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Im Alter von zehn Jahren überlebt Falko von Kaltenstein als Einziger seiner Familie einen tödlichen Hinterhalt. Ihm wird sofort erschreckend klar, dass Fürst Siegmund, der Vetter seines Vaters, hinter allem steckt und er schwört Rache. Nur ein paar eingeweihte Freunde seines Vaters wissen, dass der Junge am Leben ist. Unter ihrer Aufsicht wächst er zum Mann heran. Gemeinsam entwickeln sie den Plan, Falkos rechtmäßiges Erbe zurückzuerobern. Von Hass und Rachegefühlen getrieben, will er Siegmund Stück für Stück alles nehmen, so wie dieser ihm einst alles nahm. Doch als Falko dessen Tochter Luise wiederbegegnet, der er als Knabe versprochen war, überrollen ihn seine Gefühle.
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Seitenzahl: 307
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Carola Schierz
Schwur auf Rache
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Einige Jahre zuvor …
Verrat
Schwur auf Rache
Aufbruch in ein neues Leben
Das geheime Lager
Die Rächer
Veränderungen
Ein (un)ruhiges Fest
Der trojanische Plan
Luises Entführung
Ein riskanter Plan
Der Prozess
Neubeginn
Impressum neobooks
Es waren nur noch wenige Meter bis zum Waldrand. Er konnte sehen, wie die Sonnenstrahlen immer stärker durch das lichter werdende Dickicht drangen. Dann verließ er den Schutz der Bäume und lenkte sein Pferd auf die Spitze des grünen Hügels. Hier hatte man die beste Sicht auf Schloss Kaltenstein. Er saß ab und ließ Parsifal von dem saftigen Gras fressen. Äußerlich ruhig sah er sich um, doch in seinen Eingeweiden brannte der blanke Hass. Die grauen Augen blieben auf dem Schloss ruhen – seinem Schloss!
Es thronte auf einer kleinen Anhöhe über der Stadt. Ein verspielter Bau mit mehreren Türmchen, die sich in das Blau des Himmels erstreckten. Sein Urgroßvater musste ein ausgemachter Romantiker gewesen sein.
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sich Heinrich von Kaltenstein nie zum Bau dieses Schlosses entschieden hätte. Aber es war nun einmal so wie es war und er würde alles daran setzen, was in seiner Macht stand, um das Erbe seines Vaters zurückzuerobern. Noch saß Fürst Siegmund ahnungslos auf dem Thron und wusste nichts davon, dass er, Falko von Kaltenstein, hier war, um ihm alles zu nehmen. So wie auch ihm einst alles genommen wurde. Seine Heimat, seine Würde, seine Familie – sein ganzes Leben! Erst wenn Falko dieses Ziel erreicht und Siegmunds Untat gerächt hatte, würde seine verwundete Seele vielleicht zur Ruhe kommen.
Jetzt endlich war es so weit! Seit Jahren hatte er darauf gewartet. Nun würde er der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen ...
„Beeile dich, Falko, die Kutsche steht schon bereit!“ Liebevoll blickte Katharina von Kaltenstein auf ihren Ältesten.
„Einen Moment noch, Mutter. Ich muss nur noch meine Armee einpacken! Sie werden uns auf der Reise zur Burg beschützen!“ Schnell beförderte der Junge seine kleine Armee in ein Stoffsäckchen. Er liebte die handgeschnitzten Figuren über alles. Keinen Schritt machte er ohne sie aus dem Schloss. Der kleine Trupp war ein Geschenk von Hauptmann Gernot, dem Befehlshaber der Wachmannschaft seines Vaters. Gernot hatte ihn selbst gefertigt und dem Sohn des Fürsten zu dessen achtem Geburtstag geschenkt. Das war nun schon fast zwei Jahre her. Falko verbrachte viel Zeit mit dem väterlichen Freund. Gernot beantwortete dem neugierigen Jungen bereitwillig alle Fragen und brachte ihm spielerisch einfache Kampftricks bei, die ihm bei seiner späteren Ausbildung von Nutzen sein konnten.
Heute wollte die Fürstenfamilie nach Kaltenstein-Burg reisen. Dort wohnte der Vetter des Fürsten, Siegmund, mit seiner Frau Dora und Töchterchen Luise. In zwei Tagen feierte Luise ihren neunten Geburtstag und wenn es um seine Tochter ging, war Siegmund kein Aufwand zu hoch. Da er keine weiteren Kinder hatte, verwöhnte er das Mädchen, wo es nur ging und so plante man auch in diesem Jahr wieder ein großes Fest zu ihren Ehren.
Falkos Vater Friedrich war Herr über Schloss Kaltenstein und Siegmund regierte Kaltenstein-Burg. Sie hatten schon zu Luises Geburt die Abmachung getroffen, dass ihre Kinder später heiraten sollten, um so das alte Fürstentum wieder zu vereinen. Luise und Falko wuchsen in der Selbstverständlichkeit auf, eines Tages vermählt zu werden und zweifelten, dank ihres zarten Alters, keinen Moment an der Entscheidung ihrer Väter.
Einst hatte Heinrich von Kaltenstein, ihr Urgroßvater, allein über das gesamte Land geherrscht. Er lebte mit seiner Frau und den Söhnen Otto und Konrad auf der Burg und brachte es durch weise Herrschaft zu großem Reichtum. Er entschied sich dazu, in einem anderen Teil seines Landes ein Schloss zu errichten, um so der weniger komfortablen Burg zu entfliehen. Mehrere Jahre gingen dahin, bis der Bau endlich abgeschlossen war.
Dann, als Otto und Konrad alt genug waren und Fürst Heinrich sich zur Ruhe setzte, entschied er, seinen Besitz unter ihnen aufzuteilen. Otto, der Erstgeborene, bekam Schloss Kaltenstein und die umliegenden fruchtbaren Ländereien. Konrad wurde Eigentümer von Burg Kaltenstein und dem dazugehörigen Steinbruch. Dieser hatte nicht unwesentlich zum Reichtum der Familie beigetragen, da alle größeren Baustellen im Umland ihre Steine daraus bezogen. Die Einkünfte aus dem Holzhandel und den Märkten teilten sie gerecht. Als Grenze zwischen beiden Herrschaftsbereichen diente ein Fluss, der das Land natürlich in etwa gleichgroße Hälften teilte: Kaltenstein und Kaltenstein-Burg. Alle waren mit dieser Lösung zufrieden und lebten in völliger Eintracht und Harmonie.
Otto gab seinen Besitz später an Sohn Friedrich weiter. Die beiden älteren Töchter verheiratete er standesgemäß. Fürst Konrads Erbe fiel an sein einziges Kind Siegmund.
Jetzt sollte endlich alles wieder zusammengeführt werden - doch Machtgier und Habsucht warfen ihre dunklen Schatten voraus.
Falko saß neben dem Kutscher, wie er es am liebsten tat, und ließ sich die warme Maisonne auf die Nase scheinen. Langsam fand er seine gute Laune wieder. Diese war ihm abhandengekommen, als er erfahren musste, dass Gernot sie diesmal nicht begleiten würde. Der Hauptmann war seit zwei Tagen mit Fieber ans Bett gefesselt und hatte keine Chance, sich auch nur für ein paar Minuten aufrecht im Sattel zu halten. Falko kannte zwar die meisten Soldaten des Begleittrupps, aber es war nicht dasselbe, ohne den älteren Freund.
Bis zur Burg hatten sie etwa fünf Stunden Fahrt vor sich. Ein Teil der Strecke führte entlang der Handelsstraße, vorbei an kleinen Siedlungen und weiten Feldern. Danach ging es durch den Wald und Falko sog den starken Geruch von Harz und Tannennadeln in sich auf. An einer Lichtung machten sie ein Picknick. Die Diener richteten alles nett her und Falko spielte derweil mit seinen beiden kleinen Schwestern Verstecken. Danach ließen sie es sich schmecken und genossen fröhlich das seltene Zusammensein der ganzen Familie.
Zum frühen Nachmittag traf die kleine Gesellschaft auf der Burg ein.
Siegmund von Kaltenstein-Burg und seine Frau Dora begrüßten ihre Gäste aufs Freundlichste. Luise stand etwas abseits und äugte immer wieder vorsichtig zu ihnen herüber. Die Kaltensteiner waren es schon gewöhnt, dass das Mädchen immer eine Zeit brauchte, um sich zu öffnen und winkten ihr nur kurz zu. Falko seinerseits musterte sie aufmerksam. Luise war ein ausgesprochen hübsches Mädchen. Sie hatte langes rotbraunes Haar, eine kleine Stupsnase und einen süßen Schmollmund. Das Auffälligste aber waren ihre ungewöhnlich grünen Augen. Jeder, der sie zum ersten Mal sah, wurde von ihrem Blick gefesselt, fast so, als würde das Kind hypnotische Fähigkeiten besitzen.
Bei einer Tasse Tee und etwas Gebäck plauderte die kleine Gesellschaft über alles, was sich in der Zeit seit ihrem letzten Zusammentreffen ereignet hatte.
„Was machen die Geschäfte?“, erkundigte sich Fürst Siegmund irgendwann interessiert bei seinem Vetter. Er war ein hagerer Mann Ende dreißig, mit dunklem Haar und einem dichten Vollbart. Sein Blick wirkte kühl und durchdringend, auch wenn er immer sehr freundlich schien. Fürst Friedrich dagegen hatte, genau wie sein Ältester, dunkelblondes leicht gelocktes Haar. Oft fiel es ihm störrisch ins Gesicht und ließ ihn noch immer sehr jugendlich wirken.
„Alles zum Besten. Wir hatten im letzten Jahr eine Rekordernte und die Einkünfte aus den Märkten können sich auch sehen lassen, wie du selbst weißt. Wir werden unseren Kindern, sollte uns das Glück weiter so hold sein, ein stattliches Erbe hinterlassen!“
Bei den letzten Worten des Vaters schaute Falko peinlich berührt auf seinen Teller. Dann hob er den Blick und begegnete den grünen Augen. Luise schaute ihn mit einem breiten Grinsen an. Im Gegensatz zu ihm liebte sie es, wenn dieses Thema zur Sprache kam. Dann fühlte sie sich wichtig und das wiederum mochte das verwöhnte Mädchen besonders gern. Falkos Schwestern kicherten albern, was seinem Wohlbefinden nicht gerade dienlich war.
„Das klingt sehr zufriedenstellend, mein Lieber!“, antworte Siegmund und lächelte. „Lass uns in die Bibliothek gehen und detaillierter darüber reden. Die Damen langweilen sich bei geschäftlichen Themen doch nur und ich habe noch einige Fragen an dich!“ Mit einem entschuldigenden Blick zu ihren Frauen, erhoben sich die Männer und verließen den Raum.
„Und schon haben sie uns wieder verlassen“, stöhnte Dora resigniert auf. Sie war eine kleine, eher rundliche Person, mit einem sehr hübschen Gesicht und dem gleichen rotbraunen Haar wie Luise. „Ich bekomme Siegmund in letzter Zeit kaum noch zu sehen. Er hat immerzu irgendeine Besprechung und wenn er dann einmal bei mir ist, hängt er ständig seinen Gedanken nach.“
Katharina, eine große schlanke Frau mit edlen Zügen, strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn und sah sie mitleidig an. „Nun, meine Liebe, wir werden uns wohl damit abfinden müssen, dass unsere Männer mit Leib und Seele ihren Pflichten nachgehen. Aber lass uns das Beste daraus machen. Ich hätte Lust, noch auf einen Spaziergang um die Burg zu gehen. Nach der langen Fahrt wäre ein bisschen Bewegung sehr angenehm und die Kinder könnten noch ein wenig herumtollen.“
Dora fand die Idee gut. Sie mochte Katharina sehr und verbrachte gern Zeit mit ihr. Es war wunderbares Wetter und die Sonne stand noch recht hoch am Himmel.
Siegmund und Dora hatten die alte Burg aufwändig renovieren lassen und sich so ein behagliches Heim geschaffen. Blickpunkt in fast jedem der Räume waren die kunstvoll gestalteten Kamine. Verschiedene Meister der Bildhauerzunft hatten sich hier verewigt. Alle Wände erstrahlten in hellem Weiß, so dass man dadurch über den spärlichen Lichteinfall hinweggetäuscht wurde. Die Einrichtung war zum größten Teil im Jagdstil gehalten und an den Wänden befanden sich zahlreiche Trophäen von Siegmunds erfolgreichen Fährtengängen.
Durch das große Eichenportal verließen sie die Burg. Von der Sonne geblendet kniff Falko die Augen zusammen. Marie und Klara, seine Schwestern, liefen sofort voraus und spielten Fangen. Die beiden Damen waren in allgemeinem Klatsch vertieft und Falko ließ sich etwas zurückfallen, um seine Ruhe zu haben. Zu seinem Leidwesen musste er feststellen, dass Luise nicht von seiner Seite wich.
„Willst du nicht ein wenig mit den Mädchen spielen?“, fragte er sie genervt.
Sie ließ sich durch seine abweisende Haltung nicht beirren. „Nein, ich bleibe lieber bei dir!“ Mit der Hand wies sie auf das Stoffsäckchen an seinem Gürtel. „Was hast du da drin? Zeig es mir! - Bitte!“
„Nein, das geht dich nichts an! Das ist Männersache!“ Um seine Worte zu unterstreichen legte er schützend eine Hand über seinen Schatz.
Schmollend blickten ihn die smaragdgrünen Augen an.
'Wie eine Hexe!', dachte er bei sich, konnte aber nicht mehr ganz so hart bleiben. „Vielleicht zeige ich es dir ja ein andermal.“
Das schien das Mädchen ein wenig zu versöhnen. „Wie gefällt dir mein Kleid?“, fragte sie ein wenig zu keck für ihr Alter.
Falko zog die Stirn in Falten. Was interessierte ihn ihre Garderobe? Mürrisch zuckte er mit den Schultern. „Ganz nett. Ist mir aber ziemlich egal.“
Luise schien das nicht gehört zu haben, denn sie sprach schnell weiter. „Übermorgen in acht Jahren werde ich siebzehn! Dann werden wir beide heiraten und ich werde bestimmt die schönste Braut auf der ganzen Welt sein.“
„Kann sein“, antwortete er desinteressiert. Es war ihm egal, wie sie irgendwann als Braut aussah. Für ihn war das Ganze nur eine Art Pflichterfüllung, an der man nicht vorbeikam, wenn man erwachsen wurde.
„Dann werden wir für immer und ewig zusammen sein. Freust du dich schon?“, schwärmte sie weiter.
Falko stöhnte auf. Bei dem Gedanken allein, bekam er schon Panik. „Hör zu, ich habe jetzt wirklich keine Lust zum Reden. Außerdem werden wir überhaupt nicht viel zusammen sein, denn ich bin später ein großer Kriegsherr und fast nie zu Hause.“
Nun war Luise doch gekränkt und redete für den Rest des Tages kein Wort mehr mit ihm. Falko war damit zufrieden und beachtete sie nicht weiter.
Nach dem Abendessen las Luises Mutter allen noch ein wenig aus einem Buch vor. Dann wurden die Kinder zu Bett geschickt. Falkos Familie bewohnte drei der Gästezimmer. Eines seine Eltern, eines teilten sich Marie und Klara und zu seiner Freude hatte er das dritte ganz für sich allein. Im Bett packte er sofort seine hölzernen Freunde aus und spielte mit ihnen eine Schlacht nach. Immer wieder musste er den einen oder anderen Krieger zwischen den dicken Daunendecken suchen. Dann verstaute er sie alle wieder in das Säckchen und schob es unter sein Kopfkissen.
Am nächsten Morgen erwachte Falko, als die Magd mit frischem Waschwasser hereinkam und die Vorhänge öffnete.
„Eure Mutter lässt ausrichten, dass sie den jungen Herren zum Frühstück im Speisezimmer erwartet.“ Das Mädchen deutete einen Knicks an und verließ den Raum. Mit hochgereckten Armen ging Falko ans Fenster und streckte sich. Auch heute war das Wetter wunderbar. Sein Blick fiel auf den kleinen Teich im Burggelände und er beschloss, sich nach dem Frühstück heimlich davonzustehlen, um dort ungestört spielen zu können.
Genau das tat er dann auch. Nur seiner Mutter flüsterte er unter dem Siegel der Verschwiegenheit seinen Plan zu, damit sie sich keine Sorgen machte. Diese verstand ihren Sohn nur zu gut und sah ihm lächelnd nach.
Es wurde ein recht heißer Vormittag und Falko setzte sich zwischen die Büsche ans Ufer. Mit den Füßen im Wasser genoss er die Ruhe und spielte mit seiner Armee. Er war so in sein Spiel vertieft, dass er gar nicht bemerkte, wie sich Luise heranschlich. Das Mädchen hatte ihn zunächst in der Burg gesucht und dann von einem Fenster aus gesehen.
„Hier hast du dich also versteckt! Aber ich habe dich doch gefunden. Ätsch!“ Undamenhaft steckte sie ihm die Zunge heraus. Dann fiel ihr Blick auf die kleinen Figuren. „Waren die in dem Säckchen drin?“ Neugierig trat sie näher.
Da es nun eh keinen Sinn mehr hatte die Truppe zu verstecken, setzte er eine wichtige Miene auf und begann zu erklären: „Das ist meine Armee. Der hier ist der Hauptmann Parsifal. Das andere sind seine treuen Soldaten. Ich bin ihr Oberbefehlshaber!“
Verständnislos blickte Luise auf die Figuren. „Willst du darum später unbedingt in den Krieg ziehen? Ich finde das furchtbar! Meine Mutter sagt, im Krieg sterben Menschen. Ich will nicht, dass du tot bist!“
Falko fand es zwar sehr nett von ihr, dass sie sich um ihn sorgte, aber sein Entschluss stand nun mal fest. Er wollte sich von Gernot zu einem großen Krieger ausbilden lassen und dann mit seinen Männern die königlichen Truppen unterstützen. Dann würde er seine Eltern, mit unzähligen Orden an der schicken Uniform, stolz machen.
„Tja, aber Männer müssen nun mal ihr Land vor Feinden beschützen.“
„Wirst du mich auch beschützen?“ Wieder hatte sie die smaragdgrünen Augen auf ihn gerichtet.
„Mal sehen!“ Plötzlich griff Luise nach seinem Hauptmann. Er wollte nicht, dass sie ihn bekam und hielt Parsifal hoch über den Kopf. Schnell sprang das Mädchen auf und griff erneut danach. Dabei rutschte sie aus und fiel rücklings in den Teich. Erschrocken blickte Falko auf das aufgewühlte Wasser. Kurz tauchte Luises Kopf über der Oberfläche auf und sie schnappte nach Luft. Es war offensichtlich, dass sie nicht schwimmen konnte.
Ohne weiter darüber nachzudenken, sprang er hinterher und zog das Mädchen an Land. Keuchend und pitschnass lagen sie nebeneinander am Ufer.
„Meine Mutter wird schimpfen, wenn sie mich so sieht!“, flüsterte Luise atemlos.
„Denkst du etwa meine nicht?“, keuchte er zurück. „Wir müssen die nassen Sachen ausziehen und zum Trocknen aufhängen, dann merken sie vielleicht nichts.“ Als sie ihn mutlos ansah, meinte er schulterzuckend: „Zumindest können wir es ja versuchen.“
Beide zogen sich bis aufs Hemd aus. Als sie die Kleider über die Sträucher gelegt hatten, setzten sie sich wieder in die warme Sonne.
„Danke, dass du mich gerettet hast. Du bist ein Held!“ Schüchtern lächelte sie ihn an.
Falko hätte lügen müssen, wenn er nicht zugeben wollte, dass ihm diese Worte schmeichelten. „Schon gut, schließlich ist so was Ehrensache für einen zukünftigen Feldherrn.“ Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander.
„Was ist das?“ Luise strich mit dem Zeigefinger über den dunkelroten Fleck an seinem Oberschenkel.“
„Ein Muttermal! Also eigentlich hab ich das von meinem Vater. Er hat genau dasselbe.“
Aufmerksam sah sie hin. „Sieht aus wie ein kleiner Stiefel!“, meinte sie nachdenklich.
„Findest du? Hm, stimmt sogar. Hab mir da noch nie Gedanken drüber gemacht.“
Nun begannen sie ausgelassen zu plaudern. So ganz ohne ihren modischen Glanz, benahm sich Luise wie ein völlig normales Kind und Falko begann ernsthaft, sie zu mögen. Bald spielten sie sogar gemeinsam mit seinen Soldaten. Stolz erzählte ihr der Junge von seinem Freund Gernot und was der ihm schon alles beigebracht hatte. Mit einem Stock demonstrierte er verschiedene Kampfzüge.
Aufgeregt klatschte Luise in die Hände. „Das machst du toll! Sag mal, hast du nicht Lust, mein Ritter zu werden?“
Zunächst fand Falko die Idee albern, aber dann sah er an ihrem Gesicht, dass sie es ganz ernst meinte und war geschmeichelt. „Gut! Was muss ich denn dafür tun?“
Sie hatte rote Bäckchen vor Begeisterung. „Du musst vor mir niederknien und schwören, immer für mich da zu sein. So machen es die Ritter in Mutters Geschichten immer.“
Davon war Falko weniger begeistert, doch er wollte ihr die Freude gönnen. „Aber es bleibt unser Geheimnis! Das ist meine Bedingung.“
Sie willigte ein, auch wenn sie es schade fand, nicht mit ihrem Ritter angeben zu dürfen.
Als die Sachen trocken waren, und beide sich so gut wie möglich hergerichtet hatten, war der große Moment gekommen. Falko kniete vor Luise nieder.
Sie nahm seine Hand und sagte mit gewichtigem Tonfall: „Falko von Kaltenstein, willst du fortan mein Ritter sein, mir dienen, mein Leben mit dem deinen schützen und mir in der Not zur Seite stehen?“ Eigentlich war es nur ein Spiel, aber beide Kinder spürten, dass sie es sehr ernst meinten.
Aufrichtig blickten seine grauen Augen in ihre grünen, als er sagte: „Ich schwöre es!“
Von der Situation beeindruckt verharrten die Kinder noch einen Moment reglos, bevor sich der Junge erhob. Dann war der Zauber vorbei und sie mussten beide lachen. Schnell verfielen sie wieder in ihre ausgelassene Stimmung und kehrten gerade noch rechtzeitig zum Mittag in die Burg zurück.
„Luise, Falko! Wie seht ihr denn aus! Ist euch etwas passiert?“ Aufgeregt kamen beide Mütter auf sie zu. Ihre Kleider waren zwar wieder trocken, aber völlig zerknittert und ramponiert. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Geschichte zu erzählen. Geschockt bedankten sich Luises Eltern für deren Rettung und Falko genoss es erneut, der große Held zu sein.
Am Morgen von Luises neuntem Geburtstag wachte Falko mit einem flauen Gefühl im Magen auf. Er war erst sehr spät eingeschlafen. Lange hatte er über die Ereignisse am Teich nachgedacht und festgestellt, dass ihm die Zeit mit Luise sehr viel Spaß gemacht hatte. Inzwischen sah er in ihr so etwas wie eine gute Freundin. Mit reichlicher Überwindung rang er sich dazu durch, ihr ein besonderes Geburtstagsgeschenk zu machen. Er wollte dem Mädchen einen seiner Soldaten überlassen, damit der sie beschützen konnte, wenn Falko nicht da war, um seine Ritterpflicht zu erfüllen. Vorsichtig zog er das Stoffsäckchen unter seinem Kopfkissen hervor und breitete dessen Inhalt auf der Bettdecke aus. Bedächtig nahm er jeden der kleinen Kämpfer in die Hände. Dann hatte er sich entschieden. Anselm, sein ruhmreicher Schwertkämpfer, würde wohl am besten auf Luise achten. Er stellte den Auserwählten auf den Nachtschrank und beförderte den Rest der Truppe zurück in das Säckchen. Dann stand der Junge auf, um etwas zu suchen, womit man das Geschenk verpacken konnte. Aus Mangel an geeignetem Papier, griff er zu einem sauberen Taschentuch, welches seine Mutter mit Falkos Initialen bestickt hatte. Behutsam wickelte er Anselm darin ein und band das Ganze mit einer der Seidenschleifen zusammen, die ihm normalerweise für seinen Zopf dienten.
Als Falko im Esszimmer eintraf, war schon die ganze Familie um das stolze Geburtstagskind versammelt. Luise trug erwartungsgemäß ein nagelneues Kleid und ließ freudig die zahlreichen Glückwünsche über sich ergehen.
„Na das wird aber Zeit, mein Sohn!“, begrüßte Fürst Friedrich seinen Ältesten. „Komm her und gratuliere unserer lieben Luise zum Geburtstag!“
Peinlich berührt brachte ihr Falko, unter den Blicken der Anwesenden, seine Wünsche entgegen. In der linken Hosentasche spürte er das Geschenk gegen seine Leiste drücken. Auf keinen Fall wollte er es Luise jetzt geben, wo alle dabei zusahen. Darum gratulierte er nur höflich und war froh, als sie sich an den Tisch begaben, um zu frühstücken. Im Anschluss an die Mahlzeit erhob sich Fürst Siegmund würdevoll und bat alle Anwesenden nach draußen. Dort erwartete sie schon ein Stallbursche mit einem schönen braunen Fohlen, das liebevoll mit bunten Bändern geschmückt worden war. Freudig kreischend lief Luise auf das Pferdchen zu und schlang zärtlich ihre Arme um dessen Hals. Auch Falko und seine Schwestern gesellten sich dazu und bewunderten das großzügige Geschenk ausgiebig. Zufrieden über den Erfolg seiner Überraschung, bat Siegmund seine Gäste wieder in die Burg.
Falko und Luise blieben noch einen Moment allein. Darauf hatte der Junge nur gewartet. Schüchtern zog er das kleine Bündel aus seiner Hosentasche und überreichte es dem Mädchen wortlos.
„Oh! Du hast ein Geschenk für mich? Wie schön!“ Vor Überraschung und Neugierde bekam sie rote Flecken am Hals. Ungeschickt öffnete Luise das Tuch und machte große Augen, als die Figur zum Vorschein kam.
„Das ist Anselm. Er ist der beste Schwertkämpfer in meiner Armee und wird dich immer beschützen, bis ich es einmal selbst tue. – Ich hoffe du freust dich ein wenig!?“
Luise war beeindruckt. „Du willst ihn mir wirklich schenken? Ich weiß doch, wie viel dir deine Kämpfer bedeuten! Das ist sehr großzügig. Danke! Ich werde ihn immer bei mir tragen.“ Zu seiner Überraschung fiel ihm das Mädchen um den Hals und gab ihm einen schüchternen Kuss auf die Wange. Dann lief sie ohne ein weiteres Wort zurück zur Burg. Falko grinste übers ganze Gesicht, während er ihr nachschaute. So etwa mussten sich die Ritter gefühlt haben, wenn sie das holde Burgfräulein für sich gewonnen hatten.
Vielleicht war es ja doch nicht so schlimm, wenn man erwachsen wurde und heiraten musste …
Während des Tages blieben die beiden Familien noch unter sich. Sie redeten zusammen, spielten und spazierten mit dem Fohlen über das Burggelände.
Am Nachmittag begann der offizielle Empfang zu Luises Geburtstag. Zahlreiche geladene Gäste trafen ein, um dem Mädchen und damit vor allem ihrem Vater zu huldigen.
Am Abend wurde getanzt. Die Kinder hatten sich in eine Ecke des Saales zurückgezogen und beobachteten das Treiben. Falko fiel auf, dass Fürst Siegmund einen nervösen Eindruck machte. Wann immer es ihm möglich war, begab er sich an eines der Fenster und schaute kurz hinaus.
'Sicher hat er noch eine Überraschung für Luise vorbereitet!',dachte der Junge bei sich und war neugierig, was es wohl sein könnte. Dann schien Siegmund zu erspähen, was er erwartet hatte und verließ eilig den Saal.
Heimlich schlich Falko ihm nach. Doch zu seiner Enttäuschung sah er nur, wie Luises Vater mit einem hochgewachsenen Mann sprach. Dieser hatte langes dunkelbraunes Haar und trug Reitkleidung.
„… Ich verlange, dass alles reibungslos abläuft! Sonst wirst du mir persönlich dafür haften!“, hörte er Luises Vater gerade sagen. „Wenn du deinen Auftrag morgen zu meiner Zufriedenheit erfüllst, wirst du eine angemessene Belohnung erhalten und deine Männer ebenfalls. Keiner darf übrig bleiben! Ich hoffe, wir haben uns verstanden!“
Der Fremde verneigte sich kurz und Siegmund ging zurück in den Saal. Falko beobachtete, wie der Mann sich anschickte seine Handschuhe anzuziehen. Dabei fiel sein Blick auf eine große Narbe auf dessen linkem Handrücken und auf den Stumpf des abgetrennten kleinen Fingers. 'Bestimmt ist er ein Krieger'!, dachte Falko. Doch was sollte das für eine Überraschung sein? Vielleicht gab es ja doch keine.
Eine Stunde später schien der Junge seine Erklärung zu bekommen. Alle Gäste wurden nach draußen gebeten, um sich ein grandioses Feuerwerk anzusehen. Also war der Mann wohl doch kein Krieger und hatte seinen Finger eher beim Zünden eines Feuerwerkskörpers verloren. Aber wieso hatte Luises Vater von 'morgen' geredet? Nun, da hatte er sich wohl verhört. Staunend betrachtete er das Funkeln und Knallen am Nachthimmel. Zu schnell, so fand er, war es vorbei.
Und damit war auch der Abend für die Kinder zu Ende.
„Geht jetzt zu Bett und schlaft schnell, denn morgen nach dem Frühstück fahren wir zurück. Das wird sicher wieder sehr anstrengend!“, mahnte Falkos Mutter.
Als er in den weichen Kissen lag, lauschte er der Musik aus dem Ballsaal und dachte über den vergangenen Tag nach. Er war wirklich schön gewesen! Am allerschönsten fand er natürlich Luises überschwänglichen Dank für sein Geschenk. Er fühlte sich schon wie ein richtiger Mann. Na ja – jedenfalls fast!
Am Morgen der Abreise versammelte sich die ganze Familie noch einmal im Esszimmer. Angeregt unterhielten sie sich über das gelungene Fest vom Vortag.
„Du hast dich wieder selbst übertroffen, Siegmund!“, lobte Fürst Friedrich seinen Vetter.
„Für meine geliebte Tochter ist mir kein Opfer zu groß!“, antwortete dieser mit einem auffallenden Glitzern in den Augen. Friedrich registrierte dies wohl, schrieb es aber einzig der übermäßigen Vaterliebe seines Gegenübers zu. Lächelnd lehnte er sich zurück. Als alle ihr Mahl beendet hatten, mahnte er die Seinen zum Aufbruch.
An der Kutsche verabschiedeten die Familien sich voneinander. Dora küsste Katharina auf die Wange und wünschte ihr, mit Tränen in den Augen, eine gute Reise. „Schade, dass ihr uns schon wieder verlasst. Die Tage sind so schnell vergangen!“
„Nun, in ein paar Wochen sehen wir uns doch schon wieder. Ich gehe davon aus, dass ihr uns zu Friedrichs Geburtstag die Ehre eures Besuches macht? Dann werde ich dir unseren neuen Rappen zeigen. Wir wollen ihn zur Zucht verwenden. Unser Stallmeister ist regelrecht verliebt in das Tier. Du wirst begeistert sein, meine Liebe.“ Katharina lag es fern, vor Dora zu protzen und diese wusste das natürlich. Luises Mutter hatte ein Faible für Pferde und versicherte Katharina freudig ihr großes Interesse.
Gleichzeitig richtete Fürst Friedrich das Wort an seinen Vetter. „Wir danken euch herzlich für eure Gastfreundschaft. Wir haben uns alle sehr wohl gefühlt. – Wie immer!“, fügte er aufrichtig lächelnd hinzu.
„Oh, du weißt wie gern wir euch hier haben. Ich wünsche euch eine gute Heimreise.“
Friedrich fand, dass sein Vetter etwas angespannt wirkte. „Bedrückt dich etwas, mein Lieber? Wenn ich etwas tun kann …?“
„Ach! Nichts, wobei du mir behilflich sein könntest. Die Lösung meines Problems ist auch schon in greifbare Nähe gerückt. Also sei unbesorgt!“ Sie umarmten sich zum Abschied und Friedrich stieg zu seiner Frau und den Mädchen in die Kutsche.
Luise und Falko hatten sich ein wenig abseits gehalten. Traurig blickte die Kleine ihren 'Ritter' an. „Ich werde gut auf Anselm achtgeben!“, versprach sie und holte ein gelbes Seidensäckchen zwischen ihren Rockfalten hervor. Genau wie Falko bewahrte sie nun die kleine Figur darin auf und hatte sie an ihrem Bund befestigt.
Er lächelte zufrieden, doch dann wurde er wieder ernst. „Der kann gut auf sich selbst achten! Anselm soll dich beschützen und nicht umgekehrt!“ Sie reichten sich die Hände und Falko begab sich als Letzter seiner Familie in die Kutsche. Da es nach Regen aussah, hatte seine Mutter zur Enttäuschung des Jungen darauf bestanden, dass er bei ihnen saß. Dann rollte das schwere Gefährt vom Hof und die berittene Truppe formierte sich schützend um ihre Herrschaft.
Bald setzte der erwartete Regen ein und trommelte geräuschvoll auf das Kutschendach. Auf die Insassen hatte das eine einschläfernde Wirkung und so fielen die Kinder bald in einen friedlichen Schlummer.
Gerade hatten sie den kleinen Grenzfluss überquert, als das Gespann abrupt zum Stehen kam. Draußen schien etwas Ungeheuerliches vor sich zu gehen, denn es drangen Schreie und Kampflärm ins Kutscheninnere. Besorgt nahmen die Eltern ihre aus dem Schlaf hochgeschreckten Kinder in den Arm. Dann wurden die Türen aufgerissen und die Insassen gewaltsam nach draußen gezerrt. Falko konnte nicht glauben, was er sah. Eine Überzahl maskierter Banditen hatte den kompletten Begleittrupp der Familie überwältigt und ermordet. Ohne auch nur ein Wort an sie zu richten, brachten sie nun zuerst seinen Vater und dann seine Mutter um. Das Blut rann in dicken Strömen aus ihren aufgeschlitzten Kehlen, als Fürst Friedrich und seine Frau zu Boden sanken. Die Mädchen kreischten vor Angst und Falko klammerte instinktiv seine Hände um das Säckchen, in dem seine ruhmreiche Armee schlummerte. Doch kein Wunder geschah. Unfähig, auch nur eine Bewegung zu machen, musste er miterleben, wie zwei der Männer seine Schwestern zum Schweigen brachten, indem sie ihnen ihre Dolche ins Herz rammten. Nun begriff Falko seine Lage und versuchte davonzulaufen.
„Ich kümmere mich selbst um den Jungen“, hörte er einen der Männer sagen. Kurz darauf hatte er ihn eingeholt und am Arm gepackt. Genau wie bei den anderen Angreifern verdeckte ein schwarzes Tuch das Gesicht des Mannes und ließ nur seine Augen frei. Falko sah ihn direkt an.
„Tut mir leid, Junge, ich erfülle nur meinen Befehl!“, sagte der Bandit, als er nach seinem Messer griff. Falko erkannte die Stimme wieder. Er konnte genau die Narbe auf dem Handrücken des Mannes erkennen und sah, dass ihm der kleine Finger fehlte. Dann spürte er den brennenden Schmerz, als das Messer seinen Brustkorb traf. Ungläubig fühlte er seine Sinne schwinden. 'Fürst Siegmund!', schrie es in seinem Kopf – dann wurde alles schwarz.
Dora saß gerade im kleinen Salon bei ihren Stickarbeiten, als ein Diener hereinkam und einen Boten von Schloss Kaltenstein ankündigte. Sie beauftragte ihn, den Mann vorzulassen und sofort ihren Gemahl von dessen Ankunft in Kenntnis zu setzten. Es war inzwischen später Abend geworden und Luise lag schon im Bett. Fürst Siegmund hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, da er noch einige Briefe verfassen wollte.
So zumindest hatte er es seiner Frau erklärt. In Wirklichkeit war er die ganze Zeit nervös im Zimmer auf und ab gelaufen, in Erwartung, etwas über den Ausgang der Operation zu erfahren.
Jetzt folgte er dem Diener in den Salon. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Je nachdem, wie die Dinge verlaufen waren, konnte er heute alles gewinnen oder verlieren. Scheinbar fürsorglich legte er seiner besorgt dreinschauenden Frau den Arm um die Schultern und befahl dem Boten zu sprechen.
„Ich bringe Euch schreckliche Nachrichten, gnädiger Herr. Die Kutsche, in der Fürst Friedrich mit seiner Familie reiste, ist von einer schändlichen Räuberbande überfallen worden. … Niemand hat überlebt!“
Dora musste zunächst verinnerlichen, was sie gerade gehört hatte. Das konnte doch nicht wahr sein. Erst heute Morgen hatten sie noch zusammen gegessen und gelacht.
„Wisst Ihr das sicher?“, fragte sie in der absurden Hoffnung, etwas Gegenteiliges zu hören.
„Leider ja! Eine Gruppe Mönche aus dem Sankt Martins-Kloster war auf der gleichen Straße unterwegs. Sie sahen die Angreifer noch davonreiten, konnten aber nichts Genaueres erkennen. Sie nehmen an, dass es sich um eine Räuberbande gehandelt hat, da alle Waffen und Wertgegenstände gestohlen wurden. Die gesamte Familie sowie die Soldaten wurden brutal niedergemetzelt. Die Banditen waren zahlenmäßig stark überlegen. Da sie sonst nichts mehr tun konnten, luden die Brüder die Ladung von ihren Wagen und legten stattdessen die Toten darauf. Sie befinden sich zurzeit in den Mauern des Klosters. Der dortige Abt, Pater Johannes, war der Beichtvater Eures Vetters und seiner Gemahlin. Er bittet darum, sich um die Leichname der Familie kümmern zu dürfen und sie für das Begräbnis vorzubereiten.“
Fürstin Dora war während seiner Worte auf einen Stuhl gesunken und blickte nun völlig apathisch vor sich hin.
Siegmund dagegen musste sich bemühen, seinem Gesicht den nötigen Ausdruck von Fassungslosigkeit und Trauer zu geben. „Wir richten unseren tiefen Dank aus und geben seiner Bitte gern statt. Ich selbst werde mich schon morgen nach Schloss Kaltenstein begeben, um dort die Feierlichkeiten für die Beisetzung vorzubereiten.“ Mit diesen Worten entließ er den Boten und verließ direkt nach ihm, mit einer gemurmelten Entschuldigung, den Raum.
Dora saß noch lange regungslos da und schaute mit verschleiertem Blick auf die Tür. Immer wieder sah sie die hübschen Gesichter der Kinder vor sich. Wer war in der Lage, diesen unschuldigen Wesen etwas Derartiges anzutun? Sie wollte in ihrem Kummer nicht allein sein und suchte nach ihrem Mann. Sie vermutete, dass er sie nicht sehen lassen wollte, wie sehr ihn diese Nachricht aus der Fassung brachte. Er war immer darum bemüht, Haltung zu bewahren und keine Schwäche zu zeigen. Doch sie war davon überzeugt, dass sie sich jetzt gegenseitig stützen sollten. Als sie ihn weder in seinem Arbeitszimmer noch in der Bibliothek finden konnte, beschloss die Fürstin, nach draußen zu gehen. Etwas frische Luft würde vielleicht gut tun. Sie setzte sich auf ihre Lieblingsbank und blickte hinauf zu den Sternen. 'Ob sie jetzt irgendwo da oben sind, in Gottes Reich?', fragte sie sich wehmütig und Tränen rannen ihr über die Wangen. Obwohl es eine warme Nacht war, fröstelte Dora plötzlich und zog sich ihr Schultertuch fester um den Körper.
Dann hörte sie Stimmen, die sich zwar flüsternd, aber auch sehr aufgeregt unterhielten: „… alles ohne Probleme verlaufen! Als die Mönche aufgetaucht sind, waren wir schon im Aufbruch.“
„Sehr gut! Ihr habt euch euren Lohn verdient.“
Dora dachte ihr Herz bliebe stehen, als sie die Stimme ihres Mannes erkannte. Sie hielt vor Anspannung den Atem an.
„Hier hast du den vereinbarten Preis!“ Man konnte deutlich vernehmen, wie ein Beutel mit Geldstücken den Besitzer wechselte.
„Jederzeit wieder, gnädiger Herr!“
„Ich werde sicher darauf zurückkommen. In der nächsten Zeit jedoch, möchte ich weder dich noch deine Männer in meiner Nähe sehen! Und sage deinen Leuten, sie sollen den Mund halten! Sonst sorge ich dafür, dass sie oder ihre Familien dafür bestraft werden! Und du weißt, ich habe die Mittel dazu!“
„Keine Sorge, Herr! Meine Männer sind verschwiegen. Bei der guten Bezahlung würden sie sich nicht selbst die Chance auf einen neuen Auftrag verbauen. Abgesehen davon habe ich ihnen nie gesagt, dass Ihr unser Auftraggeber seid.“
„Gut so! Und jetzt verschwinde! Wenn ich etwas will, werde ich dich finden.“
Dann entfernten sich die Schritte in unterschiedliche Richtungen.
Dora blieb, vor Entsetzen starr, auf der Bank zurück. Was geschah hier eigentlich? Hatte sie das gerade wirklich erlebt? Sollte der Mann, den sie seit zehn Jahren liebte und ehrte, der Vater ihres einzigen Kindes, wirklich zu so etwas fähig sein? Und warum das Ganze? Sie hatte immer den Eindruck gehabt, dass er und Friedrich einander mochten und respektierten. Und Falko? Immer schon stand fest, dass er eines Tages Luises Mann werden sollte, um die unsinnige Teilung des Landes wieder rückgängig zu machen. Dann hätten die Kinder über das vereinigte Fürstentum geherrscht. Doch nun …? Wieder durchfuhr sie ein Schock, als ihr der wahrscheinliche Grund für diese Gräueltat bewusst wurde. Wenn Friedrich tot war und keinen Erben hinterließ, wäre Siegmund sein legitimer Nachfolger! Außer sich vor Zorn lief Dora zur Burg und suchte nach ihrem Mann. Sie fand ihn in seinem Arbeitszimmer, mit einem Glas Wein in der Hand.
Erschrocken blickte er auf und setzte sofort eine leidvolle Miene auf. „Ich nahm an, du wärst zu Bett gegangen,darum habe ich mich hierher zurückgezogen.“ Er schüttelte theatralisch den Kopf. „Findest du keine Ruhe, meine Liebe? Ich auch nicht. Es ist einfach zu furchtbar!“
Er erhob sich und kam auf sie zu. Gerade als er sie in die Arme nehmen wollte, stieß sie ihn mit voller Wucht zurück.
Dora hatte noch nie in ihrem Leben so viel Abscheu für einen Menschen empfunden wie in diesem Moment. Einen Menschen, den sie noch vor wenigen Minuten von ganzem Herzen geliebt hatte! Hasserfüllt sah sie ihn an. „Halt deinen Mund und wage es nicht mich anzufassen!“
Ungläubig sah er seine Frau an. „Was soll das heißen? Wie redest du überhaupt mit mir?“
„Ich komme gerade von draußen. Du auch, nicht wahr? Ich habe alles mitangehört! Wie konntest du nur so etwas tun? Er war dein Vetter! … und die Kinder ! ... Wozu das alles? Aus reiner Gier?“
Siegmund hatte nicht damit gerechnet, dass seine Frau je dahinter kommen würde. Und schon gar nicht, dass es so schnell geschah. Sie konnte alles gefährden. Er musste versuchen, ihr die Gründe seines Handelns klarzumachen. „Ich habe es für Luise getan!“
Dora unterbrach ihn barsch: „Unterstehe dich, deine eigene Gier hinter unserer Tochter zu verstecken! Luise hätte durch die Heirat mit Falko sowieso irgendwann über ganz Kaltenstein geherrscht.“
„Du verstehst nicht, Dora! Jetzt wird Luise das ganze Land als Mitgift mitbringen und so eine wesentlich bessere Partie machen als mit Falko.“
Doras Augen wurden zu Schlitzen. „Das glaube ich nicht! Denn ich persönlich werde dich beim König anzeigen. Unsere Tochter soll ihre Zukunft nicht auf deiner Bluttat aufbauen!“
Nun war ihm klar, dass er hier im Guten nichts mehr erreichen konnte. Auch wenn er es nicht besonders gern tat, er musste Dora mit Nachdruck daran hindern, ihrer aller Zukunft zu zerstören.