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Nach schweren persönlichen Schicksalsschlägen findet Lillian auf Schloss Arden eine Stellung und ein neues Zuhause. Tagsüber arbeitet sie als Magd und am Abend unterhält die begnadete Erzählerin ihre Freunde mit spannenden Geschichten. Auch Prinz Raven, dem man einen schlechten Lebenswandel nachsagt, wird auf ihre Gabe aufmerksam und verpflichtet sie in seine persönlichen Dienste. Beide ahnen nicht, welch starken Einfluss dieses Arrangement auf ihr gesamtes weiteres Leben haben wird.
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Seitenzahl: 347
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Carola Schierz
Die Erzählerin von Arden
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Böses Erwachen
Neubeginn
Raven
Böses Spiel
Geheime Pfade
Ester
Freunde
Überraschungen
Entdeckt
Überführt
Onkel James
Schachmatt
Einzug ins Paradies
Zerreißprobe
Ein gutes neues Jahr
Abreise
Zurück in der Heimat
Feste mit Folgen
Turbulenzen
Abschied
Die Verpflichtungen einer Dame
Zarte Bande
Hochzeit mit einer Fremden
Ein Traum wird wahr
Epilog
Impressum neobooks
Schritte und leises Klappern drangen an Lillians Ohr, aber sie konnte die Geräusche nicht zuordnen. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen und fand sich in einem unbekannten Raum mit fremdartigem Inventar wieder. Unsicher schaute sie in die Richtung, aus der die Geräusche zu kommen schienen. Dort war ein Mann damit beschäftigt, diverse Kräuter in einem Mörser zu zerkleinern, was ihm offenbar größere Mühe bereitete, denn er stieß immer wieder mürrisch grunzende Laute aus. Lillian wollte ihn ansprechen, aber nur ein heiseres Krächzen kam aus ihrer Kehle.
Er schien es trotzdem vernommen zu haben und wandte sich ihr zu. „Oh! Du bist endlich zu dir gekommen! Wir haben uns schon große Sorgen um dich gemacht. Hast mächtig Glück gehabt, Kind“, sagte er ernst. „Aber jetzt ist wohl das Schlimmste überstanden.“ Er kam auf sie zu, lächelte freundlich und legte seine Finger an ihren Hals, um den Puls zu fühlen. Er nickte und strich ihr dann vorsichtig über Stirn und Wange. „Das Fieber ist auch gesunken. Noch ein paar Tage und du springst wieder herum wie ein junges Reh.“
Sie musterte ihn gründlich. Er war nicht mehr der Jüngste - etwa um die sechzig - aber seine Augen funkelten lustig unter den buschigen Brauen hervor. Das graue Haar hatte er nachlässig zu einem Zopf zusammengebunden. Über einem hellen Leinenhemd und einer Kniebundhose, die ihre besten Tage längst hinter sich hatte, trug er eine große braune Schürze.
„Wo bin ich?“ Es strengte sie sehr an, überhaupt ein verständliches Wort über ihre trockenen Lippen zu bringen.
„Du bist auf Schloss Arden. Genauer gesagt im Gesindehaus desselben. Ich bin hier der Heiler und heiße Brian. Brian Goodman. Meine Schwester Emma arbeitet in der Schlossküche. Sie hat dich vor fünf Tagen auf der Landstraße gefunden, als sie von einem Besuch bei ihrer Tochter zurückkehrte. Du hast unter einem toten Mann im Graben gelegen und sie dachte zunächst, du wärst auch hinüber. Doch dann hast du dich bewegt und sie damit fast zu Tode erschreckt, die Arme. Sie hat dich auf ihr Maultier gehievt und zu mir gebracht.“ Er hielt kurz inne und räusperte sich. „Der Mann, der auf dir lag, wollte dich offensichtlich beschützen und hat diese Tat mit dem Leben bezahlt. Der Pfeil einer Armbrust hatte sein Herz durchbohrt und dich ebenfalls verwundet.“ Er machte eine Pause und sah sie mitfühlend an. „Wer war er? Dein Mann?“
In Lillians Kopf begann es zu arbeiten und sie kämpfte sich durch den Nebel. Was war geschehen? Die Erinnerung kam wie ein Fausthieb zurück. David!!! David war ihr Bruder und alles, was ihr von ihrer Familie noch geblieben war. Sie hatten mit den Eltern auf einem kleinen Bauernhof gelebt, ganz in der Nähe von Lorres. Mehr schlecht als recht, aber sie mussten nie hungern. Als sie fünf und David acht waren, wurde ihre Mutter Kathrin abermals schwanger. Alle freuten sich auf den Familienzuwachs. Ihr Vater schreinerte jede freie Minute an der neuen Wiege für das Baby. Lillian und David versuchten der Mutter zur Hand zu gehen, wo immer sie konnten.
Doch das Glück war nicht von Bestand. Das Kind wurde tot geboren und Kathrin verblutete unter den Händen der Hebamme. Der Vater erholte sich nur schwer von diesem Schicksalsschlag, aber sie meisterten ihr Leben so gut sie konnten.
Diese Umstände zwangen die Geschwister dazu, schneller erwachsen zu werden und schweißten sie noch enger zusammen.
Einige Jahre später schlug das Schicksal erneut mit voller Härte zu. Als der Vater von der Feldarbeit nicht zurückkehrte, machten sie sich besorgt auf die Suche. Sie fanden ihn eingeklemmt unter seinem Pferdekarren, dessen Achse gebrochen war. Es kam jede Hilfe zu spät und so mussten sie auch ihn zu Grabe tragen.
Drei Jahre versuchten Lillian und David ihren kleinen Hof allein zu bewirtschaften, doch nach zwei fast gänzlich vernichteten Ernten blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu verkaufen und die geliebte Heimat zu verlassen. Ihre ganze Habe passte auf einen Planwagen, der nun ihr neues Zuhause wurde.
David, ein wahrer Sonnenschein und Bild von einem jungen Mann, wurde von allen geliebt und verdrehte so manchem Mädchen den Kopf. Lillian war immer sehr stolz auf ihn.
Sie fuhren von Stadt zu Stadt und verdienten das nötige Geld zum Überleben, indem beide von ihren Talenten Gebrauch machten. David war ein begnadeter Lautenspieler und brachte so manches Tanzbein zum Schwingen. Lillians Begabung lag in der Kunst des Erzählens. Sie zog die Leute, egal ob groß oder klein, in ihren Bann und erweckte Drachen, Feen, Ritter oder Prinzessinnen zum Leben. Wer ihr zuhörte, hatte das Gefühl direkt dabei zu sein. Es geschah nicht selten, dass das ein oder andere Mädchen an den spannendsten Stellen laut aufschrie, was wiederum dankbar von den anwesenden Burschen aufgenommen wurde. Sie bekamen so eine gute Rechtfertigung, die 'verängstigten' Geschöpfe nach Hause zu geleiten. Alle waren in diesen schweren Zeiten dankbar für ein paar Stunden des Vergessens und so sah man die immer freundlichen Geschwister überall gern.
Letzte Woche, sie wollten in die nächste Stadt reisen und waren kurz davor ein Nachtlager aufzuschlagen, kam ihnen plötzlich ein Trupp Reiter entgegen.
„Klettere in den Wagen und bleibe dort!“, wies David seine Schwester an. Sie gehorchte.
Der Wagen kam zum Stehen. Die Männer blockierten mit ihren Pferden die Straße und hielten ihre Armbrüste auf David gerichtet.
„Was wollt ihr?“, fragte er so ruhig, wie es ihm möglich war. Doch Lillian bemerkte die Furcht in der Stimme ihres Bruders.
„Steig ab und überlasse uns deinen Wagen freiwillig, so wird dir vielleicht nichts geschehen“, sagte der Anführer der Bande in einem Tonfall, der das Schlimmste vermuten ließ.
„Der Wagen ist das Einzige was wir besitzen. Was soll aus uns werden?“, stieß David hervor.
„Was meinst du mit ‚wir‘? Wer befindet sich noch im Wagen?“
Einer der Männer sprang vom Pferd und schlug die Plane beiseite. Lillian blickte in eine widerliche Fratze. Eine dicke Narbe, die wahrscheinlich von einem Schwerthieb herrührte, überzog diagonal sein Gesicht und verzerrte dessen Züge zu einer grinsenden Trollmaske. „Was haben wir denn da für ein süßes Vögelchen?“ Der Mann fuhr sich lüstern mit der Zunge über seine wulstigen Lippen. „Das ist doch mal eine nette Abwechslung für den späteren Abend. Findet ihr nicht auch Männer?“, rief er den anderen zu, ohne den Blick von ihr abzuwenden. „Du musst dich auch für keinen von uns entscheiden, Herzchen, denn wir teilen alles gerecht.“
Er erntete widerliches Gelächter und schickte sich an, Lillian vom Wagen zu zerren. Sie wehrte sich so gut sie konnte, aber sein Griff verstärkte sich nur. Hart prallte sie auf den Boden, ignorierte jedoch die Schmerzen und rappelte sich schnell hoch. Aber der Mann hatte sie schon wieder gepackt und versuchte jetzt, sie zu küssen. Lillian konnte deutlich den fauligen Atem riechen, der aus seinem zahnlosen Mund strömte. Übelkeit stieg in ihr hoch. In diesem Moment sprang David vom Wagen, stürzte auf sie zu und riss den Mann zur Seite. Er stellte sich schützend vor seine Schwester. Fast im selben Moment spürte Lillian einen stechenden Schmerz in ihrer Schulter und wurde von dem Gewicht ihres taumelnden Bruders zu Boden gedrückt. Von da an wusste sie gar nichts mehr. Wahrscheinlich hielten die Angreifer sie für tot und machten sich mitsamt dem Wagen aus dem Staub ...
Sie spürte es, bevor sie es begriff: David war tot! Diese Gewissheit brachte Lillian fast um den Verstand und sie brach in ersticktes Weinen aus. Es war, als würde man ihr den Boden unter den Füßen wegziehen.
Eine Hand legte sich vorsichtig auf die ihre und brachte Lillian ins Gedächtnis zurück, dass Brian der Heiler noch immer neben ihr stand. Er schwieg und wartete, bis sie von allein zu reden begann.
„Er war mein Bruder. David. Und der einzige Mensch, den ich auf dieser Welt noch hatte ... Was soll jetzt nur werden? Warum konnte ich nicht einfach mit ihm sterben?“ Ein heftiges Schluchzen durchzuckte ihren Körper.
„Na, na. Wer wird denn gleich aufgeben?“ Brian strich ihr väterlich übers Haar. „Es tut mir leid um deinen Verlust, aber dein Bruder hat dich beschützt, damit du lebst. Sein Opfer war nicht umsonst, wenn du mit diesem Geschenk sorgsam umgehst. Weißt du, Gottes Wege sind manchmal sehr verschlungen, aber ich bin mir sicher, dass er mit dir noch einiges vorhat.“
Sie wusste, dass er recht hatte, aber das half im Moment nur wenig gegen ihren Kummer.
Brian legte die Schürze ab und zog sich seinen Mantel über. „Wie heißt du eigentlich, mein Kind?“
„Lillian. Lillian Anderson.“
Er lächelte. „Und wie alt bist du, Lillian?“
„Im Herbst werde ich neunzehn.“
„Hör zu! Ich gehe jetzt Emma holen. Sie hat sich große Sorgen um dich gemacht und mir aufgetragen, sie sofort zu informieren, wenn du zu dir kommst. Und mit Emma ist in dieser Beziehung nicht zu spaßen. Sie ist eine Vollblutglucke, welche jeden bemuttert, der es will … oder auch nicht“, fügte er mit leichtem Sarkasmus hinzu. „Seit ihre Jüngste das Nest verlassen hat, muss ich dran glauben. Also tu mir den Gefallen und halt sie mir eine Weile vom Leib. Sie meint es nur gut, aber ein alter Junggeselle wie ich, braucht auch mal seine Ruhe.“
Lillian verkniff sich ein Lächeln und schloss die Augen, sobald er die Tür hinter sich zugezogen hatte. Der erhoffte Schlaf blieb leider aus. Um sich von ihren trüben Gedanken abzulenken, verließ sie ihr Lager, um sich etwas umzusehen. Das Aufstehen fiel ihr nicht leicht. Die verletzte Schulter schmerzte so stark, dass ihr schwarz vor Augen wurde, als sie auf die Beine kam. Nach einer Weile hatte sie sich jedoch im Griff und begann vorsichtig, einen Fuß vor den anderen, den Raum zu erkunden. Ihr Lager, das aus einem Strohsack und ein paar einfachen Laken bestand, nahm die hintere Wand fast gänzlich ein. An einer der beiden langen Seiten stand ein riesiges Regal, welches über und über mit Gläsern und Dosen bestückt war, die mit seltsamen, teils übel riechenden Substanzen gefüllt waren. Von der Decke hingen unzählige Bunde getrockneter Kräuter. Einige davon erkannte Lillian wieder. Ihre Mutter war mit der Heilkraft der Pflanzen gut vertraut und hatte sie, kaum dass das Mädchen laufen konnte, mit auf Kräutersuche genommen. Bei dem Gedanken an diese so fernen, glücklichen Tage, zog sich erneut ihr Herz zusammen. Sie wandte sich ab. Gegenüber dem Regal stand ein langer Arbeitstisch, mit allerlei typischen Geräten, die man zum Ausüben des Heilerberufes brauchte. Messer in verschiedenen Größen und Formen, Aderpressen, Scheren, Mörser, Schalen und sogar eine Knochensäge, über deren Gebrauch Lillian gar nicht näher nachdenken mochte. Brian schien nicht hier zu wohnen, denn nichts wies darauf hin. Sie nahm an, dass er nebenan seinen Wohnraum hatte und dieser hier rein beruflichen Zwecken diente.
Während sie so ihren Gedanken nachhing, wurde plötzlich die Tür aufgerissen und eine kleine, rundliche, rotgesichtige Frau stürmte in den Raum. Sie war völlig außer Puste und stand nach Luft ringend in der Tür. Die angegrauten Haare waren in wilden Strähnen aus ihrem Dutt gerutscht. Sie sah das Mädchen lächelnd aus wachen Augen an, in denen Lillian deutlich die verwandtschaftlichen Bande zu Brian erkennen konnte. Dieser stand hinter seiner Schwester und beobachtete die Szene.
„Mein Gott, Mädel, du sollst doch noch nicht aufstehen. Komm, setz dich wenigstens auf das Bett.“ Ehe Lillian es sich versah, hatte Emma sie gepackt und führte sie zum Lager zurück. Die Frau legte rasch ihren Umhang ab und musterte dann ausgiebig ihre neue Schutzbefohlene. Was sie sah, schien sie zufrieden zu stellen. Lillian war ein zartes, anmutiges Geschöpf von durchschnittlicher Größe. Die aschblonden Haare fielen in dicken Locken über ihre Schultern. Sie hatte große blaugraue Augen, unter denen sich allerdings dunkle Ringe abzeichneten.
'Kein Wunder', dachte Emma, 'bei allem wasdas arme Ding mitmachen musste.'
Aber eine ordentliche Portion ihrer guten Pflege, würde auch diesen kleinen Makel schnell verschwinden lassen. Das Mädchen war sicher nicht die größte Schönheit, die sie je gesehen hatte, aber auf seine eigene Weise sehr hübsch und von einer geheimnisvollen Aura umgeben, die den Blick des Betrachters magisch gefangen hielt.
„Ich bin Euch zu tiefstem Dank verpflichtet. Ohne Euch wäre ich sicher nicht mehr am Leben“, sagte Lillian mit leiser Stimme.
„Ach Papperlapapp! Ich habe nur meine Christenpflicht getan. Und nenne mich Emma, ich bin schließlich keine von diesen hohen Damen, sondern nur eine einfache Köchin. Brian hat mir schon ein wenig erzählt …“
Sie wurde durch sein mürrisches Grunzen unterbrochen. „Pah! Jeden Satz, den die Kleine von sich gegeben hat, musste ich dir fünfmal wiederholen.“
Emma zuckte mit ihren runden Schultern. „Nur, weil man dir altem Stiesel jedes Wort aus der Nase ziehen muss. Wie ich dich kenne, war es trotzdem nur ein Bruchteil von allem.“
Sie griff in den Korb, den Brian neben der Tür abgestellt hatte und holte einen Krug mit Hühnerbrühe und einen dicken Kanten Brot heraus. Als Lillian alles aufgegessen und sich etwas frisch gemacht hatte, konnte Emma ihre Neugier nicht mehr zügeln und bat das Mädchen, ihr doch bitte die ganze Geschichte noch einmal zu erzählen. Diese gab dem Drängen, der ohne Frage sehr neugierigen, aber ebenso liebenswerten Frau, gern nach und erzählte bereitwillig alles, was diese wissen wollte. Am Ende ihres Berichtes tupfte Emma sich beherzt die Tränen weg, die ihr dick aus den Augen quollen. „Hab keine Angst, mein Schatz, du bist nicht allein. Ab jetzt werde ich mich um dich kümmern!“
„Grunz“, kam es aus der Ecke in die sich Brian zurückgezogen hatte.
„Ach halt doch den Mund, du alter Zausel! Nicht jedem gefällt ein Leben jenseits aller Zivilisation.“
Lillian folgte amüsiert dem Wortwechsel des betagten Geschwisterpaares. Auch wenn die beiden sich noch so angifteten, konnten sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich im Grunde ihres Herzens liebten.
„Ich wäre sehr dankbar für jede Hilfe, die ich bekommen kann“, sagte sie beschwichtigend und meinte es auch so.
Emma warf ihrem Bruder einen langen triumphierenden Blick zu.
„Aber natürlich, mein Schatz. Als Erstes müssen wir dir etwas Neues zum Anziehen besorgen. Aus den Resten deines alten Kleides kann man sicher noch etwas machen. Bis dahin bitte ich Helen, dir eines von ihren zu leihen. Sie hat die gleiche Statur wie du und auch sonst besteht eine gewisse Ähnlichkeit. Man könnte euch durchaus für Schwestern halten. Sie arbeitet als Magd bei Hofe. Ihr werdet euch sicher blendend verstehen.“ Emma hielt kurz inne. „Ach! Da fällt mir ein, dass in ein paar Wochen eine Stelle als Magd frei wird. Geraldine wird heiraten und dann auf dem Hof ihres Mannes leben ... Brian, du kennst sie doch. Die kleine Geraldine?“
„Grunz“, war die Antwort, der man sein fehlendes Interesse an Geraldines Hochzeitsplänen deutlich entnehmen konnte.
„Wer hätte gedacht, dass sie vor Helen zum Altar schreitet. Du musst wissen, dass Helen und ihr Verlobter John schon lange ans Heiraten denken, aber sie müssen wohl noch ein wenig für die Aussteuer sparen. John arbeitet als Stallknecht in den Stallungen unseres Königs und wird für seine Arbeit sehr geschätzt ... Nun ja, wenn du magst kann ich mich dafür einsetzen, dass du Geraldines Stelle bekommst. Es ist ein recht schönes Arbeiten bei uns im Schloss. Du darfst natürlich nicht faul sein, aber wenn du deine Sache ordentlich machst, wird dich niemand schlecht behandeln.“
Lillian dachte einen Augenblick lang nach. Sie hatte eh nicht die Wahl abzulehnen. Und abgesehen davon, war es das verlockendste Angebot, das ihr in der letzten Zeit unterbreitet worden war. Sie sagte mit großer Freude zu.
In den nächsten beiden Wochen erholte sie sich schnell und übernahm bald viele Tätigkeiten im Haushalt des gutmütigen Heilers. Sie verstanden sich prächtig - ohne viele Worte. Für Unterhaltung sorgte Emma, die allabendlich vorbeikam und sie mit Resten aus der Schlossküche und dem neuesten Klatsch versorgte.
Dann kam der Tag, an dem sie, wieder ganz bei Kräften, ihren Dienst als Magd antrat. Schloss Arden war ein beeindruckender Bau von stattlicher Größe und wirkte dennoch einladend auf den Betrachter. Es lag auf einer kleinen Anhöhe und gab den Bewohnern einen traumhaften Blick auf die kleine Stadt und das fruchtbare Umland frei.
Lillian wechselte mit dem winzigem Bündel, welches ihre ganze Habe darstellte, in den anderen Teil des Gesindehauses, in dem die Schlafräume der weiblichen Bediensteten untergebracht waren. Sie teilte sich ein Zimmer mit zwei anderen Mädchen. Ellen hatte sie bereits kennengelernt. Eine freundliche Brünette mit einer Stupsnase und etwas zu großen Zähnen, die das halbe Gesicht einnahmen, wenn sie breit lächelte. Das andere Bett gehörte Helen. Die Mädchen waren sich bisher noch nicht begegnet und Lillian brannte darauf, sich für das geborgte Kleid zu bedanken, welches sie auch heute noch trug.
Ihre erste Aufgabe bestand darin, zwei Eimer Wasser aus dem Brunnen zu holen. Gerade als sie sich über den Rand beugte, um den Schöpfeimer herunterzulassen, spürte sie zwei tellergroße Hände, die sich ihr von hinten um die Hüften legten und nun dabei waren, langsam nach oben zu wandern. Als Lillian aus ihrer Schreckensstarre erwachte, drehte sie sich rasch um und zog dem Lüstling den leeren Eimer über den Kopf. Er ging unsanft zu Boden.
„Wage es ja nicht mich anzufassen, du Wüstling!“, schrie sie ihm ins entsetzte Gesicht.
Er schien völlig aus der Fassung gebracht. „Ich dachte du wärest …“
„… neu hier und darum leichte Beute, was?“, fiel sie ihm lautstark ins Wort. „Aber nicht mit Lillian Anderson! Merk dir das!“
„Nein!“, flehte er. „So ist es nicht! Ich schwöre!“
Vom Lärm angelockt kamen ein paar andere Dienstboten auf sie zu.
„Was ist hier los?“, fragte ein älterer Knecht rüde. Mit zusammengekniffenen Augen erfasste er die Szene.
„Dieser Wüstling hat mich unsittlich angefasst“, antworte Lillian ihm schnell.
„Sag, dass das nicht wahr ist!“ Ein Mädchen hatte sich aus der Menge gelöst und blickte mit wütender Miene auf den Mann am Boden. Dieser rappelte sich langsam hoch und wischte sich mit dem Hemdsärmel das Blut von seiner aufgeplatzten Lippe.
„Nein, Helen, natürlich nicht! Ich dachte, dass du es wärst. Ich meine, sieh sie dir doch mal an! Sicher, von vorn seid ihr gut zu unterscheiden, aber ich habe sie nur von hinten gesehen. Und sie hat auch noch dein Kleid an!“
Helen musterte erst ihren Verlobten und dann ihre vermeintliche Konkurrentin. Plötzlich huschte ein Ausdruck der Erkenntnis über ihr hübsches Gesicht. Sie hatte andere Augen als Lillian und ihre Haare waren nicht so lockig, aber eine gewisse Ähnlichkeit war nicht zu verleugnen. Auch bei Lillian dämmerte es langsam. Sie brachen in herzliches Gelächter aus und stellten sich einander vor. Die Umstehenden sahen sich verständnislos an. Dann lösten die jungen Frauen die Situation auf. Helen tröstete ihren Verlobten mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange, was diesem ein breites, zufriedenes Grinsen entlockte. Nun, wo Lillian sich den vermeintlichen Wüstling genauer ansah, konnte sie wirklich nichts Gefährliches an ihm entdecken. John war ein großer, gutaussehender Bursche mit braunem Haar, das ihm in leichten Wellen in den Nacken fiel. Er hatte ein offenes freundliches Gesicht und stellte sich nun seinerseits vor. Diese turbulenten Ereignisse waren der Auftakt zu einer tiefen Freundschaft zwischen den drei jungen Leuten.
Als sie ihr Tagewerk vollbracht hatten, kehrten sie gemeinsam zum Gesindehaus zurück. Nach dem Abendmahl, welches aus einer schmackhaften Suppe und Brot bestand, gingen sie nach draußen. Dort versammelte sich allabendlich die einfache Dienerschaft an einem Feuer, um das Neueste auszutauschen. Der Zwischenfall am Brunnen hatte schon die Runde gemacht und der arme John wurde zum Objekt des allgemeinen Spottes. Jeder versorgte ihn mit gut gemeinten Ratschlägen, wie er so etwas in Zukunft vermeiden könnte. Sie reichten von: 'Macht doch eine Parole aus!' bis zu 'Mal ihrein Kreuz über Brust und Hintern, damit du sie von vorn und von hinten erkennst!'
Er ließ es geduldig über sich ergehen. Dann blieb die ganze Aufmerksamkeit an der neuen Magd hängen und Lillian musste unzählige Fragen beantworten. Als sie erwähnte, womit sie früher ihren Lebensunterhalt bestritten hatte, wurde der allgemeine Wunsch nach einer Kostprobe ihres erzählerischen Talentes laut. Die junge Frau kam diesem Wunsch nur zu gern nach und erzählte eine ihrer Lieblingsgeschichten. Als sie geendet hatte und Held und Heldin nach bestandenen Prüfungen einander in den Armen lagen, war es zunächst mucksmäuschenstill. Nur das leise Knacken des fast heruntergebrannten Feuers durchbrach diese Stille. Dann, nach und nach, kamen die Zuhörer in die Wirklichkeit zurück.
„Du bist unglaublich!“, sagte der ältere Knecht vom Brunnen.
Lillian hatte schon erfahren, dass er bei allen, die im Gesindehaus lebten, hohes Ansehen genoss. Er hieß Simon und war so etwas wie der gestrenge gute Geist im Haus. Jetzt aber glänzten seine Augen wie die eines kleinen Kindes, das gerade sein erstes Stück Zuckerzeug verputzt hatte. Dann kehrten auch alle anderen wieder in die Realität zurück und klatschten begeistert in die Hände. Lillian hatte schon oft derartige Reaktionen auf ihre Erzählungen hin erlebt und doch machte sie die Gewissheit, anderen Freude gebracht zu haben, immer wieder selbst glücklich.
„Wie viele solcher Geschichten kennst du?“, fragte Ellen ganz aufgeregt.
„So viele, wie ihr wollt. Ich denke mir immer neue aus. Mit David habe ich oft ein Spiel gespielt. Er hat mir Figuren, Orte oder ein paar Handlungsteile seiner Wunschgeschichte genannt und ich musste daraus etwas Spannendes entwickeln.“
David hatte so einige Wetteinsätze verloren, nachdem er sich siegesgewiss völlig verrückte Vorlagen für Lillian ausgedacht hatte.
„Oh, das will ich erleben! Würdest du dieses Spiel mit uns auch machen?“, fragte ein Küchenmädchen sofort.
„Ja gern. Wann immer ihr wollt.“
„Schön, schön. Aber erst morgen! Es ist spät und die Herrschaft bezahlt uns nicht für schlechte Arbeit“, sagte Simon in einem Tonfall, der keinerlei Widerspruch duldete.
Man verabredete sich für den nächsten Abend, um das Experiment durchzuführen. Alle gingen zu Bett. Lillian fiel schnell, und so zufrieden wie lange nicht, in einen traumlosen Schlaf.
Kurz nach Sonnenaufgang ging sie an ihre Arbeit. Flink und gutgelaunt bewältigte sie die ihr gestellten Aufgaben. Um die Mittagszeit traf sie sich mit Helen zu einer kleinen Brotzeit. Sie setzten sich ins Gras, direkt neben die zum Bleichen ausgebreitete Wäsche, und genossen die warme Frühlingssonne.
„Wann wollt ihr eigentlich heiraten?“, fragte Lillian ihre neue Freundin.
„Nun, wollen würden wir sofort. John meint, dass wir in ein paar Jahren das nötige Geld zusammenhaben, um uns irgendwo ein Stück Land zu pachten. Bis dahin müssen wir uns halt noch in Geduld üben.“ Sie lächelte etwas wehmütig und blickte ins Leere. Dann riss sie sich aus ihren Träumen und sah zu Lillian. „Hast du dir schon überlegt was du uns heute Abend zum Besten geben willst?“
Diese schüttelte lächelnd den Kopf. „Du weißt doch, ich bekomme erst noch die Zutaten zu meiner Geschichte.“
Helen machte ein ungläubiges Gesicht. „Und das funktioniert wirklich? Ich meine … dir fällt wirklich immer etwas dazu ein?“
„Bis heute schon“, antwortete Lillian mit einem Achselzucken. „Es ist einfach da, verstehst du? Die Geschichten formen sich in meinem Kopf zusammen und ich muss sie nur noch herauslassen. Das war schon immer so. Manchmal, wenn meine Mutter uns eine Gutenachtgeschichte erzählte, habe ich ihr so lange hineingeredet, bis sie schließlich aufgab und mich selbst erzählen ließ.“ Lillian musste lächeln als sie daran zurückdachte.
„Ich glaube, es ist Zeit wieder an die Arbeit zurückzukehren“, stöhnte Helen und erhob sich gequält. „Wir sehen uns dann heute Abend. Ich bin schon sehr gespannt.“
Der Rest des Tages ging rasch vorbei. Als sich alle wieder ums Feuer versammelt hatten und voller Ungeduld auf Lillian blickten, schaute diese immer wieder zum Schloss. Helen hatte ihr gesagt, dass sie etwas später kommen würde, sie die anderen aber deshalb nicht warten lassen sollte. Also blickte sie in die Runde und zeigte auf zwei Männer und drei Mädchen, welche ihr jeweils ein Stichwort für ihre Geschichte geben sollten. Die Ausbeute bestand aus folgenden Worten: Drache, Wunderkraut, Ritter, sprechender Ziegenbock und Diadem. Ihre Zuhörer sahen die junge Frau herausfordernd an, aber im Kopf der Erzählerin bauten sich schon die Bilder zusammen ...
Dann gingen sie gemeinsam mit dem Ritter Rotbart auf die abenteuerliche Reise zur Drachenhöhle, wo er mit Hilfe eines Ziegenbocks, der durch die Wirkung des Wunderkrautes Weisheit und Sprechvermögen erlangt hatte, dem mehrköpfigen Drachen das Diadem entwand, welches er seiner Auserwählten dann zu Füßen legte.
Als alle ihrer Begeisterung Luft machten, stieß auch endlich Helen zu ihnen. „So wie es klingt, hast du das Spiel für heute gewonnen“, sagte sie und streckte ihre müden Beine aus. „Schade, dass ich nichts davon mitbekommen habe.“
Lillian setzte sich zu ihrer Freundin. „Es gibt sicher noch mehr Gelegenheiten für Geschichten. Aber wo bist du so lange gewesen?“
Die Befragte stieß einen verächtlichen Laut aus. „Unser ach so edler Thronfolger hat mal wieder beschlossen, mit seinen noch edleren Freunden ein kleines Fest in seinen Privatgemächern zu feiern. Sie trinken eine Karaffe Branntwein nach der anderen. Und jedes Mal, wenn man mit einer neuen den Raum betritt, werden sie aufdringlicher, die feinen Gäste. Und der junge Herr sagt kein Wort. Eine widerliche Bagage!“ Helen war rot angelaufen vor Zorn.
„Und König Aron? Sagt er nichts zu den Ausschweifungen seines Sohnes? Bei allem was ich über ihn gehört habe, wird er wegen seiner Weisheit, Gerechtigkeit und Güte bis über die Landesgrenzen hinaus geschätzt.“ Lillian sah ihr Gegenüber fragend an.
„Nun, Simon ist hier schon seit fast dreißig Jahren in Stellung. Er sagt, dass Raven bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr allen Anschein erweckte, einmal in die Fußabdrücke seines Vaters zu treten und zu seinem würdigen Nachfolger heranzuwachsen. Aber als unsere arme Königin an den Folgen eines Unfalls starb, hat er sich über Nacht in den Schatten seiner selbst verwandelt. Das ist jetzt etwa zehn Jahre her. Er und die Königin standen sich wohl sehr nahe. Aber bei allem Mitgefühl, König Aron hat seine Frau, nach dem was erzählt wird, auch sehr geliebt und musste ebenfalls mit ihrem Tod klarkommen. Statt dem Vater in seiner Trauer beizustehen, schien Raven sich regelrecht von ihm abzuwenden. Ganz so, als gäbe er ihm die Schuld an dem Unglück.“
Lillian blickte auf. „Und ... hatte er? Ich meine Schuld an dem Unglück?“
Helen schüttelte den Kopf. „Ich war noch sehr jung damals, aber ich weiß, dass er zu der Zeit gar nicht bei Hofe weilte. Wichtige Verhandlungen hielten ihn für mehrere Wochen im Nachbarreich fest.“
Sie schwiegen einen Moment.
„Was ist eigentlich genau passiert?“, wollte Lillian wissen.
„Nun, man erzählt sich, dass die Königin, durch eine Krankheit geschwächt, unglücklich gefallen sein soll. Genaueres ist nie bekannt geworden. Der König hat lange getrauert, sich dann aber wieder in seine Pflichten gestürzt. Er hat nie wieder geheiratet, obwohl es an willigen Damen sicher nicht mangelte. Er ist auch jetzt noch ein beeindruckender Mann. Raven sieht ihm sehr ähnlich. Nur Mund und Nase hat er wohl von seiner Mutter. Aber sein Wesen gleicht eher dem eines Gespenstes, das zu viel trinkt. Manchmal kann man sich wirklich fürchten, wenn er mit diesem leeren Blick in seinen Gemächern sitzt.“ Sie gähnte herzhaft. „Lass uns jetzt zu Bett gehen! Der Tag morgen wird wieder lang.“
In dieser Nacht konnte Lillian lange nicht einschlafen. Sie fragte sich, ob nicht irgendein Geheimnis hinter dieser ganzen Geschichte steckte. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag Emma darauf anzusprechen. Wenn eine darüber etwas wusste, dann sicher sie.
Doch ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Emma brach zwar fast in Tränen aus, als sie ihr vorschwärmte, was für ein netter, anständiger Bursche Raven bis zu diesem Unglück doch gewesen war und dass es einem das Herz bräche, ihn so verändert zu sehen, aber auch sie hatte bis heute nicht mehr über die genauen Geschehnisse in Erfahrung bringen können. Diese Tatsache bestärkte Lillian in der Annahme, dass an ihrer Vermutung etwas dran war. Hatte am Ende der junge Herr etwas mit dem Unfall zu tun? Warum dann aber sein Bruch mit dem Vater? Nein, es schien etwas komplizierter zu sein. Aber es ging sie im Grunde auch nichts an. Sie hatte genug damit zu tun, ihr eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Die nächsten Wochen verliefen in geordneten Bahnen. Mittlerweile fand sich Lillian in allen Arbeits- und Wirtschaftsräumen gut zurecht. Zu ihrem Bedauern war sie allerdings noch nicht bis zu den Räumen der Herrschaft vorgedrungen. Zu diesem Flügel des Schlosses hatte im Allgemeinen nur das höhere Dienstpersonal Zutritt. Die Kammerdiener und Zofen waren auch direkt im Gebäude untergebracht, um so rund um die Uhr für die Herrschaft da zu sein. Nur ein paar der Küchenmägde durften gelegentlich diese Räume betreten, um Speisen und Getränke aufzutragen. Zu denen gehörte seit Neuestem auch Helen. Da sie den Zofen von Lillian und ihren Erzählungen am Feuer vorgeschwärmt hatte, war die allabendliche Runde von Zuhörern inzwischen weiter angewachsen. Auch Clark, einer der Kammerdiener des Königs, gehörte nun zu Lillians Bewunderern. Seit Wochen nutzte er jede Gelegenheit, um dabei zu sein und ging immer als einer der Letzten.
So auch heute. Lillian bemerkte nicht, wie sie von seinen gierigen Blicken regelrecht ausgezogen wurde. In seinen Gedanken erzählte sie ihm etwas anderes als ihre unschuldigen Geschichten. Da flüsterte sie ihm leise schmutzige Worte ins Ohr. Bei dieser Vorstellung reagierte sein Körper heftig und er kreuzte die Arme rasch über seinem Schoß, als er das eindeutige Ziehen in seinen Lenden spürte. Er wollte sie haben. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass eine einfache Magd ihn zurückwies, zur Not mit Gewalt!
Es war inzwischen Sommer geworden. Die Nächte waren angenehm warm und der Wind wehte den schweren Duft der Felder herüber. Alle genossen den verdienten Feierabend und unterhielten sich über dies und das. Das leise Gewirr der Stimmen hörte man bis zum Schloss.
Raven saß in seinem Schlafgemach im Dunkeln. Er hielt ein Glas starken Weines in der Hand, den Blick ins Leere gerichtet. Die letzte Nacht hatte er mit seinen sogenannten Freunden durchzecht. Keiner von ihnen bedeutete ihm auch nur das Geringste, doch sie halfen ihm dabei, die Schatten der Vergangenheit aus seinem Kopf zu vertreiben.
Sie - und der Branntwein. Wie Dämonen kamen die Erinnerungen Nacht für Nacht in sein Hirn. Er wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal durchgeschlafen hatte, ohne sich zuvor besinnungslos zu trinken. So wie gestern. Raven war heute gegen Mittag mit einem Brummschädel zu sich gekommen und hatte sich etwas zu essen bringen lassen. Seine Gemächer hatte er nicht verlassen, aus Angst, seinem Vater über den Weg zu laufen. Er konnte dessen vorwurfsvolle, manchmal sogar angewiderte Blicke nicht ertragen. Manchmal, wenn Raven großes Glück hatte, war eine Spur von Besorgnis in der Mimik seines Vaters zu erkennen. Natürlich konnte der große, immer pflichtbewusste König kein Verständnis für die Lebensweise seines Sohnes aufbringen. Wie sollte er auch. Raven wusste als Einziger über die genauen Ereignisse von damals Bescheid. Doch er hatte der Mutter versprochen zu schweigen, um den König zu schonen und nicht an seinen Pflichten zu hindern. Sie hatte sicher nicht geahnt, welche Last sie ihm damit aufbürdete. Immer wieder fragte er sich, was gewesen wäre, wenn er sein Versprechen gleich zu Beginn der ganzen Schwierigkeiten gebrochen hätte. Sicher, er war damals noch keine fünfzehn. Noch nicht erwachsen, aber eben auch kein Kind mehr. Er hatte eine falsche Entscheidung getroffen, als es darauf ankam. Wie sollte er je daran denken, die Verantwortung für ein ganzes Königreich zu übernehmen? Lange hatte Raven gehofft, der Vater würde sich zu einer neuen Ehe durchringen, um so noch einen geeigneteren Thronfolger zu zeugen. Aber das war nicht geschehen.
Manchmal suchte der Prinz in den bereitwillig offenen Armen einer Frau sein Vergessen. Besonders Ester, die Tochter des Schreibers, hatte ein Faible für ihn. Aber der kurze Rausch hielt nie lange an und er machte sich danach immer Gewissensbisse, das Mädchen ausgenutzt zu haben. Natürlich hatte er ihr eindeutig klargemacht, dass ihre Verbindung in keiner Weise von romantischer Natur war, noch je sein würde. Doch man konnte nie wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging.
Etwas riss ihn aus seinen Gedanken. Vom Gesindehaus drang Lachen zu ihm herein und starker Neid erfüllte seine Brust. Plötzlich wurde es ihm zu eng und zu stickig im Zimmer. Raven beschloss, seinen Wein auf dem Dach zu trinken. Dort gab es eine flache begehbare Stelle, die er schon als kleiner Junge gern aufgesucht hatte. Oben angekommen lehnte er sich an eine Dachschräge und sah in den Sternenhimmel.
Zu seinem Leidwesen musste er feststellen, dass man das Treiben vor dem Gesindehaus hier noch deutlicher vernehmen konnte. In der Hoffnung, etwas Ablenkung zu finden, hörte er einfach zu ...
„Lillian bitte, du hast schon seit fast einer Woche keine Geschichte mehr erzählt. Du bist doch wieder gesund und deine Stimme ist auch nicht mehr rau.“
Lillian hatte sich vor ein paar Tagen im Regen erkältet. Leichtes Fieber und eine starke Heiserkeit waren die Folge. Sie war froh gewesen, nach dem schweren Tagewerk gleich ins Bett gehen zu können und darum dem Beisammensein ferngeblieben. Sie erzählte zwar auch sonst nicht jeden Abend ihre Geschichten, aber so lange mussten die Freunde noch nie darauf verzichten.
„Schon gut, ich tue es ja schon!“, lachte sie. „Aber heute darf ich die Geschichte selbst auswählen.“
Dieses Recht gestanden ihr alle bereitwillig zu.
„Diese Geschichte ist etwas länger und wir werden sie heute nicht schaffen, aber ich mag sie sehr und ihr werdet sie sicher auch mögen.“
Sie begann zu erzählen und alle verfolgten gespannt die Abenteuer des Bauernburschen, der es durch Beharrlichkeit und Selbstbewusstsein zu Wohlstand und Ansehen brachte.
Als Raven ihre Stimme hörte, zusammen mit der Art wie sie erzählte, fühlte er sich wie damals als kleiner Junge. Seine Mutter war mit der gleichen Gabe gesegnet gewesen und selbst der König gesellte sich, wann immer er konnte zu ihnen, um seiner Frau zuzuhören. Genau wie dieses Mädchen dort unten hatte sie es geschafft, die Gegenwart vergessen zu lassen. Auch auf mancher Gesellschaft bat man um die Gunst ihres Vortrages. Besonders James, der Bruder des Königs, war ihrem Talent verfallen und konnte nie genug davon bekommen. Der Prinz ließ sich ganz auf den Zauber, der von Lillians Stimme ausging, ein und hoffte, sie würde nie aufhören zu reden. Das berauschende Gefühl hielt zu seiner Freude an, als er ihr Versprechen vernahm, morgen weiterzuerzählen. Mit der Aussicht, dieses Erlebnis am nächsten Tag erneut haben zu dürfen, drifteten seine Gedanken zum bereits Gehörten zurück, bis er an Ort und Stelle in einen festen Schlaf fiel ...
Raven erwachte bei Sonnenaufgang und fühlte sich so gut wie ewig nicht. Trotz der Schmerzen im Rücken, welche von der harten Dachschräge herrührten, fühlte er sich sonderbar leicht. Er stellte sich aufrecht und blickte über das Land. Eines Tages sollte er darüber wachen und herrschen. Sofort spürte er den schon vertrauten Druck in der Brust. Seine Dämonen waren nach Hause zurückgekehrt.
Als Lillian an diesem Tag mit ihrer Arbeit beginnen wollte, wartete Emma schon am Dienstboteneingang. Ihrem Gesicht nach zu urteilen war sie kurz vor dem Platzen, wenn sie die guten Nachrichten nicht sofort loswurde, die sie offensichtlich hatte. „Endlich! Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr. Ich habe großartige Neuigkeiten für dich. Eine der Küchenmägde hat gekündigt. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass du ihre Stelle bekommst. Ist doch besser als putzen und Wäsche waschen. Und du bist die ganze Zeit in Helens und meiner Nähe. Du freust dich doch, oder?“
Lillian, etwas überrumpelt von diesem frühmorgendlichen Überfall, musste sich erst einmal sammeln. Sie hatte schon lange gehofft, irgendwann zum Küchenpersonal wechseln zu dürfen, denn diese Arbeit war nicht ganz so schwer wie die der einfachen Mägde.
„Natürlich freue ich mich!“ Sie nahm die kleine runde Frau in den Arm und presste sie fest an sich. Emma war zufrieden und sie betraten gemeinsam Lillians neue Wirkungsstätte. Sie kannte die Räume natürlich schon, sah nun aber alles mit anderen Augen. Die Schlossküche war ein großer Raum mit einem hohen Kreuzgewölbe. Die weiß geschlämmten Wände hatten hier und da ein paar Rußspuren von den mit Holz beheizten Herdstellen. Überall standen Kochgeschirr, Gewürzdosen, Bottiche mit Mehl und was man sonst noch so braucht, um für das leibliche Wohl der Herrschaft und deren Hofstaat zu sorgen. Von der Decke hingen Pfannen und Kellen in allen Größen, so dass man an manchen Orten Gefahr lief, sich zu stoßen. Aber laut Helen gewöhnte man sich schnell daran, an den gefährlichsten Stellen den Kopf einzuziehen.
Als Erstes ging es ans Brot backen. Eine sehr kraftraubende Angelegenheit, wie Lillian feststellen musste. Auch hier hatte Helen einen guten Rat. „Denk einfach an irgendetwas Schlechtes oder an jemanden, der dich wütend macht. Dann lass die angestaute Wut am Teig aus. Das setzt ungeahnte Kräfte frei, glaub mir!“
Bei Lillian blieb das versprochene Wunder leider aus und sie war froh, als es ans Gemüse schneiden ging. Nach dem Mittag kam Helen mit einem großen runden Weidenkorb auf sie zu.„Komm mit in die heiligen Hallen! Wir müssen das schmutzige Geschirr der Herrschaft holen.“
Lillians Herz hüpfte vor Freude. „Du meinst, ich sehe jetzt die Privaträume unseres Königs?“
„Nein, tut mir leid, Liebes, aber es sind zumindest die Privatkorridore. Das Geschirr wird von den Dienern der Herrschaft in einer Ecke des Flures abgestellt. Da packen wir es in den Korb und verschwinden wieder. Aber leg vorher deine schmutzige Schürze ab! Die Herrschaft will sicher keine Fettspritzer sehen, sollte sie uns über den Weg laufen.“ Sogleich lebte Lillian wieder auf. „Du meinst das könnte passieren?“
„Nun, einmal im Monat vielleicht.“
Der frische Keim der Hoffnung zog sich jäh wieder in seine Wurzeln zurück. Zügig stieg Lillian hinter Helen die Treppe hinauf. Die Korridore schienen endlos lang zu sein. Die gewölbte Decke über ihnen war mit zahlreichen, handgemalten Deckengemälden verziert, auf denen ausschließlich Jagdszenen zu sehen waren. Durch eine Fensterfront, mit Blick auf den Innenhof des Gebäudes, fielen die Strahlen der frühen Nachmittagssonne, so dass man die kleinen Staubpartikelchen darin tanzen sah. Unter ihren Schuhen spürte Lillian den roten dicken Teppich einsinken.
„Hier ist es“, sagte Helen. Dort stand, durch einen schweren Vorhang verdeckt, ein Tisch mit einer beachtlichen Anzahl Tassen und Tellern. Sie luden alles in den Korb und machten sich auf den Rückweg. Da öffnete sich plötzlich eine der großen Eichentüren. Zu ihrer Enttäuschung musste Lillian feststellen, dass es sich weder um König Aron, noch um seinen Sohn handelte, sondern um Clark, den Kammerdiener seiner Majestät, der ihnen den Weg versperrte.
Mit einem herablassenden Lächeln trat er vor sie hin. „Oh, unsere begnadete Erzählerin! Welch angenehme Überraschung dich hier zu sehen.“
Das Mädchen musterte ihr Gegenüber kurz. Mit seinen blonden, ordentlich zusammengebundenen Haaren und der gutsitzenden, sauberen Dienstuniform, war er ein durchaus ansehnlicher Mann. Aber irgendetwas an ihm missfiel ihr. Seinen Augen fehlte jegliche Wärme und Güte.
„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Clark und ich bin ein großer Freund deiner Kunst. Ich hoffe, du gestattest mir, mich heute Abend erneut zu euch zu gesellen?“
Lillian antwortete zögernd aber freundlich: „Natürlich! Es darf schließlich jeder kommen, der will. Und vielen Dank für das freundliche Kompliment.“
Seine kalten Augen musterten sie und sie fühlte sich unwohl dabei.
„Oh, das ist nur die reine Wahrheit“, säuselte er. „Einen schönen Tag noch, die Damen!“
Er sah ihnen süffisant lächelnd nach. 'Wäre doch gelacht, wenn ich nicht schon heute Nacht im weichen Heu bei dieser kleinen Hexe liegen würde …'
Helen schüttelte sich übertrieben. „Da hast du dir ja einen tollen Verehrer an Land gezogen. Immer wenn ich ihm in die Augen sehe, ist mir so, als würde mir jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gießen. Lass dich lieber auf nichts mit dem ein.“
Lillian machte große Augen. „Wo denkst du nur hin. Das würde mir nicht mal im Traum einfallen!“
Helen zuckte mit einer Schulter. „Dann ist es ja gut.“
Raven hatte den Tag mit einem kurzen Ausritt ins Umland begonnen. Als er zurückkam richtete ihm eine Zofe aus, dass sein Vater auf seine Anwesenheit beim Mittagessen bestand. Raven war alles andere als erfreut und entließ das arme Dienstmädchen mit einem unfreundlich gebrummten Kommentar. Als er sich schließlich zu Tisch begab, wartete sein Vater bereits etwas ungehalten.
Raven sah ihn an. Er hatte immer noch diese machtvolle Aura, die jeden in seiner Nähe einschüchterte. Das Haar des Königs war einst genauso nachtschwarz gewesen wie das seines Sohnes. Jetzt, im Alter von fünfzig Jahren, bekam es einen Silberschimmer, der seine tiefdunklen Augen noch mehr zur Geltung brachte. Es lag voll und schwer auf den breiten Schultern. Der schmale Mund wurde von einem gepflegten Bart umrandet. Als er aufstand, um seinen Sohn zu begrüßen, befanden sich beide Männer auf Augenhöhe. Raven war eine jüngere Version seines Vaters, nur trug er keinen Bart und sein Mund hatte einen weicheren Zug als der des Älteren.
„Schön dich wohlauf zu sehen, mein Sohn. Ich habe ein paar wichtige Dinge mit dir zu besprechen.“ Aron forderte ihn mit einer Geste auf, sich zu setzen.
Als das Mahl aufgetragen war, entließ er die Dienerschaft nach draußen.
„Dein Onkel James hat mir geschrieben. Er und seine Frau werden bald für ein paar Wochen zu uns kommen.“
Das waren durchaus gute Nachrichten, denn Raven mochte seinen stets zum Scherzen aufgelegten Onkel sehr gern.
„Wie es aussieht, bleibt auch seine zweite Ehe kinderlos. Er denkt darüber nach, sein Erbe eines Tages dir zu vermachen, sofern sich daran nichts ändert. Das bedeutet, dass du, gesetzt den Fall er würde vor mir sterben, Herr über seine Ländereien wirst, noch bevor du dein Amt als mein Nachfolger antrittst.“
Er machte eine Pause und holte hörbar Luft.
„Raven! Du musst endlich aufwachen! Wenn du das nicht von alleine schaffst, werde ich dich dazu zwingen müssen. Erspare uns beiden diese Schmach. James weiß noch nichts von deinem Lebenswandel und wähnt sein Erbe bei dir in sicheren Händen. Du bist für ihn wie ein eigener Sohn.“