Das Blutsiegel von Isfadah (Teil 2) - Carola Schierz - E-Book

Das Blutsiegel von Isfadah (Teil 2) E-Book

Carola Schierz

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Beschreibung

Nach dem Überfall auf ihre Familie sind die kleine Fanida und der sechsjährige Ammon auf sich allein gestellt. Sie beschließen, den Männern zu folgen, die Fanidas Mutter verschleppt haben. Auf ihrem Weg nach Isfadah werden die Kinder jedoch voneinander getrennt. Farid lässt seinen Halbbruder Kamir zu einem überragenden Kämpfer ausbilden und befördert ihn schließlich zum Anführer seiner Garde. Dieser wähnt sich am Ziel seiner Wünsche, bis Farid ihm aus purer Selbstsucht sein Leben zerstört. Damit erschafft sich der unrechtmäßige König, ganz eigenhändig, einen seiner größten Feinde. Für alle beginnt ein Verwirrspiel aus Intrigen, Liebe, Lüge und Rache.

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Carola Schierz

Das Blutsiegel von Isfadah (Teil 2)

Die Rückkehr des Erben

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Sina

Farid

Finea

Ammon und Fanida

Kamir

Farid

Sina

Kamir

Sina

Sandor

Sina

Farid

Kamir

Sina

Sandor

Sarah

Farid

Sarah

Kamir

Sarah

Kamir

Sina

Kamir

Sandor und Kossmo

Sina

Ismee

Lester

Lina

Fanida

Kamir

Fanida

Kamir

Ismee

Kamir

Lina

Sandor und Kossmo

Kamir

Lina

Sina

Kamir

Farid

Lina

Kamir

Einige Wochen zuvor …

Ammon

Kamir

Ein paar Monate später ...

Impressum neobooks

Sina

Sina saß in ihren Räumlichkeiten und prüfte die Bevorratungslisten des Tempels. Vergeblich versuchte sie, sich auf die vielen Zahlen vor ihren Augen zu konzentrieren. Sie konnte es wie immer kaum abwarten, endlich ihren abendlichen Gang zur Kontrolle des Blutsiegels anzutreten. Zu groß war ihre Sorge um das Befinden von Finea, dem kleinen Ammon und Lord Arko. Obwohl Farid jegliche Verbindung zum Tempel gelöst hatte, gingen die Wächterinnen weiterhin ihrer wichtigsten Bestimmung nach: Sie wachten über das Wohl der königlichen Familie. Dabei gab es jedoch seit jeher feste Abläufe. Außer Sina waren noch zwei andere Wächterinnen dazu autorisiert, diesen ehrenvollen Gang zu absolvieren, und sie wechselten sich dabei ab. Sina war demzufolge nur jeden dritten Tag an der Reihe. Ihr fiel es unsagbar schwer, nicht häufiger nachzusehen, doch um unnötiges Aufsehen zu vermeiden, hielt sie sich zurück. Heute war es endlich wieder so weit.

Als die Zeit gekommen war, musste sie an sich halten, um nicht zu rennen. Mit klopfendem Herzen trat sie schließlich an das Heiligtum heran. Angespannt nahm sie das erste Fläschchen aus dem Versteck. Mit Ammon war alles in Ordnung. Aufatmend legte sie es zurück und griff nach dem nächsten. Sie zog die Stirn in Falten, als sie sich Fineas Probe ansah. Sie war ziemlich trüb, aber das musste noch nichts Schlimmes bedeuten. Vielleicht war sie einfach nur erkrankt. Sina versuchte zunächst, vom Besten auszugehen.

Doch als sie schließlich Lord Arkos pechschwarze Probe in der Hand hielt, wusste sie, dass etwas Schreckliches passiert war. Der Raum um sie herum begann sich zu drehen und ihr wurde speiübel. Sie musste sich setzen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie hatte Arko kaum gekannt. Darum war ihre Sorge um Finea und den Jungen weitaus größer als ihre Trauer um den Toten.

Sina wurde fast verrückt dabei, alle Varianten durchzugehen, die zu diesem Ergebnis geführt haben konnten. Was war passiert? War Arko vielleicht den Folgen eines Unfalls erlegen? Dann wäre Finea jetzt ganz auf sich gestellt und müsste sich allein um den Jungen kümmern. Dass es ihr dabei nicht besonders gut gehen mochte, wäre nachvollziehbar. Zumindest schien diese Erklärung sehr viel wahrscheinlicher als die schlimmste Version: Ihre Enttarnung. Oder war hier doch eher der Wunsch der Vater des Gedankens?

Irgendwie musste Sina Genaueres herausfinden. Dazu würde sie das Blutsiegel ab sofort doch täglich aufsuchen müssen, um häufiger nach den Proben sehen zu können. Wenn sie weiterhin stabil blieben, bestand die berechtigte Hoffnung, dass zumindest Finea und der Junge wohlauf waren.

Oder sollte sie ihr doch lieber einen Raben senden? Dann könnte ihn Finea mit einer Antwort zu ihr zurückschicken. Doch was, wenn Sinas Nachricht in falsche Hände geriet und sie damit ihre Schützlinge erst recht in Gefahr brachte? Sie hatten damals schließlich nicht ohne Grund vereinbart, dass Sina nur Kontakt zu Arko und Finea aufnehmen durfte, wenn sie die beiden vor einer ernsthaften Bedrohung warnen müsste.

Sie war wohl oder übel gezwungen abzuwarten, und Finea, ihrem klügsten und treuesten Zögling, zu vertrauen. Sie glaubte fest daran, dass die junge Frau durchaus in der Lage war, sich auch allein um Ammons Wohl zu kümmern. Inzwischen war er ja schon sechs Jahre alt und sollte aus dem Gröbsten heraus sein.

Wenn sich das Ergebnis allerdings weiter ins Negative verändern würde, musste sie sich dringend etwas einfallen lassen, um die beiden zu finden. Im Moment hoffte sie nur inständig, dass es nicht schlimmer wurde, als es bereits schon war. Ihre Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Immer neue Szenarien tauchten vor Sinas innerem Auge auf. Keines war befriedigend. Egal, was auch immer geschehen sein mochte, eines stand fest: Die arme Finea musste sich sehr hilflos vorkommen, ohne Lord Arkos männliche Unterstützung.

Die Großpriesterin hoffte, dass die junge Wächterin im Ernstfall selbst einen Weg finden würde, um ihrerseits Kontakt zu ihr aufzunehmen.

Routinemäßig kontrollierte sie noch alle anderen 'offiziellen' Proben. Dabei musste sie sich zum wiederholten Male eingestehen, dass sie bei der von Farid insgeheim auf eine Schwarzfärbung hoffte. Das entsprach absolut nicht ihrem Naturell, doch dieser Mensch schaffte es, auch in ihr dunkle Seiten zu erwecken. Erwartungsgemäß waren jedoch alle in einem tadellosen Zustand.Den Kopf voller Sorgen verließ Sina den geheiligten Ort und begab sich zurück in ihre Gemächer.

Farid

Endlich! Sie hatten die junge Blutwächterin in ihrer Gewalt. Zufrieden legte Farid das Papier mit der erfreulichen Botschaft auf den Tisch und griff nach der Weinkaraffe. Darauf musste getrunken werden! Genüsslich ließ er einen Schluck des guten Tropfens seine Kehle hinunterrinnen und lächelte, als er spürte, wie der Rebensaft seine Magenwände streichelte.

Schon am folgenden Tag wurden die Männer zurückerwartet, welche die rothaarige Hexe nach Isfadah brachten. Arko war tot. - Jetzt wirklich! Das Kind, ob es sich nun um seinen Neffen handelte oder nicht, war in den Flammen der brennenden Hütte umgekommen. Die Männer hatten sie in jener Nacht komplett umstellt und hätten definitiv gesehen, wenn auch nur eine Maus versucht hätte, das Gebäude zu verlassen. Dies bezeugte zumindest der Söldnerführer in seinem Schreiben. Auf den Mann war Verlass! Das hatte er Farid bereits in zahlreichen Situationen bewiesen. Wenn sie zurück wären, würde er sich die ehemalige Wächterin persönlich vornehmen und dazu bringen, ihm alles zu verraten, was sie wusste. Damit konnte er vielleicht gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Farid hasste Sina und ihren Tempel. Sollte die Großpriesterin in irgendeiner Form in diese Sache involviert sein - und das hielt er durchaus für möglich - würde er sie zur Verantwortung ziehen. Dann hätte er auch endlich etwas in der Hand, um sie und ihren elenden Tempel zu zerstören. Doch dazu brauchte er zuvor das Geständnis der Rothaarigen. Sina ohne ausreichende Beweise verhaften zu lassen, wäre, aufgrund ihres hohen Ansehens im Volk, nicht klug. Doch er sollte dieses Geständnis ganz sicher bekommen, dafür würde sein Folterknecht schon sorgen ... Farid wollte es genießen, dabei zuzusehen. Schon bei der Vorstellung schoss ihm das Blut in die Lenden ... Am Ende wartete unweigerlich das Schafott auf die schönen Wächterinnen. Auf beide! Sie würden, wegen Ausübung schwarzer Magie und Beihilfe zur Flucht, zum Tode verurteilt werden. Dafür müsste er allerdings öffentlich machen, dass sie Arko geholfen und damit Farid an der Nase herumgeführt hatten. Da diese Peinlichkeit von seinen Männern inzwischen jedoch erfolgreich bereinigt worden war, blieb der Schaden begrenzt. So wäre er mit einem Schlag alle Beteiligten an der Verschwörung gegen ihn los.

Die Sache mit dem vermeintlichen Kindertausch würde er nur im Stillen verfolgen. Es war eh nur eine vage Vermutung und wahrscheinlich vollkommen unbegründet. Der Knabe konnte ihm so oder so nicht mehr schaden und es würde nur schlafende Hunde wecken – und Ismee verwirren.

Wieder schlich sich ein überlegenes Lächeln auf seine Züge. Beschwingt, durch die positive Entwicklung in dieser Angelegenheit, beschloss er, Ismee in ihren Gemächern aufzusuchen.

Ein wenig Plauderei und ein anschließendes Schäferstündchen mit der Frau seiner Träume würden diesen Tag zu einem perfekten werden lassen.

Er fand sie auf ihrem Balkon. Sie trank, wie fast jeden Abend, Wein. Er interpretierte das so, dass sie ihr Leben an seiner Seite jetzt doch zu genießen verstand. Sie erfüllte Farids Bedürfnisse in jeglicher Hinsicht. Sie führte ausgedehnte Unterhaltungen mit ihm, trat in der Öffentlichkeit an seiner Seite vorbildlich auf und teilte bereitwillig mit ihm das Bett. Zwar wurde Farid des Öfteren auf Ismees Gesundheitszustand angesprochen, tat ihre Blässe aber mit einem ihr angeborenen hellen Teint ab. Sie unterstrich ihre zarte Eleganz und Farid fand das eher reizvoll als besorgniserregend. Zumal Ismee ihm immer versicherte, dass es ihr an nichts fehle.

„Farid, wie schön, dass du noch vorbeischaust!“, sagte sie leise und er übersah absichtlich die kleine Falte zwischen ihren Brauen, die dort für kurze Zeit erschienen war und ihre Worte Lügen strafte.

„Ich hatte Sehnsucht nach meiner schönen Gemahlin“, erwiderte er seinerseits wahrheitsgemäß. Er trat zu ihr und küsste ihre Hand. Als er mit seinen Lippen ihren Nacken berührte, bildete sich dort sofort eine Gänsehaut, die er als Bestätigung seiner Anziehungskraft auf sie wahrnahm. Zufrieden setzte er sich zu ihr.

„Möchtest du auch ein Glas Wein?“, fragte sie beflissen.

Er lehnte sich entspannt zurück. „Wie könnte ich die Einladung einer so schönen Frau ablehnen? Vielleicht lassen wir das als gemeinsamen Schlummertrunk gelten, denn ich habe nicht vor, dich danach wieder zu verlassen. In dieser Nacht möchte ich dich mit allen Künsten der Liebe verführen.“

Sie lächelte, schwieg jedoch und nickte nur zustimmend.

'Ja, sie freut sich ebenfalls darauf' , ging es ihm durch den Kopf. 'Sie ist nur von zu edler Natur, um über diese Dinge zu sprechen.'

Gemeinsam unterhielten sie sich über die kleinen Unwichtigkeiten des Alltags. Neben dem aktuellen Hofklatsch kamen auch Linas Probleme mit dem Hoflehrer zur Sprache, von dem sie seit Kurzem in allen wichtigen Dingen unterrichtet wurde.

Die Kleine war ein wahrer Wildfang. Immer fröhlich, aber auch schwer zu bändigen. Sie hatte einen ausgesprochenen Dickkopf. Der Lehrer hatte seine liebe Not mit ihr. Sie gehorchte ihm oft nicht und konzentrierte sich nicht gern auf Dinge, die zwar wichtig, aber in ihren Augen einfach zu langweilig waren. Mit ihrer ehrlichen, frischen und manchmal etwas frechen Art, brachte sie Leben ins Schloss. Ihr Faible für Kamir war noch immer nicht verschwunden. Er musste mittlerweile recht oft mit ihr und ihren Kuscheltieren die Teestunde verbringen. Es war für jeden Beobachter amüsant zuzusehen, wie Lina jede junge Dame an Kamirs Seite mit bösen Blicken durchbohrte. Und fast immer gelang es ihr, ihren großen Freund unter einem Vorwand von diesen Damen fortzulocken. Kamir konnte ihrem flehenden Blick einfach nicht widerstehen und ließ die ein oder andere Verehrerin frustriert zurück. Und gelegentlich krönte Lina ihren Sieg, indem sie der Verliererin noch unauffällig die Zunge herausstrecke. Natürlich wagte niemand, die Prinzessin in ihre Schranken zu weisen. Unter den strengen Augen ihrer Mutter vermied das Mädchen wohlweislich derartige Entgleisungen.

Als Farid, seiner Meinung nach, genug mit Ismee geredet und auch getrunken hatte, führte er seine Frau zum Bett. Er setzte sich, während sie auf seinen Wunsch hin ihre Kleider ablegte. Sofort reagierte seine Männlichkeit aufs Heftigste und er erhob sich. Langsam umkreiste er die nackte Ismee und entledigte sich langsam seiner eigenen Sachen. Genießerisch fuhr er mit seinen Fingern über die weiblichen Rundungen ihres Körpers. Ihre Brustwarzen reagierten auf seine Berührung und formten sich zu harten Knospen. Er küsste ihren Nacken und massierte mit den Händen gleichzeitig ihre Brüste. Dann zog er sie zum Bett und legte sich so, dass sie rittlings auf ihm Platz nehmen konnte. Sie hielt ihre Augen geschlossen, während sie ihn tief in sich einließ und ihren sündigen Rhythmus aufnahm. Kurz bevor er zu kommen drohte, warf er sie auf den Rücken und führte die letzten Stöße in der ihm gebührenden überlegenen Position aus. Stöhnend gab er seinen Samen frei, der bisher leider noch immer nicht auf fruchtbaren Boden gefallen war.

Als sie später nebeneinander lagen, hatte Ismee ihm ihre schöne Kehrseite zugewandt. Farid betrachtete sie ausgiebig. Er konnte ihr keinen Vorwurf im Bezug auf die Kinderlosigkeit ihrer Ehe machen. Zum einen hatte sie schon ein Kind bekommen und war damit nachweislich nicht der Grund dafür, zum anderen hatte das Blutsiegel ihnen genau dies prophezeit.

Seine Mutter hörte jedoch überhaupt nicht mehr damit auf, ihn diesbezüglich zu bedrängen. Langsam musste er wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und eine der Hofdamen schwängern. Um einen Thronerben zu zeugen, konnte er nicht einfach eine dahergelaufene Magd packen und solange beschlafen, bis sie ein Kind empfing. Seine Mutter war schon emsig dabei, die Damen bei Hofe nach Gesundheit, Intelligenz und Schönheit einzustufen. Wenn Farid dann eine Wahl getroffen hätte, müssten Verhandlungen mit der Familie der Auserwählten aufgenommen werden. Die Position als offizielle Mätresse des Königs wäre nicht die schlechteste. Und als Mutter des Thronerben hätten sowohl die junge Frau als auch deren Familie für den Rest ihres Lebens ausgesorgt.

Er empfand die Vorstellung lästig. Denn anders als jene Frauen, die ihn ab und zu seine 'anderen' sexuellen Gelüste stillten, müsste er diese umwerben und ihr sein Interesse heucheln. Es widerte ihn jetzt schon an. Nach wie vor war Ismee die einzige Frau im Universum, die es schaffte, sein Herz zu berühren. Wenn er mit ihr das Bett teilte, war er nahezu wunschlos glücklich. Sie brachte das Monster in ihm zum Schweigen. Er griff mit einer Hand in ihr weiches Haar und schlief so ein.

Am nächsten Morgen warteten dringende Staatsgeschäfte auf ihn, darum verabschiedete er sich widerwillig in aller Frühe von seiner Gemahlin.

Er bekam nicht mit, was geschah, als er den Raum verlassen hatte. Wie jedes Mal, nach einer Nacht mit Farid, sprang Ismee aus dem Bett, sobald sich seine Schritte entfernt hatten. Dann rief sie nach der Magd und befahl ihr, ein heißes Bad herzurichten. Sie eilte zum Schrank und spülte mit Branntwein mehrere Male den Mund aus. Dabei vermied sie es, in den Spiegel zu sehen. Erst nach dem Bad hatte sie weniger das Gefühl, eine schmutzige Hure zu sein …

Finea

Die Zeit im Kerker verging nur langsam. Es war kalt hier und roch muffig. Finea war dennoch froh, dass die beschwerliche Reise vorüber war. Man hatte sie verkehrt herum auf ein Pferd gesetzt und ihr die Hände auf den Rücken gefesselt. So kam der Trupp schneller voran als mit einem Wagen und sie hatte trotzdem keine Chance zu fliehen. Nicht nur einmal war Finea fast vom Pferd gefallen.

Doch das alles war nichts gegen den seelischen Schmerz, den sie gewaltsam zu unterdrücken versuchte. Arko und die Kleinen waren tot. Sie hatte eindeutig die Schreie beider Kinder gehört und Fanida sogar als Schatten am Fenster gesehen. Kurz darauf war der Dachstuhl eingestürzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch lebend aus dem Haus herausgekommen waren, ging gegen null. Würde sie sich jedoch gänzlich ihrer Trauer hingeben, hätte sie ihrem Leben bereits ein Ende gesetzt. Das Mittel dazu, die tödlichen Beeren der Maruccapflanze, hatte sie schon seit Langem in ihrem Ärmelsaum eingearbeitet. Diese Vorsichtsmaßnahme traf sie, nachdem der Stadtvater von Limera ihr Wächterinnenmal entdeckt und sie vor Sorge kein Auge mehr zubekommen hatte. Ein bis zwei davon würden ausreichen, um eine Frau von ihrer Statur in den schnellen und sicheren Tod zu schicken. Doch sie hoffte, zuvor noch einmal Sina sehen zu können. Finea wusste: Sobald ihre Meisterin davon erfuhr, dass sie hier war, würde diese versuchen, zu ihr in den Kerker zu gelangen.

Etwas später vernahm sie Schritte und das Geräusch eines Schlüssels im Schoss des Gitters. Ein Mann betrat die Zelle und brachte ihr einen Krug Wasser und etwas Brot. Als er schon wieder gehen wollte, erkannte sie in ihm jenen Wärter, den Sina damals bestochen hatte, um Arko den befreienden Trank zukommen zu lassen.

„Wartet!“, rief sie ihm nach. Zögerlich drehte er sich um und kam zu ihr zurück. „Ich erkenne Euch wieder. Ihr seid der Wärter, der …!“

„In Dreiteufelsnamen schweigt! Oder wollt ihr mich gleich mit aufs Schafott nehmen?“, fuhr er sie an.

„Verzeiht! Aber Ihr seid meine letzte Chance. Bitte sagt Sina, dass ich hier bin. Ich muss sie unbedingt sprechen.“

Er sah sie mitleidig an. „Es tut mir leid, aber ich muss Euch jegliche Hoffnung auf Rettung nehmen. Der König hat angeordnet, dass jeder Gefangene, der in diesen Mauern stirbt, seinen Männern präsentiert werden muss, bevor der Leichnam abtransportiert werden darf. Die stoßen den Toten ihren Dolch ins Herz, um sicherzugehen, dass so etwas wie bei Lord Arko sich nicht wiederholt.“

„Seit wann weiß er davon, dass Arko geflohen ist und wie hat er es überhaupt erfahren?“, wollte Finea wissen.

„Keine Ahnung. Offiziell ist auch nichts davon bekannt. Kurz nach dem fünfjährigen Thronjubiläum des Königs wurde plötzlich dieser Befehl herausgegeben. Und noch etwas Seltsames geschah: Der Totengräber wurde wegen Leichenschändung zum Tode verurteilt. Ich bin mir sicher, dass es nur einen Grund dafür geben kann: Der König wusste spätestens zu diesem Zeitpunkt von Lord Arko. Das Ihr jetzt hier seid, ist für mich der letzte Beweis.“

Finea nickte zur Bestätigung. „Sie haben uns vor ein paar Tagen in Blumare gefunden. Ich bin die einzige Überlebende unserer kleinen Familie.“ Eindringlich hob sie den Blick. „Ich muss mit Sina sprechen. Bitte versucht es.“

Der Mann sah sie hoffnungslos an. „Ich werde es probieren, aber macht Euch keine Hoffnung. Es ist nahezu unmöglich.“ Mit diesen Worten ließ er sie allein.

Nur wenig später hörte sie erneut Schritte. Es schienen mehrere Personen zu sein.

Die kurz aufkeimende Hoffnung, es könne sich um Sina handeln, wurde spätestens in dem Moment zerstört, als plötzlich Farid vor ihr stand und sie herablassend anlächelte.

„Welch eine Freude, Euch zu sehen, ehrwürdige Wächterin. Viel zu lange haben wir Euer liebreizendes Antlitz entbehren müssen.“ Langsam trat er an sie heran und griff nach einer ihrer langen roten Haarlocken. Genüsslich ließ er sie durch seine Finger gleiten und näherte sich mit seinem Mund ihrem Ohr. „Schade, dass uns diese Schönheit bald für immer verloren geht. Der Henker hat selten ein solches Prachtweib in seine tödlichen Finger bekommen. Die öffentliche Auspeitschung vor Eurer Hinrichtung wird vielen unserer Untertanen eine Augenweide sein.“ Er richtete sich wieder auf und sah sie abwartend an.

„Wie habt Ihr uns gefunden?“, fragte sie mit gefasster Stimme.

Er sah sie triumphierend an. „Erinnert Ihr Euch an den Stadtvater von Limera? Ihr wart ihm in einer misslichen Lage behilflich und glaubt mir, sein Dank ist Euch auf ewig gewiss. Er war mein Gast, während der Feierlichkeiten zu meinem Thronjubiläum. Auf einem Gemälde im Ballsaal entdeckte er das Zeichen der Wächterinnen.“ Er holte einen Dolch hervor und schnitt ihr Kleid an der Schulter entzwei. Angewidert strich er über die Narbe, die das Mal ersetzte, das Finea einst als Wächterin des Tempels auswies. „Eines ergab das andere. Den Rest kennt Ihr selbst.“ Er machte eine Pause und legte den Kopf schief. Eindringlich betrachtete er sie. „Es wäre nett von Euch, meine Liebe, wenn Ihr mir sagen könntet, ob es sich bei dem Knaben, von dem jener Stadtvater sehr angetan sprach, um meinen Neffen handelte. Und genauso gern würde ich wissen, inwiefern die ehrwürdige Sina in die ganze Sache involviert war. Und ich bin überzeugt, dass sie es war.“

Finea schwieg. In ihrem Inneren fragte sie sich voller Verzweiflung, warum sie vor Arko nicht darauf bestanden hatte, dass sie Bluemare verließen. Sie hätte besser auf ihr Gefühl hören und nicht Arkos Verharmlosungen Glauben schenken sollen. Es war allerdings auch für sie wesentlich angenehmer gewesen, darauf zu hoffen, dass sie dort gemeinsam leben könnten, bis Ammon alt genug war, um sein Erbe einzufordern. Jetzt war alles aus. Finea sah keinen Sinn mehr darin, am Leben zu bleiben. Wohin immer ihre Seele nach dem Tode auch ging, sie wollte dort sein, wo ihre Familie war. Doch eines stand für sie fest: Von ihr würde Farid kein Wort erfahren! „Ich weiß nicht, wovon Ihr redet. Ich habe Arko damals allein befreit. Ich hatte mich im selben Moment in ihn verliebt, in dem ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Das war lange bevor er angeklagt wurde. Wir hielten unsere Liebe geheim, aus Rücksicht auf meine Stellung im Tempel. Als er dann zum Tode verurteilt wurde, wollte ich mit ihm fliehen und ein gemeinsames Leben aufbauen. … Sina hätte das Ganze niemals unterstützt! Das sollte Euch eigentlich klar sein! Ich gab Arko den Trank, der ihn zum Schein sterben ließ, schon vor dem Prozess. Unauffällig ... als ich mit der Königin im Kerker weilte. Der Junge war unser gemeinsames Kind. Ich war bereits im vierten Monat schwanger, als wir flohen.“

Farid sah sie beinahe freundlich an, bevor er ausholte und ihr mit der flachen Hand fest ins Gesicht schlug. Finea spürte einen brennenden Schmerz und schmeckte Blut, vermied aber jeden Laut. Er sollte sie nicht jammern hören. Der Schmerz des Schlages überdeckte für einen Moment den der Trauer und das tat beinahe gut.

Farid schloss die Augen und atmete tief durch. „Verzeiht! Ein Ausrutscher. Ich lasse mich nur nicht allzu gern vorführen. Zufälligerweise hat uns Sina erklärt, Ihr würdet den Tempel andernorts vertreten. Warum sollte sie so etwas behaupten, wenn Ihr zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr zu den Wächterinnen gehört habt? Und dann noch Eure Aussage gegenüber dem Stadtvater von Limera. Ihr sagtet ihm, der Junge wäre Euer Neffe. Das Kind Eurer Schwester. Warum diese Geschichte?“

„Ich schätze, Sina wollte den Tempel nicht in Schande stürzen. Eine schwangere Wächterin, die durchbrennt, ist nicht gerade eine Ehre für den Orden. Sie wusste von der Schwangerschaft, aber nicht wer der Vater des Kindes war! Was meine Erklärung gegenüber dem Stadtvater von Limera betrifft: Ich war der Überzeugung, der Mann würde sich früher oder später erinnern, wofür das Mal steht. Eine Wächterin, die Mutter ist, wäre ihm seltsam vorgekommen. Hingegen eine Wächterin, die für einen gewissen Zeitraum ihre Familie unterstützt, eher nicht. Ich wollte keine Aufmerksamkeit auf mich und damit auf Arko lenken, um uns zu schützen. Wie man sieht war dies durchaus notwendig, aber leider erfolglos.“

Sie sah Farid an, dass er ihren Worten nicht traute. Nur mühsam beherrschte er seinen Zorn. „Gut! Ich dachte, wir könnten uns das ersparen, aber ... Da ich mir noch immer ziemlich sicher bin, dass Sina hinter alldem steckt, werden wir unsere kleine Unterhaltung im Beisein des Folterknechtes fortsetzen. Ich lasse Euch jetzt eine Stunde Zeit zum Nachdenken. Entweder Ihr sagt freiwillig gegen die Großpriesterin aus und beeidet dies schriftlich oder man bringt Euch dazu. Ihr habt die Wahl!“ Er nickte seinen Begleitern zu und ließ sie allein.

Finea wusste, sie hatte keine Chance. Sie hielt nichts mehr in dieser Welt und jede Stunde, die sie länger lebte, würde Sina nur unnötig in Gefahr bringen. Sie war sicher nicht zimperlich, doch einem Verhör, unter den Händen eines Folterknechtes, war sie nicht gewachsen. Irgendwann, wenn die Schmerzen zu groß wären, würde sie zusammenbrechen und alles gestehen, was Farid von ihr verlangte. Und im Gegensatz zu ihr hing Sina an ihrem Leben. Sie sollte es behalten. Diese Welt war besser mit Sina darin.

Entschlossen riss sie ihren Ärmelsaum auf und holte die fünf winzigen getrockneten Beeren hervor. Sie lächelte, als sie sie sich in den Mund schob. Sie schmeckten, wider erwarten, angenehm süß. 'Wie schön, mit diesem lieblichen Geschmack auf der Zunge,dieReise zu Arko und den Kindern anzutreten', war das Letzte, was Finea dachte, bevor sich ihr Geist von ihrem Körper löste und sie diese Welt für immer verließ.

Als Farid später mit seinem Gefolge zurückkehrte, fand er sie lächelnd vor, den Blick ins Unendliche gerichtet. Er stieß laut einen derben Fluch aus und verließ, bebend vor Zorn, den Kerker.

Seine schlechte Stimmung sprach sich unter den Dienstboten schnell herum. Da sich alle Mägde weigerten, sein Gemach zu betreten, um sein Bett für die Nacht vorzubereiten, wurde ausgelost wer sich der Gefahr seiner Nähe aussetzen musste. Schließlich sah man die beiden unglücklichen Verliererinnen, mühsam ihre Tränen zurückhaltend, in Richtung seiner Gemächer eilen. Jeder, der ihnen auf ihrem angstvollen Weg begegnete, senkte den Blick betreten und wünschte ihnen im Geiste, dass sie verschont bleiben mögen.

Ammon und Fanida

Die Kinder waren den Männern, die ihren Vater getötet und ihre Mutter entführt hatten, einen ganzen Tag lang gefolgt. Sie liefen einfach immer weiter in die Richtung, in der die Reiter verschwunden waren. Am Abend entschieden sie sich dafür, unter einem Felsvorsprung die Nacht abzuwarten. Bei Tagesanbruch setzten sie ihren Weg fort. Als sie etwas später einen Fuhrmann trafen, fragte ihn Ammon nach der Richtung, in der sie nach Isfadah gelangen würden. Als der Mann die beiden mit gerunzelter Stirn ansah und fragte, warum zwei einsame kleine Kinder dies wissen wollten, log er ihn an. „Mein Vater belädt nicht weit von hier den Wagen. Er meinte, ich soll nicht herumstehen, sondern an der Straße nach jemandem Ausschau halten, der uns den Weg weisen kann.“

Der Mann schüttelte missmutig den Kopf. „Nicht zu fassen! Richte deinem Vater aus, dass er in Zukunft besser auf euch achten soll. Es verschwinden immer wieder Knaben spurlos.“ Er wies in Richtung Süden. „Nach Isfadah geht es da lang. Seht jetzt zu, dass ihr zurück zu eurem Vater kommt!“

Ammon bedankte sich artig und der Mann fuhr davon. Also liefen sie weiter die Straße entlang. Fanida hielt ihre Puppe die ganze Zeit über fest an die kleine Brust gepresst und versicherte ihr ununterbrochen, dass alles wieder gut werden würde.

Sie versteckten sich im Gebüsch, sobald ihnen ein Wagen entgegenkam. In den ersten beiden Tagen hatten sie Glück und fanden ein paar Beeren am Wegesrand und auch frisches Wasser in einem Bach. Doch dann wurde der Hunger so unerträglich, dass sie sich an die Straße setzten und auf ein Wunder warteten.

Besagtes Wunder vermuteten sie, gegen Mittag des dritten Tages, gefunden zu haben. Es kam in Form eines stattlichen Fuhrwerks, auf dem ein Mann und eine Frau mittleren Alters saßen und welches direkt vor ihnen anhielt.

„Was macht ihr denn hier, ihr kleinen Strolche? Haben euch eure Eltern ausgesetzt?“, fragte der Mann mit einem breiten Lächeln.

Ammon entschloss sich diesmal dazu, die Wahrheit zu sagen: „Wir sind allein. Böse Männer haben unser Haus überfallen und unseren Vater ermordet. Dann haben sie unsere Mutter mitgenommen. Sie wollten sie nach Isfadah bringen. Das habe ich deutlich gehört.“

„Und jetzt wollt ihr Zwerge den ganzen Weg nach Isfadah zu Fuß gehen, um sie zu finden, wie?“ Der Mann musterte die Kinder voller Zweifel. Dann warf er seiner Frau ein verschwörerisches Lächeln zu und fuhr fort: „Passt auf! Isfadah liegt an unserem Weg. Zu Fuß würde es Wochen dauern, bis ihr da ankommt, wenn ihr überhaupt ankommen würdet. Die Straßen sind in diesen Zeiten nicht mehr sicher für Kinder. Ihr dürft bei uns mitfahren! Wenn ihr euch ein wenig nützlich macht, könnt ihr euch eure Mahlzeiten verdienen.“

Ammon und Fanida sahen sich an. Ein kurzes hoffnungsvolles Lächeln huschte über die traurigen Gesichter. „Das würdet Ihr tun?“, fragte Ammon ungläubig.

„Sehe ich aus wie ein Lügner?“, entgegnete der Mann mit gespielter Entrüstung.

„Nein, nein, mein Herr!“ Ammon sah ihn aus erschrockenen Augen an. „Ich würde niemals ...“

Der Mann lachte schallend. „Schon gut, Kleiner. Ich habe dich nur genarrt. Natürlich würden wir das tun.“ Er wies mit einer einladenden Geste hinter sich auf den Wagen. „Also hopp, hopp! Springt auf und macht es euch so bequem wie möglich.“

Die Kinder ließen sich das nicht zweimal sagen und kamen der Aufforderung unverzüglich nach.

Unter der Plane des Wagens befanden sich ein paar Kisten, zwei Fässer und einige Decken.

Die Frau des Mannes kletterte zu ihnen nach hinten, während er die Pferde antrieb.

Sie war rundlich, hatte ein freundliches Gesicht und braunes Haar, das sie zu einem Knoten gesteckt trug. Sie suchte in einer der Kisten herum und förderte etwas Brot zutage. Sie teilte es und gab jedem von ihnen ein Stück. Sie bedankten sich höflich und begannen es gierig hinunterzuschlingen, während die Frau ihnen lächelnd dabei zusah.

„Ihr könnt euch die Decken hier nehmen, wenn ihr wollt, und einstweilen etwas schlafen. Wir wecken euch dann, sobald wir unser Lager errichten.“ Sie machte Anstalten, wieder nach vorn auf den Kutschbock zurückzukehren, hielt dann aber inne. „Tut mir leid, was mit euren Eltern passiert ist. Ihr armen Kinder habt viel durchmachen müssen. Ihr könnt uns vertrauen. Keine Angst! Wir passen auf euch auf. Ach, und noch etwas: Ihr könnt uns gern Torbald und Matilda nennen.“ Sie zwinkerte ihnen aufmunternd zu und ließ sie allein.

Ammon baute aus den Decken ein weiches Lager und sie ließen sich, dicht aneinander gekuschelt, darauf nieder.

Zum ersten Mal, seit jener furchtbaren Nacht, fühlten sie sich sicher und schliefen ein.

Sie erwachten, als das Rumpeln des Wagens verstummte. Die Sonne stand schon tief und die Nacht meldete ihr Kommen an. Matilda öffnete die Plane auf der Rückseite und forderte sie auf, nach draußen zu kommen.

„Sagt mal, wie heißt ihr zwei eigentlich?“, fragte sie freundlich.

„Ich bin Ammon und das ist meine Schwester Fanida.“

„Gut! Also, Ammon, du hilfst Torbald bei den Pferden. Fanida, du kannst ein paar dürre Äste suchen, damit wir ein warmes Feuer machen können. Aber bleib in der Nähe, Mädchen!“

Die Kinder halfen bereitwillig bei all den ihnen aufgetragenen Tätigkeiten. Als es dunkel war, saßen sie gemeinsam am Feuer und aßen Bohnen mit etwas Speck. Ammon und Fanida waren dankbar, für die ihnen entgegengebrachte Fürsorge. Torbald und Malilda schliefen unter freiem Himmel, während die Kinder die Nacht im Wagen verbrachten.

Am Morgen gab es etwas Haferbrei. Dann räumten sie alles zusammen und setzten ihre Reise fort.

So verliefen auch die folgenden Tage. Sie kamen Isfadah immer näher und die Kinder hofften, dort bald ihre Mutter zu finden. Sie hatte ihnen Geschichten über die weiße Stadt erzählt. Von den vielen Menschen, die dort lebten - viel mehr als in Limera. Und von dem Schloss, in dem der König des Landes wohnte. Am spannendsten waren jedoch die Geschichten über den Tempel, der hoch über allem thronte und das Symbol der Stadt war. In diesem Tempel lebten die Wächterinnen des Blutes, die über die königliche Familie wachten und sehr weise waren. Die Oberste von ihnen war eine Frau namens Sina. Und diese war die klügste und großmütigste Frau, die ihrer Mutter je begegnet war. Wenn sie in Isfadah ankamen, wollte Ammon mit Fanida sofort zu diesem Tempel gehen und um Hilfe bitten. Dann würden sie ihre Mutter befreien und alles wieder gut werden, sofern das ohne den geliebten Vater möglich war.

Etwa eine Tagesreise von Isfadah entfernt, gelangten sie an eine Taverne. Sie betraten den Schankraum und Torbald und Matilda sprachen mit dem Wirt. Dann bekamen sie jeder eine Portion Eier mit Speck und gesüßtes Zitronenwasser. Voller Appetit schlangen sie es hinunter. Als sie müde wurden, brachte Matilda die Kinder in eines der Zimmer und sie teilten sich ein Bett.

Am Morgen erwachte Fanida allein und erschrak, als Ammon nicht auf ihre Rufe antwortete. Als sie aufstand und hinunter in die Schankstube ging, war dort zunächst niemand zu sehen. Sie lief hinaus, um nach Matilda und Torbald zu sehen, konnte jedoch weder sie noch ihren Wagen finden. Als sie wieder hineinging, kam ihr eine Frau entgegen, die in jeder Hand einen Eimer Wasser trug.

„Endlich aufgewacht? Geh in die Küche und nimm dir ein Stück Brot. Dann kommst du sofort zu mir und hilfst mir!“ Sie ließ den Blick auf dem kleinen Mädchen ruhen und sagte mehr zu sich selbst: „Zu viel bist du sicher noch nicht zu gebrauchen, aber ein paar Handlangerdienste wirst du schon übernehmen können. Ich werde aus dir schon herausholen, was geht.“

„Wo ist mein Bruder?“, fragte Fanida ängstlich.

„Der ist mit den Leuten unterwegs, die euch hergebracht haben. Du sollst hier auf ihn warten, hat er gesagt. Und so lange wirst du dich nützlich machen. Also los jetzt, sonst mache ich dir Beine!“

Fanida spürte plötzlich Angst in sich aufsteigen. „Wann kommen sie denn wieder?“, fragte sie den Tränen nahe.

„Woher soll ich das denn wissen? In ein paar Tagen, Wochen oder Monaten ... Keine Ahnung.“ Sie kam auf Fanida zu, nahm ihr die Puppe aus dem Arm und sagte: „Wenn du dich ordentlich anstellst, bekommst du sie heute Abend wieder.“

Fanida sah, wie sie die Puppe auf das oberste Brett eines Regals setzte und die Treppe emporstieg. Das Mädchen versuchte tapfer zu sein, konnte aber nicht verhindern, dass dicke Tränen über ihre Wangen rollten. Sie ging in die Küche, die direkt hinter dem Tresen lag, und nahm sich einen Kanten trockenen Brotes vom Vortag. Als sie es heruntergewürgt hatte, stieg Fanida ebenfalls die Treppe hinauf und suchte nach der Frau. Sie fand sie schließlich in jenem Zimmer, in dem sie mit Ammon die Nacht verbracht hatte. Tapfer versuchte das Mädchen alle Aufgaben zu erfüllen, die ihr erteilt wurden. Eimer tragen, Nachttöpfe ausleeren, Waschschüsseln auswischen und frisches Wasser in den dazugehörigen Krug füllen. Nichts davon konnte sie zufriedenstellend tun. Sie war einfach noch zu klein.

Ab Mittag half Fanida in der Küche. Die Frau, laut eigener Aussage die Wirtin, musste spätestens jetzt einsehen, dass das Mädchen auch zum Karotten schneiden noch zu jung war, da es sich böse in den Daumen stach. „Du bist wirklich zu nichts nutze!“, schimpfte sie.

Als der Wirt später in die Schankstube kam, stellte er sich hinter sein Weib, das sich bereitwillig von ihm umarmen ließ, während er sie zu Fanida befragte.

Sie hielt mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg: „Sie wird uns nur Unkosten bringen! Es dauert mindestens zwei Jahre, bis sie etwas Sinnvolles tun kann. Ich habe es dir gleich gesagt. Wir brauchen ein älteres Mädchen! Sieh zu, dass du sie wieder loswirst!“

Der Wirt sah Fanida stirnrunzelnd an. Dabei fasste er gedankenverloren an den Busen seiner Frau, der sich deutlich unter dem Stoff ihrer Bluse abzeichneten. Als er nicht antwortete, schlug sie ihm auf die Hände und entzog ihm ihre pralle Weiblichkeit. „Kümmere dich darum! Eher brauchst du mir nicht mehr unter den Rock zu kriechen.“ Damit ließ sie ihn stehen und Fanida war mit dem Mann allein.

Der zuckte die Schultern. „Tut mir leid Mädchen, aber sie hat mich in der Hand. Ich werde dich zu Madame Letizia bringen müssen. Vielleicht tauscht sie dich ja gegen ein älteres Mädchen.“

„Ich muss auf meinen Bruder warten“, sagte Fanida bestimmt.

Doch er schüttelte mit dem Kopf. „Nicht hier! Wir werden ihm sagen, wo er dich findet.“ Sein Blick wanderte über ihren Kopf hinweg zu dem Regal, in dem die Puppe saß. „Ist das nicht deine?“, fragte er. Sie nickte zaghaft. Er griff nach der Puppe und drückte sie Fanida in den Arm. „Hier, mehr kann ich für dich leider nicht tun.“

Sie presste die Puppe an ihr Herz und hockte sich weinend in die Ecke. „Ich will zu meiner Mama!“, flüstere sie immer wieder mit bebender Stimme.

Einige Zeit später saß sie neben ihm auf dem Wagen und blickte abwesend geradeaus. Inzwischen war es ihr beinahe egal, wohin er sie brachte. Das Einzige, was ihr jetzt wichtig erschien, war, dass Ammon sie dort so schnell wie möglich finden würde. Dann wären sie wenigstens wieder zusammen und konnten gemeinsam nach ihrer Mutter suchen.

Nach einer Stunde Fahrt hielten sie am Rande einer kleinen Stadt, vor einem großen Haus. Es machte einen recht düsteren Eindruck und erschien Fanida wie das Haus eines dicken mürrischen Riesen. Ihr schauderte bei dem Gedanken, sie müsse hierbleiben.

Der Wirt klopfte an die massive Holztür und bei jedem Schlag, den der Eisenring gegen das Portal machte, zuckte sie zusammen. Nach einer Weile des Wartens öffnete sich ein kleines Fenster, das in die Tür eingelassen war und ein strenges faltiges Gesicht erschien darin.

„Was wollt ihr hier?“, fragte die Frau dahinter mit krächzender Stimme.

„Ich will Madame Letizia sprechen. Sieh zu, dass du Beine bekommst!“

Die Alte machte ein unzufriedenes Geräusch und knallte das Fenster zu. Wieder zuckte Fanida zusammen. Vorsichtig zupfte sie am Ärmel des Wirtes und sah ihn ängstlich an. „Ich will hier nicht bleiben“, flehte sie leise.

Er sah sie mitleidig an. „Tut mir wirklich leid, meine Kleine. Wenn du ein paar Jahre älter wärst, hätte dich mein Weib auch nicht fortgeschickt. Aber sie braucht dringend eine helfende Hand und kein kleines Mädchen, das ihr noch zusätzlich Arbeit macht. Und ich brauche ein zufriedenes Weib“, fügte er stöhnend mehr zu sich selbst hinzu. „Aber du wirst sehen, Madame Letizia ist recht umgänglich. Lass dich nicht von dem grässlichen Weib von eben erschrecken! Die zischt nur, beißt aber nicht.“

In diesem Moment öffnete sich die Tür und die knurrige Alte erschien in ihrer buckligen Gänze. „Sie erwartet euch“, sagte sie knapp und ging voran. Fanida blickte mit weit geöffneten Augen auf den Buckel der Frau, der jetzt wie ein Felsen vor ihr aufragte. So mussten die bösen Meerhexen aussehen, vor denen sie ihr Vater stets gewarnt hatte. Er sagte immer: „Bleib vom Wasser weg, solange du nicht gut schwimmen kannst! Unter Wasser hocken die buckligen Meerhexen und fangen alle, die nicht vor ihnen davonschwimmen können. Sie selbst haben keine Flossen und jagen darum voller Neid Nixen, die zu nahe ans Ufer kommen, um sich zu sonnen. Ab und zu erwischen sie dabei auch mal einen Menschen. Also hüte dich.“ Bei dem Gedanken an ihren Vater wurde Fanidas kleines Herz noch schwerer.

Sie gelangten in ein großes dunkles Treppenhaus. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Nur ab und zu kamen ihnen ein paar kleine Mädchen entgegen. Sie schwiegen und hielten züchtig die Köpfe gesenkt. Nur kurz warfen sie einen Blick auf Fanida und ihren Begleiter. Eine breite Treppe führte in das obere Stockwerk. Schließlich gelangten sie an eine Tür, in die kunstvolle Efeuranken eingeschnitzt waren. Die Alte drückte die Klinke hinunter und öffnete einen Spalt breit. „Hier sind sie“, teilte sie der Person hinter der Tür mit. Sie trat beiseite und der Wirt schob das Mädchen vor sich her, in den Raum hinein.

Fanida fielen zuerst die vielen Bücher ins Auge, die in deckenhohen Regalen die Wände füllten. Hinter einem massiven Tisch, auf dem sich etliche Dokumente stapelten, saß eine Frau. Sie war schon etwas älter und eine beeindruckende Erscheinung. Sie trug das Haar straff zu einem Knoten zusammengebunden und wirkte dadurch strenger, als es ihre freundlichen Augen vermuten ließen.

„Simon, seid gegrüßt! Wir haben uns aber lange nicht mehr gesehen“, stellte sie distanziert freundlich fest.

Der Wirt wirkte in der Nähe von Madame Letizia spürbar eingeschüchtert. Er trat nervös von einem Bein aufs andere. „Madame, ich bin gekommen, um Euch zu bitten, dieses Mädchen hier aufzunehmen. Im Gegenzug würde ich ein älteres Kind aus Eurem Haus bei mir anstellen. Wie Ihr vielleicht wisst, ist das letzte Mädchen, dass ich vor zehn Jahren, nach dem Tod meiner damaligen Frau, bei mir aufnahm, inzwischen mein neues Weib geworden. Sie erwartet in fünf Monaten ein Kind und braucht Hilfe. Doch diese Kleine hier ist einfach noch zu jung, um sie bei den anfallenden Arbeiten zu unterstützen. Sie ist eine Waise und wurde von Durchreisenden einfach zurückgelassen.“

„Das ist eine Lüge!“, rief Fanida entsetzt. „Meine Mama lebt noch und ich werde sie, gemeinsam mit meinem Bruder Ammon, von den bösen Männern befreien. Ammon ist nicht weg! Er kommt bald zurück und holt mich. Das hat die Frau gesagt.“ Verzweifelt schlug sie mit den kleinen Fäusten auf den Wirt ein, der all seine Kraft und Geschicklichkeit aufwenden musste, um sie zu bändigen. Hilfesuchend blickte er zu Madame Letizia.

Die erhob sich nun und trat an die beiden heran. Sie zog Fanida mit einem festen Griff von dem hilflosen Mann fort und sah ihr eindringlich in die Augen. „Hör zu, Mädchen! Keiner hier will dir etwas Böses. Du bekommst ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Tagsüber helfen die Kleinen bei der Obstlese in den Plantagen der Umgebung und die Großen gehen gehobeneren Tätigkeiten nach. Die Mädchen aus diesem Haus haben später gute Chancen, eine ordentliche Stellung zu finden. Du könntest es also durchaus schlechter treffen.“

„Ich gehe mit Ammon nach Isfadah!“, schrie Fanida jetzt schrill und hielt sich dabei die Ohren zu. Sie wollte kein Wort mehr hören.

Doch Madame Letizia ließ sich nicht einschüchtern. Sie rüttelte das Mädchen kurz und sagte laut: „Du wirst dich jetzt beruhigen, meine Kleine. Hör zu! Wenn dein Bruder oder deine Mutter jemals hier auftauchen, dann kannst du mit ihnen gehen. Sie werden dich finden, wenn sie nach dir suchen. Du hast allein keine Chance. Also sei vernünftig und verhalte dich, wie es sich für ein anständiges kleines Mädchen gehört.“ Sie hatte die nötige Strenge in ihre Stimme gelegt, um sich Respekt zu verschaffen. Solche Ausbrüche waren in diesem Hause nicht gestattet. Den Mädchen drohten Strafen, wenn sie sich ungebührlich verhielten. Die Disziplin und der Respekt mussten gewahrt werden. „Es wird dir hier besser gehen als allein auf der Straße. Solange du hier bist, sind alle anderen Mädchen deine Schwestern und meine Erzieherinnen und ich werden die Rolle deiner Eltern übernehmen. Also füge dich in diese Ordnung ein und du wirst es gut haben. Simon und seine Frau werden jeden herschicken, der nach dir fragt. Das versichere ich dir.“

Fanida wischte sich mit ihrem Ärmel das Rotznäschen ab und blickte beide prüfend an. Der Wirt lächelte sie unsicher an und nickte zur Bestätigung. Madame sah ihr streng aber offen ins Gesicht. Fanida kam zu der Einsicht, dass es keinen Sinn hatte, sich zu widersetzen. Sie ließ die Schultern sinken und fügte sich ihrem Schicksal. Was danach besprochen wurde, nahm sie nur am Rande wahr.

Am Ende des Tages saß sie in einem großen Schlafsaal, zwischen zahlreichen anderen Mädchen, auf einem wackligen Holzbett und verweigerte jedes Wort. Fest hielt sie ihre Puppe an die Brust gepresst und wendete all ihre Kraft dazu auf, nicht zu weinen. Sie nahm sich vor, solange zu schweigen, bis Ammon sie hier abholen würde. Sie vertraute ihrem Bruder voll und ganz und war sicher: Wenn er die Möglichkeit hätte, würde er zu ihr kommen.

Die anderen Mädchen, zwischen drei und sechs Jahren, gaben irgendwann ihre Versuche auf, sie zum Reden zu bringen. Bald hatte sich die Aufregung um die neue 'Schwester' gelegt und es kehrte wieder Ruhe ein. Eine Erzieherin, die aussah wie eine abgemagerte Ratte mit Dutt, ging steif durch die Bettreihen und sagte schnarrend: „Gute Nacht! Und dass ihr mir ja in den Betten bleibt! Morgen erwartet euch ein anstrengender Tag in den südlichen Orangenplantagen. Da möchte ich keine Klagen hören!“ Sie verließ den Saal und nahm mit ihrer Laterne die einzige spärliche Lichtquelle mit sich.

Nach einer Weile hatten sich Fanidas Augen an die Dunkelheit gewöhnt und sie konnte im Mondlicht wieder schwache Umrisse erkennen. Sie lauschte auf die Geräusche ringsum. Seltsamerweise schienen sich alle an die Anweisung der Rattenfrau zu halten. Hier und da knarrte ein Bett, als das ein oder andere Mädchen nach der richtigen Schlafposition suchte. Dann wurde es still und nur noch das gleichmäßige Atmen aus den kleinen Nasen und Mündern war zu hören. Jetzt endlich konnte Fanida dem Druck in ihrem Inneren nachgeben und leise in ihr Kissen weinen. Noch vor ein paar Tagen war ihre Welt so heil und wunderschön gewesen. Und nun? Wie eine eiskalte Hand aus Stahl umfassten Einsamkeit und Trauer ihr kleines Kinderherz.

Plötzlich spürte sie, wie sich ihre Bettdecke hob und das Mädchen aus dem Bett neben ihr darunter schlüpfte. Fanida hatte sie vorhin kurz bemerkt. Sie war etwas älter als sie selbst und hatte große blaue Augen und blondes Haar. „Ich bin Noria. Hab keine Angst. Es ist hier nicht so schlimm, wie es scheint. Allerdings musst du dich an die Gesetzte dieses Hauses halten. Sonst kann es auch mal sehr unangenehm für dich werden. Aber Schläge verteilen sie nur selten.“ Das etwa sechsjährige Mädchen zog Fanida schützend in ihre Arme und die ließ es sich bereitwillig gefallen. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass sie Noria vertrauen konnte.

Die fuhr flüsternd mit ihren Erklärungen fort: „Bei Sonnenaufgang müssen wir aufstehen. Dann gibt es Frühstück - meist Haferbrei. Und dann gehen wir auf den Gütern des Umlandes Obst pflücken. Die Älteren klettern in die Bäume und die Kleinen, so wie du, sammeln das Fallobst auf und pflücken die unteren Äste ab. Dafür wird Madame Letizia bezahlt und kann uns ernähren und einkleiden. Du siehst, es hätte uns schlimmer treffen können. Die Mädchen, die älter als zwölf Jahre sind, finden meist irgendwo eine Stelle als Dienstmädchen. Bis dahin erledigen sie hier im Haus alle anstehenden Arbeiten. Sie kümmern sich ums Waschen, Putzen und Kochen. Sozusagen als Vorbereitung auf ihre Zukunft. Schließlich wollen unsere zukünftigen Brotgeber kein Mädchen haben, das keine Ahnung davon hat, was im Haus zu tun ist. Ich werde in ein paar Monaten sieben, dann ist es bei mir auch so weit, dass ich alles lerne.“ Sie machte eine Pause und schien nachzudenken. „Zugegeben, ich habe ein wenig Angst davor, hier eines Tages wegzugehen, aber ich bin auch ziemlich neugierig auf das Leben draußen.“

Fanida hörte ihr aufmerksam zu. Das Mädchen hatte wirklich eine beruhigende Wirkung auf sie. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr ganz so allein. Vertrauensvoll kuschelte sie sich an die Ältere und schlief schließlich ein.

Sie träumte von ihrer Mutter, die in einem wunderschönen roten Kleid vor ihr stand und sie traurig, aber auch stolz anlächelte. „Fanida, meine Kleine. Ich bin bei dir, immerzu! Hab keine Angst. Alles wird gut. Habe Geduld! Du hast einen langen Weg vor dir und du wirst dabei nicht allein sein. Sie wird dich finden, wenn es an der Zeit ist. Ich liebe dich, meine Kleine. Verzeih mir, dass ich zu schwach war ...!“

„Warte!“, rief Fanida ihr nach, als sich ihre Umrisse zu verzerren begannen. „Bleib da! Bitte!Wer wird mich finden?“ Doch ihr Ruf ging ins Leere und ihre Fragen blieben unbeantwortet.

Kamir

Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und sehnte sich nach einem heißen Bad in den Thermen. Es gab in den Kellern des Schlosses mehrere davon, insgesamt vier. Eine war der königlichen Familie vorbehalten, eine den Frauen des Hofstaates, eine den Männern und eine den Offizieren. Kamir hätte durchaus die Therme der königlichen Familie nutzen können, zog es aber vor, sich unter die Offiziere zu mischen. Das brachte ihn den Männern näher und stellte nicht in den Vordergrund, dass er Farids Bruder war. Er hatte sich, trotz seines jungen Alters von inzwischen zweiundzwanzig Jahren, hohes Ansehen bei seiner Truppe verschafft. Das war als Verwandter des Königs nicht wirklich leicht gewesen. Zuerst waren die Männer fest überzeugt davon, dass er diese Stellung nur aus diesem Grunde bekommen hatte. Doch er belehrte sie schnell eines Besseren. Als er hörte, was hinter seinem Rücken gesprochen wurde, befahl er, dass die Truppe einen aus ihren Reihen bestimmen sollte, der gegen ihn im Zweikampf antreten musste. „Wenn euer Mann mich besiegt, werde ich den König bitten, meine Position mit diesem zu besetzten. Wenn ich gewinne, fordere ich von euch Treue und Gehorsam und dass ihr umgehend damit aufhört, wie alte Waschweiber hinter meinem Rücken zu lästern. Derartiges Verhalten ist eines Mitglieds meiner Truppe unwürdig. Nur Feiglinge reden hinter dem Rücken eines anderen Mannes. Und Feiglinge dulde ich in diesem Regiment nicht!“ Einige der Angesprochenen blickten beschämt nach unten. Anderen war anzusehen, dass sie sich Hoffnung darauf machten, für den Zweikampf erwählt und nach einem Sieg, an Kamirs Stelle, im Sattel des Anführers zu sitzen. „In zwei Stunden komme ich wieder und dann erwarte ich euren Auserwählten.“

Als er zurückkehrte, standen die Männer in Zweierreihe um den Exerzierplatz herum. In deren Mitte erblickte er einen wahren Hünen von Mann. Er versuchte, seine Besorgnis beim Anblick dieses Muskelberges zu verbergen, und schritt mit erhobenem Kopf auf seinen Gegner zu. Der brachte sich wortlos in Kampfposition und das Kurzschwert vor sich in Bereitschaft. Kamir tat es ihm gleich. Er musterte sein Gegenüber. Er hatte langes dunkelblondes Haar und einen kurzgeschorenen Vollbart. Der Hüne war sicher ein paar Jahre älter als er selbst und einen halben Kopf größer. Und das, obwohl man auch Kamir nicht gerade als klein bezeichnen konnte. Er hatte aber gelernt, in jeder Situation seine Vorteile zu nutzen. Hier würden sie eindeutig in seiner Beweglichkeit und Geschwindigkeit liegen. Der Muskelberg würde ihn sicher an Kraft überbieten. Kamir zweifelte keinen Moment daran, dass er mit bloßer Faust einen Gaul ins Jenseits befördern konnte. Doch er selbst war viel wendiger und würde dem Gegner keine Chance lassen, ihn zu erwischen.

Kurz entschlossen hatte Kamir das Schwert erhoben und den Kampf eröffnet. Als er den ersten Hieb des Riesen abwehrte, meinte er, dass ihm die Knochen in den Armen brechen müssten. Eine Weile schlugen sie aufeinander ein. Kamir tänzelte dabei geschickt um den Hünen herum, weshalb der des Öfteren ins Leere schlug. Das kostete ihn Kraft und forderte seinen Tribut.

Zufrieden stellte Kamir etwas später fest, dass sein Gegenüber immer schwächer wurde und langsam zu torkeln begann. Auch seine Kräfte ließen nach, doch er hatte noch ein paar Reserven. Als der Riese unvorsichtig wurde, stellte er ihm geschickt ein Bein und hielt dem am Boden liegenden Mann blitzschnell die Klinge an die Kehle. Dem blieb nichts anderes übrig, als sich zu ergeben.

Von da an respektierten ihn die Männer ohne Wenn und Aber. Das alles war nun schon wieder ein paar Jahre her ...

Kamir betrat gedankenverloren die Therme und stellte zu seiner Zufriedenheit fest, dass er allein war. Als er sich seiner Kleidung entledigt hatte, glitt er ins angenehme Nass und tauchte so lange unter, wie es ihm seine Lungen erlaubten. Dann durchbrach er mit einem hörbaren Aufatmen die Wasseroberfläche und warf das nasse Haar nach hinten. Als er aufsah, stand vor ihm eine nackte Schönheit, die er bisher im Schloss noch nie gesehen hatte.

Voller Entsetzen sah sie ihn an und warf sich sofort ein Tuch um den makellosen Leib. „Was tut Ihr da?“, rief sie entsetzt.

„Baden oder was meint Ihr?“, erwiderte er ungeniert und musterte sie eindringlich. Sie hatte langes glattes schwarzes Haar und beinahe ebenso schwarze mandelförmige Augen. Der kurze Moment, der ihm vergönnt gewesen war, um ihren Körper zu mustern, hatte gereicht, um ihm eine Erektion nie da gewesenen Ausmaßes zu verschaffen. Er bewegte sich zum Rand des Beckens, da er befürchtete, sie könne dies durch das klare Wasser hindurch bemerken.

„Aber das ist das Bad für die Edelfrauen!“, zischte sie schockiert.

„Ihr irrt Euch, meine Dame. Dieses befindet sich drei Türen weiter. Ich nehme an, Ihr seid neu bei Hofe?“ Herausfordernd blickte er zu ihr auf.

„Ich bin gestern hier eingetroffen. Mein Vater ist vom König zum neuen Baumeister berufen worden.“ Sie blickte sich unsicher um und griff eilig nach dem Rest ihrer Sachen. „Ich glaube, das hier ist nicht der richtige Ort für eine Unterhaltung!“ Damit war sie verschwunden, noch ehe Kamir sie nach ihrem Namen fragen konnte. Doch die Informationen, die er hatte, reichten durchaus, um sie zu finden. Und er war sich sicher, dass er diese Augen überall wiedererkennen würde.

Und er sollte recht behalten. Schon wenig später, beim Abendessen im großen Saal des Schlosses, sah er sie wieder. Der Tisch des Königs, der quer zu den drei langen Tischreihen auf einer Erhöhung an der Stirnseite stand, blieb heute leer. Er und Ismee behielten sich vor, je nach Belieben in ihren Gemächern oder gemeinsam mit dem Hofstaat zu speisen. Oft nutzte Farid jedoch die Gelegenheit, um ein paar Gespräche zu führen oder um Zerstreuung beim Hofklatsch zu finden. Dann ließ er im Laufe des Tages den Begünstigten eine Einladung an seinen Tisch zukommen. Die auf diese Weise geehrten Höflinge wandelten dann erhobenen Hauptes, unter den neidischen Blicken der anderen, an ihren Platz. Doch heute war diese Ehre keinem vergönnt.

Kamir setzte sich zu seinem ersten Offizier. Dabei handelte es sich um denselben Hünen, der ihm in jenem legendären Zweikampf unterlegen gewesen war. Mittlerweile waren sie gute Freunde geworden.