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Jeanine Krock

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Beschreibung

Myladies, Mylords: Hier kommen die Darlington-Schwestern! London, 1811. Tamira Darlington-Devi und ihre Geschwister sind in Indien als Kinder einer englischen Lady und eines indischen Adligen aufgewachsen. Es ist die erste Saison für Tamira, doch die eigenwillige junge Frau ist überhaupt nicht erpicht darauf, einen Ehemann zu finden. Sie setzt alles daran, ein verschwundenes Erbstück der Darlingtons aufzuspüren, wenn es sein muss auch mit verbotenen Mitteln. Während einer Nachmittagsgesellschaft erwischt Julian Weston, der Duke of Asherton, Tamira bei einem Einbruch und ist sofort fasziniert von ihr. Fortan kommt es zu sonderbaren Begegnungen zwischen Tamira und dem Duke – entspringen die prickelnden Momente, die beide wahrnehmen, nur ihrer Fantasie? Ein magischer Sommer beginnt …

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Jeanine Krock

Darlington

Eine zauberhafte Saison

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Loslassen ist der Schlüssel zum Glück.

– Buddha

1. Kapitel

London im Frühjahr 1811

Die Saison hatte noch nicht einmal richtig begonnen, und Julian Weston, siebter Duke of Asherton, sehnte sich bereits danach, in sein altes Leben zurückzukehren – oder wenigstens nach Maplethorpe Hall, wo die feinste Pferdezucht des Landes auf ihn wartete.

An die steinerne Balustrade der Terrassen gelehnt, lockerte er sein Halstuch und nahm einen großen Schluck Brandy, als eine Bewegung hinter den Fenstern von Wellsboroughs Haus nebenan seine Aufmerksamkeit erregte.

Eine schmale Gestalt, kein Mann, eher ein Junge, bewegte sich durch die Bibliothek. Er trug eine einzelne Kerze, deren Licht über die Bücher irrte und nervöse Schatten warf. Ein Hausbewohner auf der Suche nach Lektüre, vermutete Julian und wollte sich abwenden, als sich drüben die Tür zum Nebenzimmer öffnete und ein Lakai die Kerzen anzündete, während der Hausherr den Salon in Begleitung eines Gentlemans betrat.

Wellsborough füllte zwei Weingläser, von denen er eines seinem Gast reichte, der die elegante Abendgarderobe eines Dandys wie eine zweite Haut trug. Der Baron selbst war ein großer Mann und recht beleibt.

Unwillkürlich musste er schmunzeln. Wellsborough hielt sich sehr gerade, und Julian vermutete, dass ein Korsett unter dem meisterhaft geschnittenen Rock und der feinen Weste in hellem Blau für die steife Haltung sorgte. Halstuch und hohe Hemdkragen wirkten auch nicht eben bequem. Seine Breeches leuchteten in einem schockierenden Gelb, die Stiefel glänzten im Kerzenschein.

Julian ließ den Blick zurück zur Bibliothek wandern. Das Licht war gelöscht worden, doch der Mond schien direkt in den Raum und der Junge war noch immer da. Ihm kam der Gedanke, dass er sich geirrt haben könnte und dort ein Einbrecher am Werk war.

Im Begriff, seine Pflicht zu tun und den Nachbarn zu warnen, hörte er ganz in der Nähe jemanden sagen: »Verflucht, sieh nur: Die Nobs gehen in die Bibliothek!«Die jugendliche Stimme kam aus einem Strauch, nicht weit von ihm entfernt unten im Garten. Ungeachtet des despektierlichen Ausdrucks, mit dem die niederen Klassen Adlige bezeichneten, klang sie äußerst kultiviert.

»Tu doch was!«, sagte die andere Person.

Ein Pfiff erklang. Der Junge in der Bibliothek erstarrte kurz, dann öffnete er ein Fenster, kletterte hinaus und sprang in den Garten.

Julian zog sich in den Schatten zurück, um nicht gesehen zu werden, und lauschte dem Rascheln im Strauchwerk, das sich schnell näherte.

»Au, verflixt. Hier sind ja Rosen!«, hörte er den Jungen schimpfen.

»Hast du es?«, fragte ein Dritter, der noch nicht mal im Stimmbruch war.

»Nein. Er muss das Kästchen irgendwo anders versteckt haben.«

»Es kann überall sein. Wir werden es nie zurückbekommen.«

Ein Schluchzen war zu hören.

»Wein doch nicht!«, sagte der Einbrecher. »Lasst uns schnell verschwinden, bevor er das offene Fenster entdeckt.«

Hätte Julian die schlanke Gestalt in dunklem Hemd und Breeches nicht mit eigenen Augen gesehen, er hätte geschworen, die Stimme einer Lady gehört zu haben. Der warme Alt mit dem schmeichelnden Timbre berührte ihn auf eine so verwirrende Weise, dass er regungslos zusah, wie die drei in gebückter Haltung über das Dach des Stallgebäudes liefen. Er fragte sich noch, wie sie dort hinaufgeklettert sein mochten, da verschwanden sie schon unter dem Geäst eines Baums. Wenig später verklangen ihre Schritte in den Mews.

»Warum stehst du hier draußen in der Dunkelheit?« Samuel, Lord Hayes, schlenderte über die Terrasse zu ihm herüber. In der Hand hielt er eine Pfeife. Als er daran zog, erhellte das Glimmen ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und blassen grauen Augen. Annähernd so groß wie Julian, mit dunklem Haar und einer schlanken, trainierten Figur, war Samuel Hayes ein beliebter Gast in den Salons der Stadt. Ein jüngerer Sohn zwar und vom Krieg gezeichnet, aber ein angenehmer Zeitgenosse mit tadellosen Manieren.

Es dauerte nicht lange, bis der süßlich würzige Duft von Marihuana, gemischt mit Lavendel, die Luft erfüllte und die Anspannung allmählich aus Samuels Körper wich. Er war in Indien bei Assaye schwer verletzt worden. Äußerlich sah man ihm auf den ersten Blick nichts mehr an, doch Julian hatte genug vom Krieg gesehen, um zu ahnen, mit welchen finsteren Schatten und Erinnerungen sein Freund kämpfte. Von den Schmerzen ganz zu schweigen, die er tapfer vor seiner Familie zu verbergen versuchte.

Ihn selbst hatte es nie aufs Schlachtfeld gezogen. Sein Vater hatte gern Cicero zitiert und war der Auffassung, »Der ungerechteste Frieden sei besser als der gerechteste Krieg«. Die Bevölkerung litt seit Jahren immer stärker unter den Kriegsfolgen, und doch kämpften brave Engländer, wenn auch häufig nicht freiwillig, gegen Napoleon und in den Kolonien für die Krone.

Die Freunde standen eine Weile schweigend nebeneinander, bis Samuel schließlich erneut fragte: »Was machst du hier draußen?«

Julian zuckte mit den Schultern. »Ich sollte in Maplethorpe sein und mich um die Fohlen kümmern.«

Der Freund lachte wissend. »Du hast Angst vor den ehrgeizigen Matronen, gib es zu.«

»Angst? Ich würde es als einen gesunden Fluchtinstinkt bezeichnen.«

»Oder so. Kommst du nächste Woche mit nach Brentford Hall?« Das war der Landsitz des Earl of Brentford, Samuels Vater.

»Aber sicher. Auch wenn deine Schwester nicht begeistert sein wird.«

Beim Gedanken an das lebhafte junge Mädchen musste er schmunzeln. Sie war für ihn wie eine kleine Schwester und hatte erklärt: »Falls ihr beide weiterhin meine Tanzpartner verscheucht, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich dem erstbesten Stutzer an den Hals zu werfen.«

Genau das hatten sie natürlich verhindern wollen, und Julian beschloss, sich nicht mehr einzumischen, während Samuel darauf bestand, auch in Zukunft darüber zu entscheiden, wer ihr vorgestellt wurde und mit wem sie tanzte.

»Du solltest Anbelle vertrauen, sonst brennt sie womöglich mit Strathlink durch«, sagte Julian.

»Großer Gott, bloß nicht! Dieser Mensch sieht aus, als ließe er in der Clifford Street schneidern.« Samuel presste die freie Hand aufs Herz, bevor sich ein verschmitztes Lächeln in seinen Augenwinkeln zeigte. Dann wurde er wieder ernst: »Anbelle wird einen guten Mann heiraten, der sein Geld zusammenhält und sie anständig behandelt.«

»Keine leichte Aufgabe, so jemanden zu finden.«

»Wenn nicht in dieser Saison, dann eben in der nächsten.« Er zog an seiner Pfeife und wurde ernst. »Du solltest auch nichts überstürzen, Julian.«

»Ehrlich gesagt will ich es einfach hinter mich bringen.«

Samuel folgte ihm ins Haus. »Du bleibst doch hier, bis man in der Upper Grosvenor Street wieder wohnen kann?«

Die Einladung des Earl of Brentford, vorübergehend in dessen Londoner Residenz zu logieren, während seine eigene renoviert wurde, hatte er gern angenommen. Lord und Lady Brentford waren so etwas wie eine Ersatzfamilie für ihn geworden, denn sie hatten sich um Julian und seinen kleinen Bruder gekümmert, während deren Eltern von einer antiken Fundstätte zur nächsten gereist waren.

»Ich kann eure Gastfreundschaft nicht über Gebühr beanspruchen.«

Julian machte sich keine Illusionen. Der Ton, die High Society des Landes, wartete darauf, den neuen Duke in Augenschein zu nehmen, und das würde den Haushalt der Hayes durcheinanderbringen. Deshalb hatte er übergangsweise ein Haus in der Brook Street gemietet, in das er in den nächsten Tagen umziehen wollte. Auf diese Weise war es für seine Leute auch weniger kompliziert, die Bauarbeiten seiner Stadtresidenz zu beaufsichtigen. Sie brauchten nur ein paar Türen weiterzugehen.

Als Heranwachsender hatte Julian Weston kaum einen Gedanken daran verschwendet, dass er den Herzogstitel von seinem Großvater erben könnte. Er stand nicht gerade in vorderster Reihe der Erbfolge. Sein Vater, Richard Weston, Viscount Sunborough, war der jüngste Sohn des Dukes und hatte zwei Brüder. Doch eine bedauerliche Anzahl tragischer Schicksalsschläge änderte die Situation. Die Sache war kompliziert, und meistens musste er die Familienverhältnisse mehrfach erläutern, bevor jemand verstand, wie es zu dem überraschenden Erbe gekommen war.

Der Erstgeborene hatte vier Töchter mit drei Frauen. Als er nach einem Kutschenunfall einem Wundfieber erlag, kam die Marchioness zu früh nieder, und das Kind – diesmal ein Sohn – überlebte nicht. Der Zweitgeborene kippte beim Dinner einfach vom Stuhl, und dessen einzigem Nachkommen weinte niemand eine Träne nach, als er in einem Duell erschossen wurde. Ihm hing der Ruf eines verantwortungslosen Wüstlings und Trinkers an.

Als der greise Duke of Asherton im vergangenen Jahr an einem Herzleiden verstorben war, ging der Titel auf Julians Vater über, der wenige Tage, nachdem er von seinem Erbe erfahren hatte, mit dem Segelboot kenterte und dabei ertrank.

Julian erfuhr von dem Unfall, während er geschäftlich in Kairo zu tun hatte. Seine Mutter beschwor ihn in ihrem Schreiben, direkt nach London zu reisen, um das House of Lords von der neuen Situation in Kenntnis zu setzen. Sie würde ihn dort treffen und den Tod ihres Ehemannes bezeugen.

Der Earl hatte Ausgrabungen in Griechenland geleitet, und die verwitwete, nunmehr Dowager Viscountess dachte gar nicht daran, in England zu bleiben. Stattdessen teilte sie Julian mit, dass sein Bruder die Arbeit des Vaters übernehmen werde und sie ihrem jüngeren Sohn selbstverständlich zur Seite stünde.

Er war nicht überrascht, das zu hören. Wäre Carola Wilhelmina Weston keine Frau, hätte sie als Wissenschaftlerin gewiss eine glänzende Karriere gemacht.

Ohne einen besonderen Grund fielen ihm die drei jugendlichen Einbrecher wieder ein. Amüsiert schüttelte er den Kopf über sich selbst. Julian neigte nicht zu abergläubischen Flausen, doch sein sechster Sinn sagte ihm, dass sie Vorboten einer weitaus unterhaltsameren Saison waren, als er erwartet hatte.

2. Kapitel

Miss Tamira Darlington-Devi hatte unterschätzt, wie lebhaft die Straßen von Mayfair an einem milden Frühlingsabend auch gegen Mitternacht sein konnten. Als sie mit ihren vier Schwestern nach den Weihnachtstagen zum ersten Mal in London angekommen war, hatte rückblickend eine erstaunliche Ruhe über der nächtlichen Stadt gelegen, nur unterbrochen vom Ruf des Nachtwächters und gelegentlichem Hufgeklapper. Nun aber eilten exquisit gewandete Gentlemen an ihnen vorbei, und der Lärm der eisenbeschlagenen Räder von Ochsenkarren, eleganten Phaetons und schweren Reisekutschenwar ungeachtet der späten Stunde nahezu ohrenbetäubend. Niemand kümmerte sich um die drei dunkel gekleideten Gestalten, die sich dicht an den schmiedeeisernen Zäunen der Stadthäuser entlangdrückten.

»Wir haben es gleich geschafft«, zischte sie den Zwillingen zu und schob sie in die Hay’s Mews, eine kleine Gasse, die zu den Ställen ihres Onkels führte, dem Earl of Abbotsleigh. Es war wichtig, Zuversicht zu zeigen. Dennoch atmete sie erleichtert auf, als sie ihr Ziel erreicht hatten.

»Der Himmel sei gepriesen. Sie sind zurück! Ich hatte so ’ne Angst, dass was passiert.«

Tamira drückte ihrer Kammerzofe kurz die Hand. »Du kannst jetzt zu Bett gehen.«

Die Zofe ließ es sich aber doch nicht nehmen, sie über die Hintertreppe hinauf ins dritte Stockwerk zu begleiten und zu warten, bis sie in ihren Zimmern verschwunden waren.

Tamira bewohnte eines für sich allein. Die Zwillinge Georgiana und Henrietta schliefen mit der jüngsten Schwester nebenan. Caroline teilte sich eines mit ihrer Cousine Mary. Sie waren so beengte Wohnverhältnisse nicht gewohnt und dankbar, dass es einen Sitting Room auf der Etage gab, den sie gemeinsam mit Mary nutzten, die ebenfalls in dieser Saison debütieren sollte.

Welch ein Glück, dass Yalda uns nicht im Stich gelassen hat, dachte Tamira. In Indien hatte die resolute Paschtunin ihrer jüngsten Schwester als Ayah, also als Kindermädchen, gedient und es abgelehnt, Anila allein in die Ferne reisen zu lassen. Dass sie von Tamiras Patin, der Ehrfurcht gebietenden Bernadette Fourwinds, Countess of Cairnforth, begleitet wurden, zählte für sie nicht. Schließlich hatte die Countess zugestimmt, sie mitzunehmen.

Auf der langen Überfahrt assistierte Yalda Lady Cairnforths Abigail und ließ sich von der erfahrenen Kammerzofe in allen Handreichungen unterrichten, die erforderlich waren, um die Darlingtons zu betreuen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten freundeten sich die beiden Frauen an, und seit sie mit den Abbotsleighs in der Hill Street residierten, verbrachten sie häufig ihre freien Nachmittage miteinander.

 

Caroline hatte in Tamiras Zimmer auf sie gewartet. Sie saß in dem kleinen Sessel am Kamin und sah auf, als sie den Raum betrat. »Und? Habt ihr was gefunden?«

»Nichts.« Tamira setzte sich auf ihr Bett, nahm die Kappe vom Kopf und pfefferte sie auf den Boden. Danach zog sie sich bis aufs Hemd aus. Es war nicht das erste Mal, dass sie Breeches trug, aber die schäbigen Klamotten aus einem Laden für gebrauchte Kleider in Smithfield saßen schlecht, und der harte Stoff kratzte obendrein. Eilig rollte sie das Bündel zusammen und verbarg es in ihrer Truhe.

»Ich habe gleich gesagt, dass es aussichtslos ist. Wenn euch jemand erwischt, landet ihr im Gefängnis!« Caroline zog die Nadeln aus der Frisur, bis sich ihre Haare um die Schultern ringelten. Sie war die Einzige, die die Locken der Mutter geerbt hatte. Ihre grauen Augen wirkten kühl und distanziert.

Tamira öffnete den dicken Zopf, den sie sich geflochten und hochgesteckt hatte, um ihre nachtschwarzen Haare unter der Mütze zu verbergen. Anders als Caroline kam sie nach dem Vater, der ein schlanker, athletischer Mann gewesen war. »Was sollen wir denn sonst machen?«

»Abwarten. Ich habe heute gehört, dass dieser Baron Wellsborough demnächst eine Ausstellung plant.«

»Dafür brauchen wir eine Einladung«, sagte Tamira. »Obwohl ich nicht glaube, dass er den Pakshee Baagh zeigen wird. Jeder weiß …«

»Niemand in diesem Land interessiert sich für unsere Kultur«, unterbrach Caroline sie schroff. »Die meisten Leute sind hohlköpfig, habgierig und ignorant. Sie glauben, sie hätten uns die Zivilisation gebracht. Das ist doch lächerlich!«

Tamira stand auf und schloss ihre Schwester in die Arme. »So schlimm?«

»Ach, es geht schon. Ich werde jemanden finden, der bei alldem zumindest reich ist.«

»Das musst du nicht.«

»Doch, natürlich muss ich. Unser Geld reicht kaum für mein Debüt.«

»Woher weißt du das?«

»Tante Amanda war ungewöhnlich offen.«

Tamira stöhnte auf. Lady Amanda Abbotsleigh ließ keine Gelegenheit aus, ihre Nichten darauf hinzuweisen, wie überaus großzügig es vom Earl gewesen war, die fünf verwilderten Töchter ihrer älteren Schwester Josefine in seinem Haushalt aufzunehmen.

»Ich verstehe es nicht. Mama hat gesagt, in England wäre ausreichend Geld. Vielleicht hat unsere Tante auch übertrieben.«

»Das könnte sein, sie neigt dazu. Aber falls sie die Wahrheit sagt, habe ich so eine Ahnung, wer sich unser Geld eingesteckt hat«, sagte Caroline grimmig, während sie sich die Haare zur Nacht flocht. »Halifax will uns ja wegen des Skandals nicht mal empfangen.«

»Der kann mir gern den Buckel runterrutschen.«

Die Begegnung der Darlington-Schwestern mit dem Erben ihres Großvaters kurz nach ihrer Ankunft in Großbritannien war alles andere als erfreulich verlaufen. Ihre Meinung über den Mann stand fest: Der Marquess of Hallifax war ein aufgeblasener, hohlköpfiger Schnösel.

Caroline seufzte. »Das solltest du lieber für dich behalten. Womöglich werden wir ihm bei irgendeinem Ball begegnen«, sagte sie. »Jetzt etwas Erfreuliches: Anbelles Familie hat uns nach Brentford Hall eingeladen.«

Lady Anbelle Hayes debütierte in diesem Jahr ebenfalls und Tante Amanda war mit ihrer Mutter befreundet. »Dich und Mary?«

»Uns alle. Sie ist wirklich nett, ihr Bruder Samuel auch. Schade, dass er nur ein zweiter Sohn ist. Damit kommt er für Tante Amanda nicht infrage.«

»Woher kennst du ihn?«

»Ich habe beide auf der heutigen Soiree getroffen. Dabei fällt mir ein, deine Patin war auch dort, sie hat mir etwas für dich mitgegeben.«

Tamira nahm das Briefchen entgegen, brach das Siegel auf und las. »Lieber Himmel, Lady Cairnforth will mich zu ihrer Schneiderin mitnehmen.«

»Das ist doch fantastisch.«

»Du wirst es nicht glauben. Morgen früh, schon um elf Uhr. Wann schläft diese Frau bloß?«

»Wie schockierend!« Caroline kicherte. »Dann solltest du nach deinem heutigen Ausflug vielleicht lieber baden und dir von Yalda eine ungeflickte Chemise rauslegen lassen.«

»Ich trage immer ordentliche Wäsche!«

»Ist ja gut. Diese französische Corsetière kommt einem unschicklich nahe, wenn ich das mal so sagen darf.«

Tamira betrachtete die sanften Rundungen ihrer Schwester. »Du hast es gar nicht nötig, dich einschnüren zu lassen, bei deiner Figur.«

Caroline lachte perlend. »Warte ab, bis meine neuen Kleider geliefert werden. Dann wirst du sehen, wie wichtig ein gut sitzendes Schnürmieder ist.«

»Und selbstverständlich ein fabelhaftes Dekolleté.«

»Das auch. Aber nicht zu prächtig, sonst wirkt es ordinär.« Caroline imitierte die helle Stimme ihrer Tante Amanda.

Tamira musste lachen. »Dann bin ich ja auf der sicheren Seite.«

»Du bist wunderschön. Glaub mir das doch endlich.«

»Bloß ein bisschen dunkel«, zitierte Tamira ihre Tante. Die Zeiten mochten sich zum Guten geändert haben, aber das vorherrschende Schönheitsideal war geblieben, und dem entsprach sie nicht.

»Unsinn. Du bist genau richtig. Ich wünschte, ich wäre Mama nicht ganz so ähnlich.«

Ihre Mutter war eine herzliche, liebevolle Frau mit einer großen Leidenschaft für süßes Konfekt gewesen, und es war ihren Töchtern natürlich nicht verborgen geblieben, dass sie kämpfen musste, um ihre Figur zu behalten.

»Mama war die schönste Frau der Welt.« In Tamiras Hals bildete sich ein Kloß. Ein Jahr war es nun fast schon her, und sie konnte immer noch nicht an ihr einstiges Zuhause in Indien zurückdenken, ohne dass ihr Tränen in die Augen stiegen.

Caroline ging es nicht anders, dennoch sagte sie resolut: »Komm jetzt, lass uns schlafen. Morgen wird ein anstrengender Tag.«

»Zumindest für mich. Du musst ja nur Tee trinken und plaudern.«

Ihre Schwester schnaufte. »Stell dir das mal nicht so einfach vor. Außerdem habe ich mich an die seltsamen Zeiten hier in London immer noch nicht gewöhnt. Morgenbesuche nicht vor zwei Uhr am Nachmittag, ich fasse es nicht.«

»Dafür kannst du die ganze Nacht tanzen.«

»Das stimmt auch wieder.« Caroline machte ein paar Tanzschritte und lachte. »Ich liebe es!«

»Reitest du morgen früh mit uns aus?«

»Auf keinen Fall! Und du solltest so was auch nicht tun.«

»Warum? Ich bin keine Debütantin und viel zu alt für den Heiratsmarkt.«

Ein weiteres Argument ihrer Tante Amanda, um in der bevorstehenden Saison die siebzehnjährige Caroline gemeinsam mit ihrer Tochter Mary zu präsentieren. Tamira hatte nichts dagegen. Bei Caroline stimmte alles. Ihre Schwester sah hinreißend aus, und wenn sie lachte, ging die Sonne auf. Das jedenfalls hatte der Vater immer gesagt. Ihre hellen Augen verrieten aufmerksam Beobachtenden, dass sie den zweiten Namen Nimi zu Recht trug, der strahlende Augen bedeutete. Zudem verstand sie sich auf die Kunst der Konversation, war nicht ungebildet und spielte ausgezeichnet Piano. Darüber hinaus verfügte sie über weitere Fähigkeiten, die den Wert einer jungen Lady auf dem Heiratsmarkt erhöhten. Niemals ließ sie etwas von ihrer Intelligenz erkennen, die man bei Frauen allgemein für überflüssig hielt, und selbstverständlich konnte sie mit ruhiger Hand Tee zubereiten, währenddessen nett plaudern und dabei jedem ihrer Gäste vermitteln, wie wichtig er ihr war.

Carolines Umgang mit den Schwestern war durchaus robuster. »Niemand wüsste, wer von uns die Ältere ist, würdest du es nicht allen Leuten auf die Nase binden. Sowieso gelten für dich die gleichen Regeln wie für uns. Eine unverheiratete Frau galoppiert nicht bei Sonnenaufgang durch den Hyde Park, ob es dir passt oder nicht.«

»Dann wünsche ich dir, dass du diesen unerfreulichen Zustand der Ehelosigkeit schnellstmöglich beendest, damit du wieder vernünftig reiten kannst.« Tamira blies die Kerze auf ihrem Nachttisch aus. »Mir ist es egal, was die Leute über mich denken.«

»Irgendwann wirst du heiraten.«

Tamira schüttelte den Kopf. Sie hatte andere Pläne. Den Winter hatten die Schwestern auf dem Landsitz ihres Onkels in Hertfordshire verbracht, wo sie eine Frau kennengelernt hatte, die mit einer einmaligen Beobachtungsgabe gesegnet war. Die Gespräche und nun auch die regelmäßige Korrespondenz mit der humorvollen Lady hatten Tamiras Wunsch, Schriftstellerin zu werden, noch verstärkt. Sie hatte schon immer Tagebuch geschrieben und ihre Familie früher oft mit ihren selbst erfundenen Geschichten unterhalten.

»Sobald ich mein Erbe bekomme, ziehe ich in das Cottage in Sevenoaks, züchte Rosen und schreibe großartige Romane.«

»Du weißt doch nicht mal, wo genau das ist und wie es da aussieht.«

»Ich weiß, dass es im Süden liegt. In der Nähe gibt es eine kleine Stadt, in der man gewiss alles Notwendige bekommen kann. Außerdem ist es gar nicht so weit von London entfernt. Höchstens eine Tagesreise. Wenn du irgendwann verheiratet bist, werde ich dich bestimmt besuchen können.«

Caroline antwortete mit einem Seufzer. Es war nicht das erste Mal, dass sie dieses Gespräch führten. Zunächst jedoch ging es nicht um Tamiras Zukunft, sondern um das bevorstehende Wochenende auf dem Land, und darauf freuten sich alle.

3. Kapitel

Brentford Hall lag an guten Tagen drei bis vier Fahrstunden mit dem Curricle von Mayfair entfernt. Die Reise erforderte mindestens einen Pferdewechsel. Julian hatte deshalb zwei nahezu identische Rappen vorausgeschickt, die das Grauschimmel-Team ablösten, und fuhr nach deutlich kürzerer Zeit am Landsitz vor.

Sein junger Groom, der hinten auf dem zweirädrigen Wagen mitgefahren war, rannte nach vorn, um die Pferde zu halten.

»Reib sie ordentlich trocken und gib ihnen eine Extraportion Hafer«, sagte Julian und sprang vom Kutschbock.

»Schön, Sie zu sehen«, begrüßte er den alten Butler von Brentford Hall, der ihn seit seiner Kindheit kannte.

»Euer Gnaden, es ist immer eine außerordentliche Freude, Euch in Brentford Hall zu begrüßen.« Der Butler verbeugte sich tief und machte eine einladende Geste. »Wenn Ihr mir bitte folgen wollt.«

Als Julian wenig später aus seinem Zimmerfenster blickte, sah er Samuel vorfahren. Der Freund wechselte ebenfalls ein paar Worte mit dem Butler und betrat das Haus. Kurz darauf stürmte er herein, ohne anzuklopfen.

Julian zog seine Taschenuhr hervor. »Drei Stunden und siebzehn Minuten. Nicht übel.«

»Ich hasse dich!« Samuel stellte eine Flasche Brandy auf den Tisch.

Julian entkorkte seinen Wettgewinn und schenkte die goldgelbe Flüssigkeit in zwei Gläser, die auf einer Anrichte bereitstanden. »Cheers! Glückwunsch, das ist deine Bestzeit.«

Sie sprachen über die Fahrt und leerten dabei ein zweites Glas. Dann war es auch schon Zeit, sich für das Abendessen umzukleiden. Für heute war nur eine kleine Runde im Kreis der Familie geplant, die anderen Hausgäste würden morgen anreisen.

Julians Kammerdiener MacAlister kam herein, und Samuel verabschiedete sich. »Wir sehen uns später.«

MacAlister war bereits am Morgen mit dem Gepäck vorausgefahren und legt ihm nun die Abendkleidung heraus. Der ehemalige Dragoner begleitete Julian seit seiner Studienzeit in Cambridge. Die Männer verband nach einem knappen Dutzend Jahren mehr als nur ein Dienstverhältnis.

»Wer sich von einem Mann rasieren lässt, muss ihm vertrauen können«,hatte sein Vater gern gesagt, und Julian teilte seine Ansicht. Er hätte diesem Kammerdiener sein Leben anvertraut und hatte dies auf Reisen das eine oder andere Mal sogar schon getan.

»Ich höre, dass man für morgen eine erstaunliche Anzahl junger Damen erwartet, die demnächst in die Gesellschaft eingeführt werden«, sagte MacAlister und rührte den Rasierschaum an.

»Lady Brentford ist der Auffassung, dass sich die Debütantinnen in entspannter Atmosphäre kennenlernen sollten, bevor sie bei Hofe vorgestellt werden.«

»Womöglich hat Mylady auch einige Gentlemen im Sinn«, sagte MacAlister und setzte das Rasiermesser an.

Julian dachte an die Liste mit geeigneten Kandidatinnen aus gutem Hause, die sie ihm und Samuel schon in London mit allerlei Erklärungen überreicht hatte.

Offenbar wünschte sich Lady Brentford nicht nur, ihre Tochter Anbelle vorteilhaft zu verheiraten, sie hatte auch den Ehrgeiz, eine passende Frau für Julian und ihren Zweitgeborenen zu finden.

 

Der folgende Tag begrüßte ihn mit einem spektakulären Sonnenaufgang über den weitläufigen Gärten, die sich saumlos in die hügelige Landschaft einfügten. Er beschloss, vor dem Frühstück auszureiten.

Der Stallmeister grüßte ihn mit einem freundlichen Zwinkern. »Guten Morgen, Euer Gnaden. Ich habe mir schon gedacht, dass Ihr kommen würdet.«

Julian hatte im letzten Sommer einen vielversprechenden Hengst geritten, den der Mann nun aus seiner Box führte.

»Hannibal sieht prächtig aus. Wie macht er sich?«

»Sagen wir mal so: Er hat seinen eigenen Kopf. Dieses Pferd lernt schnell. Leider auch die weniger erwünschten Dinge.«

Während der Stallmeister einen Sattel herbeitrug, um ihn dem tänzelnden Pferd aufzulegen, zog Julian einen Handschuh aus, damit es seine Witterung aufnehmen konnte. Hannibal schnaubte und drückte ihm das weiche Maul in die Handfläche. Er lachte. »Erinnerst du dich an mich? Erst will ich aber sehen, was du gelernt hast. Danach bekommst du etwas zum Knabbern.«

Das Pferd schien sich auf den gemeinsamen Ausflug zu freuen. Es drängte nach vorn, trabte über den gepflasterten Stallhof, und Julian wurde klar, dass er alle Hände voll zu tun haben würde, die sprudelnde Energie des Tieres zu bändigen. Aus einem gemütlichen Morgenritt würde nichts werden.

Sobald es das Gelände zuließ, erlaubte er dem Hengst einen leichten Galopp zur Auflockerung. Danach trainierte er den Wechsel vom versammelten Galopp in den Trab und ritt schließlich ein paar Schlangenlinien. Damit ließ er es gut sein und gab dem Tier freien Lauf, bis sie die Furt erreichten. Es war offensichtlich, dass Hannibal nicht viel von dem gurgelnden Wasser hielt, das in der Morgensonne wie ein Silberschatz glitzerte. Aber sein Durst war größer als die Angst vor dem fremden Element, und er erinnerte sich offenbar an seinen Reiter und vertraute ihm ausreichend, um sich hineinlenken zu lassen. Am langen Zügel senkte er den Kopf und soff. Als sein Durst gelöscht war, schüttelte er sich und schlug spielerisch mit dem Vorderhuf ins Wasser, dass es hochspritzte und er Julian damit eine Dusche verpasste.

»Genug!«, rief der nach einer Weile lachend. »Ich habe Hunger, wie sieht’s bei dir aus?«

Es waren diese Augenblicke, in denen er die Bürde vergaß, die ihm der Titel und die damit verbundene Verantwortung auferlegt hatten.

Von einem Erstgeborenen erwartete man selbstverständlich, dass er alles tat, um das Familienerbe zu erhalten, und das bestand traditionell aus Ländereien. Hatte ein Sohn aus Adelskreisen keine Aussicht auf ein ererbtes Auskommen, wurde zwar verlangt, dass er auf andere Art für seinen Lebensunterhalt sorgte, die Auswahl an akzeptierten Beschäftigungen war jedoch überschaubar. In den Krieg zu ziehen galt als Ehre, deshalb kauften Väter ihren zweitältesten Söhnen häufig Offizierspatente. Mit etwas Geschick konnte man, wenn auch vorwiegend in den Kolonien, ein Vermögen machen. Die jüngeren waren angehalten, sich der Kirche zu verpflichten, und bei entsprechender Neigung war es auch möglich, nach dem Studium in Oxford oder Cambridge einen angemessenen Beruf auszuüben. Ausgerechnet die einträglichste aller Betätigungen, der Handel, galt jedoch als zu gewöhnlich für einen Mann von adligem Geblüt.

Für Töchter gab es nur eine Zukunft. Sie mussten sich vorteilhaft verheiraten, wenn sie nicht als Gesellschafterin, als Gouvernante oder in noch betrüblicheren Verhältnissen enden wollten. Das erklärte den Ehrgeiz der jungen Ladys, einen angesehenen und nach Möglichkeit zudem wohlhabenden Ehemann zu finden.

Das alles hatte Julian lange Zeit nicht interessiert. Er war selten in England und führte ein unabhängiges Leben, in dem Frauen durchaus eine Rolle spielten – ans Heiraten dachte er nicht. Zu enttäuschend hatte seine einzige Liebe geendet, und wer ihn als Bonvivant beschrieb, mochte oberflächlich betrachtet recht damit haben.

Im letzten Jahr hatte sich Julians Situation nun aber durch das Erbe dramatisch verändert. Als der Duke of Asherton gehörte er dem Hochadel an und besaß selbstverständlich einen Sitz im Oberhaus, der ihm politische Macht verschaffte. Darüber hinaus fiel ihm die Aufgabe zu, das Herzogtum zu verwalten.

Mit einer profanen Tätigkeit ließ sich sein Stand in den Augen anderer Adliger, die im Wesentlichen von den Einkünften aus ihrem Grundbesitz lebten, nicht vereinbaren. Arbeit galt immer noch als gewöhnlich, obwohl dieses Konstrukt, das jahrhundertelang funktioniert hatte, längst ins Schwanken geraten war. Seit einiger Zeit fanden sich im Bürgertum Familien, die sehr viel wohlhabender waren als die qua Geburt herrschende Klasse.

Aus diesem Grund war Julian dankbar, sich weitere Einkunftsquellen erschlossen zu haben, und sah nicht ein, sie in Zukunft zu vernachlässigen. Allerdings hatte er auch nicht vor, außerhalb seines Freundeskreises darüber zu sprechen.

Denn eines war auch für Julian Weston, den siebten Duke of Asherton, oberstes Gebot: Die Ländereien und die Herrenhäuser, die er verwaltete, gehörten nicht ihm. Seine Aufgabe war es, sie für die kommende Generation zu erhalten.

Betrüblicherweise zählte es ebenso zu seinen Verpflichtungen, diese Generation zu zeugen. Nicht, dass der Akt ihm missfallen hätte. Keinesfalls, aber im Grunde seines Herzens träumte Julian davon, eines Tages eine ähnlich glückliche Ehe zu führen, wie er sie bei seinen Eltern kennengelernt hatte. Schlechte Erfahrungen hatten ihn zwar vorsichtig werden lassen, aber er besaß inzwischen genügend Lebenserfahrung, um zu wissen, dass ein Mensch sich in jedem Alter verlieben konnte. Nur würde er darauf nicht warten können.

Zu heiraten war nun seine Pflicht und die Londoner Saison der beste Ort, um eine Debütantin auszuwählen, die seinen Anforderungen genügte. Allzu hoch waren die nicht: Gesund musste sie sein und in der Lage, ihm ein oder besser zwei Söhne zu gebären. Woran er das allerdings erkennen sollte, war ihm ein Rätsel. Man ging für gewöhnlich davon aus, dass eine große Geschwisterschar die Fortpflanzungsfähigkeit in der Familie bewies. Natürlich wäre eine attraktive Gattin begrüßenswert, zwingend erforderlich für die Zeugung war das aber wohl nicht. Sanftmütig und intelligent sowie von einwandfreiem Charakter musste sie allerdings sein, schließlich würde sie ihre Vorzüge an seine Kinder weitergeben. Dass eine künftige Duchess über Manieren und Kenntnisse verfügte, um ihre Aufgaben souverän zu erfüllen, verstand sich von selbst.

Vor ihm lag also ein höchst unerfreulicher Sommer, aber er würde sich seiner Verantwortung wie ein Gentleman stellen. Auch wenn er den Vater als liebevollen und lebensklugen Ratgeber in zwischenmenschlichen Angelegenheiten gerade jetzt enorm vermisste.

Julian nahm die Zügel auf und trieb das Pferd zur Rückkehr an. Je eher er die leidige Aufgabe hinter sich brachte, desto schneller konnte er sich wieder angenehmeren Beschäftigungen widmen.

 

Nach dem Ausritt fühlte er sich erfrischt und hungrig. Der Frühstücksraum war noch leer. Doch als er sich am Büfett ein herzhaftes Frühstück zusammenstellte, kam Samuel herein. Sein Freund wirkte erschöpft, als hätte er nicht geschlafen.

»Schmerzen?«, fragte Julian.

»Es ist auszuhalten.« Samuel legte unauffällig einen Finger auf die Lippen, als Lord Brentford den Raum betrat. »Guten Morgen, Vater.«

»Hallo Jungs, wie geht es euch?« Der Earl setzte sich und nahm den Tee entgegen, den ihm ein Bediensteter reichte. »Das Übliche, Jones«, sagte er und wandte sich Julian zu. »Was hältst du von dem Hengst?«

»Er platzt vor Energie, aber er hat sich bemerkenswert entwickelt.«

»Das will ich meinen.« Brentford war sichtlich stolz. »Ich würde ihn dir verkaufen …«

»Ich denke darüber nach.«

»Sehr gut, Junge.« Diese familiäre Anrede war nicht unüblich. Er kannte Julian seit seinem sechsten Lebensjahr und war wie ein zweiter Vater für ihn.

»Du solltest es dir überlegen«, sagte Samuel lachend. »Es gibt nicht viele, die mit dem Hengst zurechtkommen wie du. Das Biest hat die Neigung, einen unaufmerksamen Mann in den nächsten Graben zu werfen. Aber er hat einen erfahrenen Reiter mit ruhiger Hand verdient.«

Samuel gehörte zu den 19. Dragonern. Eine Truppe exzellenter Reiter, die unter Major-General Arthur Wellesley in Indien gekämpft hatten und nun in England stationiert waren. Er verstand sich ausgezeichnet auf Pferde.

Nach dem Frühstück bat der Earl Julian, ihn zu begleiten, um mit ihm die neueste Ausgabe der Agricultural Review zu diskutieren, und Samuel verabschiedete sich, um nach einer Stute zu sehen, die demnächst fohlen sollte.

Die Bibliothek bestand aus zwei miteinander verbundenen Räumen. Den vorderen Teil dominierte der mächtige Schreibtisch des Earls. Vor dem Kamin stand einer dieser modernen Lesesessel, die mit einem schwenkbaren Tisch ausgestattet waren. Eine ausgeklügelte Technik erlaubte es, die Lehne abzusenken und sich für ein Nickerchen auszustrecken.

»Der ist neu«, sagte Julian und sah sich die Mechanik genauer an.

»Und verdammt unbequem, wenn du mich fragst.« Der Earl lachte dröhnend. »Aber die Countess wollte ihn unbedingt kaufen.« Unvermittelt wechselte er das Thema. »Wie geht es meinem Sohn?«, fragte Brentford und bot Julian einen Platz an.

»Gut, schätze ich. Er hat Schmerzen. Wir können froh sein, dass er lebt.«

»Das weiß ich. Und ich weiß auch, dass er dieses teuflische Kraut raucht.«

»Besser als Laudanum ist es allemal.«

»Das behauptet er auch, und dass es ihm hilft, die Schmerzen zu ertragen. Ich wünschte, man könnte irgendetwas tun …«

»Wenn Sie mich fragen, dann würde ich sagen, er braucht eine Aufgabe. Wer weiß, wie lange sein Regiment in England stationiert ist. Samuel langweilt sich.«

Der Earl sah ihn nachdenklich an. »Ich habe ein Landgut nördlich von Edinburgh. Wenn er bloß heiraten würde, dann könnte er es übernehmen.«

»Warum nicht schon jetzt?«

»Es gehört zum Erbe seiner Mutter und ist an gewisse Bedingungen geknüpft.« Der Earl stand auf und ging zum Schreibtisch. »Aber es ist fruchtbares Land, und er hätte genügend Platz, seine Pferdeleidenschaft auszuleben. Diesen verrückten Hengst habe ich doch nur für ihn gekauft.«

»Ich weiß. Deshalb will ich ihn ja nicht haben«, sagte Julian leise.

»Aber er treibt sich lieber in London mit Männern wie diesem Lord Byron in fragwürdiger Gesellschaft herum.«

»Bereist Byron nicht derzeit die Peloponnes?« Seine Mutter hatte in einem Brief erwähnt, dass der Dichter ihre Ausgrabungsstätte besichtigt hätte und dem Griechischen sehr zugetan sei.

»Es heißt, er habe genug vom Reisen und würde bald zurückkommen. Von mir aus kann der Mann bleiben, wo der Pfeffer wächst«, entgegnete der Earl.

Julian verkniff sich ein Lächeln und fragte nach der Landwirtschaftszeitung, über die der Earl mit ihm reden wollte. Es dauerte nicht lange, und sie waren in ein intensives Gespräch vertieft, bis draußen Unruhe entstand.

Gemeinsam gingen sie zum Fenster. Eine glänzende neue Kutsche war vorgefahren. Bedienstete eilten herbei und halfen einer fülligen Matrone, gefolgt von fünf jungen Ladys und einem jüngeren Mädchen, heraus.

»Lieber Himmel, wie haben die nur alle Platz darin gefunden?«, fragte Julian.

»Das ist Amanda Clifford, Countess of Abbotsleigh. Eine tragische Geschichte.«

»Die Tochter des Marquess of Hallifax? Was ist mit ihr?«

»Ihre Schwester Lady Josefine Darlington ist mit einem indischen Raja durchgebrannt. Die beiden wurden letztes Jahr von Aufständischen ermordet. Ihr Ältester ist verschollen.«

Julian kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Zwei der Mädchen glichen sich wie ein Ei dem anderen. Ihnen folgten zwei junge Frauen, die eine brünett mit verführerischen Kurven, die andere auch sehr hübsch, wenn man den rosigen englischen Typ mochte. Die vermutlich Jüngste spazierte mit einem Lächeln auf den Lippen davon, bis ihr eine schlanke Lady nachlief, die ihren Hut in der Hand trug und deren zerzauste hochgesteckte Haare wie Rabenschwingen in der Frühlingssonne glänzten. Sie holte das Mädchen ein, sagte etwas zu ihr, und beide lachten.

Julian hätte sie gern genauer betrachtet. Stattdessen drehte er sich um und sagte: »Das sind alles Schönheiten. Wer von ihnen debütiert?«

»Ich bin mir nicht sicher. Die Blonde auf jeden Fall, sie ist Abbotsleighs Tochter, und dann noch die zweitälteste Darlington.«

Nun erinnerte er sich auch wieder an die Namensliste, die er von der Countess bekommen hatte. Abbotsleighs Tochter Mary hatte daraufgestanden und eine Miss Caroline Darlington-Devi.

»Was ist mit der Ältesten?«

»Das musst du meine Frau fragen.« Der Earl zuckte mit den Schultern. »Ach, da kommt George Market, Baron Wellsborough, mit seiner Tochter Susan. Ich wünschte, das Wochenende wäre schon vorüber.«

4. Kapitel

Eine Woche zuvor in London

Die Vorfahren von Bernadette Fourwinds, verwitwete Countess of Cairnforth, waren als Sklaven auf die Inseln unter dem Wind verschleppt worden. Doch nach der Zweiten Glorreichen Revolution wurde Bernadette zur Herrin einer dieser Inseln.

Während die erste, die man auch TheBloodless Revolution nannte, vor über hundert Jahren das parlamentarische System etabliert hatte, wurde die zweite zur Befreiung. Die Aufklärung stellte bereits seit einiger Zeit das herrschende Wertesystem infrage. Das Königshaus, dessen Vertreter seit 1714 selbst Fremde in diesem Land waren, erkannte, wie gefährlich das für den Machtanspruch werden konnte. Nach einer einzigartigen Sitzung mit dem Ober- und Unterhaus wurde beschlossen, dass zukünftig alle Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe gleich zu behandeln seien.

Bernadette Fourwinds machte ein Vermögen, reiste in geschäftlichen Angelegenheiten nach London und heiratete für alle überraschend – wenn nicht sogar für sie selbst – den Earl of Cairnforth. Danach diente sie der Königin zwei Jahre als Kammerfrau, verlor dabei aber niemals ihre geschäftlichen Interessen aus den Augen.

Als Tamira geboren wurde, war Bernadette gerade zu Besuch in Indien. Sie lernte Josefine Darlington, die älteste Tochter des Marquess of Hallifax, kennen und schätzen. Ihre Aufgabe als Patin für deren erste Tochter nahm sie seither sehr ernst, was sich auch darin äußerte, dass sie die Heranwachsende mit einer vortrefflich sortierten Auswahl an Literatur bekannt machte.

Während der schrecklichen Ereignisse befand sie sich mit den Schwestern in einem kleinen Palast am Meer. Vielleicht hatte der Vater geahnt, dass es gefährlich werden konnte, und sie deshalb um ihre Anwesenheit gebeten. Sie sprach nicht darüber, handelte aber entschlossen. Als die fünf Mädchen zu Waisen wurden, zögerte sie nicht, sie unter ihre Fittiche zu nehmen.

Wäre es nach ihr gegangen, hätte Tamira in dieser Saison gemeinsam mit Caroline debütiert. Doch angesichts der finanziellen Lage der Mädchen war beschlossen worden, die aussichtsreichste Kandidatin zuerst zu verheiraten.

Tamira nahm die Entscheidung gelassen. Es stimmte ja, dass ihre jüngere Schwester bildschön war und mit ihren angenehmen Manieren jeden Mann bezaubern konnte. Zudem hatte sie selbst insgeheim andere Pläne für ihre Zukunft.

Ansonsten war sie ihrer Patin außerordentlich dankbar. Nicht nur hatte Lady Cairnforth fünf Waisen auf ihrer Seereise zurück ins Mutterland begleitet und dafür gesorgt, dass sie bei den Abbotsleighs unterkamen, sie hatte es sich offenbar nun auch in den Kopf gesetzt, Tamira mit einer vollständig neuen Garderobe für die Saison auszustatten. Auch wenn sie nicht auf der Suche nach einem Ehemann war, so tanze Tamira doch für ihr Leben gern und freute sich auf die großen Bälle, von denen sie schon so viel gehört hatte.

»Guten Morgen, Kind. Ich hoffe, du hast nicht zu ausgiebig gefrühstückt?«, fragte die Countess zur Begrüßung und musterte Tamira kritisch.

»Nur eine Tasse Tee, Tante Bernadette.« Tamira knickste.

»Dann mal los, wir haben Großes vor.«

Wie Caroline vorausgesagt hatte, war der Besuch bei der Corsetière Sybil alles andere als angenehm, und Tamira atmete erleichtert auf, als sie das elegante Atelier der Französin verließen. Danach legten sie die wenigen Hundert Meter zur Bond Street zu Fuß zurück. Bernadette hielt jede Menge von frischer Luft und nichts davon, kurze Strecken mit dem Wagen zu fahren.

Frisch war die Londoner Luft heute allerdings nicht. Von der Themse wehte ein übler Geruch herüber, und die Straßen waren mit Unrat bedeckt, sodass die zerlumpten Kinder kaum hinterherkamen, die an Kreuzungen Pferdemist und andere Abfälle fortkehrten, damit die Kutschen nicht darin versanken.

Bernadette warf einem von ihnen eine Münze zu, die der Junge geschickt aus der Luft fing und in seiner Jacke verschwinden ließ.

Er zog die Mütze vom Kopf und verbeugte sich tief. »Go’ bless ya. Gott schütze Euch, Mylady!«

Als sie den Schneidersalon betraten, sah sich Tamira möglichst unauffällig um. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Laden so groß sein würde. Im vorderen Teil gab es Sitzgelegenheiten, und Magazine wie La Belle Assemblée und The World of Fashion lagen aus. Hübsche junge Frauen bedienten an zwei langen Tresen elegante Ladys.

»Bonjour, Lady Cairnforth, Mademoiselle. Madame Geneviève wird gleich bei Ihnen sein. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«

Es war ein warmer Tag und sie entschieden sich für Limonade, da erschien schon die Couturière. Mit ausgestreckten Armen kam sie ihnen entgegen.

»Ah, da ’aben wir ja die junge Dame. Charmant, ganz entzückend.« Madame Geneviève musterte sie aufmerksam und Tamira fühlte sich wie ein Insekt unter dem Vergrößerungsglas.

Ihr Tageskleid war schlicht geschnitten und saß nicht besonders gut, obwohl Yalda sich große Mühe gegeben hatte, es passend zu machen. Bis zu diesem Augenblick hatte sie keinen zweiten Gedanken an ihre Garderobe verschwendet, aber auf geradezu unheimliche Weise verstand diese Schneiderin es, ihr das Gefühl zu vermitteln, es gäbe nichts Wichtigeres für sie.

Madame Geneviève, eine Hugenottin, war mit der legendären Rose Bertin befreundet. Die einzigartige Modistin Marie-Antoinettes war während der Revolution aus Paris nach London geflohen, später aber wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Die beiden Frauen, hieß es, pflegten weiterhin engen Kontakt, trotz der Kontinentalsperre und des Krieges zwischen Napoleon und dem Königreich, und tauschten sich über die aktuellen Modetrends aus. Das war einer der Gründe, weshalb die eleganten Damen des Tons hier ihre Ausstattung bestellten – sofern sie es sich leisten konnten.

Doch als die Schneiderin ihnen ihre Stoffvorschläge zeigte, deren Farbpalette von zartem Elfenbein über blasses Rosa bis hin zu luftigem Hellblau reichte, schüttelte Patin Bernadette entschieden den Kopf.

»Das ist mir alles zu gewöhnlich. Für die sommerlichen Tageskleider nehmen wir helle Stoffe. Aber ihre Abend- und Ballkleider möchte ich in kräftigen Farben sehen. Ich denke da an die rote Seide, die ich von meiner letzten Reise mitgebracht habe.«

Ein breites Lächeln erhellte das Gesicht der Französin. »Très bien, dann habe ich genau das Richtige. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?« Damit trippelte sie in einen privaten Salon und schickte ihre Schneiderinnen los, die Stoffballen um Stoffballen herbeischleppten. Ein junges Mädchen kam herein, sie trug ein Maßband bei sich und half Tamira dabei, ihr Kleid auszuziehen.

Die Modistin umrundete sie und zog an der bislang bequem sitzenden Schnürung ihres Korsetts. »Hier müssen wir korrigieren.«

Tamira keuchte. »Das ist zu eng!«

Bernadette, Lady Cairnforth, winkte ab. »Du gewöhnst dich dran. Diese modernen Lappen sind nichts gegen das, was in meiner Jugend getragen wurde.«

»Das neue Mieder von Sybil wird viel besser sitzen als dieses hier. Sobald es eingetragen ist, schicke ich eine Schneiderin vorbei, die die Kleider anpasst«, erklärte die Französin und fuhr fort: »Miss Darlington-Devi ist für die griechische Mode vortrefflich gewachsen. Nicht zu klein, aber auch nicht zu groß. Sie hat eine tadellose Figur. Etwas dünn vielleicht, da kann man nicht viel korrigieren, aber das brauchen wir auch nicht.« Sie musterte kritisch ihren Bauch. »Sehen Sie hier: Das Verhältnis von der Taille zum Hüftbogen ist vollkommen. Wenn ein Mann das sieht, kann er nur noch an das eine denken …« Sie blinzelte amüsiert.

»Aber unter den Kleidern sieht man doch nichts davon«, wagte Tamira einzuwerfen.

»Täusch dich nicht. Ein Windstoß, heller Sonnenschein und sogar Kerzenlicht – diese Stoffe sind exquisit und sehr, sehr fein gewebt«, sagte die Countess. »Eine Lady sollte sich dessen immer bewusst sein.«

»Absolutement, Ihre Silhouette wird die Gentlemen um den Verstand bringen.«

»Deshalb sind wir hier. Ihre Schwester Caroline hat von allem ein bisschen zu viel, sie kommt nach den Hallifax-Frauen.«

»Ah! Ich erinnere mich an die Marchioness und ihre beiden entzückenden Töchter. Ein Jammer, dass sie …« Die Modistin verstummte, und so blieb es ein Geheimnis, ob sie den frühen Tod von Tamiras Großeltern oder die Mesalliance ihrer Mutter mit einem indischen Prinzen meinte. »Planen Sie eine neue Frisur?«, fragte Madame Geneviève hastig.

»Natürlich nicht«, sagte Lady Cairnforth. »Diese glänzende Pracht ist kostbarer als jedes Diadem.«

Die beiden Frauen sahen sich an und lächelten wissend. So ging es weiter. Sie sprachen über Tamiras Vorzüge, als wäre sie ein Pferd auf dem Markt, dabei würde sie gar nicht heiraten. Wie musste sich Caroline gefühlt haben? Ob ihre Schneiderin und Tante Amanda auch so über sie gesprochen hatten?

Als die beiden Damen anschließend ihr zukünftiges Aussehen diskutierten, hätte sie Luft sein können. Voller Entsetzen sah sie zu, wie die Patin Morgen-, Spazier- und Besuchskleider in Auftrag gab, dazu passend bezogene Sonnenschirme, Hüte und ein Dutzend Abend- und Ballkleider. Mit den Worten »Das Wetter in diesem Land ist schrecklich« bestellte sie einen Mantel und einen Spencer, bevor sie sich ruckartig umdrehte. »Du reitest doch, nicht wahr?«

Tamira, die in einer Modezeitschrift geblättert hatte, nickte überrascht. »Sehr gern sogar.«

»Bist du eine erfahrene Reiterin?«

Sie hob das Kinn und sagte selbstbewusst: »Ich denke schon. Vater besaß eine Zucht arabischer Pferde, die ihresgleichen suchte.« Sie schluckte bei dem Gedanken daran, was mit den wunderbaren Tieren geschehen sein mochte. An das Schicksal ihrer Eltern zu denken, verbot sie sich. Denn sie hätte die Tränen nicht zurückhalten können.

»Schon gut, Kind«, sagte Bernadette ungewohnt weich und wandte sich an die Schneiderin. »Dann nehmen wir also noch zwei Reitkleider. Eines für den Alltag in diesem Grün da«, sie zeigte auf einen Stoffballen. »Das kann meinetwegen etwas bequemer sein. Das andere für den Nachmittag im Hyde Park. Sie wissen schon, was wir da brauchen. Ein bisschen schnittig und ich würde sagen im Husarenstil.«

Als sie den Salon der Modistin endlich verließen, war Tamira allein vom Zuhören vollkommen erschöpft. Was sollte das bloß alles kosten? Sie machte eine Bemerkung in diese Richtung.

Die Countess reagierte beinahe empört. »Du bist mein Patenkind. Glaubst du etwa, ich werfe dich der Londoner Gesellschaft in Lumpen vor?«

»Aber ich debütiere doch gar nicht.«

»Was ich immer noch für einen Fehler halte. Jede Gastgeberin mit Niveau wird dir Einladungen senden, verlass dich darauf. So, und jetzt gehen wir zu Harding und besorgen ein paar Kleinigkeiten, um deinen Auftritt perfekt zu machen.«

Tamira war sprachlos, als sie das elegante Geschäft an der Pall Mall betraten, von dem ihr Caroline bereits vorgeschwärmt hatte. In diesem Kaufhausgab es vom außergewöhnlichen Fächer bis zur zyklamfarbenen Straußenfeder alles, was sich eine Lady für die Saison wünschen konnte. Gewohnt, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, war sie heute zum ersten Mal froh, dass die Patin ihr einige davon abnahm und zügig bestimmte, welche Schuhe, Handtaschen, Hüte und Leibwäsche benötigt wurden.

 

Die Straßen Londons waren laut, voller unhöflicher Leute, die einen anrempelten, und man musste auch hier im feinen Mayfair auf sein Réticule aufpassen.

Menschen, die sich in den Straßen drängten, dreiste Taschendiebe, die Armut, das alles kannte sie aus Indien. Aber die schiere Anzahl an elegant gekleideten Ladys, Gentlemen und Dandys, die Geschäfte mit den Galanteriewaren und der bezaubernden Mode waren überwältigend. Sie fühlte sich wie ein Mädchen vom Lande, das zum ersten Mal in der Stadt war und aus dem Staunen nicht herauskam.

Dabei hatte es in ihrem Elternhaus unnachahmlichen Prunk, die edelsten Brokate und Seiden sowie kostbare Juwelen gegeben. Sie waren in einem weitläufigen Palast aufgewachsen, mit mehr Personal, als sie beim Namen nennen konnte, edlen Pferden und bezaubernd zärtlichen Elefanten. In England war nicht nur das Wetter feindseliger, ihr erschienen auch die Menschen weniger herzlich. Der Takt der Stadt, der Hunger nach Amüsement, der in der Luft lag, und die nervöse Geschäftigkeit, die überall zu spüren war, verunsicherten sie. Allein schon deshalb freute sie sich auf das Wochenende in Brentford Hall.

Damit Tamira einen Teil der Ausstattung dorthin mitnehmen konnte, hatte ihre Patin zusätzlich vorgefertigte Kleider bestellt, die sich für eine Landpartie eigneten, und so stapelte sich am Tag vor der Abreise ein bleicher Regenbogen aus zarten Stoffen auf ihrer Truhe. Zu ihrer Überraschung passten die Kleider ausgezeichnet, und Tante Amanda, die nicht ahnte, welche Ballgarderobe Lady Cairnforth und die Modistin sich ausgedacht hatten, zeigte sich hocherfreut über Tamiras Ausstattung, die Lord Abbotsleigh keinen Cent kosten würde.

 

Zu siebt hatten sie sich mittags in die Kutsche quetschen müssen. Die Fahrt aufs Land war entsprechend ungemütlich gewesen. Tamira durfte sich die Bank in Fahrtrichtung mit ihrer etwas fülligen Tante und ihrer jüngsten Schwester teilen, während die anderen Darlingtons und Cousine Mary sich gegenüber zusammendrängten.

Die Luft war kühl, aber angenehm klar, als sie endlich aussteigen konnten. Sie atmete erleichtert auf, bevor sie Anila hinterherlaufen musste, die wortlos davonspaziert war.

5. Kapitel

Die Einladung auf den Landsitz des Earl of Brentford war ein unerwarteter Glücksfall, den sie zu nutzen gedachte. Lord Samuel Hayes, der jüngere Sohn des Earls, hatte ebenfalls zu den Gästen ihrer Eltern gehört, als der Pakshee Baagh verschwunden war. Es war allgemein bekannt, dass sich diese außergewöhnlich filigran gearbeitete und juwelengeschmückte Spieluhr schon lange im Besitz ihrer Familie befand.

Natürlich war es nicht möglich, bei allen Verdächtigen jeden einzelnen Raum zu durchsuchen, aber sie war sich ganz sicher, die Anwesenheit des Pakshee Baagh fühlen zu können, sobald er sich in der Nähe befand. In der Residenz von Lord Wellsborough hatte sie etwas schwer zu Beschreibendes wahrgenommen, aber leider keine Zeit gehabt, der Sache nachzugehen, weil er überraschend früh nach Hause gekommen war.

Dieses merkwürdige Gefühl war am ehesten mit dem dezenten Duft eines edlen Parfüms vergleichbar, der noch in einem Raum schwebte, obwohl die Trägerin ihn längst verlassen hatte. Als würden die gestohlenen Kostbarkeiten eine Spur hinterlassen. Was immer sie gefühlt haben mochte, es war ihr vertraut gewesen und gleichzeitig fremd in dieser großen Stadt.

Bislang fühlte sie allerdings nur ihre Knochen von der holprigen Fahrt und eine wachsende Aufregung. Es war kein Geheimnis, dass Lady Brentford ausgewählte Debütantinnen eingeladen hatte, um sie miteinander bekannt zu machen. Schließlich war sie eng mit Tante Amanda befreundet.

Tamira wusste, dass auch einige heiratswillige Gentlemen eingeladen waren, und für morgen hatte die Countess einen Tanzabend geplant. Zum besseren Kennenlernen und als eine letzte Generalprobe für die großen Bälle der Saison.

Yalda erwartete sie in ihrem Zimmer, um ihr zu helfen, das Reisekleid auszuziehen und sich frisch zu machen.

»Ihre Frisur sieht schrecklich aus, Miss Darlington-Devi. Wo haben Sie bloß den neuen Hut gelassen?«

Als sie zugab, sich nicht erinnern zu können, war nicht zu übersehen, dass die Zofe sich ein Lächeln verkneifen musste.

»Wir finden ihn schon wieder«, sagte sie und machte sich daran, Tamiras Frisur in Ordnung zu bringen. Das Problem war, dass ihr die Haare glatt und schwer über den Rücken bis zur Hüfte flossen und jegliche Knoten und Wellen die Tendenz hatten, sich nach einer Weile einfach aufzulösen. Zu Hause in Indien hatte sie ihre Mähne meist nur mit einem Band zusammengefasst oder geflochten und, von einem zarten Schleier bedeckt, zu traditioneller Kleidung getragen. Obwohl die englischen Frisuren ihr nach einer Weile Kopfschmerzen bereiteten, war sie nicht willens, sich von der Pracht zu trennen. Nicht aus den Gründen, die Tante Bernadette angeführt hatte. Sie fand sich nur einfach viel schöner damit.

Yalda schloss den letzten Knopf an Tamiras Nachmittagskleid, als die Tür aufflog, die Zwillinge hereinstürmten – und abrupt stehen blieben.

»Teufel noch eins. Unsere Schwester wirkt in ihren neuen Kleidern wie eine echte Lady. Findest du nicht?«, fragte Georgiana und betrachtete Tamira staunend.

»Nur, wenn man ihr nicht in die Augen sieht«, bemerkte Henrietta amüsiert und warf sich mit ihrem Zeichenblock in der Hand aufs Bett. »Innendrin ist sie die Alte geblieben.«

»Das will ich meinen«, sagte Tamira und bedankte sich bei Yalda, die mit einem Lächeln auf den Lippen hinausging. Sie wusste, dass die Mädchen nun lieber unter sich sein würden.

Tamira erkundigte sich nach der jüngsten Schwester.

»Anila ist mit der Gouvernante im Blumengarten«, sagten die Zwillinge gleichzeitig und kicherten. Das passierte ihnen oft. Häufig ergänzte eine den Satz der anderen, was auf Fremde irritierend wirken konnte. Ihre Tante Amanda brachte es jedes Mal aus dem Konzept. Ihre Schwestern hatten sich längst daran gewöhnt.

Tamira lächelte. »Das hätte ich mir ja denken können, den Garten hat sie von der Kutsche aus entdeckt und war kaum zu halten.«

Jede der Darlington-Schwestern hatte bestimmte Vorlieben. Anila, die jüngste, liebte Pflanzen, und die waren auch beinahe die einzigen Lebewesen, mit denen sie sprach. Manchmal sagte sie unvermittelt seltsame Dinge, die die anderen Mädchen nicht immer verstanden, vom Rest der Familie ganz zu schweigen, aber die meiste Zeit schien sie in ihrer eigenen Welt zu leben.

Georgiana sagte: »Caroline und Mary machen mit Tante Amanda und Lady Anbelle Brentford einen Spaziergang durch den Lustgarten. Miss Susan Market hat sich entschuldigen lassen, die Arme leidet unter Kopfschmerzen.« Sie machte eine theatralische Geste und ihre Schwestern lachten.

Henrietta setzte sich auf. »Was meint ihr, ist der Pakshee Baagh hier im Haus versteckt?«

Tamira zuckte mit den Schultern. »Ich werde versuchen, es herauszufinden, aber wenn du mich fragst, hat ihn dieser Baron Wellsborough gestohlen.«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich kann es nicht sagen, einfach ein Gefühl.«

»Dann streichen wir Lord Samuel von der Liste?«

»Natürlich nicht, wir müssen nur sehr vorsichtig sein, wenn wir uns hier umsehen wollen. Und Caroline sollten wir lieber auch nichts davon sagen. Sie hätte bestimmt etwas dagegen.«

»Ich habe ihn gezeichnet.« Henrietta zog ihr Skizzenbuch hervor.

»Oh! Er sieht so lebendig aus. Du bist eine fabelhafte Künstlerin.«

Der Pakshee Baagh – was so viel hieß wie Vogel-Tiger – wurde in einer Schatulle aus Ebenholz aufbewahrt, die mit Perlmutt-Intarsien verziert war. Zusammen mit kleinen Jadeschnitzereien war er während einer Festlichkeit aus dem Palast der Eltern gestohlen worden.

Henrietta hatte das Kästchen gezeichnet, auf der ein handtellergroßer Tiger lauerte, als wollte er im nächsten Augenblick aus dem Bild springen. Nicht die fein gearbeiteten und kostbaren Verzierungen aus Gold und Edelsteinen, die ihn nahezu lebensecht wirken ließen, waren daran das Besondere. Einzigartig war, was ihm innewohnte.

Um das Wunder mit eigenen Augen zu sehen, musste man etwas tun, das bei einem lebendigen Tiger lebensgefährlich gewesen wäre: Man zog an seinem Schwanz. Wenn er gleichzeitig ein wenig gedreht wurde, erschien wie aus dem Nichts ein schillernd buntes Vögelchen mit echten Federn auf seiner Raubkatzennase. Das winzige Tier tanzte und zwitscherte ein Lied, bis es am Ende vom Tiger verschluckt wurde.

Dieses unvergleichliche Kunstwerk befand sich seit langer Zeit im Besitz der Familie ihres Vaters und war viel älter als die viel bewunderten schweizerischen Spieluhren, die sich ebenfalls gern des Vogelmotivs bedienten und in den Adelshäusern Europas äußerst beliebt waren.

Doch der Pakshee Baagh konnte noch mehr. Sein Geheimnis offenbarte sich allerdings nicht jedem und war etwas, worüber man nur im Geheimen sprach. Seit der Flucht aus Indien vermieden die Schwestern das Thema – aber sie waren sich einig, dass die einzige Erinnerung an ihre geliebten Eltern nicht in den Händen eines Diebes bleiben durfte.

Henrietta klappte das Skizzenbuch wieder zu. »Damit wir nie vergessen, woher wir kommen.«

In schweigendem Einverständnis fassten sie sich an den Händen, bis Georgiana sagte: »Kommt, lasst uns Anila suchen. Die Sonne scheint und wir sind in England. Wer weiß, wie lange das freundliche Wetter anhält.«

Der stille Moment war vorüber und die drei liefen durch das große Haus, die Treppen hinunter und hinaus in den Garten. Ihre Musselinkleider blähten sich dabei wie weiße Segel.

6. Kapitel

Der Kammerdiener bürstete ein letztes Mal über Julians Schultern, trat zurück und sagte zufrieden: »Vorzüglich, dieser neue Frac à l’anglaise aus der Conduit Street, Euer Gnaden.«

»Danke, MacAlister.« Er wandte sich um, als es klopfte. »Ja, bitte?«

Samuel kam herein. In der Hand trug er seine Pfeife. »Ich hätte große Lust, nach London zurückzufahren.«

»Wir haben Neumond. Willst du deine Pferde ruinieren?«

»Natürlich nicht.« Er schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Meine Mutter hat Bellbury eingeladen.«

»Ach, ja? Kann er seine Rechnungen nicht bezahlen?«

»Schon lange nicht mehr. Langsam wird es eng für ihn, deshalb hat er sich durchgerungen zu heiraten. Das Problem ist: Wir hatten letzten Sommer eine kurze Affaire. Und du weißt, dass er die Klappe nicht halten kann.«

Samuel war in seiner sexuellen Orientierung äußerst aufgeschlossen und lehnte es ab, sich festzulegen. Obwohl er seit geraumer Zeit eine russische Seiltänzerin aushielt, besuchte er einschlägige Molly-Etablissements – das waren Public Houses, in denen Gleichgesinnte verkehrten –, zuweilen begleitete ihn seine Geliebte.

Julian zog eine Augenbraue hoch. »Bellbury braucht eine wohlhabende Erbin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er alles aufs Spiel setzt, indem er dich outet.«

Bedrückt sah ihn Samuel an. »Das weiß ich eben nicht. Wir hatten Streit, aber er ist … recht anhänglich.«

»Wie unerquicklich.«

Er verkniff sich die Frage, weshalb sich sein Freund ausgerechnet mit der größten Klatschbase der Stadt eingelassen hatte. Die Liebe war wie ein wilder Vogel. Sie ließ sich nieder, wo es ihr gefiel.

»Lästig kann man auch sagen. Gleichwohl machen mir diese braven Mädchen und ihre Mütter mindestens ebenso große Angst.« Samuel zog die Liste aus der Tasche. »Sieh dir das an: Lady Fiona Gordon, die Enkelin des Duke of Glamorgan. Sie verspätete sich, die Kutsche hatte einen Achsbruch. Die Darlington-Devis sind gleich zu fünft angereist: ein seltsames Mädchen, eine nachgerade perfekte Debütantin, unbekümmerte Zwillinge und eine Schönheit, die offenbar nicht auf dem Markt ist. Ich wette mit dir, wer sich mit einer einlässt, hat die anderen Schwestern ebenso am Hals. Ihre Tante Amanda, Lady Abbotsleigh, hätte nichts dagegen, sie alle schnell loszuwerden.«

»Sagt das deine Mutter? Ich dachte, sie wären befreundet.«

»Das sind sie, aber es ist verständlich. So ein Debüt auszurichten, kostet ein Vermögen, und viele Familien legen über die Jahre Geld dafür zurück. Die Abbotsleighs müssen fünf zusätzliche Debütantinnen ausstatten. Der Earl ist zwar nicht unvermögend, aber das ist eine gewaltige Belastung, mein Vater stöhnt auch schon. Mutter besteht darauf, dass Anbelle mindestens sechs Ballkleider bekommt.«

»Lieber Himmel!«

»Aber sie machen es gern. Er ist so stolz auf meine kleine Schwester.«

»Das kann er auch sein, auf alle seine Kinder.«

Ein Schatten fiel über Samuels Gesicht.

»Wen haben wir noch?«, fragte Julian rasch. »Ich muss gestehen, ich habe mir diese Liste nicht genau angesehen.«

»Warte, da ist noch Abbotsleighs Tochter Mary, sie ist mit Anbelle befreundet, und ein paar andere junge Ladys mit eindrucksvollen Familien und obendrein unser schrecklicher Nachbar Wellsborough mit seiner Tochter.«

Julian mochte den neureichen und hochfahrenden Baron auch nicht, dennoch fragte er: »Was ist denn so schrecklich an Wellsborough?«

»Weißt du das nicht? Er war für die Ostindien-Kompanie tätig und ganz wesentlich für die Hungersnot in Bengalen verantwortlich.«

»Das ist der George Market? Lieber Himmel!«

»Allerdings.«

Die Ostindien-Kompanie hatte bei ihrem Aufstieg zur größten Handelsmacht des Planeten viel Elend verursacht. Über Bengalen wusste Julian nur, dass es damals Missernten gegeben hatte. Das war im Grunde nichts Ungewöhnliches, aber die Kompanie hatte die Steuern auf Landbesitz weiter angehoben und mit dem Anbau von Schlafmohn und Indigo sowie dem Verbot, Reisreserven anzulegen, dafür gesorgt, dass fast ein Drittel der Menschen verhungert und ganze Landstriche entvölkert worden waren. Bis heute gab es in der Region immer wieder Probleme mit Aufständischen.

Er pflichtete Samuel bei und fragte: »Ist Briseham schon da?«

Richard, Viscount Briseham, kannten sie beide aus Eton. Er hatte den Titel von seinem verstorbenen Vater übernommen und sich seither rar gemacht. Julian vermutete, dass es seinem Freund nicht anders ergangen war als ihm selbst. So ein Erbe brachte nicht nur Ehre, sondern vor allem viel Arbeit mit sich.

»Briseham kommt erst morgen, der Glückliche.« Samuel klopfte seine Pfeife aus und zog die Uhr aus der Tasche. »Wir müssen uns beeilen.«

Es war üblich, dass sich eine Abendgesellschaft mindestens eine Viertelstunde vor dem Essen im Salon einfand, um sich miteinander bekannt zu machen und später gemeinsam ins Speisezimmer zu wechseln. Als Julian mit Samuel den Raum betrat, waren sie vermutlich die letzten Abendgäste, die noch fehlten. Die Gespräche verstummten kurz, doch als Lady Brentford mit ausgestreckten Armen auf ihn zueilte, stieg der Geräuschpegel wieder an.

»Da seid Ihr ja endlich, Euer Gnaden«, sagte sie spitz und fuhr dann freundlicher fort: »Du darfst heute Abend Lady Mary Clifford, die Tochter des Earl of Abbotsleigh, zu Tisch führen.«

Er machte eine formvollendete Verbeugung. »Es ist mir ein Vergnügen. Wenn du mir dann noch bitte sagen könntest, wie die Unglückliche aussieht?« Leise raunte er ihr zu: »Sie sehen alle gleich aus, findest du nicht?«

Lady Brentford senkte die Stimme. »Du unmöglicher Mensch! Sie steht dort drüben zusammen mit ihren Cousinen, den Darlingtons. Ich stelle dich vor.«

Julian schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln und folgte ihr durch den Salon zu der Gruppe junger Damen.

»Lady Mary Clifford, darf ich Ihnen den Duke of Asherton vorstellen? Er wird heute Ihr Tischherr sein.«

Julian verbeugte sich vor der hübschen, aber nicht weiter bemerkenswerten Lady Mary. »Es ist mir ein Vergnügen.«

»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite«, sagte sie, knickste und errötete leicht.

Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sich die anderen Mädchen ansahen.

Das Spiel hatte begonnen. Er mochte die Suche nach einer Frau schnell hinter sich bringen wollen, doch wenn es dieses Jahr nicht klappte, wäre das zwar unerfreulich, aber zu verschmerzen. Die Töchter angesehener Familien dagegen, die in dieser Saison debütierten, standen unter einem weit größeren Erfolgsdruck. Ihre Eltern erwarteten, dass sie sich zumindest größte Mühe gaben, sich standesgemäß zu verheiraten. Eine junge Frau, die in der ersten Saison einen Gatten fand, galt als Erfolg, und den wünschten sich wohl alle Mütter.

Beim ersten Gang unterhielt er sich mit seiner Tischdame, wie es von ihm verlangt wurde. Miss Mary war ein nettes Mädchen. Gut erzogen und in der Lage, zusammenhängende Sätze zu sprechen, ohne ständig zu erröten. Als Tochter eines Earls würde sie die meisten Fähigkeiten mitbringen, die eine Duchesse brauchte, und Mary schien intelligent genug, um den Rest schnell erlernen zu können.

Er fand heraus, dass sie lieber in der Stadt lebte als auf dem Land, Kinder mochte und in ihrer Freizeit stickte. Pferde fand sie – groß?

Beinahe hätte er gelacht. Es war schnell klar: Lady Mary würde nicht die Duchesse of Asherton werden.

Beim zweiten Gang wandte er sich der jungen Frau zu seiner Linken zu. »Wie gefällt es Ihnen auf dem Land, Miss Caroline?«

»Brentford Hall ist wunderschön.« Sie zögerte einen Augenblick und fügte hinzu: »Ich finde es ein wenig kühl.«

Die Bemerkung wäre mitten im englischen Frühling nicht weiter verwunderlich gewesen, aber sie erlebten derzeit eine Reihe von erstaunlich warmen Tagen, und niemand beschwerte sich über die Temperaturen.

»Sie sind aus Indien angereist?«

»Im letzten Winter, es hat geschneit. Dagegen ist es jetzt allerdings vergleichsweise warm.« Sie lächelte, doch ihre grauen Augen blieben davon unberührt.

»Was ist Ihnen in London als Erstes aufgefallen?«

»Die Enge.« Erschrocken berührte sie die fein geschwungenen Lippen mit den Fingerspitzen. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Es klingt schrecklich undankbar, nicht wahr?«