft, dass noch irgendwas dazwischenkommt. Ist es aber nicht. Ich bin in die Klasse 5b gekommen. Die erste Woche war erst mal nur zur Eingewöhnung, aber ich weiß jetzt schon, dass ich es ganz schrecklich finde. Immer, wenn ich etwas sage, dann wird so viel gelacht. Gestern, als ich in Deutsch an die Tafel gerufen wurde, habe ich kein einziges Wort herausbekommen. Weißt du noch, als du mich mal gefragt hast, welches Obst zu mir passen würde, wenn ich kein Mensch geworden wäre? Ich glaube, diese ganze Klasse wäre ein einziger Salat aus Grapefruits und Zitronen. Ganz bitter und sauer. Wie soll ich das nur aushalten ohne dich?

Ich vermisse dich über alles.

Julian

5. Kapitel

Alicia

Meine Zeitnot am Mittwochmorgen hat nicht nur einen, sondern gleich mehrere Gründe. Ich habe bei Timon übernachtet, bin die halbe Nacht durch eine flackernde Glühbirne gestört worden und nun schmerzhaft übermüdet, weshalb ich im Bad doppelt so lange brauche wie sonst. Dann sind gleich zwei Bahnen nacheinander ausgefallen. Reparatur an der Strecke. (Bin ich die Einzige, die sich fragt, was da ständig repariert wird?) Als wäre das alles nicht schon nervig genug, habe ich die Benachrichtigung in meiner App erst bekommen, nachdem ich bereits siebenundzwanzig Minuten am Gleis stand.

Schwer atmend und mit heftigen Seitenstichen stehe ich kurz darauf ein zweites Mal an diesem Morgen vor Timons Wohnungstür. Diesmal allerdings mit dem Versprechen an mich selbst, mich öfter mal im Fitnessstudio blicken zu lassen.

»Ich komme zu spät.«

Timon trägt noch immer die Jogginghose und das ausgewaschene Tanktop. Wahrscheinlich hat er sich wieder hingelegt, und ich habe ihn aus dem Bett geklingelt.

»Probleme bei der Bahn. Wenn ich zu spät komme, kriege ich Ärger. Bitte! Nur dieses eine Mal!« Der Hundeblick zieht nur in zwanzig Prozent der Fälle. Höchstens!

»Was würdest du eigentlich ohne mich machen?!« Der Griff auf die Kommode, dorthin, wo der Autoschlüssel liegt.

»Du bist wirklich ein Schatz.« Erleichtert atme ich durch. Es gibt also doch noch eine Chance, nicht zu spät zu kommen.

»Für meine Prinzessin ist mir keine Mühe zu viel.«

Ein Kribbeln breitet sich in meinem Bauch aus. Ein Kribbeln, das mich an das Gute glauben lässt. Das Gute an mir. Das Große und Starke. Es ist diese Art von Kribbeln, die ich nur spüre, wenn er an meiner Seite ist.

»Ich zahle dir das Spritgeld auch zurück, sobald ich mein Gehalt von der Agentur habe, okay?«

»Ach was …« Er schnaubt. »Von deinem Praktikantenlohn kommst du nicht mal bis zur ersten Ampel.«

»Umso wichtiger, dass ich übernommen werde«, werfe ich ein. »Und da leistest du gerade einen wichtigen Beitrag.«

»Ich bin doch nur der Taxifahrer.«

»Ein Taxifahrer mit enormer Bedeutung«, flöte ich und lächele dankbar.

Es ist kurz vor neun, als wir an der ersten roten Ampel halten. Nervös kaue ich auf meiner Unterlippe. Ob es sofort auffällt, wenn ich ein paar Minuten zu spät komme?

»Was zappelst du schon wieder so? Mach dich mal locker! Da wird wohl keiner mit ’ner Stoppuhr im Eingang stehen.«

Schlagartig spanne ich meine Muskeln an, um jede Bewegung zu unterdrücken. »Sorry! Ich stehe gerade wohl zu sehr unter Stress. Wenn ich diesen Job bekommen will, darf ich mir keinen Fehler erlauben.«

Nach unserem gemeinsamen Frühstück am Samstagmorgen habe ich Timon endlich von dem Gespräch mit Johannes erzählt.

Er hat sich gefreut. Jedenfalls glaube ich das, denn ich konnte an seiner Reaktion nicht so viel festmachen. Aber das ist absolut okay, denn Timon ist ohnehin nicht der Typ, der großartig Gefühle zeigt. Dafür haben wir das restliche Wochenende gemeinsam verbracht.

»Stimmt. Da war ja was. Ich hätte es beinahe vergessen, nachdem du es nur sieben Millionen Mal erwähnt hast.«

Ich überlege, ob sein Kommentar amüsiert oder genervt gemeint ist.

»Sorry!«, sage ich vorsichtshalber. »Das ist eben nicht irgendwas. Das ist meine große Chance.« Allein bei dem Gedanken spüre ich schon wieder dieses Herzflattern in meiner Brust. Es muss einfach klappen. Es muss!

»Ich will mich nicht ständig wiederholen.« Seine Hände fassen das Lenkrad fester. »Aber du solltest wirklich erst mal runterfahren.«

»Was soll das heißen?« Ich stelle die Frage mit dem Wissen, mir damit keinen Gefallen zu tun.

»Nichts. Ich will nur nicht, dass du dich übernimmst. Du weißt doch, wie schnell du dich in Dinge hineinsteigerst …«

Ich hole tief Luft und konzentriere mich auf den rasenden Herzschlag in meiner Brust. Traut er mir die Arbeit nicht zu? Hält er mich nicht für gut genug?

Lass gut sein, Alicia. Die Nacht war kurz, er hat viele Sorgen wegen seiner abgelehnten Bewerbungen. Er meint es nur gut mit dir. Irgendjemand muss auf dich aufpassen, denn wie er schon meinte … Du steigerst dich in Dinge schnell hinein.

»Kannst du mich an der nächsten Straßenecke rauslassen?« Ich packe meine Sachen zusammen und gehe im Kopf durch, ob ich irgendwas vergessen habe.

»Warum das denn? Jetzt kann ich auch gleich bis vorne durchfahren.«

»Baustelle. Da kommt man nur schwer durch.«

»Hm.« Er klingt auf einmal skeptisch.

»Du kannst auch außen rumfahren. Ich wollte dir nur nicht noch mehr Zeit stehlen.« Abwehrend hebe ich die Hände und warte ungeduldig, während wir einen Riesenumweg fahren. Die Anzeige im Radio springt auf neun Uhr, als der Wagen endlich hält. »Danke fürs Fahren.« Ich beuge mich vor, um Timon einen raschen Kuss auf die Wange zu drücken, halte im letzten Moment jedoch inne.

Den Blick stur an mir vorbei gerichtet, hat sich seine Miene plötzlich weiter verfinstert. »Wer ist denn das?«

Ich verrenke mir fast den Hals, um gleich darauf festzustellen, dass es sich bei dem Unbekannten um Nicolas handelt. Er steht mit dem Smartphone am Ohr auf der Treppe und winkt, als unsere Blicke sich treffen.

»Ein Kollege?!«, sage ich und klinge dabei fast so, als würde ich eine Frage stellen. Nein, eigentlich klinge ich nicht nur so, sondern tue genau das. Warum um alles in der Welt interessiert Timon sich für ihn?

»In deinem Team?«

Ich nicke mit einer kurzen Verzögerung, weil in mir auf einmal ein ungutes Gefühl aufsteigt.