Lucia im Netz der Lüge - Carola Schierz - E-Book

Lucia im Netz der Lüge E-Book

Carola Schierz

0,0

Beschreibung

Um ihre Familie vor dem unverschuldeten Bankrott zu bewahren, lässt sich die temperamentvolle Lucia zur Heirat mit einem wohlhabenden Mann von hohem Stand überreden. Da dieser zu den vermeintlich politischen Gegnern ihres Vaters zählt, beschließt sie ihn auszuspionieren und kommt ihm dabei näher. Sie beginnt, ihre Vorurteile gegen ihn infrage zu stellen und ihre Gefühle geraten ins Wanken. Lucia entdeckt ein Netz aus Lügen und macht es sich zur Aufgabe, die Schuldigen zu Fall zu bringen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 333

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Carola Schierz

Lucia im Netz der Lüge

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Lucia

Die Bora

Waffenruhe unter Frauen

Beginn der Vertreibung

Der Besucher

Das Debüt

Leben im Exil

Vor dem Aus

Der lange Abschied

Die Verlobung

Schreckliche Erkenntnis

Zuflucht

Die Hochzeit

Fremde neue Heimat

Auf Spurensuche

Offenbarungen

Heimliche Liebe

Teile eines Puzzles

Die Mission beginnt

Pater Ignatius

Geburtstagsfeierlichkeiten

Der Beginn neuer Zeiten

Impressum neobooks

Lucia

Ungläubig blickte Lucia auf ihr Spiegelbild. Die Fremde, die sie darin sah, hatte rein gar nichts mit dem aufgeweckten, manchmal etwas zu temperamentvollen, jungen Mädchen zu tun, das sie zum Leidwesen ihres Vaters in Wirklichkeit war. Das volle pechschwarze Haar, welches sie sonst am liebsten offen trug, wand sich jetzt kunstvoll aufgesteckt um ein glitzerndes Diadem. Das apricotfarbene Ballkleid ließ die dunklen Augen sinnlich leuchten und betonte Formen ihres Körpers, welche sie bisher noch nie an sich wahrgenommen hatte. Dabei wanderte ihre rechte Braue in die Höhe, so wie immer, wenn Lucia mit etwas unzufrieden war. Jede andere junge Dame ihres Alters wäre entzückt gewesen, sich selbst so zu sehen. Schließlich war heute der wichtigste Abend in ihrem bisherigen gesellschaftlichen Leben.

Ihr Debüt!

Doch Lucia hatte kein Interesse daran, in die Gesellschaft eingeführt und somit unfreiwillig auf den Heiratsmarkt befördert zu werden. Trotzig zog sie sich die lästigen Ohrgehänge ab und warf sie auf den Frisiertisch. Kurz danach fanden sich dort auch das edle Kollier und das dazu passende Armband wieder. „Schon besser“, murmelte sie.

Lucia war das einzige Kind des Fürsten Frederic von Elms. Da dessen Frau schon sehr früh verstorben war, galt die ganze Aufmerksamkeit des trauernden Mannes seiner geliebten Tochter. Er nahm ihre Erziehung selbst in seine Hände und übergab diese Aufgabe nicht, wie allgemein üblich, einem Kinderfräulein.

Als Lucias Großmutter jedoch feststellte, dass dem Mädchen dadurch jegliche damenhafte Bildung verloren ging, ließ sie sich nicht davon abbringen, mit all ihrer Habe auf Elms einzuziehen.

Johanna von Elms war die Mutter des Fürsten und eine sehr resolute und rechthaberische Person. Doch jeder, der sie etwas näher kannte, wusste, dass sie im Grunde ihres Herzens eine gütige Frau war. Als Lucias Vater einst mit dem Wunsch an sie herantrat, seiner Beziehung mit der schönen und temperamentvollen Sophia ihren Segen zu geben, stieß er zunächst auf heftigsten Widerstand. Seine Auserwählte stammte aus einer südländischen Adelsfamilie und Johanna hätte es bedeutend lieber gesehen, wenn Frederic sich für eine der standesgemäßen Nachbarstöchter erwärmt hätte.

Seit dem Tod ihres Mannes hatte sie sich allein um alles gekümmert und immer nur das Beste für ihren Sohn gewollt. Zumindest was sie dafür hielt.

Doch Frederic wusste, wie er seine Mutter überzeugen konnte und arrangierte eine Teerunde, zu der Sophia überraschend dazustieß. Es dauerte keine zwei Stunden, bis Johanna dem feurigen, liebevollen Geschöpf mit dem pechschwarzen Haar erlegen war. Natürlich bemerkte nur ihr Sohn die Veränderung in der Haltung seiner Mutter, denn sie konnte ihre Gefühle vor anderen gut verbergen.

Als er sich später von seiner geliebten Sophia verabschiedete, liefen dieser Tränen übers Gesicht. „Oh Frederic, sie wird uns nie ihren Segen geben!“, schluchzte sie verzweifelt in ihrem unwiderstehlichen fremdländischen Akzent.

„Wir haben ihn längst, mein Schatz!“, beruhigte er sie lachend. „Mach dir keine Sorgen. Suche lieber nach einer Näherin, die dir das Kleid deiner Träume schneidert!“

Dann dachte er einen Moment lang nach und noch ehe die sprachlose Sophia etwas herausbrachte, fügte er vorsichtig hinzu: „Nun, es wäre vielleicht ratsam, wenn dein Traumkleid und das meiner Mutter sich weitestgehend ähneln würden!“

Nach der Hochzeit entschloss sich Johanna dazu, die Amtsgeschäfte und das kleine, aber edle Schloss, ihrem Sohn zu überlassen. Sie zog sich in ihr Sommerhaus, an einem nicht allzu weit entfernten See, zurück. Alle waren überglücklich, als sich bei den Frischvermählten Nachwuchs ankündigte. Lucias Geburt war die Krönung ihrer Liebe und sie hofften auf weitere Kinder. Doch dazu sollte es leider nicht mehr kommen.

Eines Tages bekam Sophia heftige Krämpfe und erbrach sich ständig. Die besten Ärzte der Gegend wurden zu Rate gezogen, doch niemand konnte ihr helfen. Am dritten Tag ihres Leidens starb sie. Das war kurz vor Lucias viertem Geburtstag.

Frederic war am Boden zerstört und spielte mit dem Gedanken, auch seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch ein Blick auf seine kleine Tochter genügte, um diesen Gedanken beiseitezuschieben. Sie war das Abbild Sophias und hatte das gleiche Temperament wie ihre Mutter.

Fortan war das Kind ständig an seiner Seite. Sie lernte schnell reiten. Dies jedoch, zum Entsetzen ihrer Großmutter, im Herrensitz, weshalb sie auch allzu oft Hosen trug. Frederic fand das nicht weiter tragisch, sondern war stolz auf seine Tochter, die bald auch schießen und fechten konnte und einem Jungen in nichts nachstand.

Als Fürstin Johanna jedoch während eines ihrer Besuche aus dem Fenster blickte, musste sie sehen, wie die inzwischen Elfjährige eine handgreifliche Auseinandersetzung mit dem Stallburschen führte. Das Mädchen saß rittlings auf dem heftig strampelnden Knaben und hieb kräftig auf ihn ein. Außer sich vor Entsetzen lief die Fürstin zu ihrem Sohn und forderte eine dringende Unterredung.

„Willst du irgendwann die Verantwortung dafür tragen, wenn es keiner der infrage kommenden Männer auch nur in Betracht zieht, deine Tochter zu ehelichen? Sie benimmt sich keineswegs damenhaft und ihr Erscheinungsbild lässt ständig zu wünschen übrig! Was soll aus ihr werden, wenn du eines Tages nicht mehr bist? Eine alte Jungfer, die weiß, wie man fechtet und reitet?“

Seine Mutter liebte ihre Enkelin über alles, dessen war Frederic sich wohl bewusst. Darum lenkte er ein. „Vielleicht hast du ja recht. Sie braucht eine weibliche Hand. Wenn du mir jemanden empfehlen kannst?“, bemerkte er einsichtig.

Doch sie machte eine abweisende Handbewegung und stellte fest: „Für solche Experimente ist es längst zu spät! Ich selbst werde mich um ihre Erziehung kümmern! Ich lasse das Sommerhaus räumen und meine Sachen hierher transportieren! Ich ziehe zurück nach Elms!“ Ohne die Zustimmung ihres Sohnes auch nur abzuwarten, rauschte sie hinaus und ließ den überrumpelten, aber nachsichtig lächelnden Mann zurück.

Damit brachen für Lucia harte Zeiten an. Ihre Großmutter überprüfte ständig ihre Garderobe, mäkelte unentwegt an ihrer Haltung und Aussprache herum und kritisierte ihre Manieren. Statt mit dem Vater auszureiten und nach dem Rechten im Umland zu sehen, hieß es nun Unterricht in Geschichte, Französisch, Musik, Tanz, Gesellschaftslehre, Malen und noch mehr Dingen, die man nach Lucias Meinung nie brauchen würde. Sie liebte ihre Großmutter, doch diese Liebe wurde in jener Zeit immer wieder auf eine harte Probe gestellt. Johanna war eine sehr strenge Lehrerin. Immer dann, wenn sich Lucia oder manchmal auch ihr Vater darüber beklagten, sagte sie: „Tut mir leid, aber ich versuche nur auszumerzen, was in den Jahren zuvor versäumt wurde.“

Die unfreiwillige Schülerin versuchte alles Mögliche, um den Unterricht zu stören, doch für gewöhnlich zog sie dabei den Kürzeren. Als das störrische Mädchen vorsätzlich gegen die Tischmanieren verstieß, musste sie die Tafel hungrig verlassen und einen mehrseitigen Aufsatz über 'Etikette bei Tisch' verfassen.

Als sie ihr Werk der Großmutter später vorlegte, bat diese beinahe niedergeschlagen darum, Lucia möge Platz nehmen. Sie wies das Dienstmädchen an, ihnen Tee und Gebäck zu bringen und setzte sich ebenfalls. Eine Weile sahen sie sich nur schweigend an und Lucia hatte das Gefühl, unter dem strengen Blick der alten Dame zu schrumpfen. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete, ging jedoch vom Schlimmsten aus. Als Tee und Plätzchen endlich serviert waren, gab Johanna der Dienerin mit einem Wink zu verstehen, dass sie sich entfernen dürfe und führte gelassen ihre Tasse an die Lippen. Dann sog sie hörbar den Atem ein und wandte ihre ganze Aufmerksamkeit wieder ihrer Enkelin zu.

„Warum wehrst du dich so gegen mich? Ich meine es wirklich nur gut mit dir, mein Kind. Was glaubst du, was aus dir wird, wenn du heranwächst und nicht in der Lage bist, dich in der Gesellschaft zu benehmen. Man wird mit dem Finger auf dich zeigen und kein Mann, der etwas auf sich hält, wird dich zur Frau haben wollen!“

Lucia zuckte trotzig mit den Achseln. „Ich brauche keinen Ehemann. Ich bleibe bei Vater! Wir sind uns genug!“

Johanna lächelte nachsichtig. „Kleines, das ist ein Irrtum! Dein Vater wird nicht immer für dich da sein. Und du allein kannst die Güter nicht verwalten. Es ist nun mal das Schicksal einer Frau, einen Mann zu ehelichen und ihm ein paar Erben zu schenken. Wenn du also nicht durch deine gute Erziehung und deine von Gott gegebene Schönheit einen Mann erobern kannst, der von Rang und Ehre ist und den du obendrein magst, wird man früher oder später eine Ehe für dich arrangieren. Und dann ist es egal, ob dir dieser Mann zusagt oder nicht!“

Lucia sprang auf. „Das würde mir mein Vater nie antun! Er hat meine Mutter geliebt und er würde mir dasselbe wünschen“, rief sie zornig.

Johanna ließ sich von dieser Ungehörigkeit nicht aus der Ruhe bringen. „Deine Mutter hatte alle Attribute einer Dame. Sie war schön, klug, elegant und wusste sich in jeder Gesellschaft zu benehmen. Dies und ihre große Lebensfreude waren es, die deinen Vater auf sie aufmerksam werden ließen! Willst du nicht, dass dir ähnliches Glück widerfährt und dir das Elend einer arrangierten Ehe erspart bleibt?“ Ruhig und bestimmt sah sie in das noch immer zornesrote Gesicht des Mädchens.

Lucia schwieg, aber ihr Blick hatte nichts von jener Kampfansage verloren, die sie der Großmutter von Anfang an gemacht hatte.

„Denke über meine Worte nach!“ Johanna erhob sich, trat an den Kamin und drehte Lucia den Rücken zu. „Du kannst jetzt gehen“, sagte sie leise.

Ohne ein weiteres Wort verließ das Mädchen den Raum.

Später stand sie an ihrem Fenster und sah dem Stallburschen sehnsüchtig dabei zu, wie er den Hengst ihres Vaters herumführte, um ihn zu bewegen. Das schöne Tier hatte sich kürzlich eine Sehne gezerrt und musste nun wieder langsam an die Belastung gewöhnt werden. Wie gern hätte sie jetzt ihre Reitkleidung angezogen und wäre ausgeritten. Natürlich nicht mit diesem lästigen Damensattel! Einem plötzlichen Impuls folgend, öffnete Lucia den Schrank und holte die Jungenkleider heraus, welche der Vater einst hatte für sie schneidern lassen. Zu ihrer Ernüchterung musste sie feststellen, dass sowohl Ärmel als auch Hosenbeine zu kurz waren. Auch im Umfang hatte sie sich inzwischen wohl verändert. Selbst wenn sie die Luft anhielt, war es ihr nicht möglich, die Schnüre zu schließen. Doch Lucia ließ sich von ihrem Entschluss nicht abbringen. Sie würde endlich wieder ausreiten und zwar so, wie es ihr Vergnügen bereitete und nicht wie es ihrer Großmutter gefiel. Entschlossen griff sie in ihre Schmuckschatulle und holte eine kleine Brosche heraus. Dann schlich sie aus dem Haus und lief zum Stall hinüber. Suchend ließ sie den Blick schweifen. Dort, wo zuvor der Bursche mit dem Hengst gewesen war, konnte sie niemanden mehr sehen.

„Jacob!“, flüsterte sie, als sie ihn in einer Ecke gewahrte.

Erschrocken fuhr der Junge herum. Er war etwa einen Kopf größer als Lucia und etwas zu dünn geraten. Es war derselbe, mit dem sie sich einst zum Entsetzen der Großmutter geprügelt hatte.

„Was kann ich für Euch tun, gnädiges Fräulein?“, fragte er mit übertriebener Ehrerbietung.

„Lass den Unsinn! Ich bin kein gnädiges Fräulein“, zischte sie ihn an.

„Oh doch. Ich brauche wirklich nicht noch einmal einen einstündigen Vortrag von Eurer Großmutter über Verhaltensregeln. Strafarbeit hat sie mir auch noch aufgebrummt, als sie mich das letzte Mal dabei erwischt hat, wie ich dich - Euch - unstandesgemäß ansprach“, stöhnte er vorwurfsvoll. „Und sie hat ja vielleicht auch recht! Mein Vater meint schon lange, dass das mit unserer Freundschaft nicht rechtens ist. Wir sind nun keine kleinen Kinder mehr und sollten den Tatsachen ins Auge sehen! Ich bin der Sohn des Stallmeisters und du ... Ihr seid meine Herrschaft.“

„Mach was du denkst, elender Angsthase!“, entgegnete sie beleidigt.

„Ja, für dich ist das alles einfach! Du musst ja auch nichts befürchten, wenn du mit mir sprichst!“, gab er vorwurfsvoll zurück und war dabei schon wieder in den gewohnten vertraulichen Ton zurückgefallen.

„Ha! Du hast doch keine Ahnung! Weißt du, was meine Großmutter mit mir macht, wenn sie mich hier erwischt? Dir schreibt keiner vor, was du anziehen sollst, wie du dich zu bewegen hast, wann du denken darfst oder Luft holen! Oder musstest du schon mal mit einem Buch auf dem Kopf durch den Raum laufen und darauf achten, dass es dir nicht herunterrutscht, während du peinliche Kreise drehst? Neulich musste ich sogar damit zu Abend essen“, schleuderte sie ihm entgegen. Ihre Stimmung wurde auch nicht wirklich besser, als sie das verräterische Zucken um seine Mundwinkel bemerkte.

„Und was sagt dein Vater dazu?“, fragte er neugierig.

„Deine Großmutter weiß schon, was das Beste für dich ist, mein Kind“, versuchte sie die Stimme ihres Vaters nachzuahmen. Nun mussten beide herzlich lachen.

„Du musst mir helfen, Jacob!“, verlangte sie kurze Zeit später und hielt ihm die mitgebrachte Brosche unter die Nase.

„Nimm das und besorge mir ordentliche Reitkleidung. Probiere sie an! Wenn sie dir zu kurz ist, sonst jedoch passt, wird es schon recht sein. Verstecke sie hier. So kann ich vielleicht hin und wieder heimlich ausreiten, wenn Großmutter ihre Mittagsruhe hält.“

„Und wenn man mich erwischt?“, fragte er besorgt.

„Lass dich einfach nicht erwischen. Wenn die Sachen einmal da sind, bist du außer Gefahr! Ich verrate dich nicht“, versprach sie und er glaubte ihr das auch sofort.

„Gut!“, willigte er ein. „Gib ... gebt mir eine Woche Zeit.“

Die Bora

Als die Woche endlich herum war, hielt Lucia es nicht mehr aus. Sobald sich ihre Großmutter zurückgezogen hatte, schlich sie sich in den Stall und fand die ersehnten Kleidungsstücke am vereinbarten Platz. Sorgfältig sah sie sich um. Als sie sicher sein konnte, dass die Luft rein war, zog sie sich rasch um und sattelte ihre Stute. Leise führte Lucia das Tier aus dem Stall, schwang sich in den Sattel und galoppierte vom Hof. Es war ein wunderbares Gefühl, so dahinzujagen. Seit Monaten war sie nicht mehr auf diese Weise geritten. Das war nach Meinung der alten Fürstin höchst undamenhaft und somit für sie gestrichen. Das Mädchen versuchte ihren Ärger zu vergessen und gab sich voll und ganz dem Moment hin. Sie sog die frische Luft ein, erfreute sich an den leuchtenden Farben des Waldes und brachte schließlich auf einem kleinen Hügel ihr Pferd zum Stehen. Ihr Blick fiel auf die kleine Ansiedlung von Hütten, in der die Bora wohnten. Lucia fand diese Menschen schon immer überaus interessant und hatte ihrem Vater bereits unzählige Fragen zu ihnen gestellt.

Er hatte ihr erklärt, dass die Bora vor mehreren hundert Jahren aus dem Norden kamen. Sie waren damals Nomaden, ohne festen Wohnsitz. Irgendwann hatten sie sich in den verschiedensten Gegenden angesiedelt und waren nun in fast allen Ländereien des Königreiches zu finden. Da die Bora ihre eigene Kultur pflegten und hauptsächlich unter sich blieben, wusste man lange Zeit nicht allzu viel über ihre genaue Lebensweise. Das war Grund genug für Spekulationen und Misstrauen unter der Bevölkerung.

Um Unruhen zu vermeiden, erließ der damalige König einen Befehl. Dieser verpflichtete die Bora, sich den Gepflogenheiten und Sitten des Landes anzupassen und zumindest eines ihrer Familienmitglieder in die Dienste der jeweiligen Herrschaftshäuser zu stellen. Die Bora waren schon immer ein friedliches Volk und beugten sich dem Erlass widerstandslos. Sie gingen ihrer Arbeit nach und knüpften wirtschaftliche Kontakte. Manchmal entstanden sogar Freundschaften zur restlichen, überwiegend christlichen Bevölkerung. Doch sie mischten sich nie mit ihnen. Ein Bora heiratete stets eine Bora, selbst wenn er sich zur Brautwerbung auf eine weite Reise in andere Siedlungen begeben musste, um neues Blut in die eigene Gemeinde zu bringen.

Das auffälligste äußere Merkmal dieses Volkes bestand in der Farbe ihres Haares. Es war bei fast allen Bora hell- bis rotblond, und Lucia fand wunderschön, wie es in der Sonne glänzte.

Es gab aber auch noch andere Dinge, die die Bora von der normalen Bevölkerung unterschieden. Sie studierten die Abläufe der Natur aufs Genaueste und hatten ein hohes Allgemeinwissen, welches sie an ihre Kinder weitergaben. Man unterrichtete Jungen und Mädchen gleichermaßen, während im übrigen Land nur den Knaben Zugang zu einer allenfalls mäßigen Bildung gewährt wurde.

Lucia war von Stand und erhielt ganz selbstverständlich privaten Unterricht von ihrer Großmutter. Einem fortschrittlich gesinnten Mann wie dem Fürsten war es wichtig, dass ihr eine hohe Allgemeinbildung vermittelt wurde. Davon ließ er sich auch nicht mit dem Argument abbringen, dass zu schlaue Frauen manch einen Mann abschrecken würden. Mit dieser Gesinnung war er jedoch eher die Ausnahme. Die meisten Adelstöchter erhielten eine gute, aber eher einseitige Bildung. Politik gehörte definitiv nicht dazu und galt im Allgemeinen als reine Männersache. Nicht so bei Frederic. Für ihn wäre es unvorstellbar gewesen, Lucia nur aufgrund ihres Geschlechts unwissend zu lassen. In diesen Dingen unterrichtete er seine Tochter selbst.

Infolgedessen erschien es ihr einfach ungerecht, wie andere Mädchen und Frauen behandelt wurden. Besonders jene aus niederen Verhältnissen, die nicht einmal Schreiben, Lesen und Rechnen lernten. Darum war sie den Bora schon in dieser Hinsicht sehr zugetan.

Weniger wusste man allgemein über deren religiöse Ausrichtung, da sie ihren Glauben weiterhin sehr zurückgezogen auslebten. Damit sorgten sie immer wieder unfreiwillig für Misstrauen. Sie glaubten wohl auch an Gott, wie alle anderen Menschen hier, aber es wurde gemunkelt, dass sie heimlich alte Riten betrieben. Dies missfiel nicht wenigen Menschen und einige waren sogar verängstigt. Und mit dieser Angst wurde seit ein paar Jahren gearbeitet.

Einiges wies darauf hin, dass man die Bora loswerden wollte, doch Genaueres war Lucia nicht bekannt. Ganz entgegen seiner Art, wich ihr Vater ihren diesbezüglichen Fragen regelmäßig aus. Doch er machte kein Geheimnis daraus, dass er große Sympathien für diese freundlichen Menschen hegte und sich jederzeit für sie einsetzen würde. Fürst Frederic war ein Mann mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, welcher ihm schon oft das Unverständnis anderer Landesfürsten eingebracht hatte. Viele Adelshäuser begründeten ihren Reichtum, indem sie ihre Untertanen rücksichtslos ausbeuteten und wurden mit der Zeit immer wohlhabender und mächtiger. In Elms hielt man es dagegen mit dem Leitspruch: 'Geht es den Untertanen gut, freut sich der Herr!' Natürlich fehlte es auch auf Schloss Elms an nichts, jedoch stiegen die Ansprüche nicht so ins Unermessliche, wie es andernorts der Fall war. Die Menschen dankten es ihrem Fürsten mit aufrichtiger Liebe und Treue und Lucia war von Stolz erfüllt, die Tochter dieses Mannes sein zu dürfen.

Es wurde Zeit zurückzureiten, denn die Großmutter würde nicht ewig schlafen. Lucia ließ das Pferd umkehren, eilte zum Schloss und schaffte es, unbemerkt in den Stall zu gelangen. Sie übergab die Stute an Jacob und zog sich rasch um. Das Herz schlug ihr vor Aufregung bis zum Hals, doch sie hatte sich schon lange nicht mehr so wohlgefühlt. Sie winkte dem Freund dankbar lächelnd zu und rannte davon.

In ihrem Zimmer angekommen, warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel und erschrak. Ihre Frisur war völlig aus den Fugen geraten. Niemand, der sie so sah, würde ihr glauben, dass sie nur Mittagsruhe gehalten hätte. Als sie eilig damit begann sich wieder herzurichten, klopfte es an der Tür und ihre Großmutter betrat den Raum. Sie wollte gerade etwas sagen, als ihr strafender Blick auf dem Mädchen ruhen blieb.

„Wie siehst du aus, Kind! Dein Haar ist völlig zerzaust. Wie konnte das nur geschehen?“, fragte sie streng.

Lucia dachte kurz nach und hatte schnell eine passende Antwort parat. „Oh, tut mir leid, aber ich hatte einen schlechten Traum während der Mittagsruhe. Als ich aufwachte, war ich schweißgebadet und völlig zerzaust. Ich muss wohl im Schlaf sehr heftig den Kopf bewegt haben.“ Sie versuchte ein überzeugend leidendes Gesicht zu machen.

Johanna musterte sie eine Weile skeptisch und kam dann langsam auf sie zu, um ihr die Hand auf die Stirn zu legen. „Fieber scheinst du nicht zu haben! Aber gut. Vielleicht ist es besser, wenn du dich heute ein wenig schonst. Ich werde das Mädchen anweisen, dir eine Tasse von meinem Kräutertee zu bringen. Dieser Tee erweckt Tote zum Leben!“

Mit diesen Worten verließ sie den Raum und Lucia atmete geräuschvoll aus.

Als sie später das versprochene Getränk in der Hand hielt, war ihr klar, dass selbst ein Toter davor Reißaus nehmen würde. Es roch widerlich. Sie verspürte fast so etwas wie Respekt für ihre Großmutter, die dieses Gebräu tatsächlich täglich zu sich nahm.

'Vielleicht ist das ja der Grund, warum sie immer so miesepetrig ist', dachteLucia, als sie den Inhalt der Tasse aus dem Fenster kippte.

Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, kamen Reiter auf den Hof. Lucia öffnete das Fenster, um besser hören zu können, was da vor sich ging. In einem der Männer erkannte sie Fürst Harald von Leinfeld. Er war der direkte Nachbar im Süden. Leinfeld war um einiges größer und reicher als Elms und Fürst Harald ließ keine Gelegenheit aus, um Frederic diese Tatsache unter die Nase zu reiben.

„Melde mich deinem Herrn!“, wies er soeben einen Diener an.

Die Gruppe bestand noch aus fünf anderen, nicht wesentlich sympathischeren Männern, die sich jetzt daran machten, vom Pferd zu steigen. Kurze Zeit später wurden die Besucher gebeten einzutreten und zu Fürst Frederic geleitet.

Nun musste Lucia sich sputen. Eilig begab sie sich ein Stockwerk tiefer in einen Raum, der an den Empfangssalon angrenzte. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt breit. Nun konnte sie genug hören, um dem Gespräch zu folgen.

„Fürst Harald!“, begrüßte ihr Vater gerade seinen ungebetenen Gast. „Wem oder was verdanke ich die Ehre Eures Besuches?“

„Nun, auch wenn ich immer wieder gern Euer kleines behagliches Anwesen besuche, bin ich in der Tat diesmal nicht grundlos hier.“

Lucia konnte durch den Türspalt einen Blick auf den unsympathischen Mann werfen. Er war etwa Mitte vierzig, hatte braunes Haar, das an den Seiten schon recht angegraut war und über der Stirn lichte Stellen zeigte. Seine Augen wirkten kalt und abschätzend und straften jedes freundliche Wort Lüge.

„Seine Majestät, der König, sucht Mitstreiter in seinem Bestreben, gegen die Bora vorzugehen. Er befürchtet, sie könnten ihr Gedankengut unter seinen und damit auch unseren Untertanen verbreiten. Das sollte verhindert werden.“

Frederic erhob sich von seinem Stuhl und ging langsam auf seinen Gesprächspartner zu. Er sah ihm direkt in die Augen, als er entgegnete: „Bei allem Respekt für seine Majestät, ich kann seine Bedenken nicht teilen. Die Bora bleiben meist unter sich, und wenn sie unsere Gesellschaft suchen, dann vermeiden sie jegliche Äußerung ihre Gesinnung betreffend. Im Gegenteil, es gehört zu ihrer Philosophie, ihre Angelegenheiten unter sich zu halten. Hätte König Leo vor hundert Jahren nicht befohlen, dass sie sich einzugliedern haben, würden sie sich sicher bis heute von uns fernhalten. Was ich persönlich im Übrigen sehr bedauern würde. Sie leisten gute Arbeit und machen keinen Ärger. Also was soll das alles?“ Der letzte Satz kam mit deutlicher Schärfe heraus.

Harald von Leinfelds Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ich denke, ich habe Eure Botschaft richtig verstanden. Ihr müsst selbst wissen, ob ihr für diesen heidnischen Abschaum die Gunst Eures Königs aufs Spiel setzen wollt.“

Beide Männer standen sich in deutlicher Pose gegenüber.

Lucias Vater, der einen halben Kopf größer war als sein Kontrahent, entspannte sich als Erster und lächelte jetzt sogar ein wenig. „Wisst Ihr, ich glaube, dass der König es mir selbst mitteilen würde, wenn er Zweifel an meiner Loyalität hätte. Dann wüsste ich sicher, wie ich diese Zweifel aus dem Weg räumen könnte. Bis dahin werde ich alles so belassen, wie es ist.“

Nach einem kurzen Schweigen trat er zur Tür. „Wenn Ihr sonst nichts mehr auf dem Herzen habt, würde ich Euch gern zu einem Becher Wein einladen und wir könnten ein wenig über angenehmere Dinge plaudern.“

„Ich möchte keinesfalls unhöflich erscheinen, aber mich treiben wichtige Geschäfte zur Eile.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Fürst Harald und verließ den Raum.

Lucia beobachtete, wie ihr Vater mit besorgter Miene an seinen Schreibtisch trat, eilig ein paar Zeilen zu Papier brachte und nach dem Diener rief.

„Bring dieses Schreiben sofort zur Siedlung der Bora und übergib es ihrem Ältesten.“

Als er wieder allein war, sank er erschöpft auf seinen Stuhl und starrte mit Sorgenfalten auf der Stirn ins Leere.

So leise, wie Lucia den Raum betreten hatte, schlüpfte sie auch wieder heraus – und landete direkt in den Armen der Großmutter.

„Kannst du mir vielleicht erklären, was das zu bedeuten hat?“, rief diese erzürnt. Ohne ihrer Enkelin die Gelegenheit zu geben, die Frage zu beantworten, zerrte sie das Mädchen direkt in das Empfangszimmer ihres Sohnes.

„Da siehst du, was deine schludrige Erziehung gebracht hat! Ich habe dein feines Töchterlein soeben dabei erwischt, wie sie deine Unterredung mit Fürst Harald belauscht hat!“

Als ihr Sohn nichts erwiderte, sah sie ihn zornig an, wechselte aber sofort ihren Gesichtsausdruck, als sie dessen Besorgnis bemerkte. Sofort war Lucias Fehlverhalten vergessen und Johannas ganze Aufmerksamkeit bei Frederic.

„Was ist passiert?“, fragte sie leise.

„Lucia, bitte lass uns allein!“, bat der Vater.

Doch die dachte gar nicht daran, seiner Aufforderung Folge zu leisten. „Was haben der König und Fürst Harald gegen die Bora?“, fragte sie stattdessen.

„Lucia, tu was ich dir sage und vergiss, was du gehört hast! Haben wir uns verstanden?“, schrie er sie an.

Es war nicht seine Art, laut zu werden, was ihr den Ernst der Lage verdeutlichte. Erschrocken über seine heftige Reaktion verließ sie den Raum und lief eilig auf ihr Zimmer.

Etwa eine halbe Stunde später klopfte es an der Tür und ihr Vater trat ein.

„Wir müssen reden, Lucia ...“, begann er.

„Es tut mir leid, Vater, ich wollte nicht unfolgsam sein!“, unterbrach sie ihn kleinlaut.

„Aber du warst es ... und bist es schon wieder“, entgegnete er ruhig. „Du hast gelauscht! Was du da gehört hast, solltest du schnell wieder vergessen! Du bist noch zu jung, um es zu verstehen. Als Mädchen solltest du dich um andere Dinge kümmern als um Politik.“

Das waren ganz neue Töne. Hatte es ihre Großmutter nun doch geschafft, den Vater von seiner modernen Erziehung abzubringen? Hatte sie ihn wirklich davon überzeugt, dass junge Mädchen nur in Frauendingen unterrichtet werden sollten? Das wäre unfassbar.

„Du meinst, wenn ich erwachsen und eine Frau bin, soll ich mich lieber damit beschäftigen, unnütze Bildchen zu sticken, schön auszusehen und dabei am besten die Augen und Ohren fest verschließen? So bekomme ich dann auch nichts von den Ungerechtigkeiten um mich herum mit. Ist es das, was du für mich willst? So hast du mich bisher nicht erzogen, Vater!“ Ihre Stimme zitterte vor unterdrückter Empörung.

„Ja, du hast Recht. Und genau das war mein Fehler. Ich erwarte von dir, dass so etwas wie heute nicht wieder vorkommt, und du deiner Großmutter, bei ihrem Versuch, dich zu einer Dame zu erziehen, mit Respekt begegnest. Sonst muss ich dich dazu fortschicken.“

Damit war für ihn das Thema erledigt und er ließ sie allein. So hatte er noch nie mit ihr gesprochen und sie zweifelte keinen Augenblick lang daran, dass jedes seiner Worte ernst gemeint war. Auf keinen Fall wollte Lucia Elms verlassen. Wohl oder übel musste sie sich nun in ihrem Verhalten der Großmutter gegenüber ändern.

Waffenruhe unter Frauen

Als Lucia nun endlich erkannte, dass ihr Dickkopf dem der alten, aber noch immer eindrucksvollen Dame nicht gewachsen war, gab sie den Widerstand auf und versuchte mitzuarbeiten. Als Gegenleistung gestatte ihr die Großmutter gelegentliche Ausritte und ein paar Fechtlektionen bei ihrem Vater. So kehrte endlich wieder Frieden ein.

Eines Tages, sie saß gerade mit Johanna im Salon bei einer Tasse Tee, konnte Lucia nicht mehr an sich halten. Seit dem Zwischenfall mit Fürst Harald hatte sie die Sache mit den Bora nicht mehr aus ihrem Kopf bekommen. Heute schien ein günstiger Zeitpunkt zu sein, um Näheres zu erfahren, denn die Großmutter hatte ausgesprochen gute Laune.

„Darf ich dir eine Frage stellen?“, fragte Lucia mit zuckersüßer Stimme.

„Du darfst, mein Kind! Was hast du auf dem Herzen?“ Mit einem freundlichen Lächeln blickte die alte Dame zu ihrer Enkelin herüber.

„Die Bora. Was hat König Roland eigentlich gegen sie?“

Lucia war auf eine lange Rede vorbereitet: Dass sie das alles nichts angehen würde, sie sich um ihre Dinge kümmern solle und so weiter. Doch zu ihrem Erstaunen stellte die Großmutter jetzt entschlossen ihre Teetasse ab.

„Ich glaube, es wird Zeit, dich darüber aufzuklären, was im Lande vor sich geht. Dein Vater ist zwar dagegen, dich mit diesen Dingen zu ängstigen, aber ich bin der Meinung, dass das Halbwissen, welches du dir bei deinen Lauschereien erworben hast, beunruhigender und auch gefährlicher ist als ordentliche Aufklärung.“

Lucias Welt stand Kopf. Die Großmutter wollte ihr die Antworten geben, die der Vater verweigerte? Hatte sie der alten Dame in diesem Fall etwa doch Unrecht getan?

„Ich sage dir jetzt, was ich von alldem weiß und was ich davon halte. Zu deinem Vater aber kein Wort, denn er würde es mir sicher verübeln!“

Lucia versprach es und fand das Gefühl spannend, so etwas wie ein Geheimnis mit ihrer Großmutter zu teilen. Aufmerksam hörte sie zu.

„Solange ich denken kann, leben diese Leute hier und haben sich nie etwas Schlimmes zu Schulden kommen lassen. Keiner hat sich an ihnen gestört, außer vielleicht ein paar abergläubische Wichtigtuer, die keiner wirklich ernst nahm. Seit König Roland nach dem überraschenden Tod seines älteren Bruders dessen Erbe angetreten hatte, geht es den Bora schlechter. Er hat ganz offen seine Zweifel an deren Gottesfürchtigkeit und Königstreue bekanntgegeben und ihr Recht infrage gestellt, das Land zu besiedeln. Jedoch ohne es wirklich zu begründen. Hinter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, dass er nur im Auftrag seines Beichtvaters, des Bischofs von Reichingen handelt. Man sagt, er ist ihm hörig. Ich weiß natürlich nicht, was davon wahr ist, jedoch gilt es als bewiesen, dass die Macht des Bischofs weit über die Befugnisse seines Amtes hinausgeht. Er gilt als intolerant gegenüber allem, was jenseits seiner eigenen Ideologie liegt und predigt offen seine Ablehnung gegen die Bora. Für ihn sind sie gottlose Heiden. Leider haben sich inzwischen viele der Adelshäuser von diesem Gedankengut anstecken lassen. Sie versprechen sich mehr Macht und Reichtum, wenn sie dem Bischof beipflichten und verkaufen dafür ihr Gewissen. Dein Vater hat immer weniger Gleichgesinnte auf seiner Seite. Zumindest steht kaum noch jemand öffentlich zu den Bora, da man befürchtet, die Gunst des Königs zu verlieren.

Diese armen Menschen stehen unter dem Schutz ihres jeweiligen Lehnsherren. Doch wenn sie diesen Schutz verlieren, sind sie Freiwild für alle, die ihnen etwas Übles wollen.“

Lucia war entsetzt. „Aber das ist ja furchtbar! Sie tun doch nicht wirklich etwas Böses, oder?“

„Natürlich nicht. Im Gegenteil, sie sind sehr kultiviert und gebildet, was sie für die Dummen allerdings noch gefährlicher erscheinen lässt!“

„Aber was ist mit ihrer Religion? Ich habe gehört, dass sie manchmal heidnische Riten zelebrieren sollen?“, fragte das Mädchen weiter.

„Nun ja, sie haben wohl schon einige Traditionen, die sie auch heute noch im Verborgenen ausführen. Ich hatte jedoch einmal die Möglichkeit zu einem Gespräch mit einem Mann, der Zeuge dieser harmlosen Rituale geworden ist. Er erklärte mir, dass sie nichts weiter tun, als Mutter Erde ihren Dank zu zollen. Sie glauben an Gott ebenso wie an Mutter Erde. Ich kann darin nichts Verwerfliches finden, da unser Vater im Himmel doch all die Wunder erschaffen hat, welche die Erde lebendig machen.“

Lucia dachte einen Moment über das Gehörte nach und es entstand Schweigen. Dann ergriff sie vertrauensvoll die Hand der alten Dame. „Danke, dass du so offen mit mir über alles geredet hast. Das hatte ich so nicht erwartet.“

Johanna lächelte und strich ihr das Haar aus der Stirn. „Auch ich kann noch für Überraschungen gut sein, mein Kind. Weißt du, du bist jetzt kein kleines Mädchen mehr. Ich bin der Meinung, du hast ein Recht zu wissen, womit sich dein Vater gerade herumschlägt. Er hat es nicht leicht im Moment. Die Lage spitzt sich zu. Immer häufiger hört man von Übergriffen und Beschimpfungen, denen die Bora ausgesetzt sind. Frederic nimmt sich das sehr zu Herzen. Er braucht unsere Unterstützung, Lucia! Und die können wir ihm am besten geben, wenn wir uns einig sind und alles von ihm fernhalten, was ihm zusätzlichen Ärger bereitet.“

„Das sehe ich ganz genauso!“, stimmte Lucia ihr zu, bevor sie sich herzlich umarmten.

Beginn der Vertreibung

Doch wenn das Mädchen dachte, die Großmutter würde es ihr ab jetzt leichter machen, hatte sie sich getäuscht. Sie bekam eher das Gefühl, die Ansprüche der alten Dame wären nur noch gestiegen. Doch da sie jetzt wusste, dass sich hinter dieser rauen Schale ein weicher Kern verbarg, konnte Lucia wesentlich besser mit dem Druck umgehen als früher. Außerdem hatte sie inzwischen einige Methoden gefunden, mit denen man die Großmutter um den Finger wickeln konnte. Die Zeit verging und alles in allem lief das Leben auf Elms in seinen geordneten Bahnen, bis Lucia eines Tages einen Ausritt mit ihrem Vater machte.

Als sie an jene Stelle gelangten, von der man einen guten Blick auf die Häuser der Bora hatte, ließ er sein Pferd abrupt zum Stehen kommen. Lucia traute ihren Augen kaum. Die Fläche, die die Siedlung zuvor eingenommen hatte, schien entschieden vergrößert. Überall standen Fuhrwerke und Planwagen, zwischen denen Stoffbahnen gespannt waren, die Schutz vor Regen und Sonne boten. Und es waren fast doppelt so viele Menschen da wie zuvor.

„Warte hier!“, wies Fürst Frederic seine Tochter an und ritt auf die Siedlung zu.

Doch Lucia wäre nicht Lucia gewesen, wenn sie diese Aufforderung befolgt hätte. Stattdessen setzte auch sie ihre Stute in Bewegung und folgte ihrem Vater. Als Frederic dies bemerkte, war es schon zu spät und er gab sich vorerst mit einem zornigen: „Darüber reden wir noch!“, zufrieden.

Lucia wusste, dass er gerade den Starrkopf an ihr liebte und hoffte darauf, dass er später alles vergessen haben würde. Sicherheitshalber machte sie ein demütiges Gesicht, damit sich sein Zorn wieder legte.

Inzwischen hatte Frederic nach dem Ältesten verlangt. Er wurde geholt. Lucia war beeindruckt von der Erscheinung dieses Mannes. Sein blondes langes Haar reichte ihm fast bis zur Taille und war bei genauerem Hinsehen von grauen Strähnen durchsetzt. Er hatte kühle blaue Augen, die aber trotzdem sehr freundlich wirkten. Seine hochgewachsene Gestalt begann sich langsam seinem fortschreitenden Alter zu beugen und doch besaß er noch immer jene respekteinflößende Ausstrahlung einer Führungsperson.

„Es ist uns eine Ehre, Fürst Frederic, Euch hier begrüßen zu dürfen“, sagte er mit einer tiefen Verneigung. Frederic erwiderte seinen Gruß und saß ab. Die Zügel seines Hengstes gab er einem jungen Bora in die Hand und bat ihn, dem Tier etwas Wasser zu geben. Lucia dachte nicht lange nach und tat es ihm gleich.

„Was hat das zu bedeuten, Jork? Was machen diese ganzen Menschen hier?“, fragte der Fürst den Ältesten.

„Sie sind letzte Nacht hier angekommen. Es sind die Überlebenden aus Leinfeld. Man hat fast alle jungen Männer umgebracht.“

Frederic war entsetzt. „Aber wie konnten sie das tun? Sie hatten doch überhaupt kein Recht dazu!“

Der Älteste ließ eine junge Frau herbeirufen, die sich ängstlich zu ihnen gesellte. „Martha, erzähle bitte unserem Herren was geschehen ist! Hab keine Angst, er ist ein guter Mensch.“

Die Frau erzählte, dass eines Tages Männer in ihre Siedlung gekommen waren und fünf ihrer stattlichsten Burschen mitgenommen hatten. Man warf ihnen vor, zwei Dorfmädchen überfallen und geschändet zu haben. Die jungen Männer stritten natürlich alles ab und ihre Familien glaubten ihnen, zumal sie in der fraglichen Zeit die Siedlung nicht verlassen hatten. Während eines fragwürdigen Gerichtsverfahrens, bei dem die angeblich geschändeten Frauen ihre unfassbaren Anschuldigungen wiederholten, waren die Angeklagten zum Tode verurteilt worden. Unter den Bora war man sich einig, dass die mutmaßlichen Opfer zu ihren Aussagen gezwungen oder dafür bezahlt worden waren. Doch das Urteil wurde umgehend vollstreckt. Letzte Nacht wurden sie überfallen. Allen voran die Schergen Fürst Haralds. Sie töteten fast alle jungen Männer - mit der Begründung, damit weiteren Schändungen vorzubeugen. Daraufhin hatten die verängstigten Menschen ihre ganze Habe zusammengepackt und waren hierher geflüchtet. Sie hofften, dass Fürst Frederic sie beschützen würde.

„Ihr habt das Richtige getan! Nur weiß ich nicht, wie lange ihr hier sicher seid. Doch solange es in meinen Händen liegt, werde ich alles dafür tun.“

Die junge Frau fiel erleichtert auf die Knie und wollte seine Schuhe küssen. Doch noch eh ihre Lippen das Leder berührten, hatte er sie schon wieder nach oben gezogen und entließ sie mit einem freundlichen Lächeln. Lucia war schon immer stolz auf ihren Vater gewesen, doch in diesem Moment empfand sie eine Achtung vor ihm wie nie zuvor. Nach einem kurzen Gespräch mit Jork gebot er Lucia aufzusitzen und sie ritten zurück nach Hause. Auf halber Strecke fielen sie in einen ruhigen Trab, was Lucia die Möglichkeit gab, endlich ihre Fragen loszuwerden.

„Vater, was soll aus ihnen werden? So wie Fürst Harald sich damals ausgedrückt hat, gibt es viele, die seine Meinung teilen. Und es kam mir so vor, als wolle er dir drohen. Was, wenn immer mehr flüchtende Bora hier auftauchen und du sie nicht mehr schützen kannst?“ Frederic blickte stur geradeaus, als er ihr entgegnete: „Ich hatte dich nicht umsonst gebeten, auf dem Hügel zu warten. Solche Dinge sind nicht für deine Ohren bestimmt. Sie machen dir nur Angst.“

Wütend hielt Lucia ihre Stute an und wartete, bis auch er zum Stehen kam.

„Vater, ich bin fast siebzehn Jahre alt. Glaubst du, ich habe nicht bemerkt, dass du dir um irgendetwas Sorgen machst? Selbst Großmutter ist der Meinung, dass Halbwissen schlimmer ist, als sich mit den Tatsachen auseinanderzusetzen. Ich habe keine Angst! Zumindest nicht mehr als du! Ich habe die Furcht in deinen Augen gesehen. Umso mutiger finde ich deinen Entschluss, diese Menschen nicht im Stich zu lassen!“

Frederic musterte seine Tochter ausgiebig und schien sich zum ersten Mal dessen bewusst zu werden, dass er eine junge Frau und kein kleines Mädchen vor sich hatte.

„Du hast vielleicht recht. Ich werde versuchen, dich in Zukunft mit mehr Respekt und Vertrauen zu behandeln. Du sollst schließlich lernen, Recht von Unrecht zu unterscheiden.“

Bei diesen Worten ging ein dankbares Lächeln über ihr Gesicht.

Im Schloss angekommen, wies Fürst Frederic seine sichtbar überraschten Männer an, ein paar Säcke Mehl, Zucker und Kartoffeln sowie zwei Schweine zur Borasiedlung zu bringen. Eine Weile rührte sich keiner von der Stelle. Für Frederic schien das nur eines zu bedeuten und er warf einen drohenden Blick in die Runde.

„Wer damit ein Problem hat, kann seine Stellung sofort kündigen!“, rief er gereizt.

Daraufhin trat Tobias, einer seiner treuesten Männer vor und bat sprechen zu dürfen. Frederic gab ihm die Erlaubnis.

„Verzeiht Herr, wenn Ihr den Eindruck hattet, wir wollten uns Eurem Befehl widersetzen. Das war keineswegs unsere Absicht. Vielmehr sind wir verwundert darüber. Dürfen wir erfahren, was der Grund für diese Maßnahme ist?“

Lucia musterte ausgiebig die Gesichter der Männer und kam zu dem Schluss, dass tatsächlich keiner von ihnen so aussah, als wolle er sich verweigern. Tobias schien im Namen aller zu sprechen. Er war schon in Frederics Diensten, solange Lucia denken konnte und seinem Herren ergeben.

Der Fürst schien sich zu entspannen. „Natürlich sollt ihr den Grund dafür erfahren. Jeder von euch hat schon von den Hetztiraden gegen die Bora gehört. Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Leider haben sich inzwischen schon viele der Lehnsherren auf die Seite des Königs geschlagen und gehen jetzt mit Verleumdungen und Handgreiflichkeiten gegen die Siedlungen in ihren Ländereien vor. In Leinfeld hat man nicht davor zurückgeschreckt zu töten. Darum haben nun Flüchtlinge bei uns Schutz und Hilfe gesucht. Es sind zu viele, als dass sie allein damit fertig werden könnten, auch wenn sie es versuchen. Ich habe nicht vor, bei derartigen Ungeheuerlichkeiten zuzusehen und werde mein Möglichstes tun, um meine Christenpflicht zu erfüllen und diesen Menschen helfen. Es ist zu vermuten, dass mein Handeln nicht lange geduldet wird und es kann der Zeitpunkt kommen, an dem auch wir mit Übergriffen zu rechnen haben. Dessen solltet ihr euch bewusst sein. Ich fordere jeden von euch, dem das Risiko zu hoch ist und der in dieser Sache nicht voll hinter mir steht, dazu auf, seinen Abschied zu nehmen!“

Nach diesen Worten wurde es still auf dem Hof. Einige der Männer blickten sich mit fragenden Augen um. Doch am Ende trat Tobias erneut an Frederic heran, um ihm die Ergebenheit jedes Einzelnen zuzusichern. Der Fürst nahm es mit einem zufriedenen Lächeln zur Kenntnis und forderte sie auf, sich an die Arbeit zu machen.

Der Besucher